Ein Mann seiner Klasse - Christian Baron - E-Book

Ein Mann seiner Klasse E-Book

Christian Baron

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Beschreibung

»Mochte mein Vater auch manchmal unser letztes Geld in irgendeiner Spelunke versoffen, mochte er auch mehrmals meine Mutter blutig geprügelt haben: Ich wollte immer, dass er bleibt. Aber anders.« Kaiserslautern in den neunziger Jahren: Christian Baron erzählt die Geschichte seiner Kindheit, seines prügelnden Vaters und seiner depressiven Mutter. Er beschreibt, was es bedeutet, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Wie es sich anfühlt, als kleiner Junge männliche Gewalt zu erfahren. Was es heißt, als Jugendlicher zum Klassenflüchtling zu werden. Was von all den Erinnerungen bleibt. Und wie es ihm gelang, seinen eigenen Weg zu finden. Mit großer erzählerischer Kraft und Intensität zeigt Christian Baron Menschen in sozialer Schieflage und Perspektivlosigkeit. Ihre Lebensrealität findet in der Politik, in den Medien und in der Literatur kaum Gehör. Ein Mann seiner Klasse erklärt nichts und offenbart doch so vieles von dem, was in unserer Gesellschaft im Argen liegt. Christian Baron zu lesen ist schockierend, bereichernd und wichtig.

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Ein Mann seiner Klasse

Der Autor

Christian Baron wurde 1985 in Kaiserslautern geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier. Nach Stationen bei der Lokalzeitung Die Rheinpfalz und Neues Deutschland sowie Veröffentlichungen bei nachtkritik, Neue Zürcher Zeitung und Theater der Zeit arbeitet er seit 2018 als Redakteur bei der Wochenzeitung der Freitag.

Das Buch

»Mochte mein Vater auch manchmal unser letztes Geld in irgendeiner Spelunke versoffen, mochte er auch mehrmals meine Mutter blutig geprügelt haben: Ich wollte immer, dass er bleibt. Aber anders.«

Kaiserslautern in den neunziger Jahren: Christian Baron erzählt die Geschichte seiner Kindheit, seines prügelnden Vaters und seiner depressiven Mutter. Er beschreibt, was es bedeutet, in diesem reichen Land in Armut aufzuwachsen. Wie es sich anfühlt, als kleiner Junge männliche Gewalt zu erfahren. Was es heißt, als Jugendlicher zum Klassenflüchtling zu werden. Was von all den Erinnerungen bleibt. Und wie es ihm gelang, seinen eigenen Weg zu finden.

Mit großer erzählerischer Kraft und Intensität zeigt Christian Baron Menschen in sozialer Schieflage und Perspektivlosigkeit. Ihre Lebensrealität findet in der Politik, in den Medien und in der Literatur kaum Gehör. Ein Mann seiner Klasse erklärt nichts und offenbart doch so vieles von dem, was in unserer Gesellschaft im Argen liegt. Christian Baron zu lesen ist schockierend, bereichernd und wichtig.

Christian Baron

Ein Mann seiner Klasse

Ullstein

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claassen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Alle Rechte vorbehaltenAutorenfoto: © Hans ScherhauferUmschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-8437-2244-5

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Zorn

Glück

Schmerz

Überraschung

Scham

Stolz

Angst

Liebe

Hass

Hoffnung

Zweifel

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Zorn

Zorn

Am Sterbebett hielt er ihn an der Hand. Ihn, der vor lauter Schläuchen und Verbänden und Kanülen nicht mehr reden konnte. Also waren die Tränen ihre Sprache. Tränen der Trauer, Tränen der Wut, Tränen der Reue – und Tränen der Erleichterung. In diesem Moment auf der Intensivstation des Westpfalz-Klinikums in Kaiserslautern erhielt ein Vater von seinem Sohn das Wertvollste, das ein Vater von seinem Sohn erhalten kann: einen Freispruch in allen Anklagepunkten.

Er sprach den Vater frei von jeder Schuld an den Wunden, die sich in die Kinderseele eingebrannt hatten. Er sprach den Vater frei von jeder Schuld an der Armut, in der die Familie leben musste. Und er sprach den Vater frei von jeder Schuld am Krebs, an dem acht Jahre zuvor die Mutter gestorben war, im Alter von zweiunddreißig Jahren. Ohne ein einziges Wort, nur mit einem Händedruck und einem sanften Blick, sagte der Sohn dem Vater während dessen letzten Atemzügen im Oktober 2003: »Ich verstehe dich. Ich verzeihe dir. Ich hab dich lieb.«

Ich hab dich lieb. Das ist ein Satz, der dem Vater niemals über die Lippen gekommen wäre. Mir aber auch nicht. Zumindest nicht ihm gegenüber. Für meinen Vater war das ein Frauensatz. Darum war es das auch für mich. Wenn ihn ausnahmsweise die Zuneigung zu seinen Söhnen übermannte, dann nannte er mich und meinen Bruder Benny »Meine Gutsten«. Den sprachlichen Fehler und den daraus sich ergebenden Witz erkannten wir schon damals, und ohne es als Kinder wirklich begreifen zu können, fühlten wir uns mit diesem ironischen Bekenntnis des Vaters wohler, als wenn er uns »in Frauensprache« bezärtelt hätte.

An Gott hab ich nie geglaubt. Aber wen hätte das je vom Beten abgehalten? Also lag ich wispernd unter der Bettdecke: Heute Abend, nur heute Abend möge der Sturm bitte schnell vorüberziehen. Ich dachte an die Nachbarin von gegenüber, die beim Müllrausbringen immer die Dresche überhörte. Ich dachte an den Mann von oben mit dieser Elvisfrisur, der beim Treppenhinabsteigen seine Kopfhörer aufsetzte und die Technomusik aufdrehte, bis das Wummern seines Walkmans das Wimmern meiner Mutter verschlungen hatte. Und ich dachte an das Keuchen der Alten aus dem Erdgeschoss, die vor ihrer Wohnungstür spätabends den Staub von der Fußmatte klopfte, im gleichen Rhythmus, wie die Schläge und Schreie durch das Treppenhaus hallten. Sie war die selbst ernannte Hausmeisterin, die über alles Bescheid wusste, aber nichts mit dem zu tun haben wollte, was sich bei uns abspielte.

Mein Bruder Benny und ich, zwei Jungs von neun und acht Jahren, ich blond und klein, er mit dunkler Mähne und ein echter Schlaks, teilten uns im Jahr 1994 ein Etagenbett. Unsere Eltern schliefen direkt neben unserem Zimmer. Darum drang es dumpf bis zu uns, wenn Mamas Kopf gegen die Wand donnerte. Niemals verloren wir darüber ein Wort. Wir spürten den Schmerz, wir betrachteten unsere zitternden Hände, wir warfen einander Blicke zu. Das Flehen und das Flennen wurden uns mit der Zeit zur Normalität.

Heute ließ beides besonders lange auf sich warten. Ich vergrub mein Gesicht unterm Kissen und genoss die letzten Minuten der Abendstille. Wie lange wartete ich? Vielleicht fünf Minuten. Kurz zog ich das Kissen weg, um frische Luft zu schnappen. Nichts. Oder doch? Draußen schlurfte mein Vater umher. Aus den halbwegs regelmäßig vernehmbaren Schritten schloss ich, dass er diesmal unter zehn Flaschen Bier geblieben war. Das aber musste noch nichts heißen. Auf der Türschwelle blieb er stehen. Der Schatten seiner starken Arme wanderte die Tapete entlang, da versenkte ich meine Nase wieder in das mit Tränen und Schweiß getränkte Kissen.

Schon vor Monaten hatte ich daraus einen Wettbewerb gegen meine Lunge gemacht. Mit jedem Mal nahm ich mir vor, einen neuen Rekord aufzustellen. Irgendwann würde ich bei den Paralympischen Spielen antreten. Ja, ich würde dort antreten und als Asthmakranker im Luftanhalten die Goldmedaille gewinnen. Irgendwann. Jetzt war ich durchgeschwitzt und brauchte Sauerstoff. Nichts war zu hören. Warum, dachte ich, bringt er es nicht hinter sich? Wieso zögert er? Was soll das alles?

Alle paar Monate tauschten Benny und ich die Plätze im Bett. Gerade lag ich oben. Von da konnte ich durch die offene Tür direkt ins Wohnzimmer blicken. Dort fuhrwerkte mein Vater am Fernseher, er verschob das Sofa, er rülpste sein Scheißegal-Rülpsen, und dann stand er wieder auf der Schwelle zum Kinderzimmer.

Seine glasigen Augen starrten mich an. Seinen rechten Arm hob mein Vater an, als schwinge er einen Hammer. Da kam aber kein Hammer zum Vorschein, sondern nur seine Hand. Seine winkende Hand. Wollte er sein Werk also diesmal im Wohnzimmer vollbringen?

Wie zwei zum Tode verurteilte Verbrecher auf ihrem letzten Gang, verließen mein Bruder und ich gesenkten Hauptes unsere Zelle und schritten dem Henker hinterher. Im Wohnzimmer spendete nur der flimmernde Fernseher ein wenig Licht.

»Wo ist Mama?«, fragte ich.

»Weg«, sagte mein Vater.

»Weg?«

»Weg.«

Sie war noch nie »weg« gewesen. Schon gar nicht ohne Vorwarnung. Ich musste ziemlich verdutzt dreingeschaut haben, denn das folgende Lächeln und der erklärende Zusatz »Krankenhaus« sahen meinem Vater so gar nicht ähnlich. Was sollte sie im Krankenhaus schon machen? War dort irgendwer eingeliefert worden, den wir kennen? War gar Mama krank?

»Was macht sie im Krankenhaus?«, fragte Benny.

»Hinsetzen«, befahl mein Vater, während er sich wieder am Fernseher zu schaffen machte und kniend den Kabelsalat entwirrte.

Als ich mich auf das Sofa setzte, starrte Benny schon auf den Bildschirm. Ich tat es ihm nach, und mein Mund blieb offen stehen. Ich las die riesigen Buchstaben auf der Mattscheibe: Super Mario Bros. Darüber ein paar Zahlen, darunter »1 Player Game« und »2 Player Game«, und ganz unten links stand ein winziges Männlein mit roter Mütze und in roten Latzhosen mitten in der Landschaft. Die Anspannung entwich mir so heftig wie die Luft einem platzenden Ballon.

Am nächsten Tag würden wir nicht zur Schule gehen. Wir würden ausschlafen. Eine traumschöne Aussicht vor einer traumschönen Nacht. Bis zum Morgengrauen spielten wir zu dritt Super Mario Bros. auf dem Nintendo. Konsole und Spiel hatte unser Vater am selben Tag klargemacht. Als Möbelpacker schleppte er für viele rund um Kaiserslautern stationierte US-Soldaten die Umzugskisten. Nicht immer, aber immer wieder fand er darin Dinge, die wir uns in hundert Jahren nicht hätten leisten können – und ließ sie »mitgehen«, wie er es formulierte. Das sei nicht recht, sagte er, aber es sei gerecht.

Beim Ausmisten finde ich im Keller in einer beinahe vergessenen Kiste diese verloren geglaubte Konsole. Meiner Geburtsstadt Kaiserslautern hatte ich schon mit neunzehn den Rücken gekehrt. Genau neun Mal bin ich in den vergangenen sechzehn Jahren umgezogen, ich habe in fünf Städten gelebt, und unbemerkt ist dieser Nintendo-Kasten mitgereist.

Den Tod meiner Mutter hat er überstanden, meinen unwahrscheinlichen Weg zum Abitur, den Tod meines Vaters, meinen noch unwahrscheinlicheren Universitätsabschluss, meine Ausbildung zum Zeitungsredakteur, vor allem aber mein Hineinwachsen in ein akademisches Milieu, das jedem Einzelnen in meiner Familie bis heute wie eine Parallelgesellschaft erscheint.

Eine intensive Lust am Spielen und eine eigentümliche Erinnerung an eine verdrängte Kindheit packen mich. Als ich die Konsole aus der Kiste nehme, entdecke ich auf dem Boden des Kartons eine Kassette. Super Mario Bros. Mein letztes noch erhaltenes Nintendo-Spiel. Ich versuche, das Ding an mein Smart-TV anzuschließen. Stundenlang klappt es nicht. Zwar signalisiert die Konsole Einsatzbereitschaft, doch es blinkt abwechselnd schwarz und grau, ich denke nach, stecke um, schnaufe schwer, schalte um, diesmal sind da nur diese zufällig flackernden Punkte, die ich früher immer »Schnee« genannt und in diesem fünfzig Zoll großen Heimkino noch nie gesehen habe.

Wenn meine in Akademikerhäusern aufgewachsenen Freunde erstmals meine Wohnung betreten, dann fällt ihr Blick immer zuerst auf diesen riesigen Fernseher. Zwischen überfüllten Bücherregalen hängt dieser Klotz an der Wand, und wenn mich der Besuch noch nicht gut kennt, dann führt diese Entdeckung regelmäßig zu erstaunten, ja peinlich berührten Reaktionen, so als hätte die jeweilige Person gerade erkannt, dass der Papst sich jede Nacht auf Sport 1 die Sexy Sport Clips reinzieht. Ein Fernseher gilt vielen Bildungsbürgern als Statussymbol der Ungebildeten. Sie selber pfeifen aufs lineare Fernsehen, denn sie bingewatchen ihre Serien auf dem Laptop oder über einen Beamer.

Als Kind war der Fernseher für mich ein Schaufenster in die große weite Welt, die ich normalerweise niemals hätte zu Gesicht bekommen können. Seit meinem Bildungsaufstieg habe ich viele Länder gesehen, aber die Sehnsucht nach einem Fernseher werde ich nicht los. Dazugehören zu den jungen, gesunden, progressiven Großstadtakademikern will ich aber auch. Darum ist es heute bei mir so: Wenn der Flachbildschirm ausgeschaltet ist, dann verdeckt ihn ein Vorhang, so als verstecke ein Teenager seine Schmuddelhefte unter dem Bett. Die Bücherregale dagegen stelle ich aus wie ein Pfau seine Federnpracht.

Warum verdammt noch mal läuft dieses Scheißding nicht? Ich will die Controller gegen die Wand schleudern und bemerke, dass ich diesen Jähzorn von meinem Vater geerbt haben muss. Wenn ihm etwas misslang, und sei es nur, dass ihm beim Kreuzworträtsel eine Lösung nicht einfiel, dann mussten alle in Deckung gehen. Teller und Tassen, Flaschen und Feuerzeuge, Aschenbecher und Asthmaspray flogen durch die Gegend. Meine Mutter drückte routiniert die Köpfe ihrer Kinder herunter, und jeder betete für sich allein, der Zorn möge heute nicht von Gegenständen auf Menschen übergehen.

Manchmal zwangen Benny und mein Vater mich, ein Bild aufzuhängen, eine Glühbirne auszuwechseln oder eine Konservenbüchse zu öffnen. Hahaha, da saßen sie dann und kriegten sich nicht mehr ein, hahaha, da helfen dir deine guten Noten auch nichts mehr, was? Du hast ja zwei linke Hände! Womit willst du später mal Geld verdienen?

Eine Suchmaschine im Internet gibt mir die Antwort. Mein Nintendo läuft. Ich lese die riesigen, stark verpixelten Buchstaben auf der Mattscheibe: Super Mario Bros. Darüber ein paar Zahlen, darunter »1 Player Game« und »2 Player Game«, und ganz unten links steht ein winziges Männlein mit roter Mütze und in roten Latzhosen mitten in der Landschaft. Mein Mund steht offen. Die jazzige Spielmelodie in C-Dur ertönt, und als Super Mario zerquetsche ich ein Gumba, ich hole mir die ersten drei Geldstücke, ich erwische den ersten Wachstumspilz, und ich klettere durch die ersten grünen Röhren, so als hätte ich nie etwas anderes getan. Wie ein junges Zebra hüpft mein Super Mario durch »World 1–1«, und noch bevor meine Spielfigur durch einen Sprung auf den Fahnenmast das erste Level erfolgreich beendet, fange ich an zu lachen und zu heulen.

Was würde mein Vater zu dieser Verbindung von uralter und nagelneuer Technik sagen? Wie fände er es, dass sein Sohn sich auch nach mehr als zwanzig Jahren noch so sicher durch die Welt von Super Mario Bros. bewegen kann? Wo und was wäre er heute, wenn er noch lebte? Würden wir überhaupt noch miteinander reden? Wieder miteinander reden? Und wenn ja: Wann, wie und wie oft würden wir miteinander reden? Wann, wie und wie oft würden wir miteinander schweigen? Säße ich überhaupt in einer Altbauwohnung mitten in der Großstadt, wenn er nicht schon im Jahr 2003 gestorben wäre? Könnte ich, bestimmt eine ganz und gar absurde Vorstellung für meinen Vater, meine berufliche Existenz heute mit geistiger Arbeit bestreiten?

Ich glaube nicht, dass mein Vater wirklich um die Bedeutung jener Nintendo-Nacht wusste. Andere hätten ihre ganze Kindheit über gehofft, er würde verschwinden, dieser trinkende und prügelnde Vater. In meinem Fall war es anders. Mochte er auch gesoffen und geprügelt haben, ich wollte immer, dass er bleibt.

Für die anderen waren wir »Unterschicht«, »Asoziale«, »Barackler«, »Dummschüler«. Niemand in unserer Familie war je über den Hauptschulabschluss hinausgekommen. Außer Opa Willy, meinem Großvater mütterlicherseits, hatte keiner eine Berufsausbildung abgeschlossen. Während unsere Mitschüler mit ihren Eltern in den Urlaub flogen, einander vor dem Zubettgehen aus Büchern vorlasen und häufig in Restaurants aßen, ertrugen wir den Mangel, hingen den ganzen Sommer im Wohnblock ab, kannten die besten Kinderbücher nur als Filme.

Unsere Wohnung war ein Skandal. Ein versiffter Teppich überdeckte den grauen Betonboden, die Fenster waren nur einfach verglast und obendrein undicht, es gab keine Heizung, an den Wänden gediehen Feuchtigkeitsflecken, die in jedem Raum jenen Schimmel sprießen ließen, der meiner Lunge schweres Asthma bescherte.

Viele Jahre lang fiel es mir schwer, etwas oder jemand anderes für diese Zustände verantwortlich zu machen als meinen Vater. Jeden Morgen stand er um Punkt sechs Uhr unten an der Straße, stieg in den Lkw ein und fuhr zur Arbeit. Er fuhr zur Arbeit, so wie auch die Väter meiner Schulfreunde jeden Morgen zur Arbeit fuhren. Warum konnten wir uns dann aber oft nicht genug zu essen kaufen, weshalb durften wir so selten ins Kino gehen, und wieso fuhren wir nie, nie, nie in den Urlaub?

Es ging mir einfach nicht in den Kopf. Ich sah doch, wie er uns jede Woche die Geldscheine aus seiner Lohntüte präsentierte. Geldscheine, wie ich sie aus Gangsterfilmen kannte, in denen Anzugträger mit Sonnenbrillen sie nicht etwa aus Briefumschlägen zogen, sondern mit düsterer Musik unterlegt in schwarzen Koffern umhertrugen. Was mein Vater da beim täglichen Schleppen von Möbeln und Umzugskisten verdiente, das musste doch für uns alle reichen. Warum sollte sein Chef ihm nicht genug Geld geben, um seine Familie zu ernähren, das ergab doch überhaupt gar keinen Sinn, welcher Chef würde denn so was tun!

Fast alle schönen Momente meiner Kindheit fanden vor dem Fernseher statt. Meine Helden hießen Super Mario und Mega Man, Bud Spencer und Terence Hill, Arnold Schwarzenegger und Jackie Chan, Obelix und He-Man, Hulk Hogan und Bret »Hit Man« Hart, Andi Brehme und Thomas Häßler. Selbst wenn der Fernseher mal zu nichts weiter nützte als dem Erzeugen eines Hintergrundrauschens, er war immer da, er war immer eingeschaltet, und unser Leben spielte sich im Nahbereich dieses Gerätes ab.

So auch nach der magischen Männernacht mit dem Nintendo. Übermüdet saßen wir vor der Glotze, als Mama hereinkam. Wir Jungs sprangen auf, quiekten vor Glück, fielen ihr in die Arme. Mein Vater blieb auf dem Zweipersonensofa sitzen und wandte den Blick nicht vom Fernseher ab. Dafür brummte er: »Gutn Tach.«

Benny und ich nahmen Mama zu uns in die Mitte. Sie fragte, warum er nicht auf der Arbeit sei. Mein Vater verstand das als Startsignal zum Saufen. Binnen einer halben Stunde trank er mehrere Halbliterflaschen Parkbräu Export. Es war elf Uhr am Vormittag. Mamas giftige Blicke verdarben offenbar nicht die Laune meines Vaters. Vielleicht, weil er Die Wüstensöhne in den Videorekorder gelegt hatte, unseren gemeinsamen Lieblingsfilm von Stan Laurel und Oliver Hardy. Darin geht es um zwei Freunde, die zum Jahrestreffen einer Freimaurerloge fahren wollen. Ihre Ehefrauen, zwei echte Hausdrachen, sind strikt dagegen. Sie wollen mit ihren Männern ins Gebirge. Da lassen sie sich was einfallen: Ein von Stan angeheuerter Tierarzt attestiert Ollie ein »Doppeldackeldelirium« und verordnet ihm eine Kur in Honolulu. Natürlich reisen Stan und Ollie nicht nach Honolulu, sondern zu ihrem Treffen. Später fliegen sie auf, und Ollies Frau rastet aus. Während Ollie immer mehr Geschirr und Vasen an und um den Kopf sausten, fixierte Mama noch immer meinen gackernden Vater.

»Haste was?«, sagte er.

Sie reagierte nicht. Wie so oft reagierte sie nicht – und brachte meinen Vater damit erst recht auf die Palme. Ich setzte mich direkt neben ihn. Er klopfte sich eine Kippe aus der Schachtel und nahm einen tiefen Zug. Ich fing an zu husten, wich ihm aber nicht von der Seite.

»Warum sind die Jungs nicht in der Schule?«, fragte Mama, die sich mittlerweile auch eine Zigarette angezündet hatte und an ihren Fingernägeln kaute.

»Weil darum«, sagte mein Vater.

»Wenn die zu oft schwänzen«, sagte sie, »dann steht bald die Polizei vor der Tür.«

Mein Vater schlug die Faust auf den Couchtisch und brüllte: »Immerhin bin ich für die beiden da. Du warst die ganze Nacht fort.«

Jetzt lachte Mama. Sie versuchte es mit Häme, und sie wusste, dass meinem Vater das viel mehr wehtat, als wenn ihm jemand die Fresse poliert hätte.

Er erhob den Zeigefinger und sagte: »Letzte Warnung, du Brunskachel. Allerletzte Warnung!«

Ich sah ihn an. Sein schütteres rotes Haar war zerzaust, der rote Schnurrbart ebenfalls, das aufgedunsene Gesicht war zum Zerreißen gespannt, seine Halsschlagader pochte.

Ich konnte den Blick nicht von seinen Tätowierungen abwenden. Sie ließen diesen gar nicht mal so großen Mann wirken wie einen Knochenbrecher jener Sorte, wie ich sie aus den Filmen dieses Regisseurs kannte, dessen Namen mein Vater immer stotternd und zugleich lallend aussprach, sodass ich Lachkrämpfe kriegte, wenn er sagte: »Maddin Sosesesese«.

Wie sehr ich mich auch dagegen stemmte, es half nichts: Ich sah in diesem Augenblick niemand anders als Max Cady aus Kap der Angst vor mir, und hätte mein Vater so grauenhaft gelacht wie Max Cady in der Kino-Szene, ich wäre wahrscheinlich weinend davongelaufen. Stattdessen sagte mein Vater zu mir, ohne mich anzusehen: »Hol mal n Bier.«

»Hols dir doch selber«, sagte ich. »Ich bin doch nicht dein Neger.«

Er sah mich an. Seine Augen verengten sich. »Pass auf, wie du mit mir redest«, drohte er.

»Ich red mit dir, wie ich es will«, sagte ich.

Da stand er auf. Er packte mich im Nacken, als wäre ich ein Kaninchen. Dann holte er aus und schmetterte mich gegen die Wand. Weil ich nicht mit dem Kopf voraus gegen den Gips geklatscht war, tat mir nur der Arm höllisch weh. Mama regte sich nicht, mein Bruder schluckte den Schreck hinunter, mein Vater holte sich ein Bier und nannte mich »Depp«.

Auf allen vieren kroch ich zum Bollerofen in der hinteren Ecke des Wohnzimmers. Ich spürte Tränen auf meiner Wange und wischte sie weg. Während ich aufstand, sah ich den Behälter mit dem zum Verfeuern zurechtgeschnittenen Holz. Ich packte eines der Stücke. Noch immer der Wand zugeneigt, stemmte ich es mit beiden Händen weit über meinen Kopf. Langsam drehte ich mich um. Mein Vater war zurück auf seinem Zweisitzer und starrte in den Fernseher. Den anderen beiden stand der Schock ins Gesicht geschrieben.

Ich ging einen Schritt auf ihn zu. Ich blieb stehen. Ich ging noch einen Schritt auf ihn zu. Als ich vor ihm stand, zog er die Augenbrauen zusammen. Er hatte Angst vor mir. Angst. Vor mir. Der Möbelpacker mit den Muskeln ängstigte sich vor seinem achtjährigen Sohn. Mein Blick muss furchteinflößend gewesen sein: entstellt, irre und hässlich. Ich schrie. Markerschütternd. Ich wollte ihm nicht mehr alles durchgehen lassen. Es musste ein Ende nehmen. Es musste neu beginnen. Ich wollte so sehr, dass er bleibt. Aber anders.

Der Sohn am Sterbebett meines Vaters im Oktober 2003 war nicht ich, sondern mein Bruder Benny. Wenige Tage zuvor hatten wir erfahren, dass es mit dem Vater zu Ende gehen würde. Multiorganversagen. Mit dreiundvierzig Jahren. Ich stand mitten in den Abiturprüfungen. Einen Abschied von mir wollte ich ihm nicht gönnen.

Heute weiß ich, dass Benny richtig gehandelt hat. Wofür ich komplizierte Bücher lesen musste, das spürte er von selbst: Unser Vater war ein Mann seiner Klasse. Ein Mann, der kaum eine Wahl hatte, weil er wegen seines gewalttätigen Vaters und einer ihn nicht auffangenden Gesellschaft zu dem werden musste, der er nun einmal war.

Das entschuldigt nichts, aber es erklärt alles. Und es gilt ebenso für mich. Mein Fortbleiben vom Sterbebett des Vaters gründete in der Weigerung zum Verzeihen und in der Unfähigkeit zu trauern. Beides steht für eine Männlichkeit, von der ich einzig deshalb loskommen konnte, weil ich zufällig nicht frühzeitig aus dem Bildungssystem eliminiert wurde.

Heute, da ich ehrlich zu mir selbst sein kann, gestehe ich ein, was schon damals galt und was bis heute gilt: Ich hab ihn lieb.

Glück

Eigentlich kam Rudi Renninger jeden Tag mindestens fünf Minuten zu spät zum Unterricht. Ein kahlköpfiger und alter Mann, groß und laut. Heute saß er pünktlich am Pult. Wie immer hatte er seine Klasse nicht begrüßt, aber er hatte was vor.

Eigentlich wollte Rudi Renninger nie eine Integrierte Gesamtschule betreten. Lieber wäre er noch mal nach Stalingrad aufgebrochen, als auch nur einen Tag an dieser neuartigen Anstalt für Sozialromantiker zu verbringen. Doch weil er als Lehrer des Rittersberg-Gymnasiums mehrmals gegen das noch junge Verbot zur Schülerzüchtigung verstoßen hatte, war er an die neue Schulform verbannt worden. An seinem Einkommen änderte das nichts. Ein schwacher Trost, denn im Arbeitsalltag musste er sich mit Kindern armer Leute plagen, die aus seiner Sicht nicht wussten, wo ihr Platz in dieser Gesellschaft war.

Eigentlich passte meine Mutter genau in das Beuteschema dieses Rudi Renninger, mit ihren langen und glatten und dunklen Haaren, mit ihren wachen und neugierigen und blauen Augen, mit ihrem bezaubernden und arglosen und zugewandten Lachen. Wären ihre Eltern nicht eine Hausfrau und ein Zimmermann gewesen, sondern ein Hausmütterchen und ein Arzt, ein Studienrat, ein Psychologe oder ein Ingenieur, Rudi Renninger hätte wohl wie so oft einer Schülerin schöne Augen gemacht.

Eigentlich liebte meine Mutter die Poesie. 1979 war sie sechzehn Jahre alt, sie ging in die neunte Klasse, und mit ihren Freunden aus der Berliner Straße zog sie sich am Wochenende abends in den Wald zurück, wo sie einander bei Waldmeisterbrause ihre eigenen Verse vortrugen. Meine Mutter liebte diese Gruppe, die so tat, als wäre sie ein Geheimbund. Sie nannten sich Waldgeister. In der Klasse meiner Mutter wusste niemand von den Waldgeistern, erst recht nicht Rudi Renninger. Mit Stundenbeginn breitete sich Schweigen im Saal aus, und Rudi Renninger setzte seine undurchdringliche Miene auf.

»Eigentlich müsste ich ja gar nicht fragen«, sagte er, »aber ich versuche es dennoch: Wer trägt uns seine Hausaufgabe vor?« Natürlich meldete sich niemand, und während Rudi Renninger die Stuhlreihen musterte, muss meine Mutter gewusst haben, wo er stehen bleiben würde. Er richtete den Zeigefinger auf sie und bedeutete ihr mit der flachen Hand, sie möge doch bitte aufstehen.

»Eigentlich wollte ich euch heute selbst eines meiner Gedichte vortragen«, sagte Rudi Renninger, »aber die sind allzu trübsinnig, ein alter Mann wie ich hat leider kaum mehr was zu lachen in seinem Leben, und da dort draußen zu allem Überfluss so schlechtes Wetter herrscht, muss uns jemand aufheitern.« Zitternd nahm meine Mutter ihren Zettel und las:

Glaube mir, es gibt noch Elfen,nicht nur in deinen Träumen.Lass dir von ihnen helfen,Du wirst sonst viel versäumen.Glaube mir, es gibt noch so viel zu entdecken,Du solltest deine Gefühle nicht verstecken.Glaube mir, wenn auch manchmal die Sonne untergeht,dann bin ich der Mensch, der immer zu dir steht.

Eigentlich setzte Rudi Renninger nur selten Wirkungspausen ein. In diesem Fall aber sah er meine Mutter mit bemüht neutralem Blick an, sie zitterte mehr denn je, er erhob sich und ging im Raum umher, sie spürte das Klappern ihrer Zähne, er blickte aus dem Fenster und atmete hörbar ein und hörbar aus, sie stand noch immer da, umringt von gehässigen Grimassen, Rudi Renninger drehte sich um, hob beide Arme, als sei er der besiegte Böse in einem Western, ehe er plötzlich losprustete, und mit ihm brach das gesamte Klassenzimmer in Gelächter aus.

Eigentlich machten meiner Mutter solche Demütigungen nichts aus. Dieses eine Mal aber geschah es wohl genau einmal zu oft. Bei den Waldgeistern wurde sie nie wieder gesehen. Von deren Existenz hatte sie niemals erzählt. Erst viele Jahre später hatte meine Tante Juli von einer alten Freundin meiner Mutter erfahren, was die Waldgeister am Wochenende im Wald getrieben hatten.

Eine halbe Stunde nachdem Tante Juli in den Keller gegangen ist, steht sie wieder im Wohnzimmer. In Händen hält sie eine schwarze Mappe.

»Hab ich dich doch noch erwischt«, flüstert sie dem Ding zu, ehe sie mit der Hand drüberfährt, sanft, fast liebevoll.

Sie greift hinein und zieht einen Stapel loser Blätter heraus, den sie mir kommentarlos hinlegt. Eine Sammlung der Gedichte meiner Mutter. Von ihrer Jugend bis zu ihrem Tod. Mal mit Schreibmaschine, mal handschriftlich hatte sie ihre Gedanken auf allem hinterlassen, was ihr in die Finger kam: Briefpapier, Briefkuvert, Rechnung, Zeitschrift, Kassenbon, Umzugskarton, Schmierzettel, Strafzettel. Hatte sie also auch nach dem Erlebnis mit Rudi Renninger weitergeschrieben? Aber ja, antwortet Tante Juli, nur habe sie selten jemandem etwas davon gezeigt. Tante Juli kam drei Jahre nach meiner Mutter zur Welt, und zeitlebens war sie ihr nicht nur die liebste Schwester, sondern auch die beste Freundin. Rudi Renninger, den Tante Juli heute beinahe ebenso sehr hasst wie meinen Vater, hatte sein Ziel am Ende doch noch erreicht. Meine Mutter ging nach der neunten Klasse von der Schule ab. Dass sie weiterhin Gedichte schrieb, war einem anderen Mann zu verdanken. Denn der Deutschlehrer mochte meine Mutter für eine Mogelpackung gehalten haben, ihrem Vater, also meinem Opa Willy, galt sie als Wunderkind.

Tante Juli erzählt davon, wie meine Mutter ihrem Vater als Fünfjährige jeden Morgen die wichtigsten Meldungen aus der Zeitung vorzulesen versuchte, wie er sie nach enttäuschenden Schultagen tröstete und zum Weiterdichten ermutigte, wie er auf den Sonntagsspaziergängen mit ihrem Schäferhund neue Zeilen von ihr hören wollte, wie er jedes Mal so entzückt war, dass er ihr ihre Lieblingsschokolade schenkte.

In der Berliner Straße, die sich nach dem Kalkofen und dem Grünen Winkel in den Top Drei der berüchtigten sozialen Brennpunkte von Kaiserslautern halten konnte, sei meine Mutter jahrelang als Strahlefrau bekannt gewesen. Wo die Menschen ihre Armut meist mürrisch ertrugen, da sei sie schon von Weitem wegen ihres sonnigen Gemüts aufgefallen. Es war nur ein kleines Elendsviertel. Ein einziger Wohnblock zog sich etwa 500 Meter weit, die rußverschmierte Fassade war in Hellbraun und Siebzigerjahre-Orange gehalten. Wo eine Haustür vorhanden war, da schloss sie meist nicht richtig, Autos parkten nur wenige zwischen den Schlaglöchern, stattdessen blockierten demolierte Einkaufswagen des nahe gelegenen Supermarkts die Gehwege, zersprungene Fenster ließen Küchengespräche auf die Straße schallen, hinter dem Block gedieh das Gestrüpp, und der Sperrmüll türmte sich in vertrockneten Beeten, die vor sehr langer Zeit einmal als Vorgärten gedacht gewesen waren.

Die Politik hatte die hier Lebenden weniger vergessen als verdrängt. Mit Argusaugen wachten hingegen die Bewohner der kleinbürgerlichen Wohneinheiten ringsum über die Menschen aus der Berliner Straße, denen sie nichts Gutes zutrauten und die sie unschwer zu erkennen glaubten an ihren zerfetzten und verdreckten Klamotten, an ihren verschlagenen Blicken und an ihren über Generationen hinweg vererbten Sozialhilfekörpern.

Meine Mutter aber war immer derart aufrechten Hauptes über den Asphalt geschritten, dass die Gutbürgerlichen sie manchmal für eine der ihren gehalten hatten.

Die Schulstunden mit Rudi Renninger, da ist Tante Juli sicher, stahlen meiner Mutter das Selbstvertrauen. Dass ihr Lebensglück kleiner wurde, habe aber noch einen weiteren, wichtigeren Grund gehabt. An diesem Grund sei sogar das Verhältnis zu ihrem eigenen Vater beinahe zerbrochen. Ob ich das denn nicht mehr wisse? Habe sie doch schon so oft erzählt. Ich ahne, was sie meint, spiele aber den Naiven, und Tante Juli legt los.

»Haste was?«

Meine Mutter erkannte nicht sofort, wo die als Frage getarnte Begrüßung herkam. In der Berliner Straße gab es aber nur einen, der ihr unvermittelt dieses bizarre »Haste was?« zurief. Sie sah um sich. Im Hausflur hing der türkische Knirps von gegenüber ab, im Hinterhof hängte die dicke Knüppelkuh aus dem ersten Stock ihre Wäsche auf, im Erdgeschoss lehnte der gerade von der Montage zurückgekehrte Brummifahrer am Fenster. Neckisch nickte er rüber zur Hausfassade. Dort wartete er. Der fuchsrote Haarschopf vorne kurz und hinten lang, der Kragen der schwarzen Lederjacke nach oben gestellt, die blaue Jeans verwaschen, einer seiner in strahlend weißen Turnschuhen steckenden Füße an die Mauer gelehnt. Im Mundwinkel lag eine Reval ohne Filter, die ihm fast zu Boden gesegelt wäre, hätte er auch nur einen Tick breiter gegrinst.

»Was machstn du schon hier?«, fragte meine Mutter.

»Freust du dich nicht, mich zu sehen?«

»Fragen durch Gegenfragen beantworten. Schlawiner«, sagte sie, ihren Schulordner eng an die Brust gepresst und langsam weitergehend.

»Du willst doch sicher den Grund wissen, warum ich heute früher zu Hause bin.«

Meine Mutter blickte nach rechts, sie blickte nach links, sie schritt mit den Augen alle Fenster ab. Niemand zu sehen. Außer dem harmlosen Brummifahrer widmete den beiden Jugendlichen gerade mal kein Sitten-IM von der Straßenstasi seine Aufmerksamkeit.

Die Luft schien rein, also verzogen sie sich in das kleine Gebüsch hinter dem Block, wo abends die Kiffer so taten, als müssten sie sich vor ihren Eltern verstecken.

»Auch eine?«, fragte er.

Meine Mutter zeigte auf ihren Bauch. Der Rothaarige verzog das Gesicht und zündete sich eine Zigarette an. Die Schachtel schob er unter Jacke und Hemd auf die Schulter.

»Wann ists denn so weit?«

»Paar Wochen.«

»Weißte schon, was es wird?«

»Ein Kind.«

»Soso. Junge oder Mädchen, mein ich.«

»Scheißegal. Hauptsache gesund.«

»Gute Einstellung.«

»Ja.«

»Willstes nun wissen oder nicht?«

»Was?«

»Na, warum ich heute früher da bin als sonst.«

Meine Mutter bemühte sich um einen gelangweilten Blick. Das schien ihr zu misslingen. Oder dem Rotschopf war es egal. Sie versuchte es mit Humor.

»Hast wahrscheinlich beim Wacheschieben einen Russen abgeknallt und dafür zwei Stunden Sonderurlaub gekriegt.«

»Hä?«

Nicht mal einen so einfachen Witz verstand der arme Trottel. Wie erbärmlich. Wie süß.

»Ich bin getürmt«, sagte er.

»Getürmt?«

»Ja, getürmt. Könnt mich für zwei Wochen in den Bau bringen, aber das ists mir wert. Will mich doch noch frisch machen können, bevor wir heute Abend ausgehen.«

»Bevor wir was tun?«

»Haste mir vor zwei Wochen versprochen. Genau hier am Kippenhügel hab ich gesessen.«

»Red keinen Scheiß.«

Er sprang auf, hielt sich eine Hand an die Brust und gelobte: »Ich schwörs, so wahr mir Gott helfe. Hier hab ich gesessen, und dann haben wir ein Spiel gespielt. Wenn du mir meine Frage beantworten kannst, biste fein raus, hab ich gesagt. Wenn nicht, musste dich von mir am übernächsten Freitag zu nem Drink einladen lassen. Weißte doch noch.«

»Das war ernst gemeint?«

»Bin doch kein Spaßvogel.«

»Du bist doch nicht mehr ganz knusper.«

»Was ist das Gegenteil von Reformhaus, hab ich dich gefragt. Weißte noch? Weißte doch noch!«

»Ja.«

»Und?«

»Was und?«

»Weißte noch die Antwort?«

Seufzend sagte meine Mutter: »Reh hinterm Haus.«

»Genau!«, schrie er, sich die Hände auf den Schoß klatschend. Wie immer, wenn er über seine eigenen Witze lachte, bekam er irgendwann fast keine Luft mehr, sodass meine Mutter ihm auf den Rücken klopfen musste. Wahrscheinlich war es nur ein Trick, denn jedes Mal, wenn er seine Luftnotnummer abzog, klammerte er sich an sie, umarmte sie, roch an ihr.

»Kannste mir ein Gedicht vortragen? Dann gehts mir bestimmt schnell besser«, sagte er.

»Schlechter Zeitpunkt, tut mir leid.«

»Warum?«

Sie blickte vor sich auf den Kippenhügel.

Diesmal verstand der Rotschopf gleich, was los war. »Hat dieser verdammte Lehrer dich heute wieder vor versammelter Truppe auflaufen lassen? Dreckschwein. Irgendwann kauf ich mir den, glaub mir, irgendwann kommt der mal mit nem blauen Auge zum Unterricht.«

Sie schloss die Augen, und er legte seinen Arm um sie. »Lies mir was vor«, sagte er. »Bitte. Das hilft dir, und es hilft mir.«

Aufs Geratewohl zog meine Mutter ein Papier aus ihrem Ordner und deklamierte:

Sein wie ein Baum,das war schon oft mein Traum.Tief verwurzelt mit der Mutter Erde,Heimstatt für Wichte und Zwerge.Mit den Geschöpfen des Waldes in Einklang leben,unzerstörbar zum Himmel streben.Ach, könnt ich sein wie der Baum.

»Schön«, sagte er.

»Mehr fällt dir nicht ein?«

»Es ist so …«

»Was?«

»So … so … Weiß nicht.«

»Weiß nicht?«

»Ich hab eben nicht so einen Wortschatz wie du, und ein Schnelldenker bin ich auch nicht. Weißte doch. Dein Gedicht ist so … feinsinnig! Genau. Feinsinnig! Das ist das Wort, das ich gesucht hab!«

Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte meine Mutter, und der Rotschopf setzte nach.

»Worauf haste heute Abend Lust?«, fragte er.

Meine Mutter biss auf die Unterlippe. »Ich kann nicht mit dir ausgehen«, sagte sie. »Weißte doch.«

»Nee, weiß ich nicht.«

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