Gilde der Jäger - Engelszorn - Nalini Singh - E-Book

Gilde der Jäger - Engelszorn E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Nachdem die Vampirjägerin Elena Deveraux ein Jahr lang im Koma lag, muss sie bei ihrem Erwachen feststellen, dass sie in einen Engel verwandelt wurde. Noch sind ihre Wunden nicht ganz verheilt und ihr Körper muss sich von der Umwandlung erholen. Da wird ihr Geliebter, der atemberaubend gut aussehende Erzengel Raphael, von der Unsterblichen Lijuan zu einem Ball geladen. Die Einladung abzulehnen wäre ein Zeichen von Schwäche. Deshalb müssen Raphael und Elena so schnell wie möglich nach Peking fliegen. Doch Lijuan empfängt die beiden keineswegs freundlich ...

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Inhalt

Titel

Genesis

1

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5

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Epilog

Danksagung

Impressum

Nalini Singh

Roman

Ins Deutsche übertragen von Petra Knese

 

Genesis

Tropf.

Tropf.

Tropf.

»Komm, kleine Jägerin. Koste.«

Blut in der Luft, an den Wänden, zu ihren Füßen. »Ari?«

»Ari hält ein feines Nickerchen.« Ein Kichern ertönte, und sie wollte nur noch davonlaufen, laufen, LAUFEN!

»Mm, ich glaube, Belle ist mir lieber.« Ein roter Finger näherte sich ihrem Mund, presste sich auf ihre Lippen.

Sie schmeckte Blut.

Das Blut ihrer Schwester.

In diesem Moment fing sie an zu schreien.

1

Elena klammerte sich an die Balkonbrüstung und starrte in die zerklüftete Schlucht. Die Felsen sahen aus wie spitze Zähne, allzeit bereit zum Beißen, Reißen, Schlitzen. Ein eisiger Wind kam auf und drohte sie in den unbarmherzigen Schlund zu stürzen, sie griff fester zu. »Noch vor einem Jahr«, flüsterte sie, »habe ich nichts von dieser Zufluchtsstätte gewusst, und jetzt stehe ich hier.«

Vor ihr lag eine riesige Stadt aus Glas und Marmor, im gleißenden Sonnenlicht traten ihre eleganten Formen deutlich hervor. Bäume mit dunklen Blättern bildeten wohltuende grüne Flecken zu beiden Seiten der Schlucht, die eine gewaltige Kluft durch die Stadt trieb, und der Horizont wurde von schneebedeckten Bergkuppen beherrscht. Nichts, weder Straßen noch Hochhäuser, trübten diesen vollkommenen Anblick.

Doch trotz all seiner Schönheit hatte dieser Ort etwas Fremdartiges, man bekam das unbestimmte Gefühl, dass unter der glänzenden Oberfläche die Dunkelheit lauerte. Tief sog Elena die schneidend kühle Luft der Berge ein und sah hinauf … zu den Engeln. So viele Engel. Ihre Flügel bedeckten den Himmel der Stadt, einer Stadt, die aus bloßem Fels gewachsen zu sein schien.

Sterbliche, die beim Anblick himmlischer Flügel buchstäblich erstarrten, würden an einem Ort wie diesem, an dem es von den angebeteten Wesen nur so wimmelte, feuchte Augen bekommen. Doch Elena hatte einen Erzengel lachen sehen, während er einem Vampir die Augen aus dem Schädel riss, vorgab, sie essen zu wollen, und die glibberige Masse dann schließlich zerquetschte. So, dachte sie mit Schaudern, hatte sie sich den Himmel nicht vorgestellt.

Flügelrauschen, der sanfte Druck kraftvoller Hände auf ihren Hüften. »Überanstreng dich nicht, Elena. Komm rein.«

Sie rührte sich nicht, obwohl sie ihn stark und gefährlich an ihren Flügeln spürte und vor Lust erzitterte. »Glaubst du etwa, du könntest mir jetzt Befehle erteilen?«

Der Erzengel von New York, ein todbringendes Wesen, vor dem Elena selbst jetzt manchmal noch Angst hatte, schob ihr das Haar aus dem Nacken und drückte seine Lippen auf ihren Hals. »Selbstverständlich. Du gehörst mir.« Nicht die geringste Spur von Ironie, reine Besitzgier.

»Ich glaube, die Sache mit der wahren Liebe hast du noch nicht so richtig verstanden.« Ambrosia hatte er ihr eingeflößt, aus einer Sterblichen eine Unsterbliche gemacht, ihr Flügel verliehen – Flügel! – und alles aus Liebe. Zu ihr, einer Jägerin, einer Sterblichen … einer ehemals Sterblichen.

»Wie dem auch sei, du musst jedenfalls wieder zurück ins Bett.«

Und dann lag sie auf einmal in seinen Armen, auch wenn sie sich gar nicht erinnern konnte, die Brüstung losgelassen zu haben – aber das hatte sie wohl, denn das gestaute Blut floss wieder in ihre Hände, ihre Haut spannte. Es tat weh. Sie verbiss sich den Schmerz, während Raphael sie durch die Schiebetüren in einen prächtigen gläsernen Raum trug, der auf einer Festung aus Marmor und Quarz thronte, ebenso dauerhaft und unerschütterlich wie die Berge ringsum.

Wut schoss in ihr hoch. »Verschwinde aus meinem Kopf, Raphael!«

Warum?

»Weil ich dir schon unzählige Male erklärt habe, dass ich nicht deine Marionette bin.« Sie knirschte mit den Zähnen, als er sie auf das wolkenweiche Bettzeug mit den üppigen Kissen legte. Die Matratze war zum Glück fest, und sie konnte sich aufrecht hinsetzen.

»Eine Geliebte« – mein Gott, sie konnte kaum glauben, dass sie sich ausgerechnet in einen Erzengel verliebt hatte – »sollte eine Partnerin sein, kein Spielzeug, das man lenkt.«

Kobaltblaue Augen in einem Gesicht von nahezu vollkommener Anmut und … Grausamkeit, umrahmt von nachtschwarzem Haar. »Du bist seit genau drei Tagen wach, nachdem du ein ganzes Jahr im Koma gelegen hast«, sagte er. »Ich lebe schon seit über tausend Jahren. Und auch wenn ich dir Unsterblichkeit verliehen habe, bist du mir heute genauso wenig ebenbürtig wie zuvor.«

Außer sich vor Zorn hörte Elena nur noch das weiße Rauschen in ihren Ohren. Sie verspürte den Wunsch, wieder auf ihn anzulegen und abzudrücken. Bilder strömten auf sie ein – spritzendes karminrotes Blut, ein gebrochener Flügel, das Entsetzen in Raphaels Augen. Nein … nie wieder würde sie auf ihn schießen, doch er reizte sie stets aufs Neue. »Was bin ich dann?«

»Du bist mein.«

War es wirklich falsch, dass sein leidenschaftlicher Blick und besitzergreifender Ton ihr wohlige Schauer über den Rücken jagten? Wahrscheinlich schon. Aber das kümmerte sie im Moment nicht. Das Einzige, was jetzt zählte, war, dass sie sich an einen Erzengel gebunden hatte, für den nur seine eigenen Regeln galten. »Ja«, pflichtete sie ihm bei. »Mein Herz gehört dir.«

In seinen Augen flammte so etwas wie Genugtuung auf.

»Aber mehr auch nicht.« Sie sah ihn fest an und ließ sich nicht einschüchtern. »Ich stecke also mit meiner Unsterblichkeit noch in den Kinderschuhen. Schön und gut … aber ich bin immer noch eine Jägerin. Eine, die gut genug war, dass du sie engagiert hast.«

Von Leidenschaft keine Spur mehr, er wirkte verstimmt. »Immerhin bist du ein Engel.«

»Mit himmlischem Zaubergeld?«

»Geld spielt keine Rolle.«

»Natürlich nicht … du bist ja auch reicher als Midas höchstpersönlich«, murmelte sie. »Aber ich werde nicht einfach nur dein kleines Kauspielzeug sein …«

»Kauspielzeug?« Ein amüsierter Blick.

Sie nahm keine Notiz davon. »Sara hat gesagt, ich kann meinen alten Job jederzeit zurückhaben.«

»Die Loyalität gegenüber den Engeln zählt jetzt mehr als deine Verpflichtungen gegenüber der Gilde der Jäger.«

»Michaela, Sara, Michaela, Sara«, murmelte sie mit gespielter Nachdenklichkeit. »Göttliches Biest gegen beste Freundin, mmh, für wen soll ich mich bloß entscheiden?«

»Das ist doch belanglos, oder?« Er zog eine Braue in die Höhe.

Irgendwie hatte sie das Gefühl, er wusste etwas, das sie nicht wusste. »Warum denn?«

»Ehe du nicht fliegen kannst, kannst du sowieso keinen deiner Pläne umsetzen.«

Das brachte sie zum Schweigen. Wütend starrte sie ihn an und ließ sich dann schließlich in die Kissen zurücksinken. Ihre Mitternachtsflügel lagen ausgebreitet auf dem Laken; sie hatten alle Schattierungen von Schwarz über Indigo und Dunkelblau bis Morgengrau und endeten schließlich in einem strahlenden Weißgold. Gerade einmal zwei Sekunden hielt sie das Schmollen durch. Elena und Schmollen, das passte nicht zusammen. Nicht einmal Jeffrey Deveraux, der sonst alles an seinem »Scheusal« von Tochter verachtete, konnte ihr das vorwerfen.

»Dann bring es mir bei«, sagte sie und richtete sich auf. »Ich bin bereit.« Der unbändige Wunsch, fliegen zu können, schnürte ihr fast die Kehle zu, ihre Seele verzehrte sich danach.

Raphaels Gesicht zeigte keinerlei Regung. »Du schaffst es noch nicht einmal ohne fremde Hilfe bis zum Balkon. Du bist schwächer als Engelnachwuchs.«

Die kleinen Flügel und kleinen Körper, stets in der Obhut der Großen, waren ihr schon aufgefallen. Viele waren es nicht, aber es gab sie. »Die Zufluchtsstätte«, fragte sie, »ist sie ein sicherer Ort für eure Kleinen?«

»Sie ist alles, was wir brauchen.« Seine sündig schönen Augen wanderten zur Tür. »Dmitri kommt.«

Als Dmitris verführerischer Duft sie umschmeichelte und sich sexy und schamlos wie ein weicher Pelz um sie legte, schnappte sie nach Luft. Leider war sie auch nach ihrer Verwandlung gegen diesen besonderen Vampirkniff nicht gefeit. Doch die Kehrseite der Medaille traf gleichermaßen zu. »Vampire kann ich immer noch wittern, das kannst du nicht abstreiten.« Deshalb war sie schon von Geburt an eine Jägerin.

»Du wirst uns vielleicht eines Tages sehr nützlich sein, Elena.«

Sie fragte sich, ob ihm überhaupt klar war, wie arrogant das klang. Wahrscheinlich nicht. Unbesiegbar zu sein, und das schon seit viel mehr Jahren, als sie sich vorstellen konnte, hatte die Arroganz zu einem festen Bestandteil seiner Persönlichkeit werden lassen … Aber nein, dachte sie. Schließlich konnte er doch verletzt werden. Als in New York die Hölle los war und ein Blutengel versucht hatte, die ganze Stadt zu zerstören, hatte sich Raphael entschieden, gemeinsam mit Elena zu sterben, statt ihren verletzten Körper auf dem Felsenvorsprung hoch über Manhattan zurückzulassen.

Zwar waren ihre Erinnerungen verschwommen, aber sie konnte sich noch gut an zerfetzte Flügel, ein blutüberströmtes Gesicht und an Hände erinnern, die sie schützend hielten, während sie dem diamantharten Straßenpflaster entgegenstürzten. »Sag mal, Raphael…«

Er war schon im Begriff, sich umzudrehen und auf die Tür zuzugehen. »Was möchtest du wissen, Gildenjägerin?«

Sie verbarg ihr Lächeln über seinen Versprecher. »Wie soll ich dich nennen? Gatte? Mann? Freund?«

Die Hand schon am Türknauf, hielt er inne und warf ihr einen unergründlichen Blick zu. »Du kannst mich ›Meister‹ nennen.«

Elena starrte auf die verschlossene Tür und fragte sich, ob er sie auf den Arm nahm. Sie wusste es nicht, kannte ihn nicht gut genug, um seine Stimmungen einzuschätzen und zu wissen, wann es ihm ernst war. Unter Schmerzen und Angst waren sie zusammengekommen, das Schreckgespenst des Todes hatte sie in einen Bund gedrängt, der sonst wohl Jahre gebraucht hätte. Wenn nicht Uram zu einem Blutengel geworden wäre und eine mörderische Kluft durch die Welt getrieben hätte.

Raphael hatte ihr erklärt, Ambrosia – der Stoff, um einen Menschen in einen Engel zu verwandeln – entstünde nur bei wahrer Liebe auf der Zunge eines Erzengels, aber vielleicht war ihre Verwandlung gar nicht auf tiefe Gefühle zurückzuführen, sondern ergab sich aus einer sehr seltenen symbiotischen Verbindung. Letztlich schufen Engel auch Vampire, und die biologische Verträglichkeit spielte dabei eine entscheidende Rolle.

»Verdammt!« Sie rieb sich das Herz, versuchte den jähen Schmerz loszuwerden.

Du faszinierst mich.

Das hatte er zu Beginn gesagt. Vielleicht hatte es diese Faszination einmal gegeben. »Sei mal ehrlich, Elena«, flüsterte sie, während sie über die prachtvollen Flügel strich, die sein Geschenk an sie waren, »du bist doch diejenige, die der Faszination erlegen ist.«

Aber der Sklaverei würde sie nicht erliegen.

»Du kannst mich mal mit deinem Meister.« Sie blickte in den ihr fremden Himmel über dem Balkon und spürte, wie sie immer entschlossener wurde – genug des Abwartens. Anders als ein Mensch hatte sie ihre Muskulatur im Koma nicht eingebüßt. Aber ihre Muskeln hatten eine kaum nachvollziehbare Wandlung durchgemacht – alles fühlte sich schwach an, ungewohnt. Doch obwohl sie keine Rehabilitation nötig hatte, brauchte sie dringend Bewegung. Insbesondere ihre Flügel. »Besser gleich als später.« Sie setzte sich auf, atmete einmal tief durch … und breitete ihre Flügel aus.

»Verdammt, tut das weh!« Sie biss die Zähne zusammen, Tränen standen ihr in den Augen, doch sie gab nicht auf, dehnte die nagelneuen, unbekannten Muskeln; zog die neugebildeten Flügel sachte ein, bevor sie sie entfaltete. Nach drei Wiederholungen liefen ihr die Tränen übers Gesicht, und sie schmeckte nur noch Salz, die Schweißperlen auf ihrer Haut glänzten im Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel.

In diesem Moment kam Raphael zurück. Elena hatte einen Ausbruch erwartet, doch er setzte sich nur wortlos ihr gegenüber auf einen Stuhl und schaute sie an. Misstrauisch beobachtete sie, wie er dasaß, ein Bein über das andere gelegt, und sich mit einem goldgeränderten Briefumschlag lässig an die Stiefelspitze klopfte.

Sie hielt seinem Blick stand, probierte die Flügel noch zweimal aus. Ihr Rücken fühlte sich wie Wackelpudding an, die Bauchmuskeln waren so verkrampft, dass sie schmerzten. »Was ist denn« – sie hielt inne, um Luft zu holen – »in dem Umschlag?«

Ihre Flügel klappten zusammen, und sie spürte, wie sie an das Kopfende des Bettes sank. Es dauerte einen Augenblick, bis Elena begriff, dass er sie manipuliert hatte. Tief in ihrem Inneren wurde ihr ganz kalt, auch wenn er aufstand und ihr jetzt ein Handtuch aufs Bett warf. Verdammt, das würde er nicht noch einmal mit ihr machen!

Doch trotz des in ihr tobenden Unmuts wischte sie sich schweigend über das Gesicht. Denn er hatte recht: Sie war ihm nicht ebenbürtig, bei Weitem nicht. Und durch das Koma war sie ein wenig durcheinandergeraten. Von jetzt an würde sie an dem Schutzschild arbeiten, mit dem sie schon vor ihrem Engelsein begonnen hatte. Möglicherweise konnte sie es nun aufgrund der Veränderungen für eine längere Zeitspanne aktivieren.

Verzweifelt versuchte sie, ihre verhärtete Schultermuskulatur zu entspannen, nahm ein Messer vom Nachttisch und reinigte die Klinge mit dem Handtuchzipfel. »Geht es dir jetzt besser?«

»Nein.« Er kniff die Lippen zusammen. »Hör mal gut zu, Elena. Ich werde dir nicht wehtun, aber ich kann nicht dulden, dass du dich ganz meiner Kontrolle entziehst.«

Wie bitte? »Wie genau sieht denn eine Beziehung unter Erzengeln aus?«, fragte sie mit aufrichtiger Neugier.

Daraufhin schwieg er eine Weile. »Da Michaelas und Urams Verbindung nicht mehr besteht, gibt es nur noch eine feste Beziehung.«

»Und da die Göttliche selbst ein Erzengel ist, waren sie einander ebenbürtig.«

Kaum wahrnehmbar nickte er. Er war so verdammt schön, dass es ihr schwerfiel, in seiner Gegenwart klar zu denken, obgleich ihr bewusst war, dass er einen Hang zur Rücksichtslosigkeit besaß, der mit jeder Faser seiner Seele verwachsen war. Im Bett äußerte sich diese Rücksichtslosigkeit in einer alles beherrschenden Wildheit, die Frauen vor Lust um den Verstand brachte.

»Wer sind die anderen beiden?«, fragte sie und kämpfte gegen das bohrende Verlangen in sich an. Seit sie erwacht war, hatte er sie in seinen Armen gehalten; seine Umarmung war kraftvoll und stark, manchmal sogar herzerwärmend sanft gewesen. Aber heute sehnte sie sich nach heftigeren Zärtlichkeiten.

»Elias und Hannah.« Ein Funkeln trat in seine Augen, die jetzt eine Farbe annahmen, die sie schon einmal im Atelier eines Malers gesehen hatte. Preußischblau. So hieß diese Farbe, Preußischblau. Satt. Exotisch. Irdisch auf eine Art, wie sie es bei einem Engel nie für möglich gehalten hätte, bis der Erzengel von New York in ihr Leben getreten war.

»Du wirst gesund werden, Elena. Und dann werde ich dir zeigen, wie Engel tanzen.«

In diesen nüchtern hervorgebrachten Worten klang unterschwellig eine Verheißung mit, von der sie einen ganz trockenen Mund bekam. »Elias?«, lockte sie mit rauer Stimme.

Er sah sie unverwandt an, seine Lippen waren grausam und sinnlich zugleich. »Er und Hannah sind schon seit Jahrhunderten ein Paar. Obwohl sie mit der Zeit immer mächtiger geworden ist, heißt es, sie sei zufrieden damit, seine Gehilfin zu sein.«

Elena musste eine Weile über dieses veraltete Wort nachdenken. »Der Wind unter seinen Flügeln?«

»Wenn du so willst.« Schlagartig bestand sein Gesicht nur noch aus scharfen Konturen und Kanten – männliche Schönheit in unbarmherziger Reinkultur. »Damit würdest du dir auch nichts vergeben.«

Elena wusste nicht so recht, ob das als Vorwurf oder Befehl gemeint war. »Nein, würde ich nicht.« Noch im Sprechen stand ihr deutlich vor Augen, dass sie all ihre Kraft würde aufbieten müssen, um sich gegen Raphaels unglaubliche Stärke behaupten zu können.

Wieder klopfte er mit dem Umschlag, um es noch spannender zu machen. »Von heute an tickt die Uhr. In etwas mehr als zwei Monaten musst du auf den Beinen und in der Luft sein.«

»Warum?«, fragte sie voll unbändiger Freude.

Preußischblau erstarrte zu schwarzem Eis. »Lijuan gibt dir zu Ehren einen Ball.«

»Meinst du wirklich Zhou Lijuan, die Älteste aller Erzengel?« Im Nu war die Freude verpufft. »Sie ist … anders.«

»Ja. Sie hat eine merkwürdige Entwicklung genommen.« Etwas Dunkles hatte sich in seine Stimme eingeschlichen, Schatten, so dunkel, dass sie beinahe greifbar waren. »Sie ist nicht mehr ganz von dieser Welt.«

Elena verspürte ein Kribbeln auf der Haut. Wenn schon ein Unsterblicher so etwas sagte … »Warum sollte sie einen Ball für mich ausrichten? Sie kennt mich doch überhaupt nicht.«

»Ganz im Gegenteil, Elena. Der gesamte Kader der Zehn weiß von dir – immerhin hatten wir dich engagiert.«

Bei dem Gedanken, dass das mächtigste Gremium der Welt an ihr Interesse hatte, brach Elena der Angstschweiß aus. Dass Raphael dazugehörte, machte die Sache nicht besser. Schließlich wusste sie, wozu er imstande war, über welche Macht er verfügte und wie leicht es für ihn wäre, die Grenze zum wahrhaft Bösen zu überschreiten. »Jetzt sind es nur noch neun«, sagte sie. »Uram ist ja tot. Es sei denn, ihr habt einen Ersatz gefunden, während ich im Koma lag?«

»Nein. Menschenzeit bedeutet uns nur wenig.« Die lässige Gleichgültigkeit eines Unsterblichen. »Lijuan geht es um Macht – sie will meinen kleinen Liebling sehen, meine Achillesferse in Augenschein nehmen.«

2

Seinen Liebling. Seine Achillesferse.

»Sind das ihre Worte oder deine?«

»Spielt das eine Rolle?« Ein gedankenloses Achselzucken. »Es stimmt ja.«

Mit tödlicher Treffsicherheit schleuderte sie das Messer. Raphael fing es in der Luft – an der Schneide. Scharlachrot floss das Blut über seine goldene Haut. »Hast du nicht das letzte Mal geblutet?«, fragte er im Plauderton, ließ das Messer auf den ehemals weißen Teppichboden fallen und ballte die Hand zur Faust. Innerhalb einer einzigen Sekunde brachte er die Blutung zum Stillstand.

»Du hast mich gezwungen, meine Hand um eine Klinge zu schließen.« Immer noch hämmerte ihr Herz angesichts der unglaublichen Geschwindigkeit, mit der er sich bewegen konnte. Gütiger Gott! Und sie hatte diesen Mann mit ins Bett genommen. Begehrte ihn selbst jetzt.

»Hmm.« Er stand auf und kam auf sie zu.

Auch wenn er gesagt hatte, er würde ihr niemals wehtun, in diesem Moment war sie sich dessen nicht so sicher. Sie krallte die Finger ins Laken, er setzte sich zu ihr, bedeckte mit einem Flügel ihre Beine. Warm und ungewohnt schwer fühlte er sich an. Ein Engelsflügel war kein Ziergegenstand, wie sie langsam begriff, Flügel bestanden aus schieren Muskeln, über Knochen gespannten Sehnen, und mussten wie alle Muskeln vor Gebrauch erst einmal trainiert werden. Bislang hatte sie sich in Momenten großer Erschöpfung immer nur darum sorgen müssen, nicht über ihre Füße zu stolpern. Nun musste sie gar befürchten, vom Himmel zu stürzen.

Aber im Moment tanzte eine Gefahr ganz anderer Art vor ihren Augen.

Jetzt sah sie nur noch Blau.

Seit sie Raphael kannte, war Blau für sie zur Farbe der Sünde geworden, der Verführung. Des Schmerzes.

Er lehnte sich vor, strich ihr das Haar mit den Fingern zurück, Fingern, die es verstanden, ihr auf geradezu quälende Weise Genüsse zu verschaffen … und hauchte ihr einen Kuss auf die hämmernde Schläfe. Sie erschauerte und ertappte sich dabei, wie sie ihm durchs Haar fuhr. Wieder küsste er sie, heftiger, und die Wärme, die sie in ihrem Bauch spürte, breitete sich träge in ihrem ganzen Körper aus, überall pochte das Verlangen.

Aus den Augenwinkeln nahm sie etwas Glitzerndes wahr. Und augenblicklich wusste sie, dass er sie mit Engelsstaub bedeckt hatte, einer köstlich dekadenten Substanz, für die manche Menschen Unsummen zahlten. Aber Raphael hatte eine besondere Mischung eigens für sie. Durch das Einatmen der winzigen Teilchen verstärkte sich ihre Erregung noch, bis sie schließlich nur noch an Sex denken konnte; der Schmerz in ihren Flügeln, selbst ihr Ärger, waren wie weggeblasen.

»Ja«, flüsterte er an ihren Lippen. »Du wirst mich bis in alle Ewigkeit faszinieren.«

Eigentlich hätte diese Äußerung nun alles verderben müssen, aber nichts dergleichen geschah. Nicht, wenn in seinen Augen und in seiner Stimme solch erotische Verheißung lag. Unwillkürlich bemühte sie sich, ihn näher an sich heranzuziehen, aber er presste die Lippen aufeinander. »Nicht, Elena. Ich würde dich zerbrechen.« Geradeheraus. Und er hatte recht. »Lies das.« Er legte den Umschlag neben sie und erhob sich. Er breitete seine prächtigen weißen Schwingen aus – jede einzelne Feder hatte eine Spitze aus glänzendem Gold – und brachte sie damit fast zur Ekstase.

»Hör auf damit!« Atemlos klang ihre Stimme, ihr Mund gefüllt mit seinem scharfen männlichen Aroma. »Wann werde ich das auch können?«

»Diese Fähigkeit entwickelt sich erst mit der Zeit, und nicht jeder Engel beherrscht sie.« Er legte seine Flügel wieder zusammen. »In vierhundert Jahren wirst du es vielleicht wissen.«

Ungläubig starrte sie ihn an. »Vierhundert? Jahre?«

»Du bist jetzt unsterblich.«

»Wie unsterblich?« So dumm war die Frage gar nicht, denn, wie sie sehr wohl erlebt hatte, konnten selbst Erzengel sterben.

»Die Unsterblichkeit braucht Zeit zu reifen – sich zu setzen, und du bist gerade erst erschaffen worden. Im Moment könnte dich sogar ein starker Vampir umbringen.« Er legte den Kopf leicht schräg und wandte seine Aufmerksamkeit dem Himmel zu, der jenseits der Scheibe lag, die, wie Raphael ihr versichert hatte, aus Spiegelglas bestand, sodass sie sich von hier aus ungesehen mit ihrer neuen Lebensweise vertraut machen konnte.

»Anscheinend ist die Zufluchtsstätte heute ein beliebter Ort.« Mit diesen Worten schritt er auf die Balkontüren zu. »Wir müssen auf diesen Ball gehen, Elena. Alles andere wäre ein Zeichen tödlicher Schwäche.« Er schloss die Türen hinter sich, breitete die Flügel aus und erhob sich kerzengerade in die Lüfte.

Elena rang nach Atem bei dieser unbeabsichtigten Demonstration seiner Stärke. Jetzt, da sie das Gewicht der Flügel am eigenen Leib spürte, wurde ihr das Besondere von Raphaels Kräften erst bewusst. In einem weiten Bogen glitt er am Balkon vorbei und entschwand. Ihr Herz hämmerte immer noch von der Kombination aus Kuss und Bewunderung, als ihr Blick endlich auf den Briefumschlag fiel.

Die feinen Härchen auf ihrem Arm stellten sich auf, als sie mit den Fingerspitzen über das feste weiße Papier fuhr. Ein unheimliches Gefühl überkam sie – so als sei der Umschlag so kalt, dass nichts ihn wieder warm werden lassen würde. Manche würden es als Grabeskälte bezeichnen.

Elena überlief eine Gänsehaut.

Sie versuchte sie zu ignorieren und drehte den Umschlag um. Zwar war das Siegel beschädigt, doch als sie es zusammenfügte, konnte sie das Bild erkennen. Ein Engel. Natürlich, dachte sie, und konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Der Engel war in schwarzer Tusche ausgeführt, aber warum sollte sie das beunruhigen? Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie das Siegel näher.

»Oh mein Gott.« Die geflüsterten Worte waren ihr ungewollt über die Lippen gekommen, als sie das Geheimnis des Bildnisses entdeckte. Es war eine Sinnestäuschung, ein Trick. Von einem Blickwinkel aus betrachtet, stellte das Siegel einen knienden Engel mit gesenktem Kopf dar. Veränderte man hingegen den Blickwinkel, verwandelte sich der Engel in ein weißknochiges Skelett und sah seinen Betrachter aus leeren Augenhöhlen an.

Sie ist nicht mehr ganz von dieser Welt.

Auf einmal bekamen Raphaels Worte eine völlig neue Bedeutung.

Schaudernd öffnete sie den Umschlag und zog die innen liegende Karte heraus. Sie war aus schwerem beigefarbenem Papier und erinnerte sie an die teuren Grußkarten, die ihr Vater für seine Privatkorrespondenz benutzte. In dunklem Gold zog sich die verschnörkelte Schrift über die Karte. Sie rieb mit dem Finger darüber – warum, wusste sie selbst nicht so recht –, nicht, dass sie echtes von unechtem Gold hätte unterscheiden können. »Würde mich allerdings nicht überraschen.« Lijuan war alt, so alt. Und ein solch mächtiges uraltes Wesen konnte im Laufe des Lebens schon ein beträchtliches Vermögen angehäuft haben.

Irgendwie komisch, obgleich sie oft über Raphaels Macht nachdachte, brachte sie sie nie mit seinem hohen Alter zusammen. Er strahlte eine Lebendigkeit aus, die sie gar nicht auf den Gedanken brachte. Strahlte … Menschlichkeit aus? Nein. Raphael war kein Mensch, nicht einmal annäherungsweise.

Aber so wie Lijuan war er auch nicht.

Ihr Blick wanderte wieder zu der Karte zurück.

Raphael, ich lade dich in die Verbotene Stadt ein. Heißen wir diesen Menschen willkommen, den du so bereitwillig angenommen hast. Lass uns die Schönheit der Verbindung aus Unsterblichkeit und ehemaliger Sterblichkeit bewundern. Schon seit Millennien hat mich nichts mehr so fasziniert.

Zhou Lijuan

Elena wollte kein Gegenstand von Lijuans Faszination sein. Eigentlich wollte sie nicht einmal in die Nähe der anderen Kadermitglieder kommen. Meist war sie ja sicher, dass Raphael sie nicht töten würde. Aber was die anderen betraf … »Zum Teufel!«

Mein kleiner Liebling.

Meine Achillesferse.

Sie mochte die Worte abtun, doch das änderte nichts an ihrer Richtigkeit. Wenn der Erzengel von New York sie wirklich liebte, konnte sie genauso gut eine Zielscheibe auf dem Rücken tragen.

Wieder sah sie ihn vor sich, das Gesicht blutüberströmt, die Flügel zerfetzt; ein Erzengel, der den Tod statt des ewigen Lebens wählte. Immer würde sie daran denken, und obwohl sich alles in ihrem Leben gerade änderte, gab ihr diese Gewissheit doch Halt.

»Nicht alles«, murmelte sie und griff nach dem Telefon. Denn wenngleich der Ort hier aussah, als stammte er aus längst vergangenen Zeiten, in denen es von Rittern und Herzogen nur so wimmelte, entsprach alles dem neuesten Standard. Was nicht weiter verwunderlich war, wenn sie so darüber nachdachte – schließlich hätten die Engel nicht Äonen überleben können, weil sie sich an die Vergangenheit geklammert hatten. Der Erzengelturm in New York mit seiner hoch in die Wolken aufragenden Silhouette war das beste Beispiel dafür.

Während es am anderen Ende der Leitung klingelte, ertappte sie sich dabei, wie sie durch die Balkontüren nach draußen sah und nach dem wundervollen Wesen Ausschau hielt, das über jenen Turm herrschte und das sie kühn ihren Liebsten nannte.

Das Läuten hörte auf. »Hallo, Ellie.« Eine krächzende Stimme, gefolgt von einem hörbaren Gähnen.

»Mist, ich habe dich geweckt.« Sie hatte den Zeitunterschied zwischen dem Ort hier – wer wusste schon, wo er lag – und New York vergessen.

»Macht nichts – wir sind schon früh ins Bett gegangen. Warte mal kurz.« Geraschel, ein leises Schnappgeräusch, und dann war Sara am Apparat. »So schnell habe ich Deacon noch nie zurück ins Bett schlüpfen sehen – auch wenn er irgendetwas wie ›hi, Ellie‹ gemurmelt hat. Ich glaube, unsere Kleine hat ihn gestern die letzte Kraft gekostet.«

Bei dem Gedanken, dass Saras furchteinflößender Teufelskerl von Mann von der kleinen Zoe fertiggemacht wurde, musste Elena lächeln. »Habe ich sie geweckt?«

»Nein, die ist auch völlig erledigt.« Flüsternd sagte sie: »Ich habe gerade nachgeschaut und gehe jetzt ins Wohnzimmer.«

Sofort hatte sie Saras Wohnzimmer vor Augen; von den eleganten karamellfarbenen Sofas, die dem Raum Wärme verliehen, bis zu dem großen Schwarz-Weiß-Porträt von Zoe, auf dem ihr lachendes Gesicht voll Badeschaum ist. Abgesehen von ihrer eigenen Wohnung war dieses rotbraune Sandsteinhaus für sie mehr Heimat als jeder andere Ort. »Sara, was ist mit meiner Wohnung?« Als Sara sie vor zwei Tagen in der Zufluchtsstätte besucht hatte, hatte sie vergessen, danach zu fragen. Sie war zu sehr mit den blutigen Bildern des Todes beschäftigt gewesen … und dann war sie auch noch mit diesen Mitternachtsflügeln aufgewacht.

»Tut mir leid, Schätzchen.« In Saras Stimme klangen schmerzliche Erinnerungen nach. »Nach … allem hat Dmitri den Zugang versperrt. Mir war mehr daran gelegen herauszufinden, wo sie dich hingebracht hatten, also habe ich die Sache nicht weiterverfolgt.«

Als Elena ihre Wohnung das letzte Mal gesehen hatte, hatte in der Wand ein riesiges Loch geklafft, und alles war nass und blutbesudelt gewesen. »Ich mache dir keinen Vorwurf«, sagte sie und unterdrückte den Schmerz in ihrem Herzen, wenn sie an ihr Heim dachte, an all ihre verlorenen oder verwüsteten Schätze. »Du hattest schließlich mehr als genug zu tun.« In New York war es während des Kampfes Erzengel gegen Erzengel stockdunkel geworden, die Stromleitungen waren zerstört und die Starkstrommasten überlastet gewesen, weil Uram und Raphael der unter ihnen liegenden Stadt die Energie entzogen hatten.

Aber nicht nur das Stromnetz war der verheerenden Schlacht zwischen den beiden Unsterblichen zum Opfer gefallen. Vor ihrem inneren Auge sah sie Bilder von zerstörten Häusern, demolierten Autos und sogar von verbogenen Propellern, also musste es auch mindestens einen Hubschrauberlandeplatz erwischt haben.

»Es hat schlimm ausgesehen«, gab Sara zu, »aber der Großteil des Schadens ist bereits behoben. Raphaels Leute haben sich um alles gekümmert. Bei den Bauarbeiten haben sogar Engel mitgeholfen – wahrhaftig kein alltäglicher Anblick.«

»Kräne haben sie dann wohl nicht gebraucht.«

»Nein. Ich hatte ja keine Ahnung, wie stark Engel sind, bis ich gesehen habe, wie sie einige dieser Gesteinsbrocken angehoben haben.« Dann trat eine Stille ein, die erfüllt war mit unausgesprochenen Gefühlen. Elena hatte einen Kloß im Hals. »Morgen sehe ich mal nach deiner Wohnung«, sagte Sara endlich, und ihre Stimme klang sehr beherrscht, »und sage dir dann, wie es aussieht.«

Elena musste schwer schlucken, wünschte, Sara wäre bei ihr, sodass sie ihre Hände nach ihr ausstrecken und ihre beste Freundin umarmen könnte. »Danke, ich sage Dmitri, er soll seinen Leuten Bescheid geben, dass du kommst.« Auch wenn sie sich alle Mühe gab, ruhig zu bleiben, fragte sie sich dennoch, ob von den Andenken, den kleinen Dingen, die sie auf ihren Reisen als Jägerin gesammelt hatte, irgendwelche überlebt hatten.

»Ha! Mit denen nehme ich es allemal auf.« Ein dünnes Lachen. »Ach, Ellie. Mir fällt jedes Mal ein Stein vom Herzen, wenn ich deine Stimme höre.«

»Die wirst du noch eine ganze Weile zu hören bekommen – ich bin ja unsterblich«, scherzte sie, denn noch war sie nicht imstande, das Ausmaß ihres neuen Lebens zu begreifen. Jäger im Einsatz starben jung. Sie lebten keine Ewigkeit.

»Ja. Du wirst noch da sein und dich um meine Kleine und ihre Kleinen kümmern, wenn ich schon längst nicht mehr lebe.«

»Darüber will ich jetzt nicht reden.« Es gab ihrem Herzen einen Stich, sich eine Zukunft ohne Sara, Ransom und Dean vorzustellen.

»Du Dummerchen. Es ist eine wundervolle – Gabe.«

»Da bin ich nicht so sicher.« Sie erklärte Sara ihre Überlegungen hinsichtlich ihres Wertes als Geisel. »Hältst du mich für übergeschnappt?«

»Nein.« Jetzt kam bei ihrer Freundin wieder die beinharte Gildedirektorin durch. »Deshalb habe ich auch Viveks besondere Pistole in die Tasche mit den Waffen gelegt, die auf dem Weg zu dir ist.«

Elena ballte die Fäuste.

Beim letzten Mal, als sie die Waffe benutzt hatte, war Raphaels Blut in nicht enden wollenden roten Strömen auf ihren Teppich geflossen, und Dmitri hatte ihr fast die Kehle aufgeschlitzt. Aber nichts davon, dachte sie, während sie die Fäuste langsam wieder öffnete, minderte den Wert einer Waffe, die dazu bestimmt war, Flügel kampfuntauglich zu machen, nicht – ihr Blick wanderte aus dem Fenster hinaus zum Himmel empor –, wenn sie an einem Ort wie diesem von Unsterblichen umgeben war, wo es aus allen Ecken wispernd um Dinge ging, die kein menschliches Wesen wissen durfte. »Danke. Auch wenn du mir die ganze Chose erst eingebrockt hast.«

»He. Ich habe dich auch stinkreich gemacht.«

Elena blinzelte, versuchte ihre Stimme wiederzufinden.

»Das hast du ganz vergessen, nicht wahr?« Sara lachte.

»Ich war zu sehr damit beschäftigt im Koma zu liegen«, würgte Elena mühsam hervor. »Raphael hat mich bezahlt?«

»Bis auf den letzten Cent.«

Sie brauchte einen Moment, um das zu begreifen. »Mann!« Die Anzahlung war bereits mehr gewesen, als sie jemals in ihrem gesamten Leben zu verdienen gehofft hatte. Und die hatte gerade mal fünfundzwanzig Prozent der Gesamtsumme betragen. »Stinkreich scheint mir untertrieben.«

»Ja. Aber letztendlich hast du den Auftrag, für den er dich engagiert hatte, zu Ende gebracht. Ich vermute, es hatte etwas mit dem Kampf gegen Uram zu tun.«

Elena biss sich auf die Unterlippe. Hinsichtlich der Weitergabe von Informationen über das sadistische Monster, das so viele gequält und getötet hatte, waren Raphaels Anweisungen sehr klar gewesen: Jeder Mensch, dem sie davon erzählte, würde sterben. Ausnahmslos. Vielleicht lagen die Dinge jetzt anders, aber sie wollte auf der Grundlage einer Beziehung, die sie selbst nicht recht verstand, keinesfalls das Leben ihrer besten Freundin aufs Spiel setzen. »Ich darf es dir nicht sagen, Sara.«

»Alles andere erzählst du mir, aber dieses Geheimnis behältst du für dich?« Sara klang gar nicht beleidigt, eher neugierig. »Interessant.«

»Bitte, bohre nicht nach.« Als sich die Bilder von Urams Gräueltaten wie eine Diaschau in ihr Bewusstsein drängten, drehte sich ihr der Magen um. Dieses letzte Zimmer … der Gestank verwesenden Fleisches, das Glitzern blutbesudelter Knochen, der schleimige Brei zweier Augen, die Uram einem sterbenden Vampir ausgerissen hatte.

Sie wappnete sich gegen das bittere Brennen der Galle in ihrer Kehle, bemüht, die ganze Besorgnis, die sie empfand, in ihre Stimme zu legen. »Das wäre ganz schlecht.«

»Ich habe doch keine Todessehnsu… ah, Zoe ist wach.« Die Liebe zu ihrer Tochter klang aus jeder Silbe. »Und Dean auch, so wie es aussieht. Zoe braucht nur kurz zu jammern, schon wacht Daddy auf. Nicht wahr, meine Süße?«

Elena machte einen tiefen Atemzug. Die freundlichen Bilder, die Saras Worte in ihr auferstehen ließen, verscheuchten alle Gedanken an Urams Verderbtheit. »Mit euch wird es ja auch Tag für Tag schlimmer.«

»Meine Kleine ist schon fast eineinhalb, Ellie«, flüsterte Sara. »Ich möchte, dass du sie mal siehst.«

»Das werde ich auch.« Und das war ein Versprechen. »Ich werde lernen, wie man die Flügel benutzt, auch wenn es mich umbringt.« Während sie das sagte, fiel ihr Blick wieder auf Lijuans Einladung, und der Tod legte seine knöcherne Hand um ihre Kehle.

3

Doch nur eine Woche nach ihrem Gespräch mit Sara dachte Elena mehr an Rache als an den Tod. »Ich wusste ja, dass Sie auf Schmerz stehen, aber nicht, dass Sie ein Sadist sind«, sagte sie zu Dmitri, der mit dem Rücken zu ihr stand, während sie ihre müden Knochen im Becken einer Thermalquelle badete, zu der sie der Vampir gebracht hatte – nachdem er sie, angeblich um ihre Muskulatur zu kräftigen, eine Stunde lang mit Übungen gequält hatte, bis ihr das Wasser in den Augen gestanden hatte. Er hatte sie fast dorthin tragen müssen.

Dmitri wandte sich um und blickte sie aus seinen dunklen Augen durchdringend an, Augen, die einen Unschuldigen in Versuchung und einen Sündigen direkt in die Hölle führen konnten. »Wann«, murmelte er mit einer Stimme, die von verschlossenen Türen und übertretenen Tabus kündete, »habe ich Ihnen je Anlass zu Zweifeln gegeben?«

Ein liebkosender Hauch schlich sich über ihre Lippen, zwischen ihre Beine, ihren Rücken hoch.

Mit jeder Pore reagierte sie auf seinen kraftvollen Duft, ein Duft, der auf eine geborene Jägerin wie ein Aphrodisiakum wirkte. Doch bat sie nicht um Gnade, weil sie sehr wohl wusste, dass ihm dann ihre unvorteilhafte Lage noch mehr Vergnügen bereiten würde. »Was machen Sie hier eigentlich? Müssten Sie nicht in New York sein?« Er war der Anführer von Raphaels Sieben, einer festen Gemeinschaft von Vampiren und Engeln, die Raphael beschützten – sogar gegen Bedrohungen, die ihm selbst manchmal unbekannt waren.

Elena war überzeugt davon, dass Dmitri sie eiskalt hinrichten würde, wenn er sie eines Tages für ein zu hohes Sicherheitsrisiko hielte. Vielleicht würde Raphael den Vampir anschließend dafür töten, doch wie Dmitri einst so treffend gesagt hatte: Sie wäre dennoch tot. »Bestimmt weint sich irgendein Groupie Ihretwegen gerade die Augen aus.« Unweigerlich musste sie an jene Nacht im Turm denken, die sie im Trakt der Vampire verbracht hatte: Dmitris Kopf über den zarten Hals einer kurvenreichen Blondine gebeugt, die pure Lust und Sinnlichkeit verströmte.

»Sie brechen mir das Herz«, sagte er mit einem falschen Lächeln, Ausdruck von Belustigung eines Vampirs, der so alt war, dass Elena die vielen Jahre wie ein schweres Gewicht auf sich spürte. »Wenn Sie sich nicht vorsehen, muss ich ja den Eindruck gewinnen, Sie könnten mich nicht leiden.« Ohne mit der Wimper zu zucken, zog er sich sein dünnes Hemd aus – und draußen lag Schnee, zum Donnerwetter noch mal – und machte sich am obersten Knopf seiner Hose zu schaffen.

»Haben Sie vor, heute noch zu sterben?«, fragte sie im Plauderton. Denn Raphael würde Dmitri das Herz herausreißen, wenn er sie anrührte. Obgleich das nicht nötig sein würde, da sie dem Erzengel ganz sicher bereits zuvorgekommen wäre. Mit seinem Duft konnte Dmitri zwar ihren Körper durch heftiges Verlangen quälen, aber sie würde sich nicht bezwingen lassen. Nicht von diesem Vampir. Und auch nicht von dem Mann, den er Sire nannte.

»Das Becken ist groß genug«, sagte er und stieg aus der Hose.

Bevor sie die Augen schloss, erhaschte sie noch einen Blick auf einen glänzenden Schenkel. Nun denn, dachte sie bei sich, verärgert darüber, dass ihr das Blut in die Wangen schoss, zumindest waren jetzt alle Fragen bezüglich seiner Hautfarbe geklärt: Dmitri war nicht von der Sonne gebräunt. Der exotische Honigton seiner Haut war angeboren … und makellos.

Wasserspritzer kündigten sein Eintauchen an. »Sie können die Augen jetzt wieder aufmachen, Jägerin.« Nichts als Hohn und Spott.

»Warum sollte ich?« Stattdessen wandte sie ihren Blick dem atemberaubenden Bergpanorama zu. Jägerinnen und Jäger waren im Allgemeinen nicht gerade prüde, doch Elena wählte ihre Freunde mit Bedacht. Und wenn es darum ging, wem sie sich nackt – verwundbar – zeigte, war die Liste noch viel kürzer. Dmitri zählte in keiner Weise zu diesen Auserwählten.

Während sie die schneebedeckten Bergspitzen betrachtete, ließ sie ihn keine Sekunde aus den Augen. Nicht, dass sie etwa einen Angriff von ihm überleben würde, nicht in ihrer momentanen körperlichen Verfassung, aber deswegen musste sie ja nicht unbedingt eine leichte Beute für ihn sein. Pelz und Diamanten, Sex und Vergnügen. Der Duft schmiegte sich an sie wie tausend seidene Fesseln, doch sie hätten sie nicht halten können. Viel mehr Sorgen bereitete ihr sein Blick: ein Raubtier auf Beutejagd.

Nach einer Minute endlich zuckte er die Achseln und legte den Kopf in den Nacken, die Arme hatte er um den felsigen Rand des Naturbeckens gelegt. Er war, wie sie zugeben musste, auf verderbte Weise sexy. Dunkle Augen, dunkles Haar, ein Mund, der gleichermaßen Schmerz und Lust versprach. Doch außer dieser Anziehungskraft, die sie sich widerstrebend eingestand, spürte sie nicht das Geringste. Das Blau war ihre Bestimmung und Erlösung.

Dunkle Schokolade hüllte sie ein.

Köstlich. Unwiderstehlich. Jedoch nicht sanft.

»Stellen Sie es ab«, zischte sie ihn an. Ihr Körper versteifte sich, ihre Brüste schwollen lustvoll an, triebhaft, willenlos.

»Ich entspanne mich bloß.« Ärger, übertüncht von männlicher Arroganz – nicht weiter verwunderlich, wenn man bedachte, wen Dmitri Sire nannte. »Und das kann ich nicht, wenn ich mich gleichzeitig auf einen anderen wichtigen Teil meines Körpers konzentrieren muss.«

Noch bevor Elena auf die Erklärung, die sie nicht so recht überzeugt hatte, reagieren konnte, bemerkte sie vor sich im Wasser eine himmelblaue Feder mit silberfarbenen Spitzen. Bei diesem Anblick musste sie an einen anderen Tag denken, an eine andere Feder, in Raphaels Hand, aus der silberblauer Staub rieselte, während seine Augen vor Besitzgier funkelten. Während diese Erinnerung ihr half, gegen Dmitris sinnliche Verführungskünste anzukämpfen, hörte sie auf einmal das unverwechselbare Geräusch raschelnder Flügel hinter sich. »Hallo, Illium.«

Der Engel umrundete das Becken und ließ sich zu ihrer Rechten nieder, tauchte seine Beine samt Jeans ins Wasser. Tatsächlich waren Jeans das Einzige, was er und viele andere der männlichen Engel in der Zufluchtsstätte trugen; seine nackte, muskulöse Brust bot er den Strahlen der Sonne dar. »Hallo, Elena.« Mit seinen atemberaubenden goldenen Augen blickte er von ihr zu Dmitri. »Habe ich etwas verpasst?«

»Ich habe zum hunderttausendsten Mal gedroht, ihn umzubringen«, teilte ihm Elena mit. Sie hatte einen der am Beckenrand liegenden Steine ergriffen, dessen spitze Kanten sich in ihre Hand bohrten, während sie gleichzeitig gegen den inneren Zwang ankämpfte, Dmitris Duft in sich aufzusaugen, bis dieser Duft alles war, was sie ausmachte, alles, was sie sein wollte. Der Vampir verhöhnte sie mit seinen Blicken, eine stumme Kampfansage. Sexuelle Anziehung hin oder her, hier ging es nicht um Sex. Es ging um ihr Recht, an Raphaels Seite zu sein. »Und er hat mich windelweich geprügelt«, vollendete sie ihren Gedanken, dabei klang ihre Stimme ganz ruhig, auch wenn ihr Körper vor Erregung bebte.

»In gewissen Kreisen«, murmelte Illium, der Wind zauste ihm das schwarze Haar, das an seinen Spitzen bläulich schimmerte, »gilt das als Vorspiel.«

Dmitri lächelte. »Elena macht sich nichts aus meiner Art von Vorspiel.« In seinen Augen glomm die Erinnerung an Blut und Stahl auf. »Obwohl sie schon einmal …«

Der Geruch der See, ein wilder, tosender Sturm bahnte sich krachend seinen Weg in ihre Gedanken. Elena, warum ist Dmitri nackt?

Auf dem Becken begann sich eine Eisschicht zu bilden.

»Raphael, nein!«, sagte sie laut. »Ich werde ihm nicht das Vergnügen machen und vor seinen Augen erfrieren!«

Das hätte ich auch niemals zugelassen. Das Eis bildete sich zurück. Mir scheint, ich muss einmal ein ernstes Wort mit Dmitri reden.

Sie zwang sich, in Gedanken mit ihm zu kommunizieren, wenngleich ihr das Sprechen näherlag, ihr Herz, ihre Seele waren unabänderlich die eines Menschen. Nicht nötig. Ich werde schon mit ihm fertig.

Wirklich? Vergiss niemals, dass er Jahrhunderte Zeit hatte, an seinen Kräften zu arbeiten. Eine vorsichtige Warnung. Wenn du ihn zu sehr provozierst, wird einer von euch sterben.

Sie verstand ihn recht gut. Wie ich schon sagte, Erzengel, meinetwegen musst du niemanden umbringen.

Als Antwort schickte er ihr eine kühle Brise, der Fußabdruck eines Unsterblichen. Er ist der Anführer meiner Sieben. Er ist loyal.

Was er ungesagt ließ, hatte sie schon längst erahnt – dass nämlich Dmitris Loyalität ihrem Todesurteil gleichkam. Ich trage meine Kämpfe selbst aus. Das lag in ihrem Wesen, das untrennbar mit der Fähigkeit verknüpft war, selbst für sich einzutreten.

Selbst wenn du keine Chance hast zu siegen?

Ich habe es dir schon einmal gesagt, lieber sterbe ich als Elena, als ein Schattendasein zu führen. Mit diesen Worten – Worten, die trotz ihrer Unsterblichkeit immer wahr bleiben würden – wandte sich Elena von ihm ab und widmete sich wieder Dmitri. »Haben Sie Raphael nicht vielleicht eine Kleinigkeit vorenthalten?«

Achselzuckend warf der Vampir einen vielsagenden Blick auf den Engel zu ihrer Rechten. »An Ihrer Stelle würde ich mir mehr Sorgen um seine blauen Federn machen.«

»Ich glaube, Illium kann ganz gut auf sich selbst aufpassen.«

»Nicht, wenn er weiter so mit Ihnen flirtet.« Auf eine zarte, beinahe elegante Art umfing sie der heiße Duft von Sekt und Sonnenschein. »Raphael teilt nicht gerne.«

Sie heftete ihren Blick auf ihn, versuchte die rumorende Hitze in ihrem Unterleib zu ignorieren, eine Hitze, die Dmitri absichtlich in ihr entfacht hatte. »Vielleicht sind Sie bloß eifersüchtig.«

Illium bekam einen Lachanfall, doch Dmitri ließ sich davon nicht ablenken. »Ich schlafe lieber mit Frauen, die weniger kratzbürstig sind.«

»Ihre Worte brechen mir fast das Herz.«

Illium bekam einen solchen Lachanfall, dass er beinahe ins Wasser gefallen wäre. »Nazarach ist da, Dmitri«, brachte er endlich heraus, dabei ließ er eine Haarsträhne von Elena durch die Finger gleiten. »Er will mit dir über eine Zusatzklausel als Bestrafung bei einem Fluchtversuch sprechen.«

Dmitris Gesicht war nichts anzumerken, als er sich mit der ihm von Natur aus gegebenen sinnlichen Anmut aus dem Wasser erhob. Diesmal behielt Elena die Augen offen, sie wollte in diesem stummen Kampf nicht klein beigeben. Dmitris Körper, das war glatte, honiggoldene Haut über harten Muskeln, die sich nun, da er sich die Hose anzuziehen begann, anspannten.

Als er den Reißverschluss zuzog, trafen sich ihre Blicke, der Duft von Pelz und Diamanten und das unverwechselbare moschusartige Aroma von Sex legten sich um Elenas Hals wie eine Kette … oder eine Schlinge. »Bis zum nächsten Mal.« Der Duft verflüchtigte sich. »Gehen wir.« Das war ein Befehl, und er galt Illium.

Elena fand es nicht weiter verwunderlich, dass Illium sofort aufstand und sich mit einem kurzen Abschiedsgruß auf den Weg machte. Der blaugeflügelte Engel mochte sich manchmal mit Dmitri anlegen, aber es war ganz klar, dass Illium – wie auch die übrigen Mitglieder der Sieben, zumindest die, die Elena bislang kennengelernt hatte – ihm bedingungslos folgen würde. Und für Raphael würde jeder Einzelne von ihnen jederzeit sein Leben aufs Spiel setzen.

Im Wasser bildeten sich kleine, kräuselnde Wellen, als ein Engel landete.

Seeluft, Regen – auf Elenas Zunge breitete sich ein frischer, wilder Geschmack aus.

Ihre Haut spannte, als sei sie auf einmal zu eng geworden für die Hitze, die in ihr aufstieg. »Bist du gekommen, um mich zu quälen, Erzengel?« Von Anfang an hatte sie instinktiv auf seinen Geruch reagiert, auch als sie noch kein Liebespaar waren. Jetzt …

»Selbstverständlich.«

Doch als sie sich zu ihm umdrehte und sah, wie er am Beckenrand kauerte, setzte ihr Herz einen Schlag lang aus. »Was ist los?«

Raphael streckte die Hand nach ihr aus und nahm ihr die Silberringe aus den Ohren. »Die entsprechen nicht mehr den Tatsachen.« Er schloss die Hand um sie, und als er sie wieder öffnete, rieselte glänzender Silberstaub auf das dampfende Wasser.

»Oh.« Einfaches Silber war für die Ledigen – Männer wie Frauen. »Ich hoffe, du hast Ersatz mitgebracht«, sagte sie und drehte sich zu ihm um – ihre Flügel waren herrlich mit Wasser vollgesogen –, sodass sie sich mit den Armen an der Felskante abstützen und ihn ansehen konnte. »Die hatte ich in Marrakesch auf einem Markt gekauft.«

Er öffnete die andere Hand und ein neues Paar glänzender Creolen kam zum Vorschein. Ebenso klein, ebenso praktisch für eine Jägerin, aber diese aus wunderschönem Naturbernstein. »Jetzt bist du rechtmäßig gebunden«, sagte er und legte ihr die Ringe an.

Sie starrte auf seinen Ringfinger, leidenschaftliche Besitzgier wütete in ihr. »Wo ist dein Bernstein?«

»Du hast mir noch keinen Ring geschenkt.«

»Zieh irgendeinen an, bis ich Gelegenheit habe, dir einen zu besorgen.« Denn er war ebenso wenig ungebunden, ebenso wenig verfügbar für jene, die alles tun würden, um mit einem Erzengel zu schlafen. Er gehörte zu ihr, einer Jägerin. »Ich möchte unseren Teppich nicht mit dem Blut all dieser dümmlichen Vampirflittchen tränken.«

»Du bist eine wahre Romantikerin, Elena.« Sein Tonfall war ganz normal, auch sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, doch sie wusste, dass er leise in sich hineinlachte.

Also spritzte sie ihn nass. Oder versuchte es zumindest. Das Wasser zwischen ihnen gefror, eine Skulptur schillernder Tropfen. Eine ungewöhnliche Gabe, die Einblick in das Herz des kleinen Jungen gewährte, der Raphael einmal gewesen sein musste. Elena streckte die Hand danach aus, berührte das gefrorene Wasser … und musste feststellen, dass es gar nicht gefroren war. Voller Verwunderung fragte sie: »Wie hast du das gemacht?«

»Das ist ein ganz einfacher Trick.« Eine leichte Brise zauste ihm zärtlich das Haar, und das Wasser legte sich wieder. »Wenn du ein wenig älter bist, wirst du solche Kleinigkeiten auch beherrschen.«

»Wie alt bin ich denn, in Engelsjahre umgerechnet?«

»Also bei uns gelten 29-Jährige als Säuglinge.«

Mit den Fingern fuhr sie ihm über die Innenseite seiner Schenkel, voller Vorfreude zog sich ihr Bauch zusammen. »Ich glaube nicht, dass du mich als Säugling betrachtest.«

»Das stimmt.« Seine Stimme war um ein paar Oktaven tiefer geworden, und sein Geschlecht drängte mit Macht gegen den festen schwarzen Stoff seiner Hose. »Aber dennoch glaube ich, dass du noch nicht ganz gesund bist.«

Sie schaute auf, ihr Körper glänzte vor Bereitschaft. »Sex ist entspannend.«

»Nicht die Art von Sex, die mir vorschwebt.« Die ruhigen Worte und weißen Blitze in seinen Augen erinnerten Elena daran, dass sie gerade versuchte, niemand Geringeren als den Erzengel von New York zur Lasterhaftigkeit zu verführen.

Aber sie hatte das erste Mal auch nicht klein beigegeben. »Komm zu mir ins Wasser.«

Er erhob sich und umrundete das Becken, bis er hinter ihr stand. »Wenn du mir dabei zusiehst, Elena, breche ich noch mein Versprechen.«

Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich umzudrehen, die Versuchung, die von seinem aufregend männlichen Körper ausging, war einfach zu groß, doch dann sagte er auf einmal: »Ich könnte dich allzu leicht verletzen.«

Und zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie nicht die Einzige war, die mit einer neuen und nicht einschätzbaren Situation fertig werden musste. Reglos saß sie da und lauschte, wie seine Stiefel mit einem dumpfen Aufprall im Schnee landeten, nahm das vertraute Geräusch wahr, als er sich die Kleidung vom Körper streifte. Im Geiste sah sie die gebündelte Kraft seiner Schultern und Arme vor sich, sie sehnte sich danach, ihm über den flachen Bauch und die muskulösen Schenkel zu streicheln.

Sie presste ihre eigenen Schenkel zusammen, als das Wasser von einem viel größeren und stärkeren Körper als dem ihren in Bewegung versetzt wurde. Als er näher kam, hielt sie die Luft an, bis er vor ihr stand und sich zu beiden Seiten von ihr am Beckenrand abstützte. Sie atmete tief durch und breitete die Flügel aus, damit er sich an sie lehnen konnte. »Raphael, das macht es nicht gerade einfacher.«

Sein Geschlecht war heiß, wie eine lebendige Fackel drängte es sich pochend an ihren Leib, während die Erregung von ihren Flügeln pfeilschnell zu ihrer samtweichen feuchten Mitte schoss. Nur Sekunden später spürte sie seine Lippen an ihrem Ohr. »Du folterst mich, Elena.« Zähne bissen unsanft zu.

Vor Schreck entfuhr ihr ein spitzer Schrei. »Was machst du?«

»Ich lebe seit über einem Jahr enthaltsam, Gildenjägerin.« Eine große Hand legte sich um ihre Brust, fordernd, unverwechselbar männlich. »Ungestillte Bedürfnisse überwältigen mich.«

»Hast du dich etwa nicht tief in ein Vampirliebchen versenkt, während ich im Koma lag?«

Raphael kniff ihr gerade fest genug in die Brustwarze, um ihr unmissverständlich klarzumachen, dass sie eine Grenze überschritten hatte. »Du hältst mich für so wenig ehrenhaft?« Eis hing in der Luft.

»Ich bin eifersüchtig und frustriert«, sagte sie und legte ihm zärtlich die Hand an die Wange. »Und ich weiß, dass ich nicht schön aussehe.« Im Gegensatz zu Vampiren, die, wenn sie die ersten Lebensjahrzehnte hinter sich gelassen hatten, einfach fantastisch aussahen, mit ebenmäßiger Haut und glatten, geschmeidigen Körpern. Deshalb schafften es auch nur ganz wenige Menschen in das Bett eines Engels – die Konkurrenz war einfach übermächtig.

Raphael strich ihr über die Hüfte. »Stimmt, du hast abgenommen, aber ich will dich immer noch nehmen bis zur Besinnungslosigkeit.«

4

Einen Moment lang setzte ihr Verstand aus. Als sie wieder sprechen konnte, brachte sie die Worte mehr gehaucht hervor: »Du willst mich umbringen.«

Er kniff so fest in ihre Brust, erregte sie so sehr, dass die Lust beinahe zu Schmerz wurde. »Das ist eine viel bessere Strafe, als dich langsam in Stücke zu reißen.«

»Sex mit einer Toten macht sich wohl nicht so gut?«

»Ganz genau.«

Ihre Haut stand in Flammen, als er mit beiden Händen ihren Rücken hinabstrich und fest über ihr Hinterteil fuhr. »Bei dir bin ich mir die meiste Zeit nicht sicher, ob du es ernst meinst.«

Er unterbrach seine erotische Marter kurz. »Willst du das nicht lieber für dich behalten? Das ist eine Schwäche.«

»Irgendjemand muss doch den ersten Schritt tun.« Sie hob den Fuß und begann ihn über seine Waden zu reiben.

Seine Lippen auf ihrer Halsschlagader. »Diese Art von Ehrlichkeit wird dir unter Engelsgleichen nicht gerade zum Vorteil gereichen.«

»Und bei dir?«

»Ich bin es gewöhnt, Wissen einzusetzen, um meine Macht zu wahren.«

Elena legte das Kinn auf die Hände und ließ ihn die Knötchen in ihrem Rücken, entlang der Ränder, wo ihre Flügel angewachsen waren, wegmassieren. Es fühlte sich göttlich an – so gut, dass sie von jetzt ab keinen anderen Mann mehr an sich heranlassen würde, nicht einmal einen guten Freund. Es käme ihr wie Verrat am eigenen Körper vor. »Du bist aber auch gar nicht arrogant.«

»Zwischen uns«, sagte er bedächtig, als müsse er sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen lassen, »ist das vielleicht auch keine Schwäche, sondern eher eine Stärke.«

Überrascht wandte sie den Kopf. »Im Ernst? Dann erzähl mir etwas von dir.«

Als er die Daumen in eine besonders verhärtete Stelle bohrte, stöhnte sie laut auf. »Herr, erbarme dich!«

»Den Herrgott solltest du nicht um Erbarmen bitten.« In seiner Stimme lag ein besitzergreifender Unterton, der ihr allmählich vertraut wurde. »Was möchtest du denn gern wissen?«

Elena legte gleich mit der erstbesten Frage los, die ihr in den Sinn kam. »Leben deine Eltern noch?«

Alles um sie herum schien zu erstarren. Die Wassertemperatur sank so rapide, dass ihr vor Erstaunen fast die Luft wegblieb, ihr Herz schlug vor Angst wie wild. »Raphael!«

»Ich muss mich schon wieder entschuldigen.« Sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Hals, das Wasser wurde wieder wärmer, bis ihre Hautfarbe nicht mehr in Leichengrau überzugehen drohte. »Mit wem hast du dich denn darüber unterhalten?«

Vielleicht war die Wassertemperatur wieder tropisch, seine Stimme hingegen blieb arktisch. »Mit niemandem. Nach den Eltern zu fragen ist doch nichts Ungewöhnliches.«

»Bei meinen Eltern schon.« Heftig drückte er sie an sich, schlang die Arme um ihre Taille.

Elena hatte das seltsame Gefühl, dass er bei ihr Trost suchte. Bei einem Wesen von solch unvorstellbarer Macht, einer Macht, die für Elena unvorstellbar war, war es in der Tat ein verwegener Gedanke, aber sie erwiderte seine Umarmung sogleich, ließ sich vertrauensvoll im Wasser von ihm halten. »Tut mir leid, wenn ich alte Wunden aufgerissen habe.«

Alte Wunden.

Ja, dachte Raphael bei sich, während er den Duft dieser wilden, ungezügelten Jägerin einsog. Er hatte sich gefragt, welchen Einfluss Elena wohl auf ein Volk von Unsterblichen haben würde – die Sterbliche, die ihn auch noch als Unsterbliche ein kleines bisschen menschlicher machte. Und nach wie vor war er gespannt darauf, was sie noch alles mit ihm anstellen würde.

»Mein Vater«, sagte er zu seiner eigenen Überraschung, »ist schon vor langer Zeit gestorben.«

Ein Flammenmeer, der Wutschrei seines Vaters, die Tränen seiner Mutter. Ein salziger Geschmack auf den Lippen. Seine eigenen Tränen. Er hatte weinend dabei zugesehen, wie seine Mutter seinen Vater getötet hatte. Er war noch ein Junge gewesen, ein richtiges Kind, selbst für einen Engel.

»Tut mir leid.«

»Das ist schon eine Ewigkeit her.« Und er dachte auch nur sehr selten daran, nur in Momenten, in denen seine Abwehr schwach war. Elena hatte ihn überrumpelt. Vor seinem inneren Auge stiegen die letzten Bilder noch einmal auf, nicht von seinem Vater, sondern von seiner Mutter, wie sie leichtfüßig über das mit dem Blut ihres Sohnes besudelte Gras schwebte. Sie war so schön und so begabt gewesen, dass Engel um sie gekämpft und für sie ihr Leben gelassen hatten. Selbst am Schluss noch, als sie sich gurrend über seinen gefallenen, zerschmetterten Körper gebeugt hatte, hatte sie mit ihrer Schönheit sogar den Glanz der Sonne in den Schatten gestellt.

Schh, mein Liebling. Schh.

»Raphael?«

Zwei weibliche Stimmen, von denen ihn die eine in die Vergangenheit und die andere in die Gegenwart zog.

Wenn es je für ihn eine Wahl gegeben hatte, so hatte er sie damals vor einem Jahr im Himmel über New York getroffen, als ihm die Stadt in Trümmern zu Füßen lag. Nun presste er seinen Mund in Elenas Halsbeuge und versenkte sich in ihrer Wärme, einer Wärme, die eindeutig von einem Menschen herrührte und das Eis seiner Erinnerungen zum Schmelzen brachte. »Ich glaube, du warst jetzt lange genug im Wasser.«

»Am liebsten würde ich mich gar nicht mehr bewegen.«

»Ich fliege dich zurück.«

Unter ihrem schwachen Protest hob er sie sanft aus dem Wasser, ihr Körper war immer noch so zerbrechlich.

»Sag jetzt einfach mal nichts mehr, Jägerin.« Vorsichtig rieb er ihr die Flügel trocken, zog sich seine Hose an und sah dann zu, wie sie sich ankleidete. Dabei stiegen nie gekannte Gefühle von Besitzgier, Zufriedenheit und panischer Angst in ihm hoch. Wenn Elena nun vom Himmel fallen, wenn sie auf die unbarmherzig harte Erde aufschlagen würde, sie würde es nicht überleben. Dazu war sie zu jung, seine neugeborene Unsterbliche.

Als sie in seinen Armen geborgen war, die Hände um seinen Hals schlang und die Lippen an seine Brust drückte, erschauerte er, dann hielt er sie sicher und fest umfangen und stieg in den rot glühenden Abendhimmel auf. Statt hoch über die Wolkendecke zu steigen, flog er tief, sorgfältig darauf bedacht, dass es Elena nicht zu kalt wurde. Doch hätte er gewusst, auf was sie unterwegs stoßen würden, hätte er sich für eine andere Lösung entschieden. Elena sah den Albtraum als Erste.

»Raphael! Pass auf!«

Bei dem drängenden Klang ihrer Stimme hielt er sofort in seinem Flug inne und schwebte genau über der Grenzlinie, die zwischen seinem und Elias’ Gebiet verlief. Selbst hier in der Zufluchtsstätte gab es Grenzen – unsichtbare, unausgesprochene, aber dennoch Grenzen. Ein Machtbereich durfte nicht zu dicht am nächsten liegen, um Auseinandersetzungen und Zerstörungen, die vermutlich die gesamte Population ausrotten würden, zu vermeiden. »Was ist denn?«

»Da, sieh!«

Als er in die von Elena gewiesene Richtung blickte, sah er eine Gestalt, die im Licht der Sonne in tausend kupferroten Tönen leuchtete. Raphael hatte schärfere Augen als ein Raubvogel, dennoch konnte er keine Bewegung, kein Lebenszeichen erkennen. Aber was er sehen konnte, war, was diesem Mann angetan worden war. Jähe Wut packte ihn.

»Bring mich dort hinunter, Raphael.« Geistesabwesend gab sie ihm die Anweisung, ihr Blick war fest auf den Körper geheftet, der zusammengekrümmt dalag, so als hätte er einen letzten verzweifelten Versuch unternommen, die grauenhaften Verletzungen zu lindern, die ihm zugefügt worden waren. »Auch wenn der Täter keine unmittelbaren Spuren hinterlassen hat, kann ich seine Witterung aufnehmen.«

Raphael rührte sich nicht. »Du befindest dich erst am Anfang deiner Genesung.«

Elena fuhr wütend mit dem Kopf hoch, ihre silbernen Augen funkelten wie flüssiges Quecksilber. »Wage es ja nicht, mich von meiner Berufung abzuhalten. Ich warne dich.« Diese Worte und ihr Zorn wurden in einem Ton hervorgebracht, der die Vertrautheit mit ihnen verriet.

Seit sie aus dem Koma erwacht war, hatte er zweimal die Herrschaft über ihren Geist übernommen, beide Male, um sie davor zu bewahren, sich selbst zu verletzen.

Heute trieb ihn derselbe Instinkt an, ihren Befehl einfach zu ignorieren – sie mochte eine geborene Jägerin sein, aber sie war noch lange nicht kräftig genug, um es mit dieser Situation aufzunehmen.

»Ich weiß ganz genau, was du denkst«, sagte Elena voller Schmerz, »doch wenn du mir meinen Willen nimmst und mich zwingst, gegen meine Natur zu handeln, werde ich dir das niemals verzeihen.«

»Ich werde nicht noch einmal zusehen, wie du stirbst, Elena.« Der Kader hatte sie damals ausgewählt, weil sie die Beste war, unermüdlich bei ihrer Jagd auf Beute. Aber schließlich war sie damals auch noch ganz unbedeutend gewesen. Jetzt hingegen war sie ein fester Bestandteil seines Lebens.

»Achtzehn Jahre lang« – düstere Worte, ein gehetzter Blick – »habe ich mich meinem Vater zuliebe verstellt. Habe versucht, gegen meine Jägernatur anzukämpfen. Jeden Tag bin ich dabei ein bisschen mehr gestorben.«

Er kannte sich gut. Wusste, wozu er imstande war. Aber genauso gut wusste er auch, dass er sich bis in alle Ewigkeit verachten würde, wenn er ihren Willen brach. »Du wirst genau tun, was ich dir sage.«

Sofort nickte sie bereitwillig. »Mir ist das Gebiet hier unbekannt – ich werde nicht unüberlegt handeln.«

Raphael schwebte zu Boden und landete sanft in einiger Entfernung von dem Körper, der im Schatten eines verwitterten zweistöckigen Hauses lag. Ein paar Sekunden lang hielt Elena sich noch an ihm fest, als ob sie sich ihrer Muskelkraft erst einmal vergewissern müsste, bevor sie sich über den übel zugerichteten Vampir beugte. Raphael ließ sich neben ihr auf die Knie fallen und legte prüfend den Finger an die Schläfe des Vampirs. Der Puls war nämlich bei den Geschaffenen nicht unbedingt ein zuverlässiges Lebenszeichen.

Es dauerte einige Zeit, bis Raphael den Widerhall des Vampirgeistes spürte, sehr schwach – der Mann stand schon mit einem Bein im Grab. »Er lebt noch.«

Elena atmete hörbar auf. »Oh Gott, irgendjemand wollte ihn richtig leiden lassen.« Der Vampir war so übel zusammengeschlagen worden, dass er nur noch wie ein roher Fleischklumpen aussah. Vielleicht hatte er einmal gut ausgesehen, seinem Alter nach zu urteilen traf das sicher zu, aber von seinem Gesicht war nicht mehr genug übrig, um es mit Sicherheit sagen zu können.

Ein Auge war völlig zugeschwollen. Bei dem anderen war die Augenhöhle auf heimtückische Weise so gründlich zertrümmert worden, dass man, hätte man nicht gewusst, dass dort eigentlich ein Auge hineingehörte, kaum hätte sagen können, wo die Wange aufhörte und das Auge begann. Seltsamerweise war sein Mund unversehrt geblieben. Unterhalb des Halses waren die Kleider richtig in seinen Körper hineingetrieben worden, Beweise von anhaltenden und wiederholten Fußtritten. Und seine Knochen … wie blutige, zerbrochene Zweige stachen sie aus etwas hervor, das wohl einmal eine Hose gewesen war.

Er bot einen erbarmungswürdigen Anblick, er musste furchtbar gelitten haben. Vampire wurden nicht so leicht ohnmächtig – und der Grausamkeit dieses Angriffs nach zu urteilen, hatten sich die Angreifer seinen Kopf als Letztes vorgenommen. Er musste beinahe das gesamte Martyrium hindurch bei vollem Bewusstsein gewesen sein. »Weißt du, wer er ist?«

»Nein. Dazu ist sein Kopf zu gequetscht.« Raphael ließ seine Arme mit solch Behutsamkeit unter den Vampir gleiten, dass sich Elenas Herz zusammenkrampfte. »Ich muss ihn zu einem Arzt bringen.«