Eisige Umarmung - Nalini Singh - E-Book

Eisige Umarmung E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Die junge Werwölfin Brenna wurde einst von einem Medialen entführt und gefoltert. Körperlich wieder genesen, leidet sie unter gewalttätigen Träumen. Der einzige, dem sie davon erzählen kann, ist Judd, ein abtrünniger Medialer und Außenseiter im Wolfsrudel. Welten prallen aufeinander: Brenna mit ihrem Bedürfnis zu berühren und Judd, der Mann aus Eis. Unmerklich gelingt es Brenna, seine harte Schale zu durchdringen, als plötzlich ein Gegner aus den eigenen Reihen zuschlägt ... Ein neuer Band der erotischen Gestaltwandler-Serie! Eine der originellsten und spannendsten Fantasy-Romance-Serien, die derzeit auf dem Markt sind. Absolut umwerfend! Romantic Times

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Seitenzahl: 546

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Inhalt

Titel

Die Pfeilgarde

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Epilog

Danksagung

Impressum

Nalini Singh

Roman

Ins Deutsche übertragen von Nora Lachmann

 

Die Pfeilgarde

Mercury war zunächst eine Sekte. Zumindest hielt man die Bewegung am Anfang dafür. Die Medialen lachten über Catherine und Arif Adelaja, als diese behaupteten, sie könnten ihr Volk von Wahnsinn und mörderischer Wut erlösen.

Als Medialer bewegte man sich stets am Rande des Wahnsinns.

Das wurde allgemein akzeptiert.

Es gab kein Heilmittel dagegen.

Aber dann stellte Mercury der Öffentlichkeit zwei Jungen vor, die eine erste Version von Silentium durchlaufen hatten – es waren die Zwillinge der Adelajas. Tendaji und Naeem waren kalt wie Eis, sie empfanden keinen Zorn und kannten keinen Wahnsinn … wenigstens schien es einige Zeit so. Am Ende schlug das Experiment fehl. Die dunkle Seite der Gefühle riss die Zwillinge wie eine Lawine mit sich. Sechzehn Jahre, nachdem sie als die Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft präsentiert worden waren, begingen sie Selbstmord. Tendaji, der Stärkere von beiden, brachte erst seinen Bruder und dann sich selbst um. Es gab keinerlei Zweifel, dass sie die Entscheidung gemeinsam getroffen hatten.

Sie hatten eine Nachricht hinterlassen.

Wir sind Scheusale, eine Seuche, die unser Volk von innen her zerstören wird. Silentium darf niemals Fuß fassen, nie im Medialnet verbreitet werden. Vergebt uns.

Ihre Worte fanden nie Gehör, ihr Entsetzen erreichte die Öffentlichkeit nicht. Gefolgsleute der Sekte fanden die Zwillinge, sie wurden an einem unbekannten Ort beigesetzt, ihr Tod als Unfall hingestellt. Mercury hatte damals schon damit begonnen, eine zweite Generation abzurichten, hatte die Techniken verbessert, die Strategien verfeinert, um unerwünschte Gefühle aus den Herzen und den Wahnsinn aus den Seelen zu tilgen. Die wichtigste Veränderung hatte sich allerdings im Stillen unmerklich vollzogen – inzwischen hatten die Führer des Volkes, der Rat, ein verhaltenes Interesse bekundet.

Doch das war nicht genug für Mercury, sie brauchten jemanden, der Fehler und Irrtümer behob, bevor sie die Öffentlichkeit erreichten … und dem immer noch skeptischen Rat zu Ohren kamen. Hätte der Rat etwas von den regelmäßig auftretenden Todesfällen gewusst, wäre das Projekt fallen gelassen worden. Die Adelajas konnten den Gedanken nicht ertragen, ihre Vision könne auf dem Schutthaufen der Geschichte landen. Denn trotz ihrer Erschütterung über den Tod der Zwillinge hatten Catherine und Arif nie den Glauben an Silentium verloren. Auch ihr ältester Sohn Zaid glaubte fest daran.

Er war ein kardinaler Telepath mit furchterregenden Fähigkeiten im geistigen Zweikampf. Auch er war quasi ein Schüler von Silentium, hatte das Programm aber nicht als Kind, sondern als junger Erwachsener durchlaufen. Er glaubte fest daran. Denn Silentium hatte ihm geholfen, seine geistigen Dämonen zu besiegen, und deshalb wollte er das Wunder der Heilung unter die Menschen bringen, wollte die Qualen seines Volkes lindern. Und so hatte er damit begonnen, alle Misserfolge auszumerzen – diejenigen auszulöschen, die an den Versuchen von Silentium zerbrochen waren, indem er jeden Hinweis auf ihr Leben ebenso gründlich beseitigte wie ihre Körper.

Catherine nannte ihn ihren Pfeilgardisten.

Bald ging Zaid dazu über, Mitstreiter zu rekrutieren, die an dieselben Dinge glaubten wie er. Sie waren Einzelgänger, namenlose Schatten, dunkler als die Nacht, Männer und Frauen, deren einziges Ziel es war, alles auszuschalten, was den Erfolg des lebenslangen Traums von Catherine und Arif gefährden konnte.

Und so verging die Zeit. Jahre. Jahrzehnte. Zaid Adelaja verschwand von der Erde, aber die Fackel der Pfeilgarde wurde von Gefolgsmann zu Gefolgsmann weitergegeben … bis die Mercury-Sekte sich schließlich auflöste und die schon längst verstorbenen Adelajas als Seher und Heilsbringer verehrt wurden.

1979 wurde Silentium für alle Medialen eingeführt.

Der Rat hatte es einstimmig beschlossen, das Volk war zwar geteilter Meinung, aber eigentlich begrüßte es die Mehrheit. Denn sie brachten sich mit einer in anderen Völkern unbekannten Wut und Unmenschlichkeit gegenseitig um. Silentium schien die einzige Hoffnung zu sein, die einzige Möglichkeit für einen dauerhaften Frieden. Doch hätten sie sich auch zu diesem Schritt entschlossen, wenn sie die letzten Worte von Tendaji und Naeem gelesen hätten? Leider gibt es niemanden mehr, der diese Frage beantworten könnte.

Und niemand kann sagen, warum dieses Programm, das eigentlich den Frieden bringen sollte, gleichzeitig eine kalte, höchst gefährliche Grausamkeit mit sich brachte – Gerüchten zufolge sind Pfeilgardisten im Zuge der Einführung von Silentium wie Pilze aus dem Boden geschossen, hervorgerufen durch die Ängste derjenigen, die unter Silentium standen. Es wurde gemunkelt, dass diejenigen, die sich hartnäckig widersetzten, gewöhnlich auf Nimmerwiedersehen verschwanden.

Heute, gegen Ende des Jahres 2079, ist die Pfeilgarde nur noch ein Mythos, eine Legende, und im Medialnet wird endlos darüber debattiert, ob sie wirklich existiert hat oder nicht. Für die Vertreter eines klaren Neins ist der Rat seit der Einführung von Silentium ein perfektes Gebilde, das nie eine geheime Kampfeinheit unterhalten würde, um Feinde der Regierung zu beseitigen.

Manche jedoch wissen es besser.

Und wieder andere haben die schwarzen Strahlen der tödlichen Gedanken gesehen, haben die kalten Klingen gespürt. Doch das können sie niemandem mehr sagen. Denn wer einmal mit der Pfeilgarde zu tun hat, wird kaum noch so lange leben, dass andere davon erfahren.

Die Gardisten selbst schenken den Gerüchten keinerlei Beachtung, halten sich nicht für Mitglieder einer Todesschwadron, ganz im Gegenteil. Sie halten sich für treue Anhänger der Glaubenssätze ihres Gründungsvaters. Ihre Loyalität gilt allein Silentium, dessen Fortbestand sie für immer sichern wollen.

Hinrichtungen sind dabei manchmal unvermeidlich.

 

1

Eine Faust krachte mit voller Wucht auf Judds Jochbein. Doch er spürte sie kaum, holte noch im gleichen Moment aus und schlug selber zu. Tai konnte dem Schlag nicht mehr ausweichen – mit einem hässlichen Krachen zerbrach etwas im Kiefer des jungen Wolfs.

Aber er gab sich noch nicht geschlagen.

Mit aufgerissener Oberlippe und blutigen Zähnen warf er sich brüllend auf Judd, um den leichteren Gegner wie ein Rammbock an der Steinmauer zu zerquetschen. Doch es war Tai, dessen Rücken gegen die Steine schlug, sein Mund klappte auf, als die Luft mit einem Pfeifen aus seinen Lungenflügeln entwich.

Judds Hand schloss sich um Tais Kehle. „Es würde mir nichts ausmachen, Sie zu töten“, sagte er und drückte zu, bis Tai kaum noch atmen konnte. „Möchten Sie gern sterben?“ Judd sprach leise, sein Atem ging ruhig. Das hier hatte nichts mit Gefühlen zu tun, denn im Gegensatz zu dem Gestaltwandler vor ihm hatte Judd Lauren keine Gefühle.

Tai verzog den Mund, um einen Fluch auszustoßen, brachte aber nur ein unverständliches Keuchen zustande. Ein zufälliger Beobachter hätte denken können, Judd habe die Oberhand, aber er war weiter auf der Hut. Solange Tai sich nicht geschlagen gab, war er gefährlich. Nur Sekundenbruchteile später zeigte sich, wie recht Judd gehabt hatte. Tai nutzte seine Fähigkeiten als Gestaltwandler – seine Hände verwandelten sich in die Pranken eines Wolfs.

Die scharfen Krallen schnitten mühelos durch Kunstleder und Haut, aber Judd gab dem Jungen keine Gelegenheit, ihm wirklich Schaden zuzufügen. Er presste seine Finger auf eine bestimmte Stelle in Tais Nacken und setzte seinen Gegner damit außer Gefecht. Erst als der Junge völlig bewusstlos war, lockerte Judd den Griff. Tai rutschte auf den Boden, sein Kopf fiel auf die Brust.

„Sie dürfen keine Medialenkräfte anwenden“, ließ sich eine heisere weibliche Stimme von der Türschwelle vernehmen.

Er drehte sich um, obwohl er die Stimme bereits erkannt hatte. Ein zartes Gesicht mit seltsamen braunen Augen und kurzen blonden Haaren. Brennas Augen hatten früher ganz normal ausgesehen, und sie hatte eine lange blonde Mähne gehabt. Doch dann hatte ein Serienmörder sie missbraucht. Ein Medialer.

„Mit kleinen Jungen werde ich auch ohne diese Kräfte fertig.“

Brenna baute sich vor ihm auf, sie reichte ihm gerade bis zur Brust. Erst nach ihrer Rettung war ihm aufgefallen, wie klein sie war. Kaum noch atmend hatte sie auf dem Bett gelegen, ihre ganze Energie hatte sich zu einem kleinen harten Ball in ihrem Inneren zusammengezogen, sodass er im ersten Moment gar nicht sicher gewesen war, ob sie überhaupt noch lebte. Aber die Körpergröße hatte nichts zu sagen. Mit der Zeit war ihm klar geworden, dass Brenna Shane Kincaid über einen ungebrochenen, eisernen Willen verfügte.

„Das ist schon Ihr vierter Zweikampf in dieser Woche.“ Sie hob die Hand, und er zwang sich, nicht zurückzuzucken. Berührung war etwas für Gestaltwandler – die Wölfe taten es andauernd, ohne groß darüber nachzudenken. Für einen Medialen war es etwas vollkommen Fremdes, es konnte einen äußerst schmerzhaften Kontrollverlust nach sich ziehen. Aber sein Volk hatte das Böse hervorgebracht, das Brenna zerbrochen hatte. Wenn sie Berührung brauchte, würde er sie ihr geben.

Sehr warme Finger drückten leicht auf seine Wange. „Sie sind verletzt. Ich werde das versorgen.“

„Warum sind Sie nicht bei Sascha?“ Sascha war ebenfalls eine abtrünnige Mediale, aber sie war keine Mörderin, sondern eine Heilerin. Judd dagegen hatte Blut an den Händen. „Ich war der Meinung, Sie seien um acht Uhr heute Abend zu einer Sitzung verabredet.“ Es war bereits fünf nach acht.

Brennas Finger strichen über seinen Kiefer, verharrten kurz, bevor sie die Hand wieder herunternahm. Ihre Wimpern hoben sich und enthüllten, was sich fünf Tage nach ihrer Rettung in ihren dunkelbraunen Augen verändert hatte. Eine so seltsame Farbzusammenstellung hatte er bislang weder bei einem Menschen noch bei Gestaltwandlern oder Medialen jemals gesehen. Um die nachtschwarzen Pupillen lagen leuchtend arktisch-blaue Zacken, die auch das Braun der Iris durchzogen und Brennas Augen das Aussehen eines zerbrochenen Spiegels gaben.

„Es ist vorbei“, sagte sie.

„Was?“ Tai stöhnte, aber Judd reagierte nicht. Der Junge war keine wirkliche Gefahr – Judd hatte ihm lediglich ein paar Treffer gestattet, weil er wusste, wie die Wolfsgemeinschaft funktionierte. Wenn man im Kampf geschlagen wurde, war das zwar schlimm, aber immer noch besser, als zu verlieren, ohne überhaupt Widerstand geleistet zu haben.

Tais Gefühle interessierten Judd nicht. Er wollte nicht Teil der Welt der Gestaltwandler werden. Aber Marlee und Toby, seine Nichte und sein Neffe, mussten ebenfalls in den unterirdischen Tunneln der SnowDancer-Höhle überleben, und seine Feinde konnten auch ihre werden. Deshalb hatte er den Jungen nicht dadurch beschämt, dass er den Kampf beendet hatte, bevor er richtig beginnen konnte.

„Kommt er wieder in Ordnung?“, fragte Brenna, als Tai erneut aufstöhnte.

„Es dauert nur ein paar Minuten.“

Sie sah ihn wieder an und holte tief Luft. „Sie bluten ja!“

Er trat einen Schritt zurück, ehe sie seine zerfetzten Unterarme berühren konnte. „Nichts Ernstes.“ Das stimmte. Als Kind war er den schrecklichsten Schmerzen ausgesetzt worden und hatte gelernt, die Empfindungen abzublocken. Ein guter Medialer spürte nichts. Und ein guter Pfeilgardist spürte sogar noch weniger als nichts.

So wurde das Töten einfacher.

„Tai hat seine Krallen benutzt.“ Zornig sah Brenna den an der Wand zusammengesunkenen Mann an. „Warte nur, bis Hawke davon Wind kriegt –“

„Das wird er nicht. Sie werden ihm nämlich nichts sagen.“ Judd brauchte keinen Schutz. Wenn Hawke nur eine Ahnung davon gehabt hätte, wer Judd in Wirklichkeit war, was er getan hatte, was aus ihm geworden war, hätte ihn das Alphatier der SnowDancer schon bei ihrer ersten Begegnung erledigt. „Erklären Sie mir lieber, was Sie vorhin mit Ihrer Bemerkung über Sascha gemeint haben.“

Brenna runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter zu den Kratzern auf seinen Armen. „Es ist vorbei mit den Heilungssitzungen. Ich habe genug.“

Judd wusste, wie viel Gewalt ihr angetan worden war. „Sie müssen unbedingt weitermachen.“

„Nein.“ Kurz und knapp, ein eindeutiges Schlusswort. „Ich will niemanden mehr in meinem Kopf haben. Niemals. Und Sascha kann sowieso nicht mehr hinein.“

„Das ergibt keinen Sinn.“ Sascha hatte die seltene Gabe, sowohl mit Medialen- als auch mit Gestaltwandlergehirnen leicht Kontakt herstellen zu können. „Sie haben gar nicht die Fähigkeit, sie auszuschließen.“

„Jetzt schon – irgendetwas hat sich verändert.“

Tai kam hustend zu Bewusstsein, und sie sahen beide zu, wie er sich an der Wand hochstemmte. Er zwinkerte mehrmals und griff sich an die Wange. „Jesus, mein Gesicht fühlt sich an, als wäre ein Laster reingefahren.“

Brenna kniff die Augen zusammen. „Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?“

„Ich –“

„Spar dir deine Ausreden. Warum hast du Judd angegriffen?“

„Das geht Sie nichts an, Brenna.“ Judd spürte, wie das Blut auf seiner Haut bereits trocknete, sich die Zellen wieder schlossen. „Tai und ich sind zu einer Einigung gekommen.“ Er sah den anderen an.

Tai biss die Zähne zusammen, aber er nickte. „Wir sind quitt.“

Und ihre jeweilige Stellung im Rudel war zweifellos geklärt – wenn Judd nicht sowieso schon einen höheren Rang eingenommen hätte, hätte er spätestens jetzt über dem Wolf gestanden.

Tai fuhr sich mit der Hand durch die Haare und wandte sich an Brenna. „Kann ich dich kurz sprechen wegen –“

„Nein.“ Sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. „Ich werde dich nicht zum Ball an deiner Uni begleiten. Du bist mir zu jung und zu blöd.“

Tai schluckte. „Woher wusstest du, was ich fragen wollte?“

„Vielleicht bin ich ja eine Mediale“, kam die düstere Antwort. „Das Gerücht geht doch sowieso schon überall um.“

Rote Flecken zeigten sich auf Tais Wangen. „Ich hab allen gesagt, sie sollten nicht solchen Scheiß erzählen.“

Judd hörte das zum ersten Mal, er hätte nie erwartet, dass sie Brenna auf eine so gehässige Weise zu verletzen versuchten. Die Wölfe waren zwar üble Feinde, aber sie schützten ihre eigenen Leute mit Zähnen und Klauen und hatten nach der Rettung geschlossen hinter Brenna gestanden.

Judd sah Tai an. „Du solltest jetzt lieber gehen.“

Der junge Wolf widersprach nicht, sondern entfernte sich, so schnell ihn seine Beine trugen.

„Wissen Sie, was das Schlimmste daran ist?“ Judd hatte seine Aufmerksamkeit ganz den sich entfernenden Schritten gewidmet und wandte sich nun wieder Brenna zu.

„Nun?“

„Es ist die Wahrheit.“ Sie richtete den blau und braun gezackten Blick auf ihn. „Ich bin wirklich anders. Ich sehe Dinge mit diesen verfluchten Augen, die er mir gegeben hat. Fürchterliche Dinge.“

„Das ist nur der Widerhall dessen, was Ihnen angetan worden ist.“ Ein Psychopath mit großen Kräften war in ihren Verstand eingedrungen, hatte ihr tief im Innern Gewalt angetan. Es war nicht erstaunlich, dass dieses Erlebnis Narben in ihrer Psyche hinterlassen hatte.

„Das hat Sascha auch gesagt. Aber ich sehe den Tod –“

In diesem Augenblick schnitt ihr ein Schrei das Wort ab.

Beide rannten bereits, noch bevor er ganz verklungen war. Nach etwa hundert Metern gesellten sich in einem zweiten Tunnel Indigo und ein paar andere zu ihnen. An einer Biegung kam ihnen Andrew entgegen, hielt Brenna am Oberarm fest und hob gleichzeitig die Hand. Sie blieben stehen.

„Indigo – ein Toter.“ Die Worte kamen wie Pistolenschüsse aus Andrews Mund. „Tunnel sechs nordöstlich, Raum vierzig.“

Kaum hatte er zu Ende gesprochen, wand sich Brenna aus dem Griff ihres Bruders und lief ohne ein Wort los. Judd hatte kurz den Zorn in ihrem Gesicht aufflackern sehen und folgte ihr als Erster. Indigo und ein sehr aufgebrachter Andrew waren dicht hinter ihm. Die meisten Medialen wären sofort zurückgefallen, aber Judd war anders, deshalb war er wie geschaffen gewesen für das Leben im Medialnet. Brenna rannte wie der Blitz, bewegte sich unglaublich schnell für jemanden, der noch vor wenigen Monaten bettlägerig gewesen war. Als er sie erreichte, war sie schon fast bei Tunnel sechs. „Halten Sie an“, befahl er, trotz des Tempos keineswegs außer Atem. „Sie sollten sich das nicht ansehen.“

„Doch, das muss ich“, sagte sie nach Luft schnappend.

Im Endspurt kam Andrew heran, schlang ihr von hinten den Arm um die Taille und hob sie hoch. „Ganz ruhig, Bren.“

Indigo rannte vorbei, lange Beine blitzten auf, dunkles Haar flatterte.

Brenna wand sich wild in Andrews Armen. Judd konnte nicht zulassen, dass sie sich verletzte. „Lassen Sie Ihre Schwester los, dann wird sie sich schon beruhigen.“

Sofort hörte Brenna auf, sich zu wehren, überrascht und schwer atmend blickte sie auf. Andrew ließ sich die Einmischung nicht gefallen. „Ich kann mich allein um meine Schwester kümmern, du Medialer.“ Das letzte Wort klang wie ein Schimpfwort.

„Indem du mich einsperrst?“, fragte Brenna in rasiermesserscharfem Ton. „Ich lasse mich nicht mehr einsperren, Drew, und ich schwöre dir, ich werde mir die Finger blutig kratzen, wenn du es tust.“ Allein die Vorstellung war schrecklich, vor allem wenn man sie in dem Zustand gesehen hatte, in dem sie gefunden worden war.

Andrew wurde bleich, aber er biss die Zähne zusammen. „Das wäre aber das Beste für dich.“

„Vielleicht aber auch nicht“, sagte Judd und zuckte nicht zurück, als Andrews wütender Blick ihn traf. Für den Soldat der SnowDancer-Wölfe waren alle Medialen für die Qualen seiner Schwester verantwortlich, und wenn Judd einer auf Gefühlen beruhenden Logik folgte, konnte er diese Schlussfolgerung auch verstehen. Aber die Gefühle machten Andrew auch blind. „Sie kann unmöglich den Rest ihres Lebens in Ketten verbringen.“

„Was zum Teufel wissen Sie denn schon?“, knurrte Andrew. „Sie kümmern sich ja nicht einmal um Ihre eigenen Leute.“

„Scheiße noch mal, er weiß wahrscheinlich mehr als du!“

„Bren“, sagte Andrew drohend.

„Halt die Klappe, Drew. Ich bin kein kleines Kind mehr.“ In ihrer Stimme schwang etwas Dunkles mit, verlorene Unschuld und das Wissen um das Böse in der Welt. „Hast du dich je gefragt, was Judd während der Heilsitzungen für mich getan hat? Hat es dich je gekümmert, was es ihn gekostet hat? Nein, natürlich nicht, denn du weißt ja immer alles.“

Sie holte zitternd Luft. „Weißt du was? Du hast überhaupt keine Ahnung! Du bist nicht dort gewesen, wo ich war. Nicht einmal in der Nähe eines solchen Ortes. Lass. Mich. Los.“ Diese Worte klangen nicht mehr zornig, sondern ruhig. Das war normal bei Medialen. Aber ganz und gar nicht normal bei Gestaltwandlern. Und schon gar nicht bei Brenna. Judd war besorgt.

Andrew schüttelte den Kopf. „Es ist mir zum Teufel noch mal egal, was du sagst, kleine Schwester, aber du solltest dir das wirklich nicht ansehen.“

„Dann tut es mir leid, Drew.“ Nur einen Bruchteil einer Sekunde später fuhr Brenna mit ihren Krallen über Andrews Arme, sodass er sie erschreckt losließ. Fast schon bevor ihre Füße den Boden berührten, war sie auf und davon.

„Mein Gott“, flüsterte Andrew und starrte ihr nach. „Ich kann es einfach nicht glauben …“ Er blickte auf seine blutigen Unterarme. „Brenna hat doch noch nie jemandem etwas angetan.“

„Sie ist nicht mehr die Brenna, die Sie kannten“, sagte Judd. „Was Enrique ihr angetan hat, hat sie völlig verändert, wie sehr, weiß sie selbst nicht.“ Er rannte Brenna hinterher, ohne Andrews Antwort abzuwarten – er musste bei ihr sein, um die negativen Auswirkungen des Anblicks einer Leiche abzuwenden. Aber er verstand immer noch nicht, warum sie sie sich unbedingt ansehen musste.

Er kam gerade rechtzeitig, als sie an einem überrumpelten Wachposten vorbei in den kleinen Raum stürmte, der von Tunnel sechs abging. Sie hielt so abrupt an, dass er fast gegen sie gelaufen wäre. Er folgte ihrem Blick und sah die Leiche eines unbekannten SnowDancer-Wolfes auf dem Boden. Auf dem Gesicht und dem nackten Körper waren die Spuren zahlreicher Schläge zu sehen, die verletzte Haut hatte sich bereits verfärbt. Aber Judd wusste, dass Brenna aus einem anderen Grund wie angewurzelt stehen geblieben war.

Es waren die Schnitte.

Der Gestaltwandler war sorgfältig mit einem Messer bearbeitet worden. Erst der letzte Schnitt war tödlich gewesen. Er hatte die Halsschlagader durchtrennt. Aber etwas passte nicht ins Bild. „Wo ist das Blut?“, fragte Judd Indigo, die an der anderen Seite der Leiche kauerte, die Soldaten hatten hinter ihrer Vorgesetzten Aufstellung genommen.

Die Offizierin verzog das Gesicht, als sie Brenna sah, antwortete aber auf Judds Frage. „Er ist schon länger tot. Man hat die Leiche nur hier abgeladen.“

„Der Raum liegt abseits.“ Einer der Soldaten, ein hoch aufgeschossener Mann namens Dieter, meldete sich zu Wort. „Wenn man es richtig anstellt, kommt man leicht ungesehen rein – ein intelligenter Täter, er hatte den Ort vielleicht schon vorher im Auge.“

Brenna holte tief Luft, sagte aber kein Wort.

Indigos Blick wurde noch finsterer. „Bringen Sie Brenna hier raus, zum Teufel noch mal.“

Judd folgte nicht gerne Befehlen, aber diesmal war er mit Indigo einer Meinung. „Gehen wir“, sagte er zu der Frau, die ihm den Rücken zukehrte.

„Ich habe es gesehen“, flüsterte sie leise.

Indigo stand mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht auf. „Wie bitte?“

Brenna fing an zu zittern. „Ich habe es gesehen.“ Wieder ein schwaches Flüstern, dann lauter: „Ich habe es gesehen.“ Und schließlich ein Schrei: „Ich habe es gesehen!“

Judd hatte genügend Zeit mit Brenna verbracht, um zu wissen, dass sie es nicht ertragen konnte, vor aller Augen die Beherrschung zu verlieren. Sie war eine sehr stolze Wölfin. Also tat er das Einzige, was ihren hysterischen Anfall durchbrechen konnte: Er stellte sich vor sie, um ihr die Sicht auf die Leiche zu nehmen, und benutzte ihre eigenen Gefühle als Waffe. Darin hatten es die Medialen zur Perfektion gebracht. „Sie machen sich selbst zum Narren.“

Die eiskalten Worte trafen Brenna wie ein Schlag ins Gesicht. „Wie bitte?“ Sie ließ die Hand sinken, mit der sie ihn wegstoßen wollte.

„Sehen Sie sich nur um.“

Trotzig rührte sie sich nicht. Eher würde die Hölle zufrieren, als dass sie einem Befehl von ihm folgte.

„Die halbe Höhle schnüffelt hier rum“, sagte er. Mitleidlos. Ganz Medialer. „Wollen alle dabei sein, wenn Sie zusammenbrechen.“

„Ich breche nicht zusammen.“ Die Röte schoss ihr ins Gesicht, als ihr klar wurde, wie viele Augen sie anstarrten. „Gehen Sie mir aus dem Weg.“ Sie wollte den Toten gar nicht mehr sehen, der mit derselben unheimlichen Präzision zugerichtet worden war, die Enrique bei allen seinen Opfern angewandt hatte – aber ihr Stolz ließ es nicht zu, dass sie sich jetzt zurückzog.

„Sie sind irrational.“ Judd bewegte sich nicht vom Fleck. „Dieser Ort hat offenbar einen negativen Einfluss auf Ihre emotionale Stabilität. Ziehen Sie sich zurück.“ Das war ein klarer Befehl, er klang so sehr wie ein Alphatier, dass es sie auf die Palme brachte.

„Und wenn nicht?“ Glücklich spürte sie die Wut, die er entfacht hatte – das lenkte sie ab, vertrieb die albtraumhaften Erinnerungen, die dieser Raum in ihr hervorgerufen hatte.

Kalte Medialenaugen sahen sie an, die männliche Arroganz nahm ihr den Atem. „Dann werde ich Sie hochheben und von hier forttragen.“

Bei dieser Antwort rauschte das Blut in ihren Adern und vertrieb den letzten scharfen Beigeschmack der Angst. Monate voller Rückschläge und Hoffnungslosigkeit, in denen sie erleben musste, wie ihre Unabhängigkeit Stück für Stück hinter einer Mauer des Behütetseins verloren ging, in denen ihr gesagt worden war, was das Beste für sie sei, in denen man andauernd an ihrem Verstand gezweifelt hatte – all das schlug jetzt wie eine Woge über ihr zusammen. „Versuchen Sie es doch!“, forderte sie ihn heraus.

Er machte einen Schritt auf sie zu, und in ihren Fingerspitzen kribbelte es, die Krallen wollten ausfahren. O ja, sie war mehr als bereit, mit Judd Lauren aneinanderzugeraten, dem Mann aus Eis und gleichzeitig der schönste Mann, den sie je zu Gesicht bekommen hatte.

 

2

„Was hast du hier zu suchen, Brenna?“, fragte beißend scharf eine vertraute Stimme. Lara wartete die Antwort gar nicht erst ab. „Geh zur Seite, du blockierst den Eingang.“

Überrascht gehorchte Brenna. Die Heilerin und einer ihrer Helfer drängten sich mit der medizinischen Ausrüstung an ihr vorbei.

Judd hatte gleichzeitig mit Brenna die Stellung gewechselt, nahm ihr weiterhin die Sicht auf den Toten. „Es wird zu eng hier. Lara braucht Platz zum Arbeiten.“

„Er ist doch tot.“ Brenna war klar, dass sie sich irrational verhielt, aber sie hatte es satt, immer herumgeschubst zu werden. „Sie kann ihm wohl kaum noch helfen.“

„Und was wollen Sie mit Ihrem Hierbleiben erreichen?“ Die einfache, mit kalter medialer Präzision gestellte Frage hob die Lächerlichkeit ihres Verhaltens hervor.

Brenna ballte die Fäuste, unterdrückte das Bedürfnis, diesen Mann zu schlagen, der immer ihre Schwachstellen fand. Sie drehte sich um und ging hinaus. Ihre Rudelgefährten folgten ihr neugierig mit den Augen. In mehr als einem Blick sah sie das vernichtende Urteil: Die arme Brenna ist noch immer übergeschnappt. Die Versuchung war groß, einfach die Augen niederzuschlagen, doch sie zwang sich, es nicht zu tun. Ihre Selbstachtung war ihr schon einmal genommen worden. Sie würde sie nie wieder preisgeben.

Einige blickten zur Seite, als Brenna sie ansah, andere starrten sie weiter an, ohne zu blinzeln. Unter anderen Umständen hätte sie diese Unnachgiebigkeit als Herausforderung angesehen, aber jetzt wollte sie nur noch dem überwältigenden Leichengeruch entfliehen. Dennoch bemerkte sie, dass selbst die Unverschämtesten den Blick senkten, sobald ihre Augen auf den Mann hinter ihr fielen.

„Ich kann meine Kämpfe auch ohne Ihre Hilfe austragen“, sagte sie, als sie die Menge hinter sich gelassen hatten.

Judd folgte ihr nicht mehr wie ein Schatten, sondern ging neben ihr. „Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich etwas getan habe.“

Wahrscheinlich stimmte das sogar, ganz sicher war sie sich nicht – die meisten Leute fürchteten sich so sehr vor Judd Lauren, dass sie unter keinen Umständen seine Aufmerksamkeit erregen wollten. „Haben Sie die Schnitte gesehen?“ Sie hatte immer noch den Geruch des Todes, des getrockneten Blutes in der Nase. „Es war genauso wie bei ihm.“ In ihrem Kopf blitzte das Bild eines glitzernden Skalpells auf. Blut spritzte. Schreie wurden von Käfigwänden zurückgeworfen.

„Es war nicht ganz genauso.“

Die kühle Antwort riss sie aus ihren albtraumhaften Erinnerungen. „Wie können Sie so sicher sein?“

„Ich bin ein Medialer. Ich erkenne Strukturen und Muster.“

Diese gefühllosen Augen und die schwarze Kleidung ließen keinen Zweifel daran aufkommen, dass er ein Medialer war. Was den zweiten Teil seiner Aussage anging … „Versuchen Sie nicht, mir einzureden, dass jeder Mediale so schnell alle Einzelheiten hätte erfassen können. Sie haben besondere Fähigkeiten.“

Er machte sich nicht die Mühe, dies zu bestätigen oder abzuleugnen. „Was nichts an den Fakten ändert. Die Schnitte bei diesem Opfer –“

„Timothy“, unterbrach sie ihn mit einem Kloß im Hals. „Er hieß Timothy.“ Obwohl sie den toten Wolf nur vom Sehen kannte, konnte sie es nicht ertragen, dass er nur noch ein namenloses Opfer sein sollte. Er hatte ein Leben gehabt. Eine Geschichte.Einen Namen.

Judd sah sie an und nickte kurz. „Timothy wurde auf dieselbe Art wie die anderen umgebracht, aber es gibt ein paar Unterschiede. Am meisten fällt ins Gewicht, dass sich der Täter diesmal einen Mann gesucht hat.“

Santano Enrique, der Scheißkerl, der Brenna gequält und so viele andere ermordet hatte, war nur auf Frauen aus gewesen. Weil er gerne bestimmte Dinge tat, die er nur mit Frauen tun konnte – Brenna schob die Gedanken daran wieder in jenen Teil ihres Kopfes zurück, wo die dunkelsten, schmutzigsten Erinnerungen an jene Zeit begraben waren. „Glauben Sie, er hat einen Nachfolger gefunden?“ Allein der Gedanke daran ließ die Galle in ihr hochsteigen. Selbst nach seinem Tod wirkte das Böse dieses Schlächters weiter.

„Sehr wahrscheinlich.“ Judd blieb an einer Weggabelung stehen. „Das ist nicht Ihr Kampf. Überlassen Sie die Nachforschungen den Leuten, die Erfahrung auf diesem Gebiet haben.“

„Weil ich nur Erfahrung als Opfer habe?“

Sie roch das frische Blut auf seinen Wunden, als er die Arme über der Brust kreuzte. „Ihre eigenen Gefühle blenden Sie zu sehr, damit werden Sie Timothy nicht gerecht. Es geht hier nicht um Sie.“

Sie öffnete schon den Mund, um ihm zu sagen, wie sehr er sich irrte, schloss ihn dann aber wieder. Sie konnte ihm nicht die Wahrheit erzählen – es würde sich zu verrückt anhören, wie die Fantasien eines gestörten Verstandes. „Lassen Sie sich verbinden“, sagte sie stattdessen. „Der Geruch von Medialenblut ist nicht gerade appetitlich.“ Sie machte sich Sorgen, denn Tais Krallen schienen tief eingedrungen zu sein, aber verdammt noch mal, das würde sie nie zugeben.

Judd zuckte bei dieser Beleidigung nicht einmal zusammen. „Ich werde Sie erst zu Ihrem Zimmer begleiten.“

„Wenn Sie das wagen, zerkratze ich Ihnen die Augen.“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging davon, spürte seinen Blick bei jedem Schritt, bis sie hinter einer Biegung verschwunden war. Beinahe wäre sie da schon zusammengebrochen, hätte die Maske des Zorns abgelegt, die sie wie einen Schutzschild trug, aber sie hielt durch, bis sie in der Sicherheit der eigenen vier Wände war. „Ich habe es gesehen“, rief sie voller Angst in den Raum.

Den Schnitt der Klinge ins Fleisch, das Fließen von Blut, das flackernde Verlöschen des Lebens, all das hatte sie gesehen. Sie war ein furchtsam zitterndes Bündel gewesen, hatte sich schließlich damit beruhigt, dass es nur ein Albtraum gewesen war.

Doch nun war ihr Albtraum auf hässliche Weise wahr geworden.

Nachdem Judd sich vergewissert hatte, dass Brenna wirklich nach Hause gegangen war, kehrte er an den Tatort zurück und sprach ausführlich mit Indigo. Danach ging er zu seiner Unterkunft. Er zog sich aus und duschte, um das getrocknete Blut von seinen Armen abzuwaschen. Brenna hatte recht gehabt – mit diesem Geruch würde er ungewollt Aufmerksamkeit auf sich ziehen, da die Gestaltwandler über einen ausgezeichneten Geruchssinn verfügten, und an diesem Abend konnte er sich das nicht erlauben. Er durfte nicht bemerkt werden.

Er schaute nicht in den Spiegel, als er das Badezimmer verließ, fuhr sich nur mit der Hand durch die Haare. Das genügte. Ein Teil von ihm registrierte, dass die Länge der Haare nicht mehr den Vorschriften entsprach. Ein anderer Teil tat das Thema als irrelevant ab – er gehörte nicht mehr der Eliteeinheit der Medialen an. Nach dem Urteil des Rates hätte seine ganze Familie – sein Bruder Walker, dessen Tochter Marlee sowie die Kinder seiner verstorbenen Schwester Kristine, Sienna und Toby, und auch er selbst – ihr restliches Leben als lebende Tote verbringen müssen.

Wenn sie nicht abtrünnig geworden wären, hätte man sie im Rehabilitationszentrum einer Gehirnwäsche unterzogen, hätte ihre Hirne so zerstört, dass sie nur noch als hirnloses Gemüse herumgelaufen wären. Sie waren bewusst ein Risiko eingegangen, als sie sich zu den Wölfen abgesetzt hatten. Walker und er hatten damit gerechnet zu sterben, aber sie hatten gehofft, dass die SnowDancer-Wölfe bei Toby und Marlee Gnade walten lassen würden. Sienna war kein Kind mehr, aber auch noch keine Erwachsene. Sie hatte selbst beschlossen, ihr Glück ebenfalls eher bei den Wölfen zu suchen, als sich den Rehabilitationsmaßnahmen auszusetzen.

Aber die Wölfe hatten auch die Erwachsenen nicht sofort getötet. Deshalb lebte Judd nun in einer Welt, in der sein bisheriges Leben nichts galt. Er zog Hosen, Socken und Stiefel wie immer zuerst an. Man konnte einem Gegner mit bloßem Oberkörper gegenübertreten, aber barfuß war man im Nachteil. Als er das Hemd überzog, kam die erwartete Nachricht auf seinem silbernen Handy an. Mit offenem Hemd las er die verschlüsselten Worte und übersetzte sie für sich.

Ziel bestätigt. Zeitfenster: eine Woche.

Dann löschte er die Nachricht, schob die Ärmel hoch und wickelte weiße Baumwollbandagen um beide Unterarme – sie würden den Geruch der sich schnell regenerierenden Haut zurückhalten. Brenna wäre sehr erstaunt gewesen, wenn sie gesehen hätte, wie schnell die Wunden bei ihm heilten.

Seine Gedanken kehrten noch einmal zum Tatort zurück. Er war sicher, dass sie es mit einem Nachahmungstäter zu tun hatten. Die Schnitte hatten nur oberflächlich so ausgesehen wie bei den Morden von Santano Enrique. Enrique war stolz auf die absolute Genauigkeit seiner Taten gewesen, dieser Mörder jedoch hatte eher drauflosgehackt. Indigo hatte außerdem bestätigt, dass man den typischen Geruch der Medialen am Tatort nicht festgestellt hatte. Und außerdem war Santano Enrique ohne jeden Zweifel tot – Judd war dabei gewesen, als Wölfe und Leoparden ihn mit ihren Krallen in Stücke gerissen hatten.

Brenna brauchte nicht zu fürchten, ihr Folterer sei aus dem Grab auferstanden. Das war natürlich mit der Rationalität der Medialen gedacht, und sie war unzweifelhaft eine Gestaltwandlerin. Außerdem wusste sie nicht, dass Judd bei der Hinrichtung Enriques und bei ihrer Rettung dabei gewesen war. Er hatte nicht die Absicht, daran etwas zu verändern. Normalerweise war er nicht besonders gut darin, gefühlsmäßige Reaktionen vorherzusagen, aber in den Heilungssitzungen für Brenna hatte er genug über sie erfahren, um zu wissen, dass sie seine Beteiligung keinesfalls positiv aufnehmen würde. Er hatte Sascha etwas von seiner psychischen Stärke „geliehen“, damit sie Brennas zerstörten Geist heilen konnte.

Ich bin kein kleines Kind mehr.

Offensichtlich nicht. Und er war nicht ihr Beschützer. Das konnte er nicht sein – je näher er ihr kam, desto mehr konnte er sie verletzen. Silentium war für Leute wie ihn erfunden worden – für brutale Mörder und gefährliche Verrückte, die die Welt der Medialen in eine blutdurchtränkte Hölle verwandelt hatten. Silentium war das einzige Mittel dagegen geworden.

Sobald er die Konditionierung ablegen würde, wäre er eine geladene und ungesicherte Waffe. Deshalb konnte er, anders als Sascha, Silentium niemals aus seinem Kopf verbannen. Nur dadurch konnte er die Welt vor dem bewahren, was er war – konnte er Brenna vor sich schützen.

Er zog eine schwarze Jacke über, ein genaues Abbild des Kleidungsstücks, das Tai zerfetzt hatte, und steckte das Handy ein. Es wurde Zeit, er musste die Höhle verlassen.

Und eine Bombe bauen.

 

3

Kaleb Krychek, kardinaler TK-Medialer und seit kurzem Mitglied des Rats, unterbrach die Verbindung, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und faltete die Hände auf dem Tisch. Mühelos schaltete er telekinetisch die Gegensprechanlage ein: „Silver, besorgen Sie mir bitte alle Unterlagen über das Unternehmen der Familie Liu.“

„Sofort, Sir.“

Diese Aufgabe würde sie ein paar Minuten in Anspruch nehmen, und so ließ er in Gedanken noch einmal den Anruf von Jen Liu Revue passieren. Die Matriarchin des Unternehmens hatte sich deutlich geäußert.

„Wir haben eine für beide Seiten äußerst vorteilhafte Beziehung“, hatte sie gesagt, und ihre grünen Augen hatten nicht einmal geblinzelt. „Sie würden so etwas bestimmt nie gefährden. Aber bei Ihren Ratskollegen liegt der Fall anders. Der letzte Beschluss verursacht noch immer höhere Ausgaben – die Preise von Faith NightStar haben sich fast verdoppelt, weil ihre Familie den Verlust ausgleichen möchte.“

Die NightStar-Affäre, wie dieses Debakel der Regierung inzwischen genannt wurde, hatte sich unmittelbar vor Kalebs Ernennung zugetragen. Faith NightStar, eine äußerst kompetente Hellsichtige hatte das Medialnet verlassen und war zu den DarkRiver-Raubkatzen übergelaufen. Zwei der Ratsmitglieder hatten den überhasteten Entschluss gefasst, sie auf eigene Faust wieder zurückzuholen und dabei Faiths Leben in Gefahr gebracht. Damit hatten sie nicht nur ihre Familie, sondern auch alle Unternehmen, die auf Faiths Vorhersagen angewiesen waren, dem Rat entfremdet. Die Familie Liu hatte eines der besagten Unternehmen.

Nun ja, Kaleb sah gedankenverloren auf den transparenten Schirm, auf dem vor einigen Minuten noch Jen Lius Antlitz zu sehen gewesen war. Die Matriarchin lag ganz richtig mit ihren Vermutungen über seine Loyalität. Er wusste den Wert der Allianzen zu schätzen, die seinen Weg in den Rat geebnet hatten. Schließlich hatte er diese Verbindungen von langer Hand geplant, denn ein Ratsherr, der die Unterstützung wichtiger Teile der Gesellschaft besaß, hatte mehr Einfluss als die anderen. Und Kaleb liebte die Macht. Deshalb war er auch mit knapp siebenundzwanzig Jahren schon Ratsherr.

Durch einfaches Antippen des Schirms wechselte er in den Datenmodus und lud die Akten der anderen Ratsmitglieder hoch. Er überblätterte die Biografien und wandte sich den Aufzeichnungen zu, die sich mit der NightStar-Affäre befassten. Einen Teil des Schirms ließ er frei für die Informationen, die Silver gerade beschaffte.

Schließlich fand er ein höchst vertrauliches Papier unter dem Namen „Bericht 1“. Im Moment hatte er nur einen Verdacht, aber das würde sich ändern. Die Sache mit den Lius würde für einen ersten Schlag ausreichen. Er sah keinen Grund, Blut zu vergießen – jedenfalls jetzt noch nicht.

Geduld war die größte Stärke Kalebs. Er war so geduldig wie eine Kobra auf der Jagd.

 

4

Brenna hatte sich in zahllosen Stunden den Kopf zermartert, und am Tag nach dem Mord war ihr klar geworden, dass sie sich nur an Judd wenden konnte, denn er war der Einzige, der sie eventuell verstehen konnte. Gleichzeitig war er die ärgste Wahl, so kalt, dass er manchmal unbarmherziger wirkte als eine Skulptur aus Eis. Vor ihrer Entführung hatte sie sich von ihm möglichst ferngehalten, seine unmenschliche Kälte verstörte sie.

Ihre Brüder würden schon bei dem Gedanken, dass sie mit Judd zusammen war, ausrasten. Deshalb achtete sie darauf, nach dem Abendessen möglichst ungesehen zum Quartier der unverheirateten Soldaten zu schleichen. Judd lebte allein, sein Bruder Walker und die drei Minderjährigen wohnten im Viertel der Familien. Vier Monate, nachdem die Laurens bei ihnen Zuflucht gesucht hatten, hatten die SnowDancer diesen Teil der Familie umgesiedelt.

Überraschenderweise hatten die Mütter des Rudels Hawke darum gebeten, doch darüber nachzudenken, was ein von anderen Kindern isoliertes Leben unter Soldaten für die Medialenkinder bedeutete. Da die Frauen sehr empfindlich auf alles reagierten, was den Jungen gefährlich werden konnte, hatte Brenna eher erwartet, dass sie einen Sicherheitsabstand fordern würden – Marlee und Toby waren zwar noch Kinder, aber sie besaßen große geistige Kräfte.

Genauso hätten die SnowDancer-Jungen die Medialenkinder bei ihren rauen Spielen unabsichtlich verletzen können. Aber die Mütter hatten ihre Einladung sogar auf Begleitpersonen ausgeweitet, Walker Lauren hatte wegen der Kinder angenommen. Tobys siebzehnjährige Schwester Sienna war weder ein Kind noch eine Erwachsene. Der eigensinnige Teenager hatte beschlossen, bei den Kindern zu bleiben.

Und Judd allein zu lassen.

Da man Judd für den Gefährlichsten der Laurens hielt, stand ein Umzug für ihn nie zur Diskussion. Man begegnete ihm immer noch mit Misstrauen, obwohl alle wussten, dass er großen Anteil an ihrer Rettung gehabt hatte. Er hatte zwar die Folterkammer nicht betreten, in der ihr die Schmerzen zugefügt worden waren – und dafür würde sie ewig dankbar sein –, aber er hatte Sascha geholfen, die geistige Falle zu stellen, die zur Ergreifung Enriques geführt hatte. Judd hatte seine Loyalität zum Rudel unter Beweis gestellt. Dennoch blieb er ein Außenseiter.

Diese Ungerechtigkeit verstieß gegen ihren Sinn für Gerechtigkeit, aber sie konnte ihren Rudelgefährten keine Vorwürfe machen, denn Judd schien es förmlich darauf anzulegen, ihre ablehnende Haltung zu unterstützen. Der Mann war so reserviert, dass es fast schon unhöflich war.

Sie klopfte leise an seine Tür. „Schnell, machen Sie auf!“ Es war niemand auf dem Flur, aber sie hörte Schritte herannahen. Bei ihrem Glück war es bestimmt einer ihrer überbehütenden Brüder.

Die Tür ging auf. „Was –?“

Sie duckte sich und ging unter seinem Arm hindurch ins Zimmer. „Machen Sie schnell die Tür zu, bevor jemand kommt.“ Im ersten Moment glaubte sie, er würde sich weigern, aber dann schlug er die Tür zu.

Er drehte sich um und kreuzte die Arme vor der bloßen Brust. „Wenn Ihre Brüder Sie hier finden, kommen Sie hinter Schloss und Riegel.“

Plötzlich nahm sie überdeutlich wahr, wie eng der Raum war, Judds Haut glänzte, und es roch nach Männerschweiß. Angst stieg in ihr hoch, aber sie beförderte sie sofort in den fest verschlossenen Teil ihres Kopfes. „Machen Sie sich keine Sorgen darüber, was sie Ihnen antun könnten?“ Trotz der Furcht zuckte in ihren Fingerspitzen das Verlangen, dieses gefährliche Wesen zu berühren.

„Ich kann selbst auf mich aufpassen.“

Daran zweifelte sie nicht. „Ich ebenfalls.“

Judds Augen, dunkelbraun wie bittere Schokolade und mit goldenen Punkten, starrten sie unverwandt an. „Was wollen Sie hier, Brenna?“

Sie schüttelte ihre Befangenheit ab. „Ich musste mit einem Medialen reden, und Sie sind einer.“

„Warum nicht Sascha?“

„Sie würde es nicht verstehen.“ Brenna mochte und respektierte Sascha Duncan, die mit ihren medialen Kräften Geist und Seele heilen konnte, und ihren Mann, Lucas Hunter, der das Alphatier der DarkRiver-Leoparden war. Aber … „Sie ist zu gut, zu liebevoll.“

„Das ist ein Nebeneffekt ihrer Fähigkeiten“, sagte Judd mit seiner stählernen Stimme.

Der Klang dieser Stimme ließ viele Männer grollen, aber Brenna wusste, dass sie nicht die einzige Frau war, die überlegte, wie sie diesen Eisblock zum Schmelzen bringen könnte. Sie spürte ihre Krallen unter der Haut, als ein unerklärliches sexuelles Verlangen in ihr hochstieg. Sie wehrte sich dagegen, denn sie war sich nur allzu sehr bewusst, dass niemand ihn würde ändern können.

„Sascha spürt die Gefühle anderer“, fuhr Judd fort, „wenn sie jemandem etwas antun würde, träfe es sie selbst.“

„Das weiß ich.“ Brenna ballte die Fäuste, drehte sich auf dem Absatz herum und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Es roch überall nach ihm, der dunkle und eindeutig männliche Geruch packte ihre Gestaltwandlersinne. „Hier sieht es wie in einer Zelle aus. Hätten Sie nicht wenigstens ein Poster aufhängen können?“ Das Zimmer war genauso groß wie das der anderen unverheirateten Soldaten, aber selbst die schlimmsten einsamen Wölfe gaben ihrer Umgebung ein individuelles Aussehen.

Im Gegensatz dazu wirkte Judds Zimmer vollkommen leer, das einzige Möbelstück war ein Bett, auf dem ein weißes Laken und eine graue Anstaltsdecke lagen. Und dann gab es noch eine etwa anderthalb Meter unterhalb der Decke hängende Eisenstange für sein Körpertraining.

„Ich wüsste nicht, warum.“ Er lehnte sich gegen die Tür, was ihre Aufmerksamkeit auf seinen festen, muskulösen Oberkörper lenkte. „Sagen Sie mir, was Sie hergeführt hat.“

„Ich habe Ihnen doch schon erzählt, dass ich Dinge sehe. Ich habe gesehen, dass – dass –“ Sie konnte sich nicht überwinden, den Albtraum erneut zu erleben.

Natürlich kam Judd nicht auf den Gedanken, ihr zu helfen. „Wie ich Ihnen schon erklärt habe, ist das wahrscheinlich nur der Widerhall des Traumas, das Sie unter Enriques Händen erlitten haben.“

„Sie irren sich. Es ist Realität.“

„Beschreiben Sie, was Sie sehen.“

„Es sind schlimme, sehr schlimme Dinge“, flüsterte sie und schlang die Arme um ihren Körper. „Tod, Blut und Schmerzen.“

Judds Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. „Mehr Einzelheiten, bitte.“

Blinde Wut fegte die Angst weg, die mit den Erinnerungen hochgekommen war. „Manchmal könnte ich schreien. Würde es Ihnen sehr wehtun, wenn Sie versuchten, ein wenig menschlich zu wirken?“

Er antwortete nicht.

„Walker ist doch auch anders.“

„Mein Bruder ist ein Telepath und fühlt sich besonders zu jungen Medialengehirnen hingezogen. Im Medialnet war er ein Lehrer.“

Sie dachte darüber nach, war überrascht, überhaupt eine Antwort erhalten zu haben. „Meinen Sie damit, er hatte bereits die Fähigkeit zu fühlen, bevor er abtrünnig wurde?“

„Wir haben alle diese Fähigkeit“, stellte Judd richtig. „Die Konditionierung durch Silentium dient nur dazu, Gefühle abzutöten – man kann sie nicht völlig auslöschen.“

Sie fragte sich, was wohl auf ihrem Gesicht zu sehen war, denn in seinem sah sie nur eisige Beherrschtheit. Ihr Ärger hatte ihn nicht berührt … auch ihre Furcht nicht … oder ihr Schmerz. Als ihr das klar wurde, machte sich ein eigenartiges, hohles Gefühl in ihrer Magengegend breit. „Aber Sie haben gesagt, Walker sei anders.“

Als Judd nickte, fielen ihm ein paar dunkle Strähnen in die Stirn. „Da mein Bruder ständig Kontakt mit Kindern hatte, nicht zuletzt auch mit Toby und Marlee, deren Konditionierung noch nicht vollständig abgeschlossen war, besaß er schon immer eine gewisse Anfälligkeit dafür, unter geeigneten Umständen Silentium zu durchbrechen.“

„Und was ist mit Ihnen?“ Diese Frage hatte sie ihm noch nie gestellt. „Was war Ihre Aufgabe im Medialnet?“

Er wirkte mit einem Mal angespannt. Aber er klang unverändert, als er antwortete. „Sie brauchen nicht noch mehr Albträume. Erzählen Sie mir lieber, was Sie gesehen haben!“

Sie ging näher an diesen gefährlichen Mann heran. „Irgendwann werden Sie darüber reden müssen.“ Doch seine unbeugsame Haltung zeigte ihr, dass es nicht heute geschehen würde. Sie nahm all ihren Mut zusammen und öffnete die Büchse der Pandora. „Ich habe Timothys Tod geträumt. Aber … ich habe damals nicht sein Gesicht gesehen … nur einen ovalen Umriss bloßer Haut anstelle von Gesichtszügen.“ Das verstörende Bild ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. „Ich habe gesehen, wie er starb. Eine scharfe Klinge durchtrennte Muskeln und Fettgewebe, glitt durch blutiges Fleisch.“

Judds Blick ruhte weiter regungslos auf ihr. „Das könnte auch eine Übertragung sein – Ihr Verstand könnte Ihnen etwas vorgaukeln, das Enrique Ihnen eingegeben hat.“

Es erfüllte Brenna mit Abscheu, dass Enrique so weit gekommen war. Sascha hatte ihr versichert, sie sei nicht gebrochen, habe ihn von ihrem Innersten ferngehalten, doch es fühlte sich nicht so an. Brenna glaubte vielmehr, dass dieser Scheißkerl zu ihrem eigentlichen Wesen vorgedrungen war und von innen heraus jeder Zelle von ihr Gewalt angetan hatte. Denn Sascha wusste nicht das Schlimmste … wusste nicht, was Brenna bei diesem Schlächter noch hatte ertragen müssen – dieses Geheimnis würde sie mit ins Grab nehmen.

„Brenna.“

Ihr Zwerchfell zog sich zusammen, und sie hob den Kopf. „Übertragung?“

Er sah sie so durchdringend an, als wollte er in sie hineinsehen. „Es könnte sein, dass sich ein altes Bild vor ein neues schiebt.“

Denn es hatte Enrique Spaß gemacht, sie zu quälen, indem er ihr Bilder der bereits begangenen Morde zeigte. „Nein“, widersprach sie. „Schon bevor ich Tims Leiche gesehen hatte, konnte ich spüren, wie sich … die Schnitte, das Böse, unterschieden.“ Enrique hatte ein Skalpell bevorzugt, das er mit seinen telekinetischen Kräften geführt hatte. Kardinalmediale waren die stärksten Medialen, aber selbst in dieser illustren Gruppe waren Enriques Kräfte etwas Besonderes gewesen. „Es war, als würde ich dazu gezwungen, die Fantasien eines anderen anzuschauen.“ Am meisten ängstigte sie die Vorstellung, ihr Verstand könnte noch einmal missbraucht werden, könnte angefüllt werden mit düsteren, ekelerregenden Gedanken, die durch nichts zu vertreiben waren.

„Sie sind eine Gestaltwandlerin und keine Telepathin.“ Eine Sekunde lang glaubte sie, die goldenen Punkte im satten Braun wären aufgeblitzt. „Das kann nicht alles gewesen sein.“ Das war eine Feststellung, keine Frage.

Brenna schluckte. „Als ich von diesem Mord träumte, als ich die Schreie hörte, da –“ Ihre Nägel gruben sich in die Handballen.

„Was, Brenna?“ Seine Stimme klang fast sanft. Aber vielleicht wollte sie das auch nur glauben.

„Es hat mich erregt“, gab sie zu und fühlte sich schmutzig, abartig wie ein Monster. „Ich habe es genossen.“ Sie hatte Verlangen gespürt, die Schmerzen ihres Opfers hatten sie mit einer kranken Erregung erfüllt. „Jeden Schnitt, jeden Schrei habe ich genossen.“

Der Ausdruck auf Judds Gesicht hatte sich nicht verändert. „Nur während des Traums?“

Sie sehnte sich ungeheuer danach, in den Arm genommen zu werden, aber Judd Lauren würde das ebenso wenig tun, wie er plötzlich ein Wolf werden würde. „Es ist, als hätte er einen Teil von sich in mir zurückgelassen.“

„Santano Enrique war ein Psychopath. Er hatte keine Gefühle.“

Ihr Lachen klang auch in ihren eigenen Ohren grell. „Wenn Sie ihn so erlebt hätten wie ich, würden Sie das nicht behaupten. Er war vielleicht eiskalt, aber er hatte Spaß an dem, was er tat. Und er hat mich damit infiziert.“

„Diese Fähigkeit hatte Enrique nicht. Nur sehr wenige von uns können geistige Viren übertragen.“ Er stieß sich von der Tür ab und kam näher. „Sascha hat keine Spur von Viren in Ihrem Kopf gefunden, und sie würde es wissen – ihre Mutter gilt als die Beste in dieser Disziplin.“

„Aber irgendetwas muss er getan haben!“, beharrte sie. „Das waren nicht meine Gedanken oder Gefühle.“ Das konnte nicht sein. Sonst würde sie verrückt werden.

„Eigentlich dürften Sie überhaupt nicht in der Lage sein, solche Dinge zu sehen“, sagte er und stand so nah bei ihr, dass sie die Wärme spüren konnte, die von seinem Körper ausging. Angst und gleichzeitig Verlangen verwirrten ihre Sinne. „Ihre Gehirnströme sind vollkommen anders als die einer Medialen.“

Sie hob die Hand, um ihre Haare zurückzustreichen und hielt inne. Ihre hüftlange Mähne war verschwunden, auch das hatte Enrique ihr genommen. „Meinen Sie, er könnte diese Ströme verändert haben?“

Judds Muskeln bewegten sich unter der Haut, als er die Arme senkte. „Das wäre die logische Schlussfolgerung. Wenn Sie es erlauben, könnte ich Ihren Geist abtasten –“

„Nein!“

Zustimmend nickte er mit dem Kopf. „In Ordnung. Aber dadurch wird es schwerer, der Sache auf den Grund zu gehen.“

„Das weiß ich, aber trotzdem werde ich nicht zustimmen.“ Niemand würde je wieder in ihrem Geist herumfuhrwerken. Bei den meisten Opfern war der Verstand der einzige unverletzte Teil ihres Wesens. Brennas war brutal misshandelt worden, sie konnte nie wieder jemandem vertrauen. „Haben Sie irgendeine Idee, was es sein könnte?“

„Nein.“ Er legte die Hand auf ihren Nacken. „Wo haben Sie diesen Bluterguss her?“

Völlig überrascht ergriff sie seine Hand. „Einen Bluterguss? Vielleicht ist es passiert, als ich mit Lucy gekämpft habe.“ Brenna war zwar keine Soldatin, aber sie musste ihre Fähigkeiten zur Selbstverteidigung schulen … das war jetzt sogar noch wichtiger geworden. Denn sie hatte ein Geheimnis, niemand wusste, dass Enrique nicht nur ihren Geist verletzt, sondern auch etwas in ihr grundlegend zerstört hatte. Ihre Identität war in Gefahr. „Könnten Sie etwas über meine Träume herausfinden?“

Seine Hand fühlte sich groß an, seine Finger waren sehr lang. Sie spürte überdeutlich jeden Millimeter seiner Haut. Auch wenn Berührung für sie etwas Natürliches war, ließen sich Gestaltwandlerraubtiere nicht von jedem anfassen. Nur Rudelgefährten oder Geliebte hatten solche Privilegien. Judd gehörte keiner der beiden Kategorien an. Dennoch schüttelte sie ihn nicht ab.

„Ich werde meine Fühler ausstrecken.“ Judd zog seine Hand weg, es erschreckte sie, wie unerwartet rau seine Handfläche sich anfühlte. „Aber Sie müssen darauf gefasst sein, dass ich vielleicht keine Antwort finde. Sie waren bisher die Einzige, die Enriques Experimente lebend überstanden hat.“

Aus dem Schatten heraus beobachtete er, wie Brenna Kincaid Judds Zimmer verließ. Er konnte sich gerade noch beherrschen, wäre ihr am liebsten an die Gurgel gesprungen und hätte sie an Ort und Stelle erdrosselt. Diese Schlampe hätte schon vor Monaten sterben sollen, aber sie hatte sich am Leben festgekrallt. Und nun erinnerte sie sich an irgendetwas. Warum hätte sie wohl sonst so viel Wesens um den Toten gemacht?

Er fluchte leise und böse vor sich hin.

In den ersten Tagen nach ihrer Rettung war er fast panisch gewesen, aber Gott sei Dank war ihre Erinnerung recht lückenhaft. Falls sich das nun änderte, konnte es für ihn schwierig werden. Er konnte hingerichtet werden – vor allem wenn dieser Scheißmediale auf ihrer Seite war. Er hätte die Laurens gleich bei der ersten Gelegenheit verraten sollen, aber er hatte zu lange gezögert, und nun hatte sich seine Gier gegen ihn gewandt.

Aber das war jetzt auch egal. Er würde sich nicht wie einen tollwütigen Hund jagen lassen. Die Druckpistole in seiner Hand hatte Tim wehrlos und zu einem leichten Opfer gemacht. Er konnte sie auch bei Brenna anwenden. Die Hure mit ihren verrückten Augen würde ihm jedenfalls sein Leben nicht zerstören.

Judd folgte Brenna mit den Augen, bis sie am Ende des Korridors angelangt war und sich in den Strom der Vorbeigehenden eingereiht hatte. Sein militärisch geschulter Verstand hatte etwas gespürt, als er die Tür geöffnet hatte, aber er konnte keinen Grund erkennen, warum seine Alarmsignale losgegangen waren. Dennoch rührte er sich erst von der Stelle, als sie in Sicherheit war.

Er schloss die Tür und sah auf seine Hand, ballte sie ein ums andere Mal zur Faust, um die Hitze loszuwerden, die er seit der Berührung von Brenna fühlte. Es war eine völlig irrationale Handlung gewesen, nicht ein Gedanke, sondern ein verschütteter Instinkt hatte einen Augenblick lang seine Konditionierung durchbrochen, als er den Bluterguss auf ihrer Haut gesehen hatte.

Das Läuten seines Handys erinnerte ihn daran, dass seine Arbeit noch nicht getan war. Er konnte es sich nicht leisten, von einer Gestaltwandlerin abgelenkt zu werden, die ihn darum bat, ihre Albträume verschwinden zu lassen. Als wäre er … gut. Was würde Brenna wohl dazu sagen, wenn er ihr eröffnete, dass er der Albtraum war?

Ein zweites Läuten. Er griff nach dem Handy, stellte den Ton ab und ging ins Bad, um sich zu duschen. Auf der Handfläche spürte er immer noch die weiche Frauenhaut, aber das würde sich bald geben – der Geruch des Todes löschte mit seiner Eiseskälte alles aus.

Und er konnte sehr gut morden, dachte Judd, als er einpackte, was er an diesem Abend für die Überwachung brauchte. Schon mit zehn war er gut darin gewesen. Heute würde er nur jemandem folgen, aber in ein paar Tagen würde er zuschlagen. Die Bomben waren fast fertig. Er wartete nur noch auf den richtigen Zeitpunkt, die passende Gelegenheit. Dann würde wieder Blut spritzen, dann würde auf seiner Haut die scharlachrote Blume sprießen, die sein wahres Wesen enthüllte.

 

5

In der samtschwarzen Nacht des Medialnets schlug die Tür eines geheimen Verlieses zu. Das Medialnet war ein unendlich großes geistiges Netzwerk, es verband Millionen von Medialen in aller Welt, enthielt ihr ganzes Wissen und wurde durch das Einspeisen neuer Daten jede Millisekunde aktualisiert. Außerdem bot es den Angehörigen seines Volkes die Möglichkeit zu einem sofortigen Treffen, ganz egal, wo sich ihre Körper gerade befanden. In diesem Augenblick strahlten sieben Sterne im schwärzesten Kern des Medialnets so kalt und weiß, dass man sich fast an ihnen schneiden konnte.

Der Rat der Medialen befand sich in einer Sitzung.

Kaleb meldete sich als Erster zu Wort. „Was habt ihr euch bloß dabei gedacht?“ Die Frage galt den mächtigen und gefährlichen Gehirnen von Henry und Shoshanna Scott, den miteinander verheirateten Ratsmitgliedern. „Das Liu-Unternehmen war nicht begeistert davon, dass jemand in die Archive der Familie eingedrungen ist und die Akten einiger Familienmitglieder mit einem Risikovermerk versehen hat.“ Allen war bewusst, dass nur ein kleiner Schritt den Risikovermerk von einer Verurteilung zur Rehabilitation trennte.

„Wir sind der Rat.“ Shoshanna sprach auch für Henry, was in letzter Zeit auffallend oft der Fall war. „Wir müssen unsere Handlungen nicht vor der Öffentlichkeit rechtfertigen.“

Tatiana Rika-Smythe mischte sich ein. „Ich nehme an, ihr habt euch auch mit anderen Familien befasst. Was für ein Ziel habt ihr dabei verfolgt?“

„Wir wollten diejenigen im Auge behalten, die eine Bereitschaft dazu haben, mit Silentium zu brechen.“

„Dafür ist die Rehabilitation zuständig.“ Tatianas Feststellung hatte etwas Endgültiges.

„Dann erklärt mir doch bitte, was mit Sascha Duncan und Faith NightStar passiert ist“, fragte Shoshanna, sie bezog sich dabei auf die beiden letzten Abtrünnigen. „Sagst du es mir, Nikita? Schließlich ist Sascha doch deine Tochter.“

„Das waren Ausnahmen.“ Kaleb schlug sich bewusst auf Nikitas Seite. „Außerdem hat es den Anschein, als hättet ihr schon vorher unerlaubt Nachforschungen angestellt, es kann also keine logische Verbindung zwischen diesen beiden geben.“

„Wir sahen so etwas kommen, und ihr alle habt es nicht bemerkt.“ Shoshanna wusste, dass es vergebliche Liebesmühe gewesen wäre, den Charme einzusetzen, den sie bei ihren Auftritten in den Medien nutzte. „Habt ihr nicht das Getuschel im Medialnet gehört? Sie reden offen über Rebellion.“

„Da hat sie recht“, sagte Tatiana, es war wie immer unklar, zu wem sie hielt.

„Ich schlage vor, wir lassen sie bis zu einem bestimmten Grad einfach weiterreden.“ Kaleb richtete sich jetzt an alle Ratsmitglieder. „In der Vergangenheit sind die Schwierigkeiten gerade dadurch entstanden, dass man versucht hat, den Unmut zu unterdrücken. Momentan ist es ein Leichtes, die Aufrührer im Auge zu behalten und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, bevor sie wirklichen Schaden anrichten können.“

„Kann sein, darum geht es jetzt aber nicht“, stellte Nikita fest. „Ich beantrage, dass die Scotts die Ergebnisse ihrer Recherche dem Rat übergeben. Wenn sie als Ratsmitglieder gehandelt haben, gehören die Daten sowieso dem Rat. Wenn sie auf eigene Faust gehandelt haben, waren sie nicht befugt zu handeln, und dann sollten die Informationen beschlagnahmt werden.“

Nikitas reizende Hinterlist beeindruckte Kaleb, aber er äußerte sich nicht dazu. Shoshanna war auch so schon auf dem besten Weg, seine Feindin zu werden. Doch hauptsächlich hielt er sich zurück, um zu erfahren, wer sich für die Scotts verwenden würde, also möglicherweise ihr Verbündeter war.

„Ich würde gerne einen Blick auf die Daten werfen“, sagte Ming LeBon schließlich. Den Ratsherrn und Meister im geistigen Zweikampf bekamen nur seine besten Soldaten zu Gesicht. Kaleb hatte vergeblich versucht, ein Bild von ihm aufzutreiben – Ming war tatsächlich nur ein Schatten.

„Das könnte allerdings sehr nützlich sein“, meinte Tatiana.

„Legt jetzt die Karten auf den Tisch, damit wir eine Entscheidung fällen können.“ Marshall war der älteste Ratsherr und ihr inoffizieller Vorsitzender – da er am längsten auf seinem Posten überlebt hatte.

Bei den Dreien war also unklar, zu wem sie hielten. Nikita und Shoshanna waren Gegner, Henry war auf Shoshannas Seite.

„Unglücklicherweise ist das nicht möglich.“ Shoshanna war die Ruhe selbst. „Man müsste dazu noch einmal durch alle markierten Akten gehen.“

„Aber ihr habt doch sicher eine Zusammenfassung.“ Marshall sprach aus, was alle dachten.

„Natürlich, doch vor etwa zehn Stunden hat sich jemand Zugang dazu verschafft. Die Daten sind unwiderruflich zerstört.“

„Haltet ihr uns für rehabilitierte Idioten?“, fragte Nikita rasiermesserscharf. „Kein Hacker im Medialnet kann bei einem Ratsmitglied eindringen.“

„Es war ein Virus.“ Shoshanna gab sich nicht geschlagen. „Hier habt ihr den Beweis.“ Etwas wurde in die leere „Dunkelkammer“ des Verlieses geworfen, eine Akte, in der ein Virus wütete.

Nur Nikita bewegte sich nicht vom Fleck. „Keine Gefahr“, verkündete sie kurz darauf. „Es wird sich nicht ausbreiten. Selbst wenn das der Fall wäre, würde sich das Virus normalerweise schnell selbst zerstören. Die Dunkelkammer bietet keine geeigneten Bedingungen für Viren.“

„Dafür sollten wir dankbar sein. Sonst wäre jetzt schon das gesamte Medialnet betroffen“, sagte Shoshanna und wies damit kühl auf die Fähigkeiten hin, die Nikita den Gerüchten zufolge hatte.

Sie untersuchten Shoshannas Beweise sorgfältig. Es gab nichts daran zu deuteln. Im Normalzustand hätten die Daten gut lesbar sein sollen, aber die Akte war nur noch ein großes Durcheinander, energetische Blitze im Inneren hatten den Inhalt unbrauchbar gemacht, und noch beim Umblättern der Seiten setzte sich das Zerstörungswerk fort.

„Es verschlingt sich selbst“, murmelte Marshall. „Ein degenerierender Kreislauf.“

„Zweifellos von einem außergewöhnlich guten Programmierer.“ Tatiana sah es sich von Nahem an. „Wir müssen dieses Individuum unbedingt dazu bringen, für uns zu arbeiten. Ich würde den Täter gerne ausfindig machen.“

„Nur zu.“ Shoshanna „schob“ Tatiana die Akte zu. „Wahrscheinlich wirst du keinen Erfolg haben. Der Hacker hat keine brauchbaren Spuren hinterlassen.“

„Das Virus trägt seine Handschrift“, stellte Nikita fest. „Wenn er nicht schlau genug war, auch das verschwinden zu lassen. Die Störversuche des Gespenstes folgen demselben Muster.“ Diesen Namen hatten sie dem Saboteur gegeben, der sich zu einem gefährlichen Stachel im Fleisch des Rates entwickelt hatte.

„Das ist eine Möglichkeit“, sagte Kaleb, „aber es gibt auch noch eine andere: Vielleicht hat die Familie Liu beschlossen, selbst einzugreifen.“

„Wer es auch immer war“, meinte Nikita, „wie viele Daten hat er eigentlich abgezogen?“

„Gar keine. Sie haben nur das Virus eingeschleust und sind wieder verschwunden. Gestohlen wurde nichts.“

„Wie sicher ist das?“, fragte Nikita.

„Vollkommen sicher“, meldete Henry sich das erste Mal zu Wort.

„Ich nehme an, Ihnen ist klar, dass nichts nach außen dringen darf“, sagte Marshall. „Die Aufregungen um die NightStar-Affäre haben sich noch immer nicht gelegt, und deshalb können wir es nicht riskieren, dass sich die mächtigsten Unternehmen noch weiter von uns zurückziehen.“

„Einverstanden.“ Shoshanna wusste genau, wann es Zeit war aufzugeben. „Die meisten Daten sind zwar zerstört, aber wir haben aus dem Gedächtnis eine Liste von zehn Personen zusammengestellt. Wir würden sie gerne weiter beobachten … mit Erlaubnis des Rates natürlich.“

„Dem steht nichts im Wege, wenn du diskret vorgehst“, sagte Tatiana.

„Sehr wohl. Es gibt noch einen weiteren Punkt, über den ich sprechen möchte.“ Shoshanna zog eine weitere, weit schmalere Akte hervor. „Es geht um Brenna Shane Kincaid.“

Kaleb wusste sofort, wer gemeint war. „Das letzte Opfer von Santano Enrique? Warum interessierst du dich für sie?“

„Ich nehme an, ihr habt alle dem letzten Bericht entnommen, dass es uns gelungen ist, Enriques Aufzeichnungen zu entschlüsseln.“ Shoshanna wartete, bis die Ratsmitglieder es bestätigt hatten. „Ihr wisst also, dass er anscheinend einige außerordentliche Dinge in ihrem Kopf angestellt hat. Wir müssen sie unbedingt untersuchen.“

„Du weißt doch genauso gut wie ich“, schaltete sich Nikita ein, „dass jeder Versuch, Brenna Kincaid von den SnowDancer-Wölfen fortzuholen, einer Kriegserklärung gleichkäme.“

„Du willst wohl nur neuen Ärger vor deiner Haustür vermeiden, Nikita?“ Shoshannas Frage war berechtigt – schließlich stammten die beiden letzten Abtrünnigen aus Nikitas Heimat.

Das konnte Nikita jedoch nicht erschüttern. „Nur wenn der Ärger durch die Fehler anderer Ratsmitglieder entsteht.“ Die kühle Antwort sollte alle anderen an den fehlgeschlagenen Versuch der Scotts erinnern, Faith NightStar gefangen zu nehmen. „Das Mädchen wird viel zu gut bewacht, als dass man so eine Aktion durchführen könnte.“

„Nikita hat recht“, sprang Ming ihr unerwartet bei. „Selbst wenn Brenna Kincaid aus wissenschaftlicher Sicht ein interessantes Objekt wäre, würde doch niemand von uns etwas Derartiges noch einmal probieren wollen.“

„Nein.“ Das war Tatiana. „Tiere sollten Tiere bleiben. Außerdem könnte es doch sein, dass sich durch Enriques Verwandlung das Thema sowieso erledigt.“

„Wie denn das?“, fragte Marshall. „Wir können nicht das Risiko eingehen, dass die Gestaltwandler es herausfinden und selbst verwenden.“

„Ihr Gehirn war nicht für Enriques Versuche gemacht“, erklärte Tatiana. „Es könnte unter dem Druck innerlich einfach zerplatzen.“

„Und außerdem“, warf Ming ein, „haben wir doch eine Strategie entwickelt, die das Problem mit den Gestaltwandlern lösen wird. Warten wir ab, bis sie Früchte trägt. Selbst wenn Brenna Kincaid den Druck überleben sollte, wird sie bald tot sein – und das ganze Rudel mit ihr.“

 

6