Ein Funke Leben - Martin Kolozs - E-Book

Ein Funke Leben E-Book

Martin Kolozs

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Beschreibung

Der Tod seines Sohnes hat in Sams Leben tiefe Spuren hinterlassen. Seine Frau wendet sich nach und nach von ihm ab, im Leben seiner Tochter ist kaum noch Platz für ihn. Der Kummer und die Wut, die in ihm brodeln, drohen ihn aufzufressen. Der einzige Gefährte Sams, zu dem er noch eine wirkliche Bindung hat, ist Dino - der Hund, den seine Tochter zurückließ. Dessen nahendes Ende geht einher mit dem Verfall von Sams Leben, der immer verzweifelter versucht, die intakte Welt aus früheren Zeiten wieder herzustellen.

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Martin Kolozs

Ein Funke Leben

© 2014 Martin Kolozs

1. AuflageBUCHER VerlagHohenems – Wien – Vaduzwww.bucherverlag.com

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-99018-323-6

» … vielleicht ist es der Versuch, mich durch das dunkle Gestrüpp meines eigenen Seelenlebens hindurchzufinden, dabei allmählich zu einer kleinen Lichtung vorzustoßen, um mich dort umzusehen …«

Gyrðin Elíasson, Am Sandfluss

»Seine Hand zitterte heftig, aber sein Gesicht strafte sich und seine Hand wurde ruhig. Dann drückte er den Abzug. Der Knall rollte die Hügel hinauf und wieder herunter.«

John Steinbeck, Von Mäusen und Menschen

1. Teil

1

An jedem Sonntagmorgen, seit 1998, wachte Samuel Bly alleine auf und masturbierte. Seine Frau Jillian besuchte dann den Gottesdienst in der St. Joseph Guardian of the Redeemer Kirche am West Cliff Drive, weshalb er auch das ganze Haus für sich hatte und nicht befürchten musste, dass sie ins Schlafzimmer hereinplatzen und ihn mit erregiertem Penis in der Hand überraschen würde.

Nachdem er anschließend noch eine Weile mit geschlossenen Augen und trockenklebrigen Lippen liegen geblieben war, darauf wartend, dass sich die erotischen Bilder aus seinem Kopf verflüchtigten und die Hitzewelle, die seinen Körper mehrmals vom Scheitel bis in die kleinste Zehenspitze durchfahren hatte, allmählich schwächer wurde, zog er das Bettzeug ab, warf es zu einem Haufen neben der Tür auf den Boden und lüftete, während er im Badezimmer seine Toilette machte.

Damit fertig, zog er sich an und ging mit der Schmutzwäsche in den Keller, wo Sam die muffigen Überzüge und das Laken in die Waschmaschine stopfte. Erst danach ließ er den Hund vor die Tür und sah nach dem Wetter. Für Anfang Oktober war es warm. Beinahe zwanzig Grad Celsius zeigte das Außenthermometer an. Und der Nebel, der sonst so typisch für die pazifische Küstenregion war, hatte sich auch bereits aufgelöst. Am lichtblauen Himmel schraubte sich ein Braunpelikan in langgezogenen Bahnen abwärts zum Strand. Die Luft roch vertrauenswürdig nach Algen und dem Buttersalzpopcorn, das am Broadwalk des Santa Cruz Beach verkauft wurde. Es würde zwar noch ein paar Stunden dauern, bis der nahegelegene Vergnügungspark Neptune’s Kingdom aufsperrte und die ersten Korkenknallgeräusche von den Schießbuden und die spitzen Erschreckensschreie der Bikinimädchen vom Scheitelpunkt der Big Dipper Achterbahn zu hören waren, aber schon jetzt patrouillierten ein paar Jugendliche über das langgestreckte Gelände, um sich vorab ein Bild der Attraktionen zu machen, oder einander Mutproben für später zu stellen:

»Wetten, dass du nicht in den Double Shot steigst!«

»Du scheißt dich doch selbst an!«

»…«

»Bestimmt traust du dich nicht, den Fireball zu fahren!?«

»Was wenn ich’s mache?«

»Davon träumst du doch nur!«

»…«

»Hundertprozentig kotzt du dich im Undertow voll!«

»Nur wenn ich dich dabei ansehen muss!«

»…«

Nicht anders hatte Sam es im gleichen Alter gemacht. Jungen waren eben so. Voller Selbstüberschätzung und immer gewillt, die Ängste und Schwächen anderer aufzudecken, um von den eigenen abzulenken. Die Methode dazu lernte man früh und schnell. In der Schule, von Freunden und älteren Brüdern, seinem Vater und den Vätern der anderen. Man sah seine Vorbilder im Kino und Fernsehen, und las von hohen Idealen wie Mut und Stolz ja von allem, das Männlichkeit scheinbar ausmachte, oder zu ihr führte, in Büchern und den zahllosen Western-, Detektiv- und Geisterjägerheften, die schon um ein paar Cents an der Kasse in jedem Supermarkt zu kaufen waren. Und, als wäre das nicht schon genug gewesen, um als junger Mann endlos verwirrt und mit seinem Leben unzufrieden zu sein, weil man sich insgeheim nach dem Abenteuer sehnte, das einem das Gefühl gab, wirklich lebendig zu sein, indem man dem Tod getrotzt hatte, forderten die Mädchen jeder Clique ihrerseits einen Beweis dafür, dass sie es nicht nur mit irgendwelchen Feiglingen oder Maulhelden zu tun hatten, sondern mit echten Kerlen, die ein Risiko eingingen, wenn sie die Chance auf stundenlanges Knutschen am weiter entfernten Mittchell’s Cove Beach in Aussicht gestellt bekamen, und zogen rücksichtslos Vergleiche zwischen den Herausgeforderten, die wetteifernd manchmal sogar bis an ihre körperlichen Grenzen gingen:

»Tony Ouimet ist bis zur Spitze des Kais geschwommen, und zurück!«

... oder ...

»Ezra Miller hat gegen den vier Jahre älteren James Hannigan geboxt!«

In vielerlei Hinsicht war es ein dummer Fehler, an solche Dinge zu denken, und Sam schob die damit aufkommende Erinnerung wie ein gerahmtes Bild beiseite, das zu weit vorne auf der Kommode im Wohnzimmer stand, wo jeder es sehen kann.

Er pfiff auf seinen Fingern und rief den Hund, der gerade im Vorgarten mit seiner Schnauze durch den frisch ausgebrachten Aschedünger in den Blumenbeeten ging: »Dino, es reicht jetzt! Komm ins Haus!«

* * *

Dino war ein rötlich-brauner Ridgeback und gehörte genaugenommen Sams Tochter Lil, die ihn aber, als sie vor vier Jahren nach Los Angeles zog, nicht mitnehmen wollte.

»Wie stellt ihr euch das vor«, fragte sie und zog in Erwartung einer sofortigen Kapitulation ihre schmal gezupften Augenbrauen weit nach oben, »neben meiner Arbeit kann ich nicht noch einen Hund brauchen!«

»Und wie hast du es dir denn vorgestellt?« Sam wusste zwar, was von ihm erwartet wurde, aber er wollte auf keinen Fall, dass es als eine Selbstverständlichkeit angesehen, sondern dass er wenigstens darum gebeten wurde. »Deine Mutter und ich haben auch etwas zu tun, und …«

»Ihr habt einen Garten, und ich wohne in einem kleinen Appartement mitten in der City.«

»Als gebe es dort keine Hunde ...«

»Aber Dino ist das Leben hier gewöhnt; der Strand …«

»Los Angeles liegt auch am Meer ...«

»Mum, hilf mir, bitte!?«

Lil sah verzweifelt aus.

»Das ist eine Angelegenheit zwischen deinem Dad und dir, Schätzchen.«

»Aber er sagt …«

»Ich sage nur, was auch stimmt.« Sam stand vom Sofa auf und schenkte sich am Getränkewagen etwas Soda nach. »Dino ist immerhin dein Hund.«

»Dass ich nicht lache.«

Lil zog eine breite Grimasse und schnaubte wie eine Dampflok, die einen Steilhang nicht hochkam.

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, dass Dino schon lange nicht mehr mein Hund ist.«

»Ich kann mich erinnern, dass du ihn haben wolltest.«

Er nahm einen Schluck und genoss das Ausperlen der Kohlensäure auf seiner Zunge.

»Und wer hat ihm die Tricks beigebracht und geht täglich mit ihm raus ...«

»Das mache ich nur, weil sonst keiner …«

»... lässt ihn im Auto vorne sitzen und im Bett schlafen, oder füttert ihn bei Tisch?«

»Was ist schon dabei?«

Sam sah Jillian an.

»Sie hat recht, Darling.«

»Bist du jetzt auf ihrer Seite, oder was?«

»Das ist kein Wettstreit, Samuel.«

»Sieht mir aber ganz danach aus.« Er nahm seine Tochter in den Blick und versuchte herauszufinden, was sie dachte. »Also was willst du, Lil?«

»Dino soll bei euch bleiben dürfen.« Sie lächelte siegesgewiss. »Und zum Ausgleich bezahle ich euch das Hundefutter. Was haltet ihr davon?«

»Das ist nicht nötig, Schätzchen.«

Sam fixierte seine Ehefrau.

»Ich denke, es ist das Mindeste, was sie tun kann.«

Jillian wandte sich jedoch unbeeindruckt an ihre Tochter.

»Darüber sprechen wir noch.«

Sie lächelten einander an.

»Okay! Damit ist ja alles geklärt!« Lil erhob sich und strich die Hose über ihrem Hinterteil glatt. »Ich glaube, das ist die richtige Entscheidung.«

* * *

»He, hast du nicht gehört!?« Sam schlug mit der flachen Hand auf seinen Oberschenkel. »Du sollst ins Haus kommen!«

Dino hob seinen marmorierten Schädel knapp über die Schultern und bellte einmal schwach.

»Komm schon, Kumpel, ich hab’ einen Riesenhunger.«

Sam drückte die Tür weiter auf und winkte den Hund an sich vorbei. Dann ging er ihm hinterher in die Küche und sah sich lustlos um. Wie an jedem Morgen hatte Jillian sein Frühstück schon vorbereitet. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit Haferflocken, getrockneten Früchten und verschiedenen Nüssen, im Kühlschrank fand sich ein Teller mit frischen Ananasscheiben und Apfelspalten, und in der Mikrowelle über der Anrichte wartet ein Glas Halbfettmilch darauf, erhitzt und über das Müsli geleert zu werden.

»Und was gibt’s für dich?« Sam holte Dinos Fressnapf unter der Spüle hervor und den Zwölfeinhalb-Kilo-Sack Trockenfutter aus der kleinen Abstellkammer. »Soll Lamm mit Reis sein ... wer’s glaubt ... sieht mir eher nach Hasenkötteln aus.« Er schüttete ein paar handvoll der pillenförmigen Kroketten in den Napf und schob diesen Dino hin, der sich sofort schnaubend und stobend darüber hermachte. »Na, wenigstens dir schmeckt’s.«

Seitdem Doktor Greenspan bei Sam erhöhte Cholesterinwerte festgestellt und ihm deswegen eine strikte Diät und entschieden mehr Bewegung verordnet hatte, erlaubte Jillian keine Rühreier mit Speck oder Pioneer’s Pfannkuchen mehr. Alles Essen durfte nur noch gesund und lebensverlängernd sein, ohne Ausnahme. Sogar gestern, während des Boxkampfes musste Sam sich mit grünem Tee, rohen Selleriestangen und ungesalzenen Reiswaffeln begnügen.

* * *

»Schmeckt ja wie Styropor«, sagte er übellaunig und schielte eifersüchtig auf Bart Melloys Bierflasche und den fettigen Eimer mit Hühnerschenkeln und Chili-Bratkartoffeln, der auf dem Wohnzimmertisch stand. »Ich glaube, du willst mich umbringen.«

Jillian verdrehte die Augen und würdigte den Satz mit keinem Wort. Stattdessen fragte sie ihre Gäste: »Wer will noch was aus der Küche, bevor der Kampf losgeht?«

Alex MacGinty, Bobby Andergast und seine Frau Jeanne nahmen jeder noch eine Falsche Bud Light, und Zoë Richardson verlangte nach einem Teller und Besteck.

»Die isst man mit den Händen«, protestierte Bart und zeigte augenblicklich seine Überzeugung, indem er sich einen glatt glänzenden Hühnerschenkel aus dem Kartoneimer angelte und ihn wie einen Maiskolben zwischen seinen Zähnen rotieren ließ. »Siehst du, so geht das!«

»Das kann ich leider nicht.« Zoë rümpfte beim Anblick der Essensflecken auf Barts T-Shirt ein wenig die Nase. »Dazu braucht man ... ähm ... besondere Fähigkeiten, denke ich.«

»Was willst du mir damit sagen?«

Bart ließ das Hühnerteil sinken und leckte sich die verschmierten Lippen; für einen kurzen Moment sah er gefährlich aus, wie ein Menschenfresser, der Blut geleckt hatte.

»Nichts.«

Zoë sah ihm direkt in die Augen und versuchte, so gelassen wie möglich zu wirken, während sie sich innerlich dafür verfluchte, nicht den Mund gehalten zu haben. Ihre äußere Gelassenheit konnte jedoch nicht zur Gänze ihre Nervosität verbergen.

»Willst du damit etwa andeuten, dass ich ein Schwein bin?«

»Nein.« Sie schüttelte verzagt den Kopf und wickelte, plötzlich nervös geworden, ihre weiße Papierserviette um die schlanken Finger. »Das würde ich nie …«

»Macht ja nichts, wenn’s so wäre«, lachte Bart schallend los und fuchtelte mit dem abgekauten Knochen durch die Luft, als schwenkte er eine Miniaturausgabe der Nationalflagge zur Parade am 4. Juni. »Ich weiß, ich habe die Manieren eines Schweins.«

»Beleidige die Schweine nicht«, mischte sich Bobby Andergast kurzerhand ein, und alle begannen daraufhin zu lachen, außer Sam, der gerade damit beschäftigt war, eine Selleriefaser aus seinen Zähnen zu pulen.

»Wollen wir auf die Entscheidung der Punkterichter wetten?«, fragte Alex MacGinty vorfreudig und rieb sich die Hände, als würde er frieren. »Ich glaube Klitschko macht’s.«

»Ich bin für Potevkin!«

»Denkst du wirklich, der Russe hält zwölf Runden durch?«

»Nein, Wladimir haut den weg wie nichts, garantiert.«

»Wenn du dich da nicht täuschst, Povetkin hat den Heimvorteil.«

»Aber Klitschko ist größer und hat mehr Reichweite.«

»Und Potevkin hat noch keinen Kampf verloren.«

So ging es noch eine ganze Weile weiter, pro und contra, hin und her, bis Sam endlich den Fernseher anstellte und auf den Sportkanal schaltete.

»Könnt ihr einfach ruhig sein, damit wir uns den Kampf ansehen können«, sagte er unterdrückt scharf und suchte sich einen Platz, an dem es weniger nach Gewürzpulver und frischem Bier roch.

* * *

Sam nahm die Milch aus der Mikrowelle und trank das Glas aus. Er aß die Apfelspalten und machte sich anschließend ein Roggenbrotsandwich mit Schinken, Käse und Ananasscheibe, das er in einer Pfanne in Butter briet. Damit setzte er sich an den Küchentisch und schaltete den kleinen Campingfernseher ein, der auf einem eigenen Rollwägelchen stand.

Die Bildröhre flimmerte einige Sekunden lang, dann baute sich das Schwarzweißbild allmählich auf, und aus dem anfänglich tiefsonoren Rauschen hörte man plötzlich die Stimme des Moderators: »Was war das für ein Weltmeisterschaftskampf!? Wladimir Klitschko gegen Alexander Potevkin. Die beiden Kontrahenten trafen gestern, am 5. Oktober 2013, um 22 Uhr Ortszeit, in Moskau aufeinander und gingen über die volle Distanz von zwölf Runden, welche Doktor Eisenfaust mit 119:104 Punkten wenig überraschend gewann. Dennoch gab es von Expertenseite einige Kritik an dem Champion zu hören, denn …«

Sam knipste den Apparat aus. Er wusste, was jetzt kommen würde. Nichts, das er selbst nicht auch schon wusste: In den ersten sechs Runden hatte Klitschko eine überwiegend schlechte Vorstellung gezeigt. Bis auf ein paar wenige Aktionen klammerte er den Russen häufig, als wollte er mit ihm tanzen und nicht gegen ihn boxen. Im Gegensatz dazu zeigte Potevkin zwar viel Kämpferherz, hatte aber wegen seiner unterlegenen Größe und der geringeren Reichweite kaum Chancen.

In der siebten Runde kam dann ein Rechts-Links-Treffer von Klitschko, der Potevkin zu Boden schickte, ihn jedoch nicht unten hielt. Der Russe wollte einfach nicht so leicht aufgeben, wurde aber, nach einem weiteren Schlaghagel von Klitshko, erneut von den Beinen geholt und vom Ringrichter angezählt. Nur der Gong rettete ihn.