Ein Grund zum Bleiben - Peter Seeberg - E-Book

Ein Grund zum Bleiben E-Book

Peter Seeberg

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Beschreibung

Ein Mann kommt mit dem Auto von der Strasse ab und verunglückt dabei schwer. Nach Monaten der Bewusstlosigkeit wird er schliesslich aus dem Krankenhaus entlassen. Gelähmt, stumm und hilflos, ist er auf Hilfe angewiesen. Drei Frauen kümmern sich innig um ihn: Seine Ehefrau, seine Freundin und die Geliebten. Trotz unkonventioneller Beziehungskonstellation finden die drei Frauen einen Weg um miteinander zurecht zu kommen. – Ein rührender und tiefgründig erzählter Roman.-

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Peter Seeberg

Ein Grund zum Bleiben

Saga

Ein Grund zum BleibenOriginaltitel: HyrderÜbersetzt von Walter Baumgartneropyright © 1972, 2019 Peter Seeberg und SAGA EgmontAll rights reservedISBN: 9788711512647

1. Ebook-Auflage, 2019Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nachAbsprache mit SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmontwww.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Laubhütte

Als Leo Gray an jenem frühen Februarmorgen aus Tauben hinausfuhr, fragte er sich, weshalb er überhaupt fortgefahren sei, wo es doch so gute Gründe zum Bleiben gab. Er war betrübt, er war glücklich gewesen. Er fuhr allein. Er war mit jemandem zusammengewesen, den er mochte, den er stets mögen würde. Aber nicht dauernd um sich haben. Das Glück nagt Wunden, die im Verborgenen heilen müssen.

Die Vorortstraßen waren miserabel, das alte Kopfsteinpflaster schaute durch unzählige Löcher durch. Schaukelnd und spritzend ging es durch Pfützen, einzelne Motorradfahrer bildeten eine ständige Gefahr, wenn sie im dunklen Regenumhang aus den Lücken in den Hecken bogen und die Fahrbahn überquerten, auf dem Weg zur Stadt, zur Arbeit.

Die Milchwagen hielten vor den Molkereien, in den halbdunklen Bäckereien legten Frauen Brote auf die Regale und ins Fenster; die Busse jagten von Haltestelle zu Haltestelle, halb besetzt mit Menschen, die aussahen, als wären sie auf Holz gemalt, aufrecht, leidend, ohne Morgenzeitung.

Endlich schob die Autobahn einen breiten, schwarzen Zubringer in die Stadt hinein, und er konnte sich durch ein paar Kurven zum zukünftigen Weltwunder dieser Gegend hinaufschrauben, das später einmal eine Reihe von Industriezentren miteinander verbinden sollte. Dort draußen wurde die gelbe Vorortbeleuchtung von der Dunkelheit des frühen Morgens und von den Nebelfetzen abgelöst, die wie aneinandergereihte gotische Gewölbe auf das Fahrzeug zurollten, später, bei höherer Geschwindigkeit, wie die berühmten bandgeometrischen Figuren. Er versuchte, dem Phänomen mit den Scheinwerfern beizukommen, aber das nützte nichts. Er mußte langsamer fahren. Er mußte versuchen, ruhig zu bleiben.

Ab und zu wurde er von selbstsicheren Fahrern überholt, die den Blick starr geradeaus in den Nebel gerichtet hielten, in der Gewißheit, so vor Überraschungen gefeit zu sein.

Leo dachte an die Zukunft. Sie war nicht lang. Sie umfaßte, was ihn betraf, höchstens vierundzwanzig Stunden, im besten Fall zwei Tage. Darüber hinaus schien ihm die Zukunft eine Reihe von Stationen, zu denen man eine Verbindung herstellen mußte, solange man noch nicht in ihrer Nähe trieb. Er würde sich erst einmal krank melden, sobald er nach Hause kam, dann würde er im Kamin Feuer machen und sich den Morgenrock anziehen, schließlich würde er sich aufs Sofa legen und dem Glück auf die Spur kommen. Er würde sich das Vergnügen gönnen, die kleine Geschichte vom Tambour zu Arcole zu lesen – wieder einmal –, wo der Junge mitten in der Schlacht mit seiner Trommel durch den Fluß schwimmt, die Österreicher umgeht und dann lostrommelt, so daß sie glauben müssen, die Franzosen seien nicht nur vor, sondern auch hinter ihnen, und flüchten. Eine gute Idee, einfach eine gute Idee. Sein ganzes Leben lang erzählte der Tambour diese Geschichte, jedesmal mit ein wenig veränderten Einzelheiten.

Später würde er Rosa anrufen und sich entschuldigen. Er könne heute nicht kommen und seinen Zahn behandeln lassen. Er bitte sie, statt dessen ihn zu besuchen. Er vermisse sie. Doch sie sollte nur kurze Zeit bleiben, denn er wollte einmal einen Abend allein verbringen. Und wenn Viola plötzlich nach Hause kam? Dann mußte er eben die nächste Gelegenheit abwarten.

Leo dachte an die Vergangenheit. Die ließ sich genau umreißen. Sie war kurz, aber reich, und sie hatte ganz sicher vor zwei Tagen begonnen. Alles, was davor lag, waren Voraussetzungen.

Vorgestern, dachte er, das war dieser Februartag, an dem sich die Sonne wie eine Schußwunde am Himmel gezeigt hatte, höchstens eine halbe Stunde. Er war im Dunkeln aufgestanden, hatte das Kaminfeuer angezündet, den Frühstückskaffee gekocht, sich in die Stube gesetzt und angefangen, ein Buch zu lesen. Um diese Zeit konnte er unbegrenzt und unsichtbar mit den Menschen verkehren. Dachte er morgens an eine Frau, würde sich ihr Mann nicht einmal im Bett umdrehen, doch um den Mund der Frau würde ein hübsches Lächeln spielen. Er sprach auch mit seinen alten, fernen Freunden – alle Freunde sind fern. Morgens fiel es ihnen plötzlich leichter, sich zu vertragen. Es war, als eilten sie durch eine Stadt über die ein Ausgangsverbot verhängt war, und hätten keine Zeit zu verlieren.

Die Morgenstunde war vorgerückt. Er hatte die Glut im Kamin zusammengeschoben und seinen Kaffee getrunken, er hatte gelesen, mit vielen Unterbrechungen, wenn ihn ein Gedanke gefangennahm. Als es dämmerte, hatte sich der Himmel ein wenig aufgehellt. Es war kälter geworden, und die Nebelfetzen hatten sich zusammengezogen wie eine zornige Augenbraue. Die Sonne war hervorgekrochen, ohne daß er es bemerkte. Sie hatte plötzlich über der Fernsehantenne von Matthäus gestanden und so fremd ausgesehen, daß er hinaus auf die Terrasse gegangen war, um sie zu betrachten. Je höher sie stieg, desto dichter wurde der Nebel. Das hatte er deutlich feststellen können. Eine halbe Stunde lang war es möglich gewesen, das Wohnviertel zu betrachten. Die Autos rollten mit gezogener Starterklappe davon, und die Mütter mit dem Kleinsten auf dem Arm winkten dem wegfahrenden Erzeuger von der Treppe aus nach. Die Hochhäuser am südlichen Höhenzug standen horchend einander zugeneigt da. Die Altstadt unten im Tal mit den Schloten der unrentablen Maschinen- und Textilindustrie sah roter aus als sonst.

Dann war die Sonne in ihrem eigenen Dunst erstickt, im Hafen draußen hatten die Nebelhörner losgebrüllt, die Abblendlichter der Autos schlichen auf den Straßen dahin. Nach dem ersten Husten war er hineingegangen.

Viola war inzwischen aufgestanden. Er hatte für sie Tee aufgegossen, Brot getoastet, Eier gekocht und eine Grapefruit halbiert, er hatte die Zeitung geholt und hingelegt und sich dann fertiggemacht; er wollte gehen, sobald sie auftauchte. Da sie auf sich warten ließ, hatten sie durch einen Spalt in der Badezimmertür vereinbart, sich am Nachmittag bei einem Autohändler in der Stadt zu treffen. Viola hatte sich dort ein neues Auto gekauft, einen hellblauen Sportwagen, obwohl sie lange den großen Caravan umkreist hatte – weil er so praktisch war.

Er hatte seinen Tag begonnen. In der Toreinfahrt des Altersheims, wo er seinen Wagen geparkt hatte, standen Männer, die sich die Mäntel zuknöpften, bevor sie in Richtung Stadt davongingen; andere standen einfach da und sahen sich um. Er war an der Mauer mit den zerrissenen Wahlplakaten und den großen Kreideaufrufen entlanggegangen, am Bäcker mit den Pyramiden von Frühstücksbrötchen vorbei, am Blumengeschäft mit den grünen Kränzen und am Begräbnisunternehmen mit den stilvollen Urnen, am orthopädischen Schuhmacher mit seinem Kellerfenster voller Pornographica vorbei und am Kolonialwarengeschäft mit dem billigsten Kirschwasser- und Kaffeeangebot der ganzen Stadt. Dann war der kleine Park gekommen mit seinem dichten Rasen und den Hängebirken im Nebel, dann der gelbe Block mit den Rentnerwohnungen und den Wellblechbalkons, wo die Weihnachtsbäume, die keine Müllabfuhr holen wollte, mit den Spitzen über den Rand schauten, bis sich eine Gelegenheit ergab, sie mit aufs Land oder in einen Garten zu nehmen.

Im obersten Stockwerk links hatte er geläutet, und in der Wohnung hatte ein Mann laut: «Herein» gerufen.

«Sind Sie es, Herr . . .» hatte der Mann gesagt, Leo die Hand gereicht und ihn gemustert. Er trug eine schwarze Brille; in dem einen Glas war eine starke Lupe eingeschliffen, die es ihm ermöglichen sollte, sich durch das Buch, das vor ihm lag, zu buchstabieren, wenn er es im richtigen Abstand hielt.

«Jaja, Herr Belinsky», hatte Leo geantwortet. «Sie haben Unannehmlichkeiten gehabt mit unseren Leuten, wenn ich das richtig verstanden habe?»

«Ach, ich weiß nicht», sagte Belinsky. «Sie wollen ja alle mein Bestes, besonders nach dem Tod meiner Frau, und ganz besonders diese Dame von Ihnen: ‹Warum ziehen Sie nicht um, Belinsky? Sie würden es viel besser haben. Sie kommen alleine nicht zurecht !› Ich kann diesen Leuten einfach nicht klarmachen, daß ich mein Privatleben behalten will.

Viele glauben nicht, daß man so etwas überhaupt hat. Wenn man lange auf einer Bank sitzt, in einem Park oder auf einem Hinterhof, weil man müde ist oder bloß, um nachzudenken oder weil die Sonne scheint und wenn man nicht gut sieht, dann ist man ein Opfer. Dann setzt sich jemand auf die Bank, sag’ ich Ihnen, und aus Mitleid reden sie mit einem, und es gibt viele, die selbst schon ein bißchen ins Alter gekommen sind, die gerne etwas für einen tun. Glauben Sie bloß nicht, daß wir völlig fertig sind. Die können leicht Hilfe anbieten, weil sie die Stärkeren sind, das ist nett von ihnen, man ist der Schwächere, und man hat überhaupt nichts dagegen, wenn so eine Dame einen mit sanfter Hand am Arm nehmen und ein Stück begleiten will. Das kann leicht Folgen haben, sehr leicht.» Belinsky räusperte sich. «Es ist ja ein großes Elend, wenn man damit ganz allein ist.» Er sah sich im Zimmer um und summte dabei vor sich hin. «Gehen Sie mal in die Küche», sagte er dann.

In der Küche hatte Leo eine kleine, alternde Frau angetroffen, die eine geblümte Schürze trug und Kartoffeln schalte. Sie warf Leo einen scheuen Blick zu und trat leicht hinkend zur Seite.

«Oh», sagte Leo, «so steht es also. Aber das ist doch ausgezeichnet.»

«Ja, das ist ausgezeichnet.» Sie errötete.

Belinsky rief herüber: «Verstehen Sie nun das Ganze?»

«Nicht das Ganze», antwortete Leo und nickte der Frau zu. Er ging in die Stube zurück und wiederholte: «Nicht das Ganze.»

«Die Dame, die Sie sahen, wohnt bei mir. Wir wollen heiraten, aber das wird noch zwei, drei Monate dauern. Sie wohnt in einer anderen Wohnung des Blocks, weiter drüben und weiter unten, weil sie nicht so gut Treppen steigen kann. Nun ist es so, daß ihr Mann noch nicht gestorben ist, er liegt im Krankenhaus. Es zieht sich lange hin, aber es ist völlig hoffnungslos. Es geht mit ihm bloß so langsam. Der Arme. Und deshalb können wir noch nicht gleich heiraten, aber welche Wohnung können wir sofort bekommen? Ich kann hier als Alleinstehender nicht wohnen bleiben, heißt es.»

«Das Einfachste wäre, wenn Sie zu der Dame hinunterziehen», sagte Leo.

«Das wäre wohl nicht gerade das Richtige. Dem Mann gegenüber», sagte Belinsky. «Doch für uns? Wir leben ja auch nicht ewig, und wir mögen einander. Aber die Nachbarn haben gedroht, sie würden es dem Mann erzählen.»

«Ziehen Sie hinunter, und dann warten wir ab, was geschieht», schlug Leo vor.

«Man hätte ja gern etwas Sicheres gewußt, so daß man sich danach richten kann», hatte Belinsky gesagt.

Leo war aufgestanden und hatte sich verabschiedet. Als er hinausgegangen war, hatte Belinsky die Hand zu einem Gruß erhoben, eine Geste, die nicht zu beantworten war.

Das war überstanden, und er war wegen der Wurzelbehandlung zu Rosa gegangen; danach ins Büro, um den Bericht über die Belinsky-Sache zu diktieren, der bei einer Abteilungskonferenz vorgelegt werden sollte, damit man in Zukunft etwas beweglicher vorgehen konnte. Danach hatte er mit Viola das Auto gekauft. Am späten Nachmittag hatte sie angerufen und ihm mitgeteilt, sie reise in die Winterferien, um das Auto einzufahren. Sie habe noch ein paar Ferientage zugut, und die Firma habe sie gebeten, die jetzt zu nehmen. Er hatte entgegnet, das sei doch eine völlig idiotische Zeit, um Ferien zu machen, aber sie könne ja wohlnichts dafür. Er wünsche ihr jedenfalls alles Gute. Sonst hatte er den Mund gehalten. Sie verdiente seit langem mehr als er, und sie ließ keine Gelegenheit ungenutzt, ihm zu zeigen, daß sie ihr eigener Herr war, auch in Gefühlsdingen.

Abends hatte er Rosa und Connie besucht. Connie sah ganz vernünftig aus, obwohl er in der letzten Zeit mehrere Anfälle von Verfolgungswahn gehabt hatte. Auch Rosas Vater war dort gewesen. Connie ging nach dem Essen zu einer Versammlung, der Vater blieb noch ein wenig, und schließlich hatte er, Leo, allein in einer Sofaecke gesessen, halb schlafend über eine Illustrierte gebeugt, die einen verwegenen Artikel über die Zukunft brachte, in der die Menschen gezwungen sein würden, sich das Dasein als ein großes Spiel einzurichten, an dem man teilnahm. Das würde nicht völlig gefahr- und risikolos sein.

Rosa war mit zu ihm nach Hause gegangen. Anfangs hatte sie der Gedanke geplagt, ihre Tochter allein gelassen zu haben. Sie war aber völlig verwandelt, als sich herausstellte, daß er seine Schlüssel vergessen hatte; sie mußte durch ein rasch eingeschlagenes Fenster einsteigen, wobei sie das Regal mit den Haferflocken und dem Scheuerpulver umstieß. Sie hatte sich köstlich amüsiert und war erst spät am Morgen nach Hause gegangen, nachdem sie sich mehrere Stunden im Badezimmer eingeschlossen hatte, weil er sie einmal seine Schwester genannt hatte.

Am Tag darauf war er dann zu dem Kurs nach Tauben gefahren, bei miserablem Wetter und auf schlechter Straße, genau wie jetzt, bei der Rückefahrt.

Leo Gray hielt nicht viel von seinen Kollegen; sie waren ihm zu eifrig bei der Arbeit, und sie hatten ihr ganzes Leben nur auf eine einzige Idee gesetzt, an der sie auch festhielten, als sie längst keine Funktion mehr erfüllte. Die Methoden der Werbe- und Militärpsychologie hatten angefangen, sich bei den smartesten Ideologen der Sozialfürsorge durchzusetzen. Das Gute war eine Ware, die ansprechend verpackt werden wollte.

Entrüstung war stets ein gutes Zeichen für Leben und Wärme, das er bei anderen nicht missen wollte, bei sich selbst aber kaum fand. Doch er freute sich auf den Kurs, ganz einfach, weil er dort Erna treffen würde. Er hatte den Blick über die Stuhlreihen gleiten lassen, sie aber nicht entdecken können. Er hatte dann ganz hinten Platz genommen und ein sommersprossiges Lächeln und einen raschen Händedruck erhalten, als sie – ein wenig verspätet – an ihm vorübereilte, nach vorn, zu den ersten Stuhlreihen, wo sie immer saß, damit sie nicht so weit zu laufen brauchte, wenn sie opponierte.

Die ersten Redner hatten seltsame Vorschläge unterbreitet, und Erna hatte einem der Referenten sogar Ohrfeigen angeboten; dann aber war es doch recht gemütlich geworden. In der Mittagspause hatte er am Ausgang auf Erna gewartet. Sie war fröhlich auf ihn zugekommen, hatte seinen Kopf in die Hände genommen, ihm die Ohren gerieben wie einem kleinen Kind.

«Hallo, du langweiliger Kerl! Muß ich denn immer alles alleine sagen?»

Sie setzten sich an einen Tisch. Er legte seine Hand auf die ihre, und sie legte ihre zweite Hand darüber, und er vollendete den Turmbau mit einem Klaps und sagte: «Erna . . .» Sie machte ihre linke Hand frei, um Bier einzuschenken. «Kennst du das neue Spiel?»

«Ja, Leo, ich kenne es.»

«Donnerwetter, Erna. Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Hast du es mit jemandem gespielt?»

«Ja», antwortete sie. Er hielt ihr seine Hand entgegen, und sie schlug ihm mit der geballten Faust auf die Handfläche.

Als das Nachmittagsprogramm abgewickelt war, warfen sie die Taschen in ihre Wagen und gingen in die Stadt. Es war dunkel geworden. Die Straßenbeleuchtung spiegelte sich fett auf Gehsteig und Fahrbahn, Menschen mit schmalen oder breiten Gesichtern kamen ihnen entgegen und sahen sie nicht an; sie gingen vorbei nach links und rechts, mit einer langen Liste von Punkten im Kopf, nach denen der Heimweg ablaufen würde.

«Wir haben Glück, Leo», sagte Erna, legte den Arm um seine Hüfte und griff nach seiner Hand.

«Alle haben Glück, Erna. Es landet ein grünes Blatt auf deiner Hand, und das kann genug sein.»

«Das ist nicht genug», sagte sie.

«Nein», sagte er. «Aber es nützt nichts, etwas verlangen zu wollen. Das ist es.»

«Tja», murmelte sie.

Sie aßen gemeinsam, tanzten gemeinsam, bummelten gemeinsam durch die Stadt und gingen gemeinsam ins Hotel.

«Das wird allmählich zur schlechten Gewohnheit», hatte Erna gesagt und ihm das Haar zerzaust.

«Zweimal im Jahr!»

«Eine kleine Selbsttäuschung, Erna», entgegnete er und freute sich über die Haut ihres Rückens, die glatt war und duftete. «Es ist gegen die Weltordnung.»

«Nein, Leo. Dann hast du überhaupt nichts begriffen.»

Mit ihr zusammen wurden die Zärtlichkeit und die Wärme zu dem, was ihnen die geflohene Liebe zum behutsamen Gebrauch zurückgelassen hatte. Sie hörten die Flügel in der Ferne, sie sahen das Licht, es war, als besäße jeder die Stimme des anderen.

Erna hatte ein paar Tränen vergossen, als er am Morgen aufgebrochen war. Sie wußten nicht, wann sie sich wieder einmal treffen würden, es gab zwischen ihnen keine Verabredungen.

«Können wir nicht noch gemeinsam frühstücken?» hatte sie gefragt. Doch das wäre zuviel gewesen für ihn. Er hatte fortgewollt. Und nun war er auf dem Weg nach Hause.

Die Scheinwerfer zählten rhythmisch die Katzenaugen am Straßenrand und lasen ab und zu blitzschnell die kleinen Schilder: «Unbefestigter Randstreifen», die dem modernen Straßenbau folgten, wohin man auch kam, während die großen Verkehrsschilder zu spät bemerkt wurden und unentziffert wieder in das Dunkel tauchten.

Was er während der letzten vierzig Kilometer noch tun konnte, war, wie schon so oft, über seinen Platz im Weltmodell nachzudenken, das er als ein nicht ausbalanciertes System von unermeßlichen, meistens nicht direkt gegenseitigen Hilfeleistungen ansah. Sich selbst treu bleiben, könnte die Voraussetzung sein, um richtig helfen zu können, in der letzten Konsequenz aber würde das eine Verarmung der Hilfsmöglichkeiten bedeuten, und immer weniger konnte dann denen geholfen werden, die sich nicht selbst halfen. Die innere Freiheit flammt auf in der gegenseitigen Abhängigkeit, die alle miteinander verbindet. Alles war Hilfe und Hilflosigkeit, das würde sich nie ändern. Er war an dem Punkt angelangt, wo er seine eigene Situation nicht mehr verbessern konnte, ohne einen moralischen Einsatz, den er von vornherein als zwecklos ansah. Er dachte daran, daß er Viola gegenüber freundlicher sein sollte, vielleicht sogar liebevoller. Sie waren nicht verheiratet, er war ihr im Grunde nichts schuldig, sie hatten jedenfalls nichts abgemacht. Doch es war klar, daß es netter wäre, wenn sie einander mehr Wärme entgegenbrachten, wo sie nun schon zwölf Jahre zusammen lebten. Nur war der Zeitpunkt schlecht gewählt. Was wollte er eigentlich? Viola war ihre eigenen Wege gegangen, vielleicht war sie eben dabei, auf einen Seitenpfad ihres gemeinsamen Schicksalsweges einzubiegen, wo sie einen anderen traf, und er es ihr um so leichter machte, je weniger Verstehen er ihr entgegenbrachte. Er hätte selbst seiner Wege gehen können, das wäre fair gewesen; doch das hatte er nie fertiggebracht, aus Furcht davor, in dieser kleinen Gruppe von Männern und Frauen zu landen, die von zu Hause weggelaufen waren, in einem bestimmten Restaurant in der Stadt zusammensaßen und abwechselnd beieinander wohnten, um herauszufinden, ob sie den einen oder anderen mehr als nur ein paar Stunden ertragen könnten. Eigentlich gehörte er zu ihnen. Die Männer rauchten und tranken zuviel, sie waren die halbe Woche unrasiert, trugen blaue Hemden mit weißen Streifen, bekamen Bierbäuche und aufgedunsene rote Köpfe. Aber es war gut, daß sie nicht allein waren.

Er sollte sich vielleicht auch etwas mehr für seinen Sohn Mark interessieren, der an irgendeiner Universität studierte, auf Kuba gewesen war und nun mit aller Kraft die Revolution vorbereitete. Das war beeindruckend. Er schrieb fast nie, doch war das begreiflich, da Viola nicht seine Mutter war und sein eigenwilliges Wesen nur mit Mühe akzeptierte. Doch es hatte keinen Sinn, an diesem Punkt anzusetzen. Mark würde auf sein Interesse pfeifen und ihn bitten, auf sich selbst aufzupassen. Und ihn darauf aufmerksam machen, daß er so sehr in eine hoffnungslos wahnwitzige Menagerie verstrickt war, daß er nur in einer Ausnahmesituation vielleicht eine Chance hätte, ein ehrbarer Mensch zu werden, indem er sich für ein echtes Ziel opferte oder – um das Ganze wahrscheinlicher zu machen – geopfert würde. Wenn er diesen Gedanken nachhing, hatte er schon oft daran gedacht, als Experte in ein Entwicklungsland zu gehen, doch ihm war, je mehr die Entwicklungshilfe Form annahm, immer klarer geworden, daß all die unterentwickelten Länder bestimmt viel größere Aussichten hatten zurechtzukommen, wenn er sie nicht mit seiner impertinenten Selbstrechtfertigung behelligte.

Sich selbst sah er so: moralisch sensibel, doch ohne die Fähigkeit zu handeln. Er bevorzugte das Unauffällige, Taktvolle, Rücksichtsvolle. Er besaß ein umfassendes Solidaritätsgefühl, war aber ohne jede Dynamik; er operierte im Rahmen des Gegebenen.

Er war völlig einverstanden mit der Behauptung, man teile die grundsätzlichsten Vorurteile der Gesellschaft, doch dieser Gedanke lähmte ihn nicht, ein gewisser Spielraum zur freien Orientierung blieb immer. Das befreite ihn jedoch nicht von dem entscheidenden Merkmal seiner Existenz: daß er mit festem Gehalt fest angestellt war und daß er sich unter anderen Bedingungen kaum zurechtfinden würde. Es war keine unbillige Abhängigkeit, aber sie prägte seine Einstellung zu dem, was Voraussetzung war für die Aufrechterhaltung dieser Bedingungen. Für ihn war es am besten, wenn alles beim alten blieb: beim Status quo. Das war der eine Glaubenssatz. An wen – außer an sich selbst – dachte er mit einer solchen Selbstverständlichkeit, wenn er für den Status quo eintrat? Nicht an viele. Das war der andere Glaubenssatz. Die Welt, das war er selbst, sein Job, der groß und progressiv war, und ein Geschäft, in dem er bedient wurde.