Ein nicht ganz koscherer Fall - Ellie Brauer - E-Book

Ein nicht ganz koscherer Fall E-Book

Ellie Brauer

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Beschreibung

GÜNSTIGER EINFÜHRUNGSPREIS NUR FÜR KURZE ZEIT! Ein mysteriöser Fremder. Eine urlaubsreife Kommissarin. Ein rätselhafter Mord. Atmosphärischer Krimi in Israel für Fans von Regional- und Urlaubskrimis  »Ich wusste, dass ich die Harmonie dieses besonderen Abends zerstört hatte, das stille Glück dieses Ortes, das mit einem lauten Knall zerriss. Ich griff, wie ich es mir schon tausende Male ausgemalt hatte, zur Waffe und zielte auf sein Herz.«  Gerade als Kriminalkommissarin Olivia Pfeffer das Münchner Schmuddelwetter so richtig aufs Gemüt schlägt, führt ein rätselhafter Fund sie zurück an ihren Sehnsuchtsort: den malerischen Banana Beach im Norden Israels. Denn dort, kurz vor der Grenze zum Libanon, wurde die Leiche eines Deutschen an den Strand gespült. Wer war der Fremde, von dessen Gepäck jede Spur fehlt, und was wollte er in Israel? Während erste Spuren nach Stuttgart weisen, werden die Ermittlungen vor Ort erschwert: Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, steht kurz bevor und legt das ganze Land für vierundzwanzig Stunden lahm. Gemeinsam mit ihrem israelischen Kollegen Micki Cohen ermittelt Olivia in einem Fall, der unlösbar scheint – und der schon bald ein zweites Opfer fordert. 

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Christiane Geldmacher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

widmung

zitat

prolog

eins

zwei

drei

vier

fünf

sechs

sieben

acht

neun

zehn

elf

zwölf

dreizehn

vierzehn

fünfzehn

sechzehn

siebzehn

achtzehn

neunzehn

zwanzig

einundzwanzig

zweiundzwanzig

dreiundzwanzig

vierundzwanzig

fünfundzwanzig

sechsundzwanzig

siebenundzwanzig

achtundzwanzig

neunundzwanzig

dreißig

einunddreißig

zweiunddreißig

dreiunddreißig

vierunddreißig

fünfunddreißig

sechsunddreißig

siebenunddreißig

achtunddreißig

neununddreißig

vierzig

einundvierzig

zweiundvierzig

dreiundvierzig

vierundvierzig

fünfundvierzig

sechsundvierzig

siebenundvierzig

achtundvierzig

neunundvierzig

fünfzig

einundfünfzig

zweiundfünfzig

dreiundfünfzig

vierundfünfzig

fünfundfünfzig

sechsundfünfzig

siebenundfünfzig

achtundfünfzig

neunundfünfzig

sechzig

einundsechzig

zweiundsechzig

dreiundsechzig

nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meinen Vater.

Jom Kippur, dachte Olivia, die einen fasten, die anderen feiern. Die einen pflegen, die anderen sterben. Jom Kippur, kehre einen Tag vor deinem Tod um, sagen die Schriften über den Tag der Versöhnung. Doch Noa war nicht rechtzeitig umgekehrt.

prolog

Ich wusste, dass ich die Harmonie dieses besonderen Abends zerstört hatte, das stille Glück dieses Ortes, das mit einem lauten Knall zerriss. Ich sah den Schatten, sein Gesicht, wie die Zeit erstarrte, als er vom Halbdunkel ins Licht trat. Hörte seine Stimme, nur ein einziges Wort. Ich griff, wie ich es mir schon tausende Male ausgemalt hatte, zur Waffe und zielte auf sein Herz.

Von fern schwappte Musik über den Strand, der wummernde Bass hallte in der Bucht und zog gleich einer wütenden Brise über das Meer. Milchig wie das blasse Gesicht, das unter der Oberfläche schimmerte, spiegelte sich der aufgehende Herbstmond im Wasser. Die Strömung trieb nach Westen, entfernte ihn mit jedem Stern, der am Firmament aufging, ein Stück vom Ufer. Schon bald würde er nur eine Erinnerung sein, begraben in den Tiefen des Ozeans. Als hätte es ihn nie gegeben, als wäre er nie da gewesen. Nur ein böser Traum, der unter der Wasseroberfläche verblasste.

eins

Eliyahu wusste, dass keiner ihm glauben würde. Er wusste auch, wenn er sich so verhielte, wie Erwachsene es von fast Siebenjährigen erwarten, würden sie ihn in Ruhe lassen. Aba würde ihn nicht ausschimpfen, Ima würde ihn nicht wieder zu Doktor David zerren, um anschließend zu jammern, dass für solche Späße eigentlich kein Geld im Haus sei. Und letztendlich würden ihn die anderen Kinder in der Kita Aleph nicht als Freak beschimpfen.

Meist holte ihn Aba frühmorgens aus dem Bett, packte ihn in seine warme Jacke und setzte ihn, noch trunken vom Schlaf, in die Holzkiste, die er zu einem Fahrradanhänger umfunktioniert hatte. Eliyahu genoss die kurze Fahrt, halb schlummernd zwischen Ködern, Netz und Thermoskanne. Er wusste, erst einmal angekommen am Strand, musste er mit klammen Fingern seinem Vater und Onkel Yossi helfen, die Netze zu entwirren.

Eines Morgens, vier Tage vor Jom Kippur, als Onkel Yossi und Aba das Netz einholten, geschah es zum ersten Mal. Bestimmt hundert silbrige Leiber ergossen sich auf den Boden des Bootes, vereinzelt zappelten ein paar Makrelen in der Masse, ein einzelner Kalmar spuckte zornig Tinte auf die Planken.

»Ein Prachtexemplar«, freute sich Aba.

Der Kalmar wog bestimmt zwei Kilogramm. Zum Essen zwar nicht geeignet, brachte er jedoch auf dem Markt in Akko, wo nichtkoschere Speisen aller Art zu erstehen waren, einige Shekel. Der Tintenfisch wechselte von milchigem Weiß über Lavendel bis hin zu tiefem Burgunderrot einige Male die Farbe. Eliyahu glaubte Panik in seinem Blick zu erkennen. Fast hatte er das Gefühl, der Kalmar verstehe. Als fragte er sich, was machst du mit mir, warum tötest du ein intelligentes Wesen wie mich?

Ich sollte ihn um Vergebung bitten, dachte Eliyahu. Schließlich war es wichtig, die verbleibenden Tage bis Jom Kippur zu nutzen, um die Unterschrift des Himmels zu bekommen – und das ging nur, wenn man alle Lebewesen um Verzeihung für Taten im vergangenen Jahr bat. Eliyahu war sich nicht sicher, ob dies auch für Tintenfische galt. Er nahm sich vor, seinen Onkel Shimon zu fragen, der war schließlich Rabbiner und wusste es bestimmt genau.

Der Kalmar starrte ihn vorwurfsvoll an. Eliyahu nahm einen Eimer, füllte ihn mit Meerwasser und setzte ihn vorsichtig hinein. Das Farbspiel des Tintenfischs wechselte erneut von Burgund zu einem hellen Blau. Sobald Eliyahu seine Hand in das Wasser tauchte, changierten die Blautöne zu Grün. Was für ein schönes Wesen, dachte Eliyahu betrübt. Er konnte seine Augen nicht vom anklagenden Blick des Kalmars abwenden, ihm aber auch nicht standhalten. Die hilflos zappelnden Leiber im Boot verursachten ihm Übelkeit. Er fühlte, wie saurer Geschmack sich langsam einen Weg durch seine Kehle nach oben bahnte und ein dumpfes Würgen seinen Magen umklammerte. Wie wenn seine dicke Tante Shiri ihn fest umarmte, wurde nun die Luft aus seinen Lungen gepresst. Kurz bevor ihm die Sinne schwanden, vernahm Eliyahu ein hundertfaches Schluchzen und Seufzen, aus dem er ein zischelndes Warum? heraushörte.

Auch jetzt, fast ein Jahr später, versuchte er, das Weinen der Fische zu ignorieren. Er saß auf den Stufen des kleinen, halb verfallenen Häuschens am Strand des ehemaligen Club Meds und schaute auf das Meer, das wütend Wellen in die Bucht schleuderte. Sein Vater stand gut fünfzig Meter weiter abseits am Strand und angelte. Ideales Buri-Wetter, hatte Aba geschwärmt. In den hohen Wellen sah man die silbrigen Leiber der schlanken Fische, und wenn man geschickt das mit Angelhaken umwickelte Pitabrot auswarf, konnte man heute endlich auf einen guten Fang hoffen. Den ganzen September schon, sonst eigentlich die beste Jahreszeit zum Fischen, standen Angler ratsuchend am Strand. Sie wanderten von Fels zu Fels, immer in der Hoffnung, zehn Meter weiter Erfolg zu haben oder von einem anderen Angler den ultimativen Tipp zu erhalten, auf welchen Köder die Fische heute anbissen. Obwohl Eliyahu mit seinen sieben Jahren begriff, dass keine Fische fangen gleichzusetzen war mit kein Geld verdienen, und kein Geld verdienen bedeutete, dass Ima ihm den versprochenen Fußball nicht kaufen würde, so hoffte er doch, dass sein Vater nichts mehr fangen würde.

Die Dämmerung nahte und ein paar Kilometer weiter nördlich, an der Grenze zum Libanon, setzte bereits die Grenzbeleuchtung ein. Schaute man in Richtung Süden, sah man von fern die Lichter Haifas. Es war bald Zeit für den Heimweg. Denn bevor der dritte Stern am Abendhimmel erschien, mussten Vater und er, gewaschen und umgezogen, bereit für den Schabbat-Seder sein.

Wie jeden Freitagnachmittag legte sich eine eigentümliche Stimmung über das Land. Am benachbarten Banana Beach hatten die Bademeister schon ihre Station verlassen, vereinzelt tummelten sich letzte Badegäste am Strand. Die Silhouetten von ein paar Surfern hoben sich vom Horizont ab, der sich bereits rosa verfärbte. Fast alle Fischer waren zu ihren Familien zurückgekehrt, nur Aba und Onkel Yossi versuchten verbissen, ihre magere Ausbeute zu erhöhen, während er mit dem bisherigen Fang wartete. Im Eimer zappelten ein paar Buris und eine prachtvolle Meerbrasse mit goldenen Striemen. Die Goldstriemenbrasse klagte und Eliyahu erwog, sie einfach über die flachen Felsen zu tragen und wieder ins Meer zu werfen. Er würde Ärger bekommen, mächtigen Ärger sogar. Und keiner würde ihm glauben, dass eine Möwe den Fisch aus dem Eimer gestohlen habe.

Er hatte nicht nur ein schlechtes Gewissen, als er das quälende Wehklagen des Fisches zu ignorieren versuchte, er hatte langsam auch ganz schön Hunger. Er starrte auf die Wellen, die sich schäumend an den Felsen brachen und überlegte, was Ima und Tante Shiri wohl gekocht hatten. Er malte sich warmes Challahbrot und herzhaft gewürzte Auberginen aus. Er schmeckte schon förmlich den pikanten Auflauf, er konnte schon beinahe den Duft des frischgebackenen Brotzopfes riechen, als ein dunkler Schatten an den Strand gespült wurde und sich zwischen den Felsen verfing.

Eine riesige Schildkröte, vermutete Eliyahu und sein Herz wurde schwer. Er tastete sich vorsichtig über die mit Muscheln gespickten flachen Felsen, um das Tier in Augenschein zu nehmen. Diesen Sommer häuften sich die qualvoll verendeten Schildkröten am Strand. Ebenso wie die Tonnen von Plastikmüll, an denen die Tiere erstickten, unzählige Fischerleinen, die sie erdrosselten, und Plastiktüten, gegen deren tödliche Macht sie nicht ankamen. Eliyahu holte sich manchmal von Dani, dem alten Verwalter des Banana Beaches, einen großen Müllsack, und während sein Vater und Onkel Yossi auf Fischfang waren, klaubte er all die Plastikteller, Gabeln, leere Hummusbecher und Tüten auf, die Israelis gerne achtlos am Strand ließen. Aba hatte es inzwischen aufgegeben, ihn zum Angeln zu motivieren und akzeptierte, dass sein jüngster Sohn lieber Müll sammelte oder nach Unrat im Meer tauchte, um Fische zu retten, statt diese zu töten.

Manchmal wurde Eliyahu auch für seine Taten belohnt. Erst gestern, als das Meer noch türkisfarben und ruhig war, hatte er beim Schnorcheln einen dicken silbernen Ring und drei Gewichte, die sich in den Felsen verhakt hatten, gefunden. Sein Bruder David, genannt Dudu, sagte, wenn er ganz viele Gewichte sammle, könne er diese dem Angelladen an der Marina verkaufen. Er hatte schon gut ein Dutzend, aber Dudu meinte, das lange noch nicht.

Vorsichtig näherte Eliyahu sich der Brandung. Er setzte einen Fuß vor den anderen, darauf bedacht, nicht auf den glitschigen Felsen auszurutschen oder sich an spitzen Muschelschalen die Fußsohlen zu verletzen. Er hoffte, dass dieses Tier noch lebte und er es von einer Leine oder Plastiktüte befreien konnte.

Sofern es eine Schildkröte war, denn je näher er dem angespülten Objekt kam, desto unsicherer wurde er. Es könnte auch Treibgut sein, dachte er hoffnungsvoll, oder ein altes T-Shirt voller Sand und Algen. Vielleicht auch ein Testballon des vor der Küste patrouillierenden Armeebootes.

Ihm stockte der Atem. Dies war keinesfalls eine Schildkröte! Auch waren das weder Algen noch war es ein Testballon, sondern ein dunkler Haarschopf, der aus um einen Torso wabernden kakigrünen Leinenhemd ragte.

Als würden die Arme eines Oktopus kraftvoll seine Mitte umschlingen und sämtliche Eingeweide zu einem dicken Klumpen komprimieren, krampfte sich Eliyahus Magen zusammen. Er taumelte, rutschte auf dem bewachsenen Felsen aus und landete neben dem aufgedunsenen Körper. Noch bevor er schreien konnte, verdunkelten sich die Ränder seines Sichtfelds, in seinen Ohren rauschte das schweigende Meer. Die Finsternis hüllte ihn gnädig ein, als der Oktopus ihn in die Tiefe zog.

zwei

Wenn Mittwoch der Hurensohn aller Wochentage ist, ist Donnerstag definitiv der Vater des Hurensohnes, dachte sich Kriminalkommissarin Olivia Pfeffer am Morgen, als ihr Wecker sie um kurz vor sechs Uhr aus dem Schlaf riss. Draußen nieselte es. Die nassen grauen Fassaden der gegenüberliegenden Häuserzeile spiegelten nicht nur die Rücklichter der vorbeifahrenden Fahrzeuge wider, sondern auch Olivias Stimmung. Viele Leute, vor allem die Landwirte, begrüßten den Regen, aber Olivia, der der drohende Winter auf das Gemüt schlug, haderte bereits mit ihrem Schicksal. Der Sommer war viel zu kurz gewesen, ihr war, als hätte es gar keinen gegeben. Das Freibad, in dem sie täglich ihre Runden schwamm, war seit Mitte des Monats geschlossen, der Oktober näherte sich mit Riesenschritten. Und während die meisten ihrer Münchner Kollegen sich schon auf Schnee und Skitouren freuten, graute es Olivia vor der dunklen Jahreszeit mitsamt ihrem Schmuddelwetter, vereisten Straßen und dicken Pullovern. Sie war einfach ein Sonnenkind. Wie eine Blume, die einging, wenn sie im frostigen Schatten stand, brauchte sie Licht, Wärme und Wasser zum Glücklichsein.

Obwohl sie objektiv gesehen keinen Grund zur Klage hatte und meist gut gelaunt durch den Tag kam, schlich sich in letzter Zeit eine leichte Unzufriedenheit bei ihr ein. Wie ein Bandwurm, der sich in ihrem Inneren von ihrer Stimmung nährte: Hier ein bisschen Frust, da ein Häppchen Langeweile, und der Parasit saß wohlgenährt in ihren Eingeweiden und machte es sich bequem. Früher war sie viel gereist, hatte Möbel restauriert und Sprachkurse belegt, während sie neuerdings nur noch Zeit für eine ihrer vielen Interessen hatte: ihre Arbeit. Olivia befürchtete, dass sich ihre Zukunft mit theoretisch spannenden Optionen praktisch übergangslos in eine ereignislose Vergangenheit wandeln würde. Einfach so, durch Nichtstun. Der graue Alltag. Der Nieselregen. Die endlosen Stunden im Präsidium. Die rücksichtslose Tante über ihr, die nachts mit Stöckelschuhen über den knarrenden Dielenboden trampelte.

Dabei war ihr Leben gar nicht so schlecht, zumindest von außen betrachtet. Sie hatte eine sichere Arbeitsstelle, war beliebt und musste sich als Kommissarin auch finanziell nicht einschränken. Zudem besaß sie die wunderbare Gabe, sich selbst genug zu sein. Aber was hatte sie erreicht, mit ihren fast siebenunddreißig Jahren? Es war schon fast einfacher aufzuzählen, was sie nicht hatte. Keinen Mann, keine Kinder, noch nicht einmal einen Hund. Ganz zu schweigen von einer Wohnung mit Balkon, aber auch das schien neuerdings normal zu sein. Als sie letztes Jahr von Stuttgart in den beliebten Münchner Stadtteil Neuhausen gezogen war und den fehlenden Balkon bemängelte, hatte die Maklerin, die mit ihrem blond gefärbten Pagenschnitt und ihren Perlohrringen aussah wie alle Münchner Maklerinnen, sie herablassend gemustert. Wer würde denn einen Balkon brauchen, immerhin gebe es ja den Englischen Garten, hatte sie schon fast schnippisch bemerkt. Auch das Fehlen der dringend benötigten Garage redete sie schön, indem sie auf eine Duplexgarage verwies, die drei Straßen weiter zu vermieten sei. Eine Duplexgarage für ihren schönen alten Mercedes, soweit kam es noch!

Olivia nippte an ihrem kräftigen Espresso Macchiato und setzte sich an den kleinen Schreibtisch vor dem Fenster. Während draußen der Verkehr über die Donnersberger Brücke rauschte und sich erste Lichtschimmer in das morgendliche Nieselgrau mischten, überlegte sie, ob sie ihr Leben nicht einfach in eine andere Richtung lenken sollte. Etwas Handwerkliches tun. Ein Bed-and-Breakfast-Hotel aufmachen. Auswandern, am besten in ein Land, in dem immer die Sonne schien und in dem man von wenig Geld wie die Made im Speck leben könnte. Argentinien vielleicht?

Sie versuchte, die dunklen Nebelschwaden, die sich auf ihr Gemüt legten, zu vertreiben und sich etwas zuversichtlicher zu stimmen. Sie rief sich die Positiva in der Bilanz der erreichten Dinge ins Gedächtnis und fragte sich, ob ihr das Leben, wie es war, nicht genug sein sollte. Sie war ja schließlich keine zwanzig mehr und wollte auch nicht für schlechtes Geld als Zimmermädchen in der Karibik arbeiten. Vermutlich hatten auch ebendiese Zwanzigjährigen eine weitaus bessere Chance, als solche eingestellt zu werden.

Ihr Kollege Mimi, gebürtiger Neapolitaner und seit fünfzehn Jahren in Deutschland, hatte ähnliche Anwandlungen. Er sagte, um sich vom System verabschieden und aussteigen zu können, genüge es nicht, Mut und einen Plan zu haben. Man müsse »Fuck-off-Money« besitzen, so hieße das in der Bankerszene. Also den Betrag, den man persönlich erreicht haben musste, um nie wieder arbeiten zu müssen. Olivia konnte sich auch gut vorstellen, völlig ohne Fuck-off-Money mit Mimi und fünf Bambini im sonnigen Italien zu leben, barfuß in der Küche zu stehen und mit Blick auf das Meer Spaghetti zu kochen. Leider hatte Mimi ebenfalls keine größeren Barreserven – und noch schlimmer, auch nicht mehr als freundschaftliches Interesse an ihr.

Ihre Laune wurde nicht besser, der graue Münchner Regentag hatte sie voll im Griff. Kurzentschlossen meldete sie sich per WhatsApp auf dem Präsidium für den Rest der Woche krank und kroch mit ihrem Laptop wieder ins Bett. Wenn man nicht ab und zu etwas Verrücktes machen würde, wäre jeder Tag wie Donnerstag, rechtfertigte Olivia ihren Entschluss. Dann tippte sie »Fernstrecke« sowie »Last minute« in das Google-Suchfeld und wartete ab, wozu sie der Zufall inspirieren würde.

Am nächsten Vormittag nieselte es noch immer und Olivia war auf der Suche nach dem idealen Reiseziel bei »T« angekommen.

Tobago vielleicht? Oder gab es dort bereits die berüchtigten Herbstorkane? Tel Aviv? Seufzend dachte sie an ihren letzten Urlaub zurück. An das blaue Meer, den feinen Sand, den wolkenlosen Himmel. Und an Leopold Pipenbrock, mit dem sie sich im Frühling unfreiwillig eine Unterkunft in einem Kibbuz geteilt hatte. Der ehemalige Verfassungsdienstmitarbeiter hatte den Schritt gewagt, seinen Job aufgegeben und war nach Israel gezogen. Hatte Stress und Nieselwetter gegen Sonnenschein und Strand getauscht, hatte neue Prioritäten gesetzt, um seiner Tochter nahe sein zu können. Viel hatte sie damals nicht von der Metropole gesehen, hatte sie doch unfreiwillig ein Mordfall im Norden des Landes in Atem gehalten. Aber jetzt, während in Israel ein Feiertag den nächsten jagte, waren die Hotels sicher ausgebucht oder überteuert.

Taormina auf Sizilien vielleicht. Eventuell würde ja auch Mimi mitkommen und damit würde sie ihrer dickbusigen Kollegin Bea, die, seit sie ein Auge auf Mimi geworfen hatte, sich nur noch »Beatritsche« nannte, die Suppe versalzen! Jedenfalls wäre es ein Vorwand, am Wochenende bei Mimi zu Hause aufzuschlagen und um Tipps zu bitten.

Jäh wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als es an der Tür klingelte. Wenn sie Glück hatte, war es nur ihre Schwester, die momentan erhöhten Redebedarf hatte. Weitaus realistischer war jedoch die Möglichkeit, dass es die nervige Tante war, die über ihr wohnte. Gestern Nacht hatte sie ihr erbost einen Zettel in den Briefkasten geworfen, mit der Bitte, nach zweiundzwanzig Uhr nicht mehr in High Heels in der Wohnung herumzustöckeln.

Aber Moment, vielleicht war es auch Mimi? Olivias Herz schlug schneller. Allerdings konnte sie so unmöglich die Tür öffnen, sie hatte sich ja krankgemeldet und allein der volle Aschenbecher neben ihrer Espressotasse sprach Bände. Außerdem war sie noch im Pyjama und das graue Monster Schlaf hatte dicke Tränensäcke unter ihren blauen Augen hinterlassen. Nein, sie würde niemandem die Tür öffnen, sie war ja nicht bescheuert. Sie beschloss, sich tot zu stellen.

Kurze Zeit später klingelte ihr Handy. Ihr iPhone meldete einen Anruf aus dem Präsidium.

»Iche binne es, Mimi! Olli, biste du nicht zu Hause?« Obwohl Mimi Neapel bereits vor fünfzehn Jahren verlassen hatte, ging es ihm immer noch nicht in den Kopf, dass deutsche Verben und Adjektive nicht immer mit einem Vokal endeten. Besonders, wenn er wie jetzt etwas aufgeregt war, kam diese Angewohnheit wieder durch.

»Hallo, Mimi«, sagte sie und beschloss, eine ihrer Halbwahrheiten aus der Tasche zu ziehen, die sie stets parat hatte, wie andere Frauen einen Lippenstift. »Ich war gerade, äh, etwas müde.«

»Geht es dir schon etwas besser?«

Sie räusperte sich, um etwas Zeit zu gewinnen. Was sollte sie jetzt antworten? Sie konnte ja schlecht zugeben, dass sie sich lediglich im Bett verkrochen und einen kleinen mentalen Aussetzer gepflegt hatte. Vielleicht etwas herumschnupfen? Einfach nur bedanken? Himmel, Herbstblues war ja schließlich keine Krankheit!

»Geht so«, hüstelte sie letztendlich, »gibt es etwas Dringendes?«

»Der Cheffe will wissen, ob du nächste Woche wieder da bist.«

Vorbeugend schnäuzte sich Olivia geräuschvoll in ihr Taschentuch. Immerhin war sie »krank« und hatte noch keine Entscheidung getroffen, ob sie am Montag wieder auf dem Revier erscheinen würde.

»Warum, was steht denn an?«, erkundigte sie sich vorsichtig und hielt ihre Nase zu, um verschnupft zu klingen. Ihr Chef Charlie hatte eine Bazillenphobie, die noch ausgeprägter war als seine Angst vor Motten und sein Ekel vor abgelaufenen Lebensmitteln im Dezernatskühlschrank. Sie beschloss, besser noch einmal kräftig zu husten – im Falle, es stünden tatsächlich unangenehme Aufgaben auf dem Plan.

»Charlie ist ganz nervös«, begann Mimi.

»Nervös?«, wunderte sich Olivia. »Warum denn?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es nicht, Olli. Aber Charlie will uns sprechen.«

»Uns? Dich und mich?«

»Ja, Olli. Uns beide. Nur du und ich.«

Olivia musste grinsen. Das erinnerte sie an Michel aus Lönneberga: Nur ich und du, Michel. Ja, Alfred, nur du und ich.

»Was hat Charlie noch gesagt?«

Mimi überlegte. »Irgendwas mit einer Special Unit. Und Frau Merkel. Und Ausland. Dann sagte Charlie, du würdest ja so viele Sprachen sprechen.«

Na ja, viele Sprachen. Sie sprach fließend Englisch, aber wer tat das heutzutage nicht? Ihr Schulfranzösisch hingegen war komplett eingerostet. Als sie das letzte Mal in Paris gewesen war, waren ihr die einfachsten Redewendungen nicht mehr eingefallen. Sie sprach seit ihrem letzten Urlaub recht flüssig Hebräisch, auch hatte sie vor Jahren zwei Spanischkurse an der Volkshochschule belegt und sich mit ihrem neu erworbenen Sprachschatz dreieinhalb Wochen quer durch Mexico geschlagen. Das hatte ganz gut funktioniert. Italienisch konnte sie auch ein paar Brocken, war ja praktisch das Gleiche wie Spanisch. Worin wiederum auch das Problem lag, denn ständig verwechselte sie spanische und italienische Wörter.

»Wie, Frau Merkel? Die Frau Merkel? Was hat Charlie denn mit der ehemaligen Bundeskanzlerin zu tun?«, hakte sie schließlich nach.

Mimi antwortete nicht. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie er ratlos mit den Schultern zuckte. Olivia wurde furchtbar neugierig angesichts der Chancen, die sich hier womöglich auftaten. Bestenfalls könnte sie in diese mysteriöse Special Unit wechseln und der neue Fall läge irgendwo im Süden. Schlimmstenfalls landete sie in einem kalten Ostblockland.

Sollte sie Charlie kurz anrufen? Oder sich aufraffen, doch noch im Präsidium zu erscheinen? Sie verwarf den Gedanken, sie hatte ja noch nicht einmal geduscht.

»Vielleicht will Charlie uns ja einen Auslandseinsatz anbieten?«, grübelte sie, während sie gleichzeitig versuchte, ihre zu einem unordentlichen Dutt verwurstelten Haare zu entwirren. »Wenn das der Fall sein sollte, nur mit dir, Mimi«, wagte sie sich vor. »Stell dir nur mal vor, wir müssten zusammen an die Amalfiküste!«

Olivia sah plötzlich ungeahnte Möglichkeiten, die sich ihr boten. Vielleicht gab es ja wirklich ein vorbestimmtes Schicksal: Denn wenn sie den mysteriösen Einsatz ablehnte und weiterhin mit Mimi Fälle im Inland bearbeitete, hatte er womöglich auch bald die Nase voll vom Münchner Winter und wäre offen für den Anbau von Zitronen auf Sizilien. Andererseits sah sie sich schon an seiner Seite unglaubliche James Bond-Abenteuer unter südlicher Sonne erleben, wenn sie annähme.

Olivia war zufrieden. Eigentlich hatte sie nicht nur die Wahl, sie hatte die Wahl zwischen gut und gut.

drei

Kommissar Micki Cohen stand mit knurrendem Magen am Strand. Eigentlich hätte er längst bei seiner Schwester im Kibbuz Rosh HaNikra sein sollen, wo sich die Familie sicherlich schon über gebratenen Fisch, Auberginenauflauf, Hähnchen und Knödel oder andere Leckereien hermachte. Würde er nicht genau vor der Wasserleiche stehen, an der sich die Spurensicherung gerade zu schaffen machte, würde er ein Snickers aus der Hosentasche ziehen und das Grummeln im Magen besänftigen. Stattdessen hielt er die Taschenlampe auf den Leichnam gerichtet, den Levi Berkovic, Leiter der Spurensicherung, gerade vorsichtig auf eine Plane legte.

Micki begutachtete den leblosen Körper des Mannes. Etwa vierzig bis fünfzig Jahre, durchtrainiert, bestimmt eins fünfundachtzig groß. Ein eher westeuropäischer Typ, helle Haut, dunkelbraunes Haar mit modischem Haarschnitt.

»Wo ist der kleine Mann, der die Leiche entdeckt hat?«, fragte Micki die Anwesenden.

Dani zeigte auf Eliyahu, der mit seinem Vater etwas abseits auf den Treppen des kleinen Steinhäuschens saß. Der alte Verwalter des angrenzenden Banana Beaches hatte Mitleid mit dem Jungen. Er kannte Eliyahu, der seinen Vater von klein auf zum Fischen begleitete, sich aber standhaft weigerte, selbst zu fischen. Der freundliche Junge war ihm ans Herz gewachsen. Stundenlang klaubte er Müll vom Strand und tauchte im Meer nach Plastik, bevor dieses Fischen und Schildkröten zum Verhängnis werden konnte, während sein Vater und Onkel versuchten, einen guten Fang zu machen. Manchmal saß Eliyahu auch auf den wasserumspülten Felsen und sprach mit den Fischen.

Dani ging ein paar Schritte und drückte dem Jungen einen Becher mit heißem, stark gesüßtem Nana-Tee in die Hand. »Der Kommissar will mit dir sprechen, dann könnt ihr sicherlich nach Hause«, munterte er ihn auf.

»Sie weinten.«

»Wer weinte, Eliyahu?«

»Die Fische. Sie weinten im Eimer.«

Aba sah ihn warnend an.

»Wegen des toten Manns?«, fragte Micki, als er die kleine Gruppe erreichte.

»Nein, weil sie sterben müssen«, schluchzte Eliyahu.

»Imale, Imale. Der Kleine ist ja total durch den Wind«, murmelte Micki und rieb sich über den kräftigen Dreitagebart.

»Dani«, wandte er sich an den Verwalter, »weiß man schon, ob der Mann hier Badegast war? Hat schon jemand den Strand abgesucht und herrenlose Handtücher, Kleidung oder Rucksäcke gefunden?«

»Ich habe nichts gesehen, aber wir suchen noch einmal das Gelände ab und schauen auch oben bei den Duschen und im Café. Es könnte natürlich auch sein, dass er durch den stillgelegten Club Med gekommen ist oder über die Felsen geklettert ist und seine Sachen im benachbarten Park Achsiv liegen hat.« Er hielt kurz inne und wies mit einem Kopfnicken auf das Wasser. »Wir hatten heute hohen Wellengang mit starker Strömung von West, also könnte der Mann theoretisch auch vom offenen Meer an den Strand getrieben worden sein.«

Micki rieb sich erneut den Dreitagebart. Es war inzwischen dunkel, und um das riesige Gelände abzusuchen, benötigte er einen bestimmt zwanzig Mann umfassenden Suchtrupp, ausgerüstet mit Scheinwerfern und Taschenlampen. Dazu war die Pathologin noch nicht vor Ort und der Fundort der Leiche nur notdürftig gesichert. Er sah eine lange Nacht auf sich zu kommen. Aber wenigstens das Kind konnte er nach Hause schicken und die Befragung auf Sonntag verlegen, wenn auch die Polizei-Psychologin wieder im Dienst sein würde. Er beschloss, es für heute gut sein zu lassen und den Jungen, seinen Vater und seinen Onkel zu entlassen. Er drückte dem Vater seine Karte in die Hand. »Melde dich bei mir am Sonntag, wenn dein Sohn sich beruhigt hat. Wir sprechen dann noch einmal. Schabbat Schalom.«

»Welche Bademeister hatten heute am Banana Beach Dienst? Amos und … wie heißt der Marokkaner?«, wandte sich Micki erneut an Dani.

»Ja, Amos und Ezra.«

»Und wer im Park Achsiv?«

»Ich denke Arie und Asher.«

»Und wer von den vieren kennt sich am besten mit Strömungen und Windrichtungen aus?«

»Vermutlich alle«, mutmaßte Dani. »Gestern hatten wir jedenfalls Chamsin, also starken Wind von Süden, weshalb das Wasser heute Morgen spiegelklar war. Am frühen Nachmittag drehte der Wind und die Strömung kam von West und trieb Wellen und Unrat vom offenen Meer an die Küste.«

Micki schaute sich um und verstand, was der alte Strandverwalter meinte. Vereinzelt lag Treibgut im nassen Sand, das Meer wirbelte Plastiktüten auf, zog sie ins Wasser und schleuderte sie wieder zurück an den Strand.

»Bist du sicher, Dani?«

»Wie viele Jahre kennen wir uns jetzt, Micki?«

»Na ja, viele.«

»Und all die vielen Jahre lebe ich hier am Strand, erwache vor dem Einsetzen des Windes und gehe schlafen mit der Brandung im Ohr.«

Danis dunkle marokkanische Knopfaugen blitzten angriffslustig. Wenn sich jemand auskannte mit den Meeresströmungen, dann er, Sohn eines Fischers und Strandverwalter seit fünfunddreißig Jahren! Nur wenn es gar nicht anders ging, verließ er den Strand und radelte in den Supermarkt nach Nahariya, um sich mit Olivenöl, Zucker, Kaffeepulver, Mehl und Arak einzudecken. Alles andere lieferte ihm das Meer.

»Du meinst also, je nachdem wann der Mann ertrunken ist, kann man sagen, wo er ertrunken ist?«

Der Verwalter nickte.

»Hey, Lani«, begrüßte Micki seine Kollegin Dr. Lani Goldstein, die zwischenzeitlich den Fundort erreicht hatte und sich bereits eingehend mit dem Leichnam beschäftigte. »Wie lange war der Tote wohl im Wasser?«

»Genau kann ich’s noch nicht sagen, aber ich möchte meinen, nicht mehr als zwanzig Stunden.«

»Also muss er in Shawe Zion oder Akko ertrunken, wenn nicht sogar aus Haifa angeschwemmt worden sein«, meinte Dani.

»Ertrunken? Der ist nicht ertrunken, der ist erschossen worden und dann irgendwie im Meer gelandet.« Lani drehte den Leichnam auf den Rücken und zeigte ihnen die Eintrittswunde im Brustkorb des toten Mannes. »Da wir keine Austrittswunde haben, gehe ich davon aus, dass sich das Projektil noch im Körper befindet.«

Was? Nicht nur ertrunken, auch noch erschossen … das wurde ja immer besser! Micki sah sein Abendessen in weite Ferne entschwinden. Aber es hätte schlimmer kommen können, denn wenigstens arbeitete er gerne mit Lani. Sie war eine der besten Pathologinnen des Landes, stets knapp und präzise in ihren Ausführungen und geduldig in ihren Erklärungen. Er liebte ihre Ausdrucksweise. Nie behauptete sie etwas, stattdessen prägten Formulierungen wie »Ich möchte meinen« oder »Ich würde davon ausgehen« ihren sprachlichen Ausdruck, den Micki als wohltuend höflich empfand. Als alleinerziehende Mutter von zwei reizenden Töchtern war sie erstaunlich gut organisiert und hatte stets ein offenes Ohr für die Anliegen von Kollegen.

Micki kannte da ganz andere Frauen, wenn er nur an seine Exfrau Natascha dachte … Natascha war von den einfachsten Dingen überfordert, wobei wahrscheinlich nicht wirklich Überforderung das Problem war, sondern vielmehr ihr Unwille, unliebsame Aufgaben zu erledigen. Nataschas Leben spielte sich zwischen Fitnessstudio, Nagelstudio, Shoppingmalls und russischen Clubs in Haifa ab. Nach drei Jahren Ehe und unzähligen wodkageschwängerten Abenden war Micki finanziell ausgelaugt und nicht weiter dazu bereit gewesen, Energie in eine nichtssagende Beziehung zu investieren. Auch jetzt noch, eineinhalb Jahre nach seiner Scheidung, fühlte er sich allein und ohne Verpflichtungen gegenüber einer Ehefrau wohler. Er hatte nicht vor, seinen neu gewonnenen Freiraum für eine Beziehung aufzugeben. Jedoch ertappte er sich immer öfter dabei, wie er an Lani dachte. Wie sein Herz einen Schlag aussetzte, wenn sie unvermittelt im Dezernat um die Ecke bog, wie er auf ihre geschwungenen Lippen starrte und automatisch lächeln musste, wenn sie ihn anschaute. Heute hatte Lani ihre rotbraunen Locken zu einem Dutt hochgesteckt und der feine Bogen ihrer Nackenlinie verleitete ihn zum Träumen.

Ob sie morgen wohl schon etwas vorhatte? Tomer, sein Söhnchen, würde den Schabbat mit ihm verbringen. Sie könnten Drachen steigen lassen, abends ein Feuer am Strand machen und Stockbrot grillen. Sollte er Lani und ihre Töchter dazu einladen? Obwohl, dachte er resigniert, er war ja nicht zum Einkaufen gekommen und morgen hatte der Supermarkt geschlossen. Und was wäre ein Feuer am Strand ohne ein paar Kebab-Spieße mit Hummus und geröstetem Pitabrot – und nicht zu vergessen, einem guten Rotwein für die Erwachsenen. Er verwarf die Idee und beschloss, den Abend am Strand besser zu planen. Erst dann, gut vorbereitet, wollte er Lani dazu einzuladen.

Inzwischen war die Leiche bereit zum Abtransport in die Pathologie und die angeforderte Verstärkung der Spurensicherung durchkämmte das Gelände. Micki schlug Danis Angebot aus, gemeinsam noch einen Arak zu trinken. Er war froh, für heute Schluss machen zu können. Sein nagender Hunger hatte die Talsohle überwunden und die Müdigkeit überhandgenommen. Am liebsten würde er direkt nach Hause fahren, aber Schabbat war Schabbat und deswegen machte er sich auf den Weg zu seiner Schwester ins Kibbuz Rosh HaNikra.

vier

Eine arbeitsreiche Woche lag hinter Olivia Pfeffer, als sie um zwei Uhr morgens die Ankunftshalle des Flughafens Ben Gurion verließ. Vorsichtig balancierte sie ihren Kaffeebecher zu einer der warmen Marmorbänke im Außenbereich und streckte seufzend ihren Rücken durch. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich in ihr müdes Gesicht, als sie in den sternklaren Nachthimmel blickte.

Vierundzwanzig Grad, dachte sie, und das Anfang Oktober. Was für ein Unterschied zu München, wo bereits der erste Nachtfrost aufkam. Sie verstaute ihre Daunenweste im Hauptfach des Gepäcks, zog ihren warmen Kaschmirpulli aus und knotete ihn sich um die Hüfte. Als würde sie zusammen mit ihrer Kleidung die Strapazen der letzten Tage ablegen, fiel nun jegliche Anspannung von ihr ab.

Ein rätselhafter Leichenfund im Norden Israels hatte die neu gegründete Special Unit Aleph gezwungen, früher als geplant loszulegen. Die erste deutsch-israelische Sondereinheit der Mordkommission sollte aufgrund eines Regierungsbeschlusses länderübergreifend und ohne bürokratische Hürden operieren. Charlie hatte an sie als Ermittlerin vor Ort gedacht. Nicht nur, weil Mona, die sonst für Auslandseinsätze bestimmt war, merkwürdigerweise schwanger war. (Merkwürdig fand es Olivia nur deshalb, weil sie bis vor Kurzem davon überzeugt gewesen war, dass Mona weder an Männern noch an Familiengründung interessiert wäre. Einfach so hatte sie Monas herbe Art und die Tatsache, dass sie sich mit einer Frau die Wohnung teilte, fehlinterpretiert. Nun, im Nachhinein, schmunzelte sie über ihre leichtfertige Vermutung.) Charlie hatte Olivias Sprachkenntnisse gelobt und auf ihren letzten Aufenthalt in Israel verwiesen, in dem sie maßgeblich zur Lösung eines Falles beigetragen hatte, der weit über die Landesgrenzen hinaus Schlagzeilen gemacht hatte.

Und nun wartete ein neuer Fall auf sie.

Eine Art gegenseitige Amtshilfe, hatte Charlie erklärt. Ein Projekt, das im Zuge des Ausbaus der binationalen Beziehungen noch von der alten Regierung unter Angela Merkel initiiert worden sei und nun in die Tat umgesetzt werde. Zunächst seien Fördergelder für ein Jahr bewilligt worden, dann sehe man weiter.

»Wann geht Special Unit Aleph an den Start?«, hatte sie sich interessiert an ihren Chef gewandt.

Charlie hatte geschluckt und zögernd gesagt: »Also praktisch sofort.«

Recht schnell war es ihr gemeinsam mit Mimi Zioni, der ebenfalls im Team war, gelungen, die Identität des Mordopfers festzustellen. Der Mann, der im Norden des Landes an den Strand gespült worden war, hatte weder Kreditkarten noch Pass oder sonstige Dokumente bei sich getragen, die auf seine Person schließen ließen. Auch von seinem Gepäck fehlte jede Spur. Lediglich in der Hosentasche des Toten waren ein paar Euro-Münzen sowie ein Israil-Ticket gefunden worden, auf dem ein paar deutsche Worte notiert waren. Zudem hatte die Pathologin ein Tattoo auf dem Schulterblatt des Opfers entdeckt. Unter einem stilisierten Flügel war in Versalien ein deutscher Satz eingestochen: WARUM GEHEN, WENN MAN FLIEGEN KANN.

Diese drei Fakten hatten der israelischen Mordkommission genügt, um ihre deutschen Kollegen einzuschalten.

Olivia hatte ein rekonstruiertes Bild des Toten sowie Fotos der Tätowierung und des Hemdes, welches er trug, als er gefunden wurde, in den sozialen Medien veröffentlicht. Pepe de Paula, der Inhaber des Stuttgarter Tätowier- und Piercingstudios BodyArt, hatte sich auf den Aufruf gemeldet, nachdem ihm ein Kunde während einer Session das Tattoo auf dem iPhone gezeigt hatte. Pepe tätowierte seit 1991 und war eine Koryphäe seines Faches. Damals noch mit einem Reisegewerbe ausgestattet, hatte er bevorzugt auf Festivals wie Rock am Ring oder Rock im Park tätowiert. Seinen ersten Stand hatte er auf der Internationalen Gartenausstellung in Stuttgart gehabt. Während dieses fantastischen Sommers ’93 hatte er so viele Delfine, Schmetterlinge und heulende Wölfe tätowiert, dass er am Ende der Saison nicht nur auf zwanzig Meter Entfernung sagen konnte, welches Motiv sich ein nahender Kunde stechen lassen würde, sondern auch genügend Geld hatte, einen kleinen Laden in der Reinsburgstraße anzumieten. Seitdem füllten kleinere Arbeiten wie Herzen und Tribals seine Portokasse, während er sich mit fabelhaft ausgearbeiteten Schädelmotiven einen Namen machte. An das Tattoo mit dem Flügel erinnerte er sich gut: eine Arbeit, die er vor ungefähr zwei Jahren einem Werbefuzzi, dessen Hobby Drachenfliegen war, gestochen hatte. Pepe de Paula, dem nichts ferner lag als fliegen, hatte den Mann aber sehr nett gefunden und sich über zwei Sitzungen lang die Geschichten vom Drachenfliegen angehört.

So hatte Olivia, nur fünf Stunden nach Veröffentlichung in den sozialen Netzwerken, den entscheidenden Hinweis erhalten, der zur Identifizierung des Opfers führte: Alexander Claasen, ein Grafikdesigner aus Stuttgart.

Ihr blieben noch einige Minuten, um ihre Wasserflasche am Spender aufzufüllen und ein Ticket zu lösen, bevor sie in den Zug Richtung Norden steigen musste. Sie zündete sich genüsslich eine Zigarette an und suchte auf ihrem Smartphone die Nachricht von Michael Cohen, dem neuen Leiter des israelischen Morddezernats, in der er die Adresse ihrer Unterkunft in Nahariya nannte.

Sie war gespannt auf diesen Cohen. Letztendlich hatte es Kommissar Avi Mendel, den sie von ihrer letzten Reise kannte, geschafft, in Rente zu gehen und sein Amt einem Nachfolger zu übergeben. Fast noch gespannter war sie auf ihre Unterkunft.

Searose Apartments, Achsiv.

Das klang nach Strandnähe. Genaugenommen klang es nach Banana Beach. Erste Vorfreude mischte sich in ihre Erschöpfung, als sie an den malerischen Strand dachte. An den weißen Sand, die netten Bademeister Amos und Ezra, an das morgendliche Schwimmen im türkisblauen Meer. Wäre es nicht furchtbar pietätlos, hätte Olivia dem Schicksal auf Knien gedankt.

Dafür, dass es Alexander Claasens Leiche ausgerechnet dort an Land gespült hatte.

fünf

Als Olivia gut drei Stunden später ihr Apartment bezog, stellte sie erleichtert fest, dass die Unterkunft bestens ausgestattet war und über eine Nespressomaschine, ausreichend Kaffeekapseln und ein paar schlecht gespülte Tassen im Schrank verfügte. Der etwas schmierig aussehende Hauswärter, der sich als Yossi Aflalo-Vanunu vorgestellt hatte, übergab ihr die Schlüssel zu Apartment 606 im sechsten Stock.

»Wenn du etwas brauchst, frag nur mich. Ich bin der Manager hier«, behauptete der kleine dicke Mann großspurig und schickte ein »Olivia Germania!« hinterher, was er selbst wohl so witzig fand, dass ihm dabei kichernd die Spucke aus dem Mundwinkel triefte. Der Hausverwalter pries in bestem Italo-Englisch erneut seine Dienste an. Hoffnungsvoll schaute er sie aus olivfarbenen Kulleraugen an und machte keine Anstalten, sich zu verabschieden.

Olivia jedoch wollte den aufdringlichen Kerl, diesen Yossi-wie-hieß-der-doch-gleich, Afangulo?, Lala-Lulu?, egal, diesen Clown von Hausmeister schnell loswerden, damit sie am zweihundert Meter entfernten Banana Beach noch eine Runde schwimmen konnte, bevor sie dort ihren israelischen Kollegen treffen würde.

 

Es war herrlich. Der Strand war menschenleer, die Station der Bademeister noch geschlossen. Das Wasser war klar, nicht eine Welle kräuselte die glatte Oberfläche. Es hatte fast etwas Meditatives, wie Olivia allein im Meer schwamm. Ähnlich ihrem Schwimmtraining im Münchner Olympiabad kraulte sie jedoch nicht geradeaus ins offene Meer, sondern zog ihre Bahnen zwischen den Abgrenzungen aus Schwimmkörpern parallel zum Strand. Normalerweise schwamm sie nach Zeit und nicht nach Bahnen, daher hatte sie keinen Anhaltspunkt, wie lange sie bereits im Wasser war.

Olivia wechselte vom Kraulen zum Rückenschwimmen und während sie dachte, dass der tote Mann hier ganz in der Nähe aufgefunden worden war, fiel ihr eine Geschichte aus einem sizilianischen Krimi ein. Die Hand des Commissarios, der wie Olivia den Tag gerne damit begann, eine Runde zu schwimmen, verfing sich eines Morgens während des Rückenschwimmens im Meer in einem haarähnlichen Gebilde. In der Annahme, es handle sich um Seegras oder Algen, drehte sich der Commissario um und erlitt fast einen Herzinfarkt: Er sah, dass seine Hand sich im Haarschopf einer Wasserleiche verfangen hatte. Olivia gruselte sich und drehte sich sofort wieder auf den Bauch. Klar und spiegelglatt lag das Meer vor ihr, nicht einmal kleine Steine oder Felsen befanden sich am feinen Sandboden des Meeres, dennoch fühlte sie sich nicht mehr entspannt und sicher, da ihr die Fantasie nun Steine in den Weg legte. Sie sah, wie Ezra, einer der beiden Bademeister, die Fenster der Station öffnete, während der andere, Amos, eine weiße Fahne hisste. Es musste kurz vor acht sein, Zeit, an Land zu schwimmen und zu schauen, ob dieser Michael Cohen inzwischen oben im Café war.

»Olivia!«, rief Ezra erfreut, als sie ihr Badetuch von einem der Holzpfosten der Station nahm und sich damit abtrocknete. »Du bist zurück! Komm und trinke einen Kaffee mit uns.« Herzlich umarmte er sie und strahlte sie an.

Auch Olivia freute sich, den dunkelhaarigen Bademeister zu sehen. Er und Amos waren ihr wirklich ans Herz gewachsen während ihres Urlaubs im Frühling. Sie zögerte kurz. Zu verlockend war die Vorstellung, bei Kaffee und Frühstück in der Bademeisterstation zu sitzen und Neuigkeiten auszutauschen.

»Das ist so nett, Ezra. Und sonst jederzeit gerne. Leider habe ich keine Zeit«, sagte sie bedauernd. »Ich bin diesmal sozusagen beruflich hier und werde im Café erwartet. Aber vielen Dank.«

Olivia war stolz: Das Schwimmen im kühlen Wasser hatte ihre Gehirnzellen aktiviert und trotz enormem Schlafmangel brachte sie flüssig mehrere hebräische Sätze fehlerfrei über die Lippen. Normalerweise war Müdigkeit das absolute K.-o.-Kriterium, wenn sie versuchte, sich in fremden Sprachen gewählt auszudrücken. Neun Stunden Schlaf waren mindestens nötig, damit ihr Gehirn und ihr Sprachzentrum fehlerfrei funktionierten. Erstaunlich, denn heute hatte sie nur drei Stunden im Flugzeug geschlafen. Schnell schlüpfte sie in ein rosafarbenes Frotteeröckchen und ein geringeltes T-Shirt, unter dem sie umständlich ihr nasses Bikini-Oberteil herauswurstelte.

»Ich erkläre es dir später«, versprach sie Ezra, dem die Neugier förmlich in die Augen geschrieben war, und winkte Amos oben in der Station zum Abschied zu.

Kaum angekommen, fühlte sie sich schon wie zu Hause am Strand. Seit ihrem Umzug von Stuttgart nach München hatte sie es nicht geschafft, ihre Nachbarn kennenzulernen. Und hier, dreitausend Kilometer entfernt, wurde sie begrüßt wie eine gute Freundin. Hier, wo jeder jeden kannte, war das jedoch nicht immer von Vorteil, wie sie gleich darauf erkannte.

O nein, dachte Olivia seufzend, als sie über die Holzplanken vom Strand in Richtung Bar ging, auch das noch! Dieser schmierige Yossi Blabla-Nunu saß mit der Rentnergang im Café und starrte sie erwartungsvoll an. Die Männer hatten allesamt dunkle Knopfaugen und dicke Schmerbäuche. Sie trugen ausgeleierte, teils verfärbte T-Shirts und weiße Schnürschuhe, die schon bessere Tage gesehen hatten. Marokkanische Mafia? Arbeitslose Rentner? Kleinganoven? Ganz geheuer war ihr die Truppe nicht.

»Olivia Germania!«, rief Yossi nun gönnerhaft und blickte Beifall heischend zu seinen Kumpanen.