Eine kurze Geschichte von Gehirn und Geist - Matthias Eckoldt - E-Book

Eine kurze Geschichte von Gehirn und Geist E-Book

Matthias Eckoldt

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Beschreibung

Von der Steinzeit bis heute – eine unterhaltsame und kenntnisreiche Geschichte der Hirnforschung

In den vergangenen Jahrhunderten mussten die Wissenschaftler, die unser Gehirn erforschten, ihre Konzepte immer wieder verwerfen – was einmal glanzvoll bewiesen schien, galt bereits wenig später als widerlegt. Und auch heute nehmen die offenen Fragen eher zu als ab – können wir unser Gehirn überhaupt verstehen? Und woher wissen wir, wie wir fühlen und denken?

Der vielfach prämierte Wissenschaftsautor Matthias Eckoldt nimmt uns mit auf einen anregenden und kenntnisreichen Streifzug durch die Geschichte des Gehirns und seiner Erforschung, die von der Steinzeit bis ins heutige Internetzeitalter reicht, vom »Lebensgeist« der Griechen bis zu Spiegelneuronen und modernen Netzwerktheorien.

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Matthias Eckoldt

EINE KURZE GESCHICHTE VON GEHIRN UND GEIST

Woher wir wissen, wie wir fühlen und denken

Pantheon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Erste AuflageSeptember 2016Copyright © 2016 by Pantheon Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, unter Verwendung von Abbildungen © efks/iStockphoto und © Gil-Design/iStockphoto (Schmetterlinge)Satz: Ditta Ahmadi, BerlinReproduktionen: Aigner, BerlinISBN 978-3-641-11409-1V001www.pantheon-verlag.de

»Wenn das Hirn so einfach wäre, dass wir es verstehen könnten, dann wären wir so einfach, dass wir es nicht könnten.«

EMERSON PUGH

Inhalt

Vorwort

ANTIKE Wie der Geist aus dem Brunnen kommt

MITTELALTER UND RENAISSANCE Der Geist orgelt

NEUZEIT Das Hirn: ein Telegraph – oder eine Landkarte?

MODERNE Der Geist im Chemiebaukasten – oder doch im Computer?

GEGENWART Das Hirn wird wie das Internet gewesen sein

Dank

ANHANG

Anmerkungen

Register

Vorwort

Wir können nur vermuten, warum sich unsere Urahnen einst aufgerichtet haben. Überkam sie der Übermut, nachdem sie den angestammten Lebensraum auf den Bäumen erfolgreich verlassen hatten? Geschah es aus Langeweile? Oder drängte sich diese Idee allein schon aus anatomischen Gründen auf? Denn die Arme, die sie nun nicht mehr zum Herumhangeln an den Ästen benötigten, verkürzten sich, und die so erzwungene Hockstellung ließ die Fortbewegung zunehmend beschwerlicher werden. Warum also nicht auf zwei Beinen gehen? Einen Versuch sollte es wohl allemal wert sein.

Die Balanceprobleme von Kleinkindern, die im Alter von etwa einem Jahr den entscheidenden Prozess der Menschwerdung noch einmal durchexerzieren, dürften sicherlich nur ein sehr unvollkommenes Bild davon geben, wie schwierig sich dieses Unterfangen einst gestaltete. Das Risiko, unsicheren Schrittes durch die Wälder zu taumeln, kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Es wird kaum möglich gewesen sein, vor Fressfeinden zu fliehen, von siegreich geführten Kämpfen gar nicht zu reden. Dennoch sind unsere Vorfahren bei dieser Bewegungsform geblieben. Der aufrechte Gang muss vor über drei Millionen Jahren etwas ermöglicht haben, das alle damit verbundenen Mühen und Gefahren in den Schatten stellte.

Zumindest zwei wesentliche Vorteile kommen in Betracht: die Eröffnung eines größeren Blickfeldes und die Befreiung der vorderen Extremitäten von den Aufgaben der Fortbewegung. Das Zusammenwirken dieser beiden Faktoren gestattet eine neue Wahrnehmungsform, die sich bald schon von der alleinigen Konzentration auf die Nahrungssuche und den Vollzug des Geschlechtsverkehrs befreit. Die Hände untersuchen, was ihnen unter die Finger kommt, die Augen unterstützen, registrieren, inspirieren. Weitere Effekte beflügeln diese neue Art der Kooperation: Der Schädel erfährt in der Vertikalen eine erhebliche Druckentlastung und benötigt weniger von der das Wachstum begrenzenden Haltemuskulatur. Es kommt zu einer präfrontalen Entriegelung.1 Die Stirn wird frei, im tatsächlichen wie auch im übertragenen Sinn. Der im Zusammenspiel von Hand und Auge neu gewonnene Horizont erfordert und ermöglicht gleichermaßen ein Gehirnwachstum. Zusätzlich erfährt das erhobene Haupt eine gewisse Kühlung, die es erlaubt, mehr energiereiche, neuronale Aktivitäten unter der Schädeldecke in Gang zu setzen.

Die Hände erproben sich als erste Werkzeuge. Bald werden sie hierin von nützlichen Gegenständen unterstützt. Zwar brechen auch andere Tiere Fruchtschalen mithilfe harter Gegenstände auf, doch all ihr Sinnen richtet sich lediglich auf die Mahlzeit, während das Interesse der zweibeinigen Artgenossen zugleich auch dem Instrument selbst, seiner Aufbewahrung sowie seiner Verbesserung gilt. Der aufrecht schreitende Erdenbewohner zeichnet sich durch keinerlei körperliche Überlegenheit gegenüber den anderen Kreaturen aus. Im Gegenteil, er kann weder sonderlich schnell rennen noch besitzt er überdurchschnittliche Muskelkräfte, Greifzähne oder Giftdrüsen, mit denen er sich Respekt verschaffen könnte. Er ist ein rechtes Mängelwesen, das über nichts verfügt außer einer im Tierreich bis dato nie gesehenen Neugier, mit der er die Welt erkundet und schließlich sogar die Angst vor dem Feuer überwindet.

Wenn er sein Antlitz auf einer glatten Wasseroberfläche erblickt, realisiert er sofort, dass er es mit seinem Spiegelbild und keiner anderen Person zu tun hat. Das wissen auch Affen. Wenn man ihnen während einer Narkose einen Klecks auf die Stirn malt und sie dann vor einem Spiegel zu sich kommen lässt, kratzen sie völlig selbstverständlich die Farbe ab. Danach jedoch erlischt das Interesse am Alter Ego sogleich. Für den Homo sapiens hingegen beginnt mit dem ersten Spiegelerlebnis ein nicht abschließbarer Prozess der Selbsterkundung.

Seit mindestens zwölftausend Jahren richtet sich dieses Interesse am eigenen Dasein auch auf die Kopfregion. Das legen Skelettfunde aus der Mittelsteinzeit nahe. Einige der Schädel weisen Löcher mit einer Symmetrie auf, die nicht von Unfällen herrühren kann. Nur mit gezielten Operationen gelingen solche kreisrunden Öffnungen; die Schädelplatten der Opfer müssen bei lebendigem Leib und vollem Bewusstsein bearbeitet worden sein (wenn nicht eine segensreiche Ohnmacht die Sinne raubte). Jedenfalls überlebten die Patienten der ersten Hirnchirurgen diese sogenannten Trepanationen, das kann man aus den gefundenen Schädeln der Steinzeitmenschen lesen. Die scharfen Kanten, die beim Durchstoßen der Schädeldecke entstehen, haben sich abgerundet, was nur durch die Bildung neuer Knochensubstanz möglich ist. Den Grad dieses Selbstheilungsprozesses sieht man unter dem Mikroskop und kann daraus auf die Lebenszeit schließen, die dem Operierten noch vergönnt war. Nicht selten müssen das mehr als zehn Jahre gewesen sein. Über den Hintergrund der Trepanationen existieren allerdings nicht mehr als plausible Vermutungen. Befragungen von Menschen, die in heutigen archaischen Stammeskulturen leben, ergaben, dass die Medizinmänner auf diese martialische Weise womöglich böse Geister dazu bewegen wollten, aus den Köpfen der Betroffenen zu entweichen.

In der Antike wird aus den Geistern der Geist, als die griechischen Philosophen die großen Fragen nach dem Wesen von Erkenntnis und Wissen stellen. Das vorliegende Buch, Eine kurze Geschichte von Gehirn und Geist, setzt hier ein und ergründet, wie das Gehirn sich selbst zu reflektieren beginnt. Anfangs ist es noch gar nicht ausgemacht, ob im Kopf wirklich die Gedanken gebildet werden. Ebenso plausibel klingen Spekulationen über seine vorrangige Kühlfunktion für das hitzige Blut. Darüber hinaus macht die Seele immer wieder Probleme. Ist sie unsterblich und wandert von Körper zu Körper? Was aber wird dann mit all ihren Erfahrungen, die sie im irdischen Dasein gesammelt hat? Oder vergeht sie einfach mit dem Körper? Aber kann sie so profan wie dieser einfach zu Staub zerfallen? Von dem Moment an, wo im 3. Jahrhundert v. Chr. Schädel geöffnet werden, um die Wissbegier zu befriedigen, stellt sich das Leib-Seele-Problem als Frage nach dem Verhältnis von Gehirn und Geist. Wo genau wird der Gedanke, die Hand zu bewegen, materielle Realität? Und auf welche Weise? Oder andersherum: Wie verdichten sich die vielen verschiedenen Reize der Außenwelt zu einer Empfindung?

Bereits vor ungefähr zwölftausend Jahren wurden Schädel geöffnet. Es gibt Belege dafür, dass die Trepanations-Opfer diese massiven Eingriffe überlebten.

© Picture Alliance, Frankfurt (AKG Images)

Bis heute konnten diese Fragen nicht abschließend geklärt werden. Dieses Buch erzählt von den verschiedenen, über die Jahrhunderte unternommenen Versuchen, Antworten zu finden. Dabei stellt sich heraus, dass unser Denken im Kern weniger nach Antworten sucht, vielmehr arbeitet es ständig an einer Präzisierung der Fragestellung. Diesem Vorgang fallen die verschiedensten Konzepte von Struktur und Funktion des Hirns zum Opfer, so brillant sie auch sein mögen. Was einmal glanzvoll bewiesen schien, wird wenig später widerlegt. Vor diesem Hintergrund geht es also nicht um ein Fortschreiten vom Unwissen hin zur absoluten Wahrheit, sondern um das, was Niklas Luhmann einmal Umverteilung von Problemlösungsdruck nannte. Dasselbe muss immer wieder anders erklärt werden, weil sich geschichtliche Epochen nicht durch Ereignisse, sondern durch verschiedene Wahrnehmungsbedingungen voneinander abgrenzen. Die Perspektive auf die Welt – und damit auf das Gehirn – unterscheidet sich in der Antike wesentlich von der im Mittelalter, ebenso wie von der neuzeitlichen. Die Sicht der Dinge verändert sich jedoch nicht durch Anhäufung von Wissen. Menschen wissen im Laufe der Geschichte nicht mehr, nur anderes. Eher sind es technische Erfindungen, die einer Zeit ihre spezifische Weltwahrnehmung einflüstern.

Nicht von ungefähr orientieren sich die Modelle der Hirnforschung denn auch an den jeweiligen technologischen Ikonen. So funktioniert das Hirn für die Römer wie ihre ausgetüftelten Brunnenanlagen. Der Lebensgeist (spiritus animalis) fließt ‒ wie das Wasser von Becken zu Becken ‒ durch die Hirnbehälter und verändert dabei seine Qualität, sodass er die vielen verschiedenen Steuerungsaufgaben bewältigen kann. Descartes bricht das fast tausendjährige Schweigen des christlich dominierten Mittelalters zu den Fragen des Körpers und zieht für die Erklärung der Vorgänge im Gehirn die im 17. Jahrhundert zur Blüte gelangte Mechanik heran. Luftdruck, Ventile, Klappen – das Gehirn funktioniert von nun an nach dem Prinzip der Orgel. Das feinabgestimmte Ineinandergreifen der Funktionen produziert beim Musikinstrument Wohlklänge und im Kopf den Geist. Mit Aufkommen der Elektrizität entstehen neue Deutungsmöglichkeiten. So scheint das Hirn im 19. Jahrhundert doch besser als Telegraphenamt beschrieben, das durch die Nerven mit den Befehlsempfängern im Körper verbunden ist, ähnlich wie die Kabel der Telegraphie mit aller Welt. Zugleich jedoch steht die Geographie hoch im Kurs: Ist das Hirn vielleicht doch eher durch eine Landkarte zu verbildlichen? Auf der Großhirnrinde des Menschen ist genug Platz, um seinen Fähigkeiten einen ebenso fest umschriebenen Ort zu geben wie den Landstrichen, Küsten und Meeren auf dem Papier. Im 20. Jahrhundert entstehen weitere Angebote, um das Hirn auf wieder andere Weise zu sehen. So soll es nun wie ein chemisches Laboratorium funktionieren. Dementsprechend werden die Neurone zu Miniatur-Chemiebaukästen. Im Zeitalter der Kybernetik begreift man das Hirn als Computer, in dem Nervenzellen nach den Grundoperationen der Logik arbeiten. Mit Aufkommen des Internets schließlich stellt sich den Hirnforschern ihr Gegenstand als ein Netzwerk verteilter Intelligenz dar.

Die verschiedenen Metaphern zeigen die vielen Facetten der Hirntätigkeit, zugleich erzählen sie vom sich wandelnden Selbstbild des Menschen. So wie er sein Hirn beschreibt, sieht er auch sich selbst. Ob als mechanisches Rädchen im großen Getriebe, als Sklave seiner Hirnchemie oder als Netzwerker in Teams – die Bilder, die uns die Wissenschaftler liefern, werfen Schlaglichter auf die Art und Weise, wie wir denken und fühlen.

Das vorliegende Buch möchte seine Leser einladen, in die Geschichte der Erforschung des Gehirns einzutauchen. Die behandelten Epochen werden dabei nicht mit dem Wissen von heute betrachtet, auch wenn die Resonanzen von früheren und heutigen Erkenntnissen immer mitlaufen. Vielmehr wird der Versuch unternommen, sich auf die Augenhöhe der jeweiligen Forscher zu begeben und aus dem Horizont der Zeit heraus die Fragen nach dem Funktionieren des Gehirns zu begreifen. Die Kuriosität mancher Lösungswege soll dabei nicht als Beleg für die Verirrung eines oder mehrerer Wissenschaftler dienen, sondern die verschlungenen Pfade menschlichen Denkens nachzeichnen. Kein Zeitalter – sicher auch nicht das unsrige – ist gegen das feixende Kopfschütteln späterer Generationen gefeit.

ANTIKE Wie der Geist aus dem Brunnen kommt

Weder Strom noch Nerven

Man stelle sich eine Welt vor, die keine Elektrizität kennt: Es gibt keine Kraftwerke, keine Überlandkabel, keine Steckdosen und kein Licht von Glühlampen. Auch keine Staubsauger, Computer, Radios und dergleichen. Darüber hinaus existiert der Begriff »Nerven« nicht. Spräche man das Wort aus, würde man reihum nur Schulterzucken ernten und fragende Blicke auf sich ziehen. Wie redet man über das Gehirn in einer solchen Epoche, da noch keine Neurone feuern, niemand Aktionspotentiale nachzuweisen sucht und kein Nervensystem den Körper durchzieht?

Das Gehirn spielt im antiken Griechenland keine Rolle. Es gibt ja auch noch keine Hirnforscher. Nicht einmal Naturwissenschaftler kennt man in jenen Zeiten, ebenso wenig wie Geisteswissenschaftler. Das Universum des Wissens ist noch nicht in verschiedene Gebiete zerfallen. Auch für die neuzeitliche Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion hat man keine Verwendung. Die von Homer gesungenen Epen sind für die Griechen real, wobei ihr Begriff von Realität nicht dem unsrigen entspricht. Die menschlichen Konflikte ihrer Götter haben in etwa den Stellenwert, den für uns die Geschichte einnimmt. Es handelt sich um Episoden vergangener Zeiten, die man selbst nicht bezeugen kann, aus denen heraus man aber Teile der eigenen Existenz und Kultur zu erklären vermag. Allerdings erfährt auch der Begriff des Erklärens eine andere Bedeutung, da Spekulation und analytisches Denken nicht als Widerspruch empfunden werden.

Die höchste Stufe geistiger Tätigkeit sehen die Griechen in der Kontemplation. Man blinzelt in die Sonne, legt sich zu Tisch, redet, debattiert und kräftigt die rhetorischen Muskeln, wann immer sich Gelegenheit dazu bietet. Die kühne These gilt in jenen Tagen mehr als die fleißige Empirie. Wieso soll man die Hände gebrauchen, solange man die Gedanken benutzen kann? Aber woher kommen die Gedanken? Was denkt in einem? Worin besteht die Eigenheit der Seele?

Bei solchen Fragen geht es nicht darum, der geistigen Welt einen Ort zu geben, um sie darauf festzulegen, sondern eher darum, sie zu würdigen und ihr auf Augenhöhe zu begegnen. Meisterlich und für die folgenden Zeiten vorbildgebend gelingt das Sokrates (469–399 v. Chr.), der im 5. Jahrhundert v. Chr. auf den Plätzen Athens zu finden ist, wo er sich lieber aufhält als zu Hause bei seinem zänkischen Weib. Er verstrickt seine Mitbürger in endlose Dialoge. Jedenfalls berichten das seine Getreuen und stellen ihn als einen unwiderstehlichen Diskutanten dar. Sokrates selbst bezeichnet sich als würdigen Sohn einer Hebamme, denn seine Kunstfertigkeit sieht er darin, die Gedanken seines Gegenübers zur Welt zu bringen. Sokrates zieht alles sicher Geglaubte in Zweifel, so lange, bis sein Dialogpartner zu der einzig sicheren menschlichen Erkenntnis kommt, der Erkenntnis des fundamentalen Unwissens. Zu wissen, dass man nicht weiß, steigt durch Sokrates zur höchsten Einsicht auf.

Bescheidenheit ist gefragt, wenn man bekennt, nicht zu wissen. Denn hier geht es um alles, um die grundsätzliche Unfähigkeit, Wissen auf ein festes, allgemeingültiges Fundament zu stellen. Wer sich mit Sokrates auf einen Dialog einlässt, wird rasch erkennen, dass er Wissen mit dem Schein davon verwechselt, weil die Seele keinen festen Grund zu fassen bekommt. Das Denken und Meinen richtet sich nach außen in der Sorge um die materiellen Güter. Mit dieser Ausrichtung springt man jedoch unter der Latte durch, die ‒ von wem auch immer ‒ durch die Gabe des Verstandes aufgelegt wurde. Das Höchste, das mithilfe der Vernunftbegabung geleistet werden kann, besteht in der Reflexion des Denkens selbst, und der Gipfel der Erkenntnis ist dementsprechend Selbsterkenntnis. So gibt es das Orakel von Delphi Sokrates jedenfalls zu verstehen, der fortan die Sorge seiner Mitbürger um Reichtum und Fortkommen in der Welt auf die Seele umwenden will und sie mit seiner Denkmethode in ihre eigenen Widersprüche verstrickt. Wacklig wird den Athenern der Boden unter den Füßen, wenn sie sich letztlich eingestehen müssen, dass sie Glück im Materiellen und Verwirklichung in Ämtern suchen. Denn über all diese äußeren Dinge besitzt man keinerlei Verfügungsgewalt. Was ist das für ein Glück, das zusammen mit dem Reichtum verschwindet? Wie tragend ist ein Lebenssinn, der sich mit dem Verlust eines Amtes auflöst? Wer auf diese Äußerlichkeiten baut, verfehlt sein Leben. Die Seele kann ihrem Vermögen nach nicht in Einsicht und Vernunft wirken. Sie verfällt aus Unwissenheit dem Schlechten und wird die Glückseligkeit nicht erfahren.

Am Ende seines Lebens kann Sokrates seine Armut als Beweis seiner Tugendhaftigkeit anführen. Er habe das Dasein damit zugebracht, Selbsterkenntnis zu üben, und keine Zeit darauf verschwendet, Besitz und Renommee anzuhäufen. Seinen letzten Gang geht er denn auch in völliger Gelassenheit. Zum Tode verurteilt, weil er angeblich die Götter gelästert und die Jugend verdorben habe, trinkt er den Schierlingsbecher ungerührt, nicht ohne sich vorher beim Scharfrichter zu erkundigen, auf welche Weise er die effektivste Wirkung zeitige. So beweist Sokrates, wie wenig man an der Welt des Materiellen zu hängen braucht, wenn man sein Leben dem Vermögen der Seele gemäß auf Verstand und Vernunft ausgerichtet hat. Dann kann man sogar den eigenen Körper gehen lassen, und der Schrecken des Todes verlischt. Vor seiner Hinrichtung spricht Sokrates zu seinen Freunden wohl die gelassensten letzten Worte, die je einem Menschen in einer solchen Situation über die Lippen gekommen sind: »Es ist Zeit, dass wir gehen; ich um zu sterben, und ihr um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer Gott.«2

Mit seiner Art des Philosophierens gibt Sokrates den Startschuss zur Erforschung der denkenden Substanz. Er beschließt jene Epoche, die wir heute als die der Vorsokratiker bezeichnen und in der auf materialistische Weise über die Weltprinzipien und ersten Ursachen aller Prozesse spekuliert wurde. Sokrates gibt dem Nachdenken unter und über den Menschen seinen Platz und leitet somit das große Projekt der Selbstreflexion ein. Die Frage nach dem Sitz der Empfindungen und nach den Mechanismen des Geistes ist damit, wenn nicht explizit, so doch implizit gestellt. Nun muss sie ausformuliert werden.

Wie die Seele unsterblich wird

Platon (428/427–348/347 v. Chr.) gehört zu der Schülerschar, die Sokrates durch Athen folgt. Anders als sein Lehrer, der zeitlebens keine einzige Zeile schreibt, hält er all seine Gedanken fest und errichtet ein philosophisches Gebäude, auf das alle Denker nach ihm Bezug nehmen werden. Der britische Philosoph Alfred North Whitehead (1861–1947) wird zweieinhalbtausend Jahre später konstatieren, dass die gesamte abendländische Philosophie lediglich aus Fußnoten zu Platons Werk bestehe.3 Seine Bewunderung für Sokrates drückt Platon aus, indem er ihm die Hauptrolle in seinen philosophischen Dialogen gibt.

Besonders im Timaios geht es um die Natur der Seele, die von Platon als dreigeteilt erlebt wird. Die wichtigsten Themen des athenischen Stadtstaates begegnen einem hier wieder. Zuerst wäre da der Mut, den der Einzelne stets unter Beweis stellen muss, da man in den kriegerischen Zeiten – es geht um die Vorherrschaft im Mittelmeerraum – im Prinzip jederzeit zu den Waffen gerufen werden kann. Des Weiteren geht es den Hellenen, wie allen früheren und späteren zivilisatorischen Gemeinschaften, um den Umgang mit den Begierden, die bereits die Götter in Homers Epen ein ums andere Mal ins Verderben stürzen. Das Begehren ist jedoch nicht rundheraus abzulehnen, da es zugleich auch das Überleben sichert. Schließlich drängt etwas im Menschen nach Erkenntnis und Einsicht, wovon das Leben des Sokrates ein so strahlendes Beispiel gegeben hat.

Wo sitzt nun der Mut? Anders gefragt: Welches Organ reagiert am stärksten, wenn Mut gefordert ist? Welcher Teil des Körpers streckt sich stolz empor, um Widrigkeiten und Gefahren entgegenzutreten? Sicherlich die Brust, die vom Herzen ausgefüllt wird, das wie toll schlägt, sobald Mut verlangt wird, und vor Euphorie hüpft, wenn die gefährliche Situation überstanden ist. Platon verlegt den mutigen Seelenteil also ins Herz.

Und das Begehren? Wo fühlt man die Lust unter der hellenischen Sonne? Hierfür kommt nur der Unterleib infrage. Dort rumort die Kraft der Lenden, immer zum Ausbruch bereit.

Wo anders als im Kopf kann der erkennende Seelenteil sitzen? Stützt man ihn nicht in die Hände und reibt die gefaltete Stirn, sobald man sich über ein anspruchsvolles Problem Klarheit verschaffen möchte? Hier kann sich Platon, dem Empirie in der praktischen Welt fernlag, auf Hippokrates von Kos (480–370 v. Chr.) berufen. Jenen Vater der Medizin, der mit seinem Eid, wonach ein Arzt nur zum Nutzen des Patienten zu handeln hat, bis in unsere Tage hineinwirkt. Hippokrates hat zwar keine sonderlich hohe Meinung von dem Organ »in der geräumigen Kopfhöhle«, das »weiß und bröckelig«4 sei und höchstens den Stellenwert einer Drüse haben könnte. Doch immerhin billigt er dem Gehirn zu, als Mittler des Verstandes zu fungieren. Als ursächlich aber für alle intellektuellen Höhenflüge sieht er die Luft an. In ihr lägen alle höheren geistigen Eigenschaften, sie sei es, die dem Gehirn Einsichtsfähigkeit gäbe, da sie dort oben zuerst und in reinster Form ankäme. Auch Platon sieht den erkennenden Seelenteil im Kopf. Zwar hält er nichts von der Luft als geistigem Medium, dennoch verleiht er der denkenden Substanz im Gehirn einen besonderen Status, da er in ihr den Sitz der unsterblichen Seele vermutet.

Für Platon ergibt sich demnach eine aufsteigende Qualität der Seelenteile: Im Rumpf das Begehren und die Gier, die den Menschen dem Tier ähnlich macht und außer sich treibt, zugleich jedoch sein Überleben als Art und als Individuum sichert, da sie ihn mit Nachkommen und Nahrung versorgt. Darüber im Herzen der Mut, der die Kraft zum Standhalten gibt. Doch ohne Vernunftbegleitung kann Mut zu Tollkühnheit werden. Deshalb muss über allem der erkennende Seelenteil thronen, der sowohl dem Mut als auch den Begierden die Richtung vorgibt.

Platon sieht mit dem Gehirn eine Instanz am Werk, die in der Lage ist, die beiden niederen Seelenteile zu beherrschen und auf diese Weise eine Harmonie herzustellen, wie sie im Großen nur im gerechten Staat möglich ist. Ebendieses Gemeinwesen entwickelt Platon in seiner dialogischen Untersuchung Politeia mithilfe dreier Stände, die ihm als Analogie für die Seelenkräfte dienen: Die Handwerker stehen für den begehrenden und versorgenden Teil (epymetikon), der die Führung durch den Verstand benötigt. Diesen sieht Platon im Philosophen repräsentiert, weswegen er nur jenen Staat für gerecht erachtet, in dem die Philosophen Herrscher oder die Herrscher Philosophen werden. Auch der durch den Stand der Wächter und Soldaten verbildlichte mutige Seelenteil (thymoeides) steht in Platons gerechtem Staat unter dem Diktat der Philosophenkönige und ist mithin direkt dem erkennenden Seelenteil (logistikon) unterstellt.

Die Wirkmechanismen des Körpers interessieren Platon nur am Rande. Er weiß, dass überall im Körper Blut fließt, denn wo immer man sich auch verletzt, es dauert nicht lange, bis sich die Wunde rot färbt. Welcher Stoff also wäre besser geeignet, um einerseits die Sinnesempfindungen im ganzen Körper zu verteilen und andererseits die Anweisungen aus dem Kopf an die niederen Seelenteile zu übermitteln? Warum gerade Blut ein derart omnipotentes Medium sein soll? Platon hält die Spekulation darüber, warum wir überhaupt einen Körper haben, für wesentlich spannender. Denn für die unsterbliche Seele würde durchaus der Kopf allein genügen, der passenderweise die »Gestalt des Alls nachahmt«. Da aber so eine herumrollende Kugel »nicht in unlösbare Schwierigkeiten geraten solle«,5 hat sie sich mit Gliedmaßen beholfen, die in der Lage sind, das unebene Geläuf geradezu spielerisch zu bewältigen. Als Vorsichtsmaßnahme aber, damit die unedleren Bereiche des Körpers nicht den unsterblichen Seelenteil im Kopf beeinflussen, wurde mit Hals und Genick eine Art Nadelöhrkonstruktion im Sinne einer »Grenze zwischen Kopf und Brust«6 eingesetzt.

Der erkennende Seelenteil erweist sich für Platon durch einen einfachen, aber zwingenden logischen Schluss als unsterblich. Wie ist es möglich, dass wir uns sofort darüber einig sind, wie Dinge beschaffen sein müssen, damit wir sie beispielsweise als Häuser bezeichnen, und welchen Dingen wir diese Klassifizierung verweigern würden? Wie geht das, obwohl doch kein Haus wie das andere aussieht? Wir müssen nicht einmal darüber nachdenken, sondern können sogar bei einem Objekt, das wir noch nie in unserem Leben gesehen haben, sofort sagen: Das ist ein Haus! Das gleicht doch einem Wunder. Doch Wunder sind nichts für den Logos, sie beschämen ihn eher. Platon findet eine elegante Lösung. Für ihn gibt es ein Reich der Ideen, in dem alle Urbilder abgelegt sind. Hinter oder über allen einzelnen Dingen, die sich in der Welt unserer Wahrnehmung zeigen, steht eine Idee des Dings. Diese Idee ist es nun, die unterschiedlichste Organismen erst zu Tieren macht. Die Ideen sind jedoch nicht unmittelbar wahrnehmbar, sonst würden wir auch keine Dachse, Mäuse und Tintenfische, sondern nur die Urbilder derselben sehen. Dem erkennenden Seelenteil aber sind sie sehr wohl zugänglich. Er hat die Ideen in einem jenseitigen Dasein schon einmal gesehen, jedoch beim Eintritt in den Körper vergessen. Nur die Ordnung der Dinge in der Welt der Anschauung, die es erlaubt, verschiedenste Lebewesen als Tiere und vielgestaltige Gemäuer als Häuser zu erkennen, erinnert noch an die Präexistenz jener Ideen. Da der erkennende Seelenteil die Ideen geschaut hat, bevor er in den Körper kommt, muss er eine Existenz jenseits des Körperlichen haben. Wenn er aber bereits vor dem Körper existierte, spricht kein Grund dafür, dass es ihn nach dessen Ableben nicht mehr geben sollte. Ergo ist der erkennende Seelenteil unsterblich und mietet sich gleichsam für die Lebenszeit des Körpers im Kopf ein.

Kühlung des Blutes

Im alten Griechenland bilden oft überraschend einfache Beobachtungen den Ausgangspunkt für geistige Abenteuer. Schaut man sich einmal mit einem naiven, unvoreingenommenen Blick den Kopf eines Menschen an, sieht man in etwa folgendes: Durch einen Schlitz wird Nahrung zugeführt. Eine zweilöchrige Ausstülpung dient zum Riechen, zwei verschließbare Ovale zum Sehen. Am Rande liegt je eine Muschel, die offensichtlich gut zum Hören taugt. Die Stirn gibt dem Gesicht eine ästhetische Note, ebenso die Haare und die Haut, die sanft die Knochen überspannt. Der Kopf ist ein Apparat für die Sinne, der mehr oder minder gut aussieht. Das ist alles. Ansonsten fällt er nur dadurch auf, dass er hin und wieder Schmerzen verursacht. Darüber hinaus gibt es in seinem Inneren nichts zu fühlen. Ganz anders dagegen das Herz: Es schlägt. Es pulsiert. Es kann empfinden. In heftiger Erregung fliegt es geradezu, nimmt einem fast den Atem. Es gerät sogar ins Stolpern, kann aber auch in tiefer Entspannung kaum noch spürbar sein. Bei schweren Schicksalsschlägen zieht es sich voll Trauer zusammen und bricht, wenn man keinen Ausweg mehr findet. So ist doch allem Anschein nach das Herz und nicht der Kopf das Zentrum des Lebendigen. Ein weiteres schlagendes Argument hierfür ist die Tatsache, dass ein Stich ins Herz immer tödliche Folgen hat, während Kopfverletzungen mit etwas Glück verheilen können.

Aristoteles (384‒322 v. Chr.) nimmt diese Beobachtung als Grundlage für seine Sicht auf den Sitz der Seele. Als er in Tierversuchen feststellt, dass ein freigelegtes Gehirn inklusive seines Trägers nicht reagiert, wenn man es berührt, misst er diesem Organ lediglich untergeordnete Aufgaben zu. Es habe nicht einmal »Verbindung mit den Sinnesorganen«.7 Da die schwitznasse Stirn des südländischen Menschen oft die kühlste Stelle des Körpers ist, kommt Aristoteles nach reiflicher Überlegung zu der Überzeugung, dass dem fühllosen Hirn im menschlichen Organismus die Funktion zukommt, das hitzige Blut zu temperieren. Da alles in der Natur sein Gegengewicht brauche, »hat die Natur als Gegenstück zur Herzgegend und der im Herzen befindlichen Wärme das Gehirn ersonnen … Das Gehirn temperiert die im Herzen enthaltene Wärme«.8

ENDE DER LESEPROBE