Ende gut, Schlamassel gut - Mary Calmes - E-Book

Ende gut, Schlamassel gut E-Book

Mary Calmes

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Beschreibung

Deputy US Marshal Miro Jones hat endlich alles, was er je wollte. Er ist bis über beide Ohren verliebt und mit dem Mann seiner Träume verheiratet – seinem Partner Ian Doyle. Alles hat sich gefügt und könnte so schön sein, doch dann läuft sein Leben plötzlich aus dem Ruder – beruflich und privat … Sein eingespieltes Team wird auseinandergerissen, sodass Ian ihm nicht mehr den Rücken decken kann. Miro konnte sich noch nie gut auf Veränderungen einstellen und befürchtet das Schlimmste: Wird es je wieder so sein wie zuvor? Als unvermittelt die Vergangenheit an seine Tür klopft, wird alles noch komplizierter. Miro weiß, dass er an einem Scheidepunkt seines Lebens steht, doch wenn er die falsche Entscheidung trifft, setzt er nicht nur seine Zukunft, sondern auch sein Happy End mit Ian aufs Spiel …

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Seitenzahl: 458

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MARY CALMES

ENDE GUT, SCHLAMASSEL GUT

VERLIEBTE PARTNER 4

Aus dem Amerikanischen von Heike Reifgens

Über das Buch

Deputy US Marshal Miro Jones hat endlich alles, was er je wollte. Er ist bis über beide Ohren verliebt und mit dem Mann seiner Träume verheiratet – seinem Partner Ian Doyle. Alles hat sich gefügt und könnte so schön sein, doch dann läuft sein Leben plötzlich aus dem Ruder – beruflich und privat …

Sein eingespieltes Team wird auseinandergerissen, sodass Ian ihm nicht mehr den Rücken decken kann. Miro konnte sich noch nie gut auf Veränderungen einstellen und befürchtet das Schlimmste: Wird es je wieder so sein wie zuvor? Als unvermittelt die Vergangenheit an seine Tür klopft, wird alles noch komplizierter. Miro weiß, dass er an einem Scheidepunkt seines Lebens steht, doch wenn er die falsche Entscheidung trifft, setzt er nicht nur seine Zukunft, sondern auch sein Happy End mit Ian aufs Spiel …

Über die Autorin

Mary Calmes liebt, wie ihre Romanfiguren, Romantik und Happy Ends. In ihren Adern fließt Kaffee, und sie findet, dass Schokolade als Gemüse gelten sollte. Zurzeit lebt sie in Kentucky, zusammen mit einem drei Kilo schweren Fellnasen-Ninja, der sie vor Spinnen und den Hunden der Nachbarn beschützt.

 

 

Die amerikanische Ausgabe erschien 2019 unter dem Titel „Twisted and Tied“.

 

Deutsche Erstausgabe Dezember 2021

 

© der Originalausgabe 2021: Mary Calmes

© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2021:

Second Chances Verlag

Inh. Jeannette Bauroth, Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: Reese Dante

Umschlagmotiv: iStock

 

Lektorat: Anne Sommerfeld

Korrektorat: Daniela Dreuth

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN: 978-3-948457-97-6

 

 

www.second-chances-verlag.de

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Weitere Bücher aus dem Verlag

Mein Dank gilt vor allem wieder Lynn West, ohne die ich tief im Schlamassel gesteckt hätte.

Für Lisa Horan, die meine Hand hält.

Für Jessie Potts, die zur rechten Zeit mit dem Titel bei der Hand war.

Für Rhys Ford und Jaime Samms, die jeden Tag nachgefragt haben, ob ich noch lebe.

Und zu guter Letzt für meine wundervollen, fantastischen Leser, die Miro und Ian ins Herz geschlossen haben. XXOO

1

Es war surreal.

Bis vor wenigen Sekunden war mein Tag noch so normal gewesen, wie es ein Tag als US Marshal eben sein konnte. Dann hatte die eine Person, bei der ich mich bislang immer darauf hatte verlassen können, dass sie rationale Entscheidungen traf, das genaue Gegenteil getan.

Er sollte nicht von Hausdächern springen.

Im Film sprachen die Leute immer davon, dass sie ihr ganzes Leben innerlich an sich haben vorbeiziehen sehen, als sie dachten, sie müssten sterben. Ich hatte das für ziemlichen Blödsinn gehalten. Aber als ich zusehen musste, wie mein Vorgesetzter, der Chief Deputy Marshal des Northern District of Illinois, Sam Kage, bei der Verfolgung eines Verdächtigen ins Nichts sprang, war sie plötzlich da: eine hektische, achterbahnartige Montage aus Szenen meines bisherigen Lebens, die mich zu diesem Punkt geführt hatten, an dem ich mir sicher war, keine andere Wahl zu haben, als dem Mann in den Himmel zu folgen. Wer hätte auch gedacht, dass dieser Blödsinn tatsächlich passierte?

Angefangen hatte alles an jenem Morgen, als die SOG – die Special Operations Group, die US Marshal Version der Special Forces – die Stürmung einer riesigen Lagerhalle am 48th Place anführte. Ihnen dicht auf den Fersen folgte die TOD, die Tactical Operations Division, unsere harten, SWAT in nichts nachstehenden Jungs in Ganzkörperpanzerung und Kevlar, die bis an die Zähne mit Schusswaffen ausgestattet waren. Dahinter kamen die Marshals, und die Uniformierten der Chicagoer Polizei bildeten das Schlusslicht. Die bloße Anzahl Beamte, Agenten und diverser Behörden allein reichte schon aus, ein Riesendurcheinander mit anschließendem Superchaos mehr als nur wahrscheinlich zu machen.

Das Ziel dieses Einsatzes war es, Kevin und Caradoc Gannon, zwei Neonazi-Drecksäcke, die eine kleine Menge des Nervengases VX in die Finger bekommen hatten, festzunehmen oder wenn nötig endgültig zu stoppen. Und so wurde die SOG ausgesandt, um die Männer, die die Zivilbevölkerung von Chicago bedroht hatten, auszuschalten. Leitete die TOD einen Einsatz, dann gab es gute Aussichten auf Überlebende und in neun von zehn Fällen blieben alle heil. Die Jungs von der SOG dagegen trafen direkt vor Ort die Entscheidung, ob jemand erschossen wurde oder nicht. Das kam nicht oft vor. Anders als im Film verlief die Verhaftung eines Flüchtigen in der Regel recht problemlos: Die Marshals fuhren vor und ein paar von uns positionierten sich an der Hintertür, während der Rest durch die Eingangstür marschierte. Manchmal klopften wir vorher sogar an.

Mein Partner und jetzt auch Ehemann, Ian Doyle, ging zusammen mit der SOG als Erster rein – keine Ahnung, wie das passiert war, da wir vorher via Stein-Schere-Papier entschieden hatten, wer die Spitze übernahm und wer zurückblieb, um ein Auge auf unseren Vorgesetzten Kage zu haben. Ian und ich waren als Letzte am Einsatzort angekommen, von daher hätten wir das übernehmen sollen. Das war die Abmachung in unserem Team: Wer später als der große Mann selbst eintraf, der passte gefälligst auf ihn auf.

Nicht, dass einer von uns ihm das jemals ins Gesicht gesagt hätte, schließlich war keiner von uns wahnsinnig. Oder lebensmüde. Aber der Rest von uns wusste, was Sache war.

Jedenfalls war Ian mit den übrigen Jungs und der taktischen Gruppe im Lagerhaus und ich babysittete meinen Vorgesetzten. Dann sah Kage, wie ein Typ aus einem Fenster im zweiten Stock auf die Ladefläche eines Lieferwagens sprang und von dort auf die Straße. Er stieß einen lauten Ruf aus und nahm umgehend die Verfolgung auf. Ich rannte hinterher.

Das war nicht Teil des Plans.

Kages Verstärkung zu sein, hatte seine guten und schlechten Seiten. Die gute Seite war, dass ich, wenn ich es war, der hinter ihm herrannte, in der besten Position war, ihn zu beschützen. Ich war es, der ihm Deckung gab und dafür sorgte, dass er abends nach Hause zu seiner Familie zurückkehrte und seinen Chefposten behielt, mit einem ganzen Team Deputy US Marshals unter sich.

Die Kehrseite war genau dasselbe. Seine Verstärkung zu sein bedeutete, dass ich nicht nur sein Leben und das seiner Familie ruinierte, wenn ich Mist baute. Die Wahrscheinlichkeit, dass der nächste Mann in seiner Position im Vergleich zu ihm eine absolute Niete sein würde, war außerdem extrem hoch.

Kage trug uns alle auf seinen Schultern, durch den ganzen Mist aus Papierkram und Bürokratie und Politik. Er war unser Bollwerk, unser Fels in der Brandung. Ihn zu verlieren war keine Option.

Deshalb zog ich es allgemein vor, wenn er sicher in seinem Büro saß. Aber Kage musste vor Ort sein, denn das war sein Ding: Er war die oberste Instanz und erste Informationsquelle des US Marshal Services in Chicago, da sein Vorgesetzter, Tom Kenwood, häufig dienstlich nach Washington sowie kreuz und quer durch den Staat von Illinois reisen musste. Wenn also etwas Großes vor sich ging und die Presse davon Wind bekam – und sie bekam immer Wind davon – dann musste Kage bereitstehen, um seine Stimme-Gottes-Nummer abzuziehen, knappe Antworten zu geben und die Öffentlichkeit zu beruhigen, ohne dabei irgendetwas zu bestätigen oder zu dementieren.

Jetzt allerdings rannte besagter Mann bei der Verfolgung des entkommenen Verbrechers vor mir den Bürgersteig entlang und nahm dank seiner langen Beine mühelos Tempo auf.

Ich hatte nicht gewusst, dass Kage so rennen konnte. Er war irgendwo Mitte fünfzig, oder jedenfalls weit entfernt von meinen dreiunddreißig, von daher war ich ehrlich überrascht, dass er nicht nur richtig rennen konnte, sondern das auch ziemlich schnell. Wenn man noch bedachte, dass er gut eins neunzig groß war, massive Schultern hatte und jede Menge steinharter, schwerer Muskeln mit sich herumtrug – er war eben ein echter Wandschrank –, dann war sein Tempo gleich doppelt schockierend. Er hielt nicht nur mit dem sehr viel jüngeren, fliehenden Verbrecher Schritt – er holte sogar auf.

Ein vor ihm geparkter Pkw hielt unseren Verdächtigen nicht auf, ganz im Gegenteil: Er vollführte ein beeindruckendes Parcoursmanöver, bei dem er erst die Hände auf den Boden legte, sodass er für eine Sekunde auf allen Vieren war, bevor er sich über den alten Oldsmobile katapultierte. Kage wurde seinerseits kein bisschen langsamer, sondern glitt in klassischer Ein Duke kommt selten allein-Manier über die Motorhaube, eine Aktion, die alle Männer in meinem Leben perfektioniert hatten.

Es war lächerlich.

„Wieso ist es so schwer, um ein Auto herum zu laufen?“, brüllte ich hinter ihm her.

„Jones!“

Da die Festnahme unserer Verbrecher ein koordinierter Zugriff mehrerer Behörden gewesen war, hatte ich einen von diesen dämlichen Knöpfen im Ohr. Den hatten wir alle für den Einsatz bekommen, und die Leitung war immer noch offen. Die anderen Einheiten hatten sich nach und nach ausgeklinkt, nachdem sie die Situation in der Lagerhalle unter Kontrolle gebracht hatten. Nur die Jungs, mit denen ich tagtäglich zusammenarbeitete, standen noch in Kontakt. Normalerweise war ich allein in meinem Kopf, aber da ich hinter Kage herjagte und sie alle dachten, sie würden mir damit helfen, wollte das komplette Team Deputy US Marshals nicht nur wissen, was vor sich ging, sondern schrie mir gleichzeitig Anweisungen zu.

„Kannst du ihn sehen?“, brüllte Wes Ching.

„Zieh deine Waffe, Jones, nur für den Fall!“, schlug Jack Dorsey vor. „Aber dass du ihn ja nicht erschießt!“

Er war ein Idiot. „Ich erschieße dich, wenn ich zurück bin!“, knurrte ich. Wir rannten niemals mit gezogener Waffe. Das machten nur Anfänger.

„Du musst direkt hinter ihm bleiben!“, bellte Chris Becker mir ins Ohr.

Als ob ich das nicht wusste.

„Wenn er langsamer wird, dann bleibst du bei ihm!“, fauchte Mike Ryan.

Da ich kaum langsamer werden, geschweige denn anhalten konnte, hatte ich keine Möglichkeit, mir den Knopf aus dem Ohr zu ziehen und sie so zum Schweigen zu bringen. „Könnt ihr wohl mit dem Rumgeschreie aufhören? Verdammt noch mal!“

„Absolut, wag es ja nicht, ihm von der Seite zu weichen, Jones!“, befahl Ethan Sharpe und ignorierte mich völlig.

„Weiß ich doch!“, brüllte ich zurück. „Um Himmels willen!“

„Ruf den Leuten zu, dass sie ihm Platz machen sollen“, wies Jer Kowalski mich an.

„Ach ja?“, fauchte ich. „‚Schrei die Leute an‘ ist dein Rat?“

„Oh, da ist aber jemand zickig“, bemerkte er gelangweilt. „Mein Rat ist: Mehr Rennen, weniger Schreien, Jones.“

„Halt mit ihm mit!“, warnte Ching.

Ich hatte all diese Anweisungen deshalb nötig, weil heute ganz offensichtlich mein allererster Tag als US Marshal war.

„Bist du nah genug, dass du nötigenfalls schießen kannst, wenn ihm jemand zu nahe kommt?“ Das von Chandler White, der für gewöhnlich nicht versuchte, mich herumzukommandieren. Aber heute machte er eine Ausnahme, wohl deshalb, weil ich so eindeutig ein blutiger Anfänger war, der den rechten Daumen nicht vom linken unterscheiden konnte.

„Du hast ihn voll im Blick, oder?“, wollte Eli Kohn wissen.

„Verdammt, ja!“, schrie ich.

„Du musst so dicht wie möglich bleiben. Aber komm nicht zu nah!“, fühlte Sharpe sich bemüßigt, mir mitzuteilen.

Ich knurrte.

„Versuch, ihn zu überholen. Das wäre am besten“, schlug Kowalski vor.

„Ich schwöre bei Gott, wenn ihr nicht …“

„Du weißt, dass er das nicht kann“, widersprach Eli. „Kage ist ihm bei der Verfolgung voraus, Miro kann da nicht …“

„Hört auf mit dem Gequatsche!“, unterbrach Ching ärgerlich. „Ihr könnt von Glück reden, dass Kage keinen Ohrhörer hat, sonst wären wir alle tot.“

Wohl wahr, aber da Kage während des Zugriffs in der Kommandozentrale gewesen war und dort erst hatte herauskommen dürfen, nachdem Entwarnung gegeben worden war, hatte er nicht wie der Rest von uns einen Knopf ins Ohr bekommen.

Der Typ rannte in ein Wohngebäude, dicht gefolgt von Kage. „Nein, nein, nein“, murrte ich atemlos.

„Gott verdammt, Jones, wenn du auch nur …“

„Hört jetzt alle auf!“, sagte Ian barsch und seine raue, warme Stimme war eine willkommene Erleichterung. „Ihr wisst genau, dass Miro die Sache im Griff hat. Er ist nicht blöd und weiß, was er tut. Traut dem Mann gefälligst zu, seinen Job zu machen!“

Es war fantastisch, jemanden auf meiner Seite zu haben, der weder meine mentalen noch meine physischen Fähigkeiten anzweifelte und der mich den anderen gegenüber verteidigte. Aber das war nicht wirklich eine Überraschung: Ich konnte mich immer auf Ian verlassen. Die Stille, die seinen barschen Worten folgte, tat gut.

„Aber du kannst ihn sehen, oder?“

„Ian!“, schrie ich und fühlte mich zutiefst verraten.

„Ich frag ja nur!“, antwortete er abwehrend.

„Ihr könnt euch allesamt zum Teufel scheren!“, brüllte ich, bevor ich hinter Kage in das Wohnhaus preschte. Von dort stürmten wir die Treppen hinauf, ein Stockwerk nach dem anderen, ich immer dicht hinter ihm, Ian und die anderen die ganze Zeit in meinem Ohr.

„Du bist sehr sensibel, M“, bemerkte Eli.

„Leck mich“, gab ich zurück und schlitterte hinter Kage um eine Biegung im Treppenhaus weiter nach oben.

Es war schon ein wenig lustig, was sich zwischen Eli und mir verändert hatte. In der Zeit von November bis März, quasi von Thanksgiving bis St. Patrick, hatte sich eine echte Freundschaft zwischen uns beiden entwickelt, und in meinen Gedanken war er nicht mehr Kohn, sondern eben Eli.

„Und Ian, du kannst …“

„Seid ihr noch auf der Straße?“, wollte Eli wissen.

„Wo zum Teufel ist Ian?“

„Er ist wieder offline. Die SOG hat die zweite Stürmung im Gebäudeinneren gestartet“, informierte Dorsey uns. Ich war davon nicht sehr angetan, aber andererseits war Ian nur einer von vielen in diesem Team und nicht der Anführer der Männer.

„Miro, wo zum Henker bist du? Das GPS zeigt, dass du jetzt …“

„Halt die Klappe“, motzte Dorsey Eli an, der die Frage gestellt hatte. „Miro, bist du irgendwo abgebogen? Denn so wie’s aussieht, haben wir dich an der letzten Straßenecke verloren.“

„Verdammt, was meinst du damit, wir haben – Miro, wo zum Teufel bist du?“, schrie Becker.

Aber ich war acht Häuserblocks hinter Kage hergerannt und wir hatten jetzt den vierten Stock erreicht. Meine Fähigkeit, Wörter zu bilden, war mir irgendwo auf dem Weg abhandengekommen.

Ich hörte, wie Kage die Tür aufstieß, die zum Dach des Hauses führte – sie hatte eine Panikstange und das Geräusch beim Öffnen, ein bisschen wie ein riesiger Gummistempel, war unverkennbar – und folgte ihm hinaus ins Freie. Ich war vielleicht drei Meter hinter ihm; das Knirschen von Ledersohlen auf grobem Beton untermalte meine wachsende Angst, je näher die beiden dem Ende des Daches kamen.

Ich dachte, Kage würde stehenbleiben.

Es war ausgeschlossen, dass er es nicht tun würde.

So oft, wie er mir „Marshals springen nicht von Hausdächern, Jones“ gepredigt hatte, hätte ich mein Leben darauf verwettet, dass er stehenblieb, als der Typ zum Sprung ansetzte. Er tat es nicht. Er folgte dem Kerl, und ich war so überrascht, dass ich ins Stolpern kam. Meine Füße rutschten auf den kleinen Kiessteinchen weg und ich ruderte wild mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Erst am Rand des Gebäudes fing ich mich wieder, aber in Gedanken war ich schon darüber gesprungen, wie Kage es gerade getan hatte.

Dann kam dieser Moment, mein ganzes Leben in hektisch aufeinanderfolgenden Bildern bis zu dem Augenblick, als mir klar wurde, dass die eine Person, auf die ich immer zählen konnte … nicht mehr da war.

Niemand außer Ian würde je ganz verstehen können, was mir Kage bedeutete. Ja, es war ein Klischee, aber ich hatte nie einen Vater gehabt. Es hatte in meinem Leben nie einen älteren Mann gegeben, der mich unter seine Fittiche genommen hatte, niemanden, der Mentor und Beschützer gewesen wäre, nicht weil er das musste, sondern weil er das wollte. Von diesem Augenblick an würde ich nie wieder derselbe sein.

Das Schlimmste war, dass ich Kage nach nur einem unglaublich unangenehmen, albernen und Furcht einflößenden gemeinsamen Abendessen im Februar besser kannte. Ein absolut bizarrer Valentinstag, und alles war anders. Sicher, es war nicht so, dass wir beste Freunde geworden wären oder dass ich verstand, was in seinem Kopf vor sich ging. Aber ich wusste, wie sehr er seinen Ehemann liebte und wie weit er gehen würde, um dessen Sicherheit zu gewährleisten. Nicht jeder Mann fing sich eine Kugel für jemanden ein, den er liebte.

Ian und ich kannten dieses Geheimnis, von dem die anderen nicht einmal etwas ahnten, denn Kage hatte niemandem im Team gesagt, dass er angeschossen worden war. Er hatte die zwei Tage Urlaub genommen, die er ohnehin schon im Kalender eingetragen hatte, und war am Montag ganz normal zur Arbeit erschienen, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Da er gern so tat, als wäre er kugelsicher, hatten Ian und ich keinen Grund gesehen, diesen Eindruck zu widerlegen.

Ich wusste, dass seine Loyalität gegenüber seinen Männern, mir und allen anderen, die für ihn arbeiteten, sich auch auf seine Freunde erstreckte. Er machte sich Gedanken über seine Familie, seine Freunde, sein Team und ganz ehrlich, Kage auch nur zu sehen, erdete mich bereits. Aber jetzt …

Mein Herz verkrampfte sich, mir drehte sich der Magen um und mein Atem stockte. Einen Moment lang schloss ich die Augen und versuchte, das, woran ich felsenfest glaubte – Kages Unbesiegbarkeit –, mit dem überein zu bringen, was ich gerade hatte mitansehen müssen – seinen Tod. Dann richtete ich mich auf und spähte über die Brüstung.

Unter mir, mit einer Hand an einen schmalen Sims geklammert, den man nur als dekorative Spielerei des Architekten bezeichnen konnte – wirklich, kaum mehr als eine Zierleiste – hing Kage, einen fünfzehn Meter tiefen Abgrund unter sich, und hielt den Typen, den er verfolgt hatte, mit der anderen Hand fest.

Ich wäre beinahe umgekippt.

„Nehmen Sie ihn“, knurrte Kage und hievte den Mann zu mir hoch.

Ich hätte das nicht gekonnt. Ian hätte das nicht gekonnt. Das erforderte Muskeln, die keiner von uns besaß, sowie die Fähigkeit, mindestens neunzig Kilo zu stemmen. Und er tat es mit nur einer Schulter.

Ich war stark, ja, aber nicht so, und ich konnte mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie viel Konzentration es erfordert hatte, den Typ vor dem Sturz zu bewahren.

Ich ergriff unseren Flüchtigen und erkannte, dass ich niemand anderen als Kevin Gannon vor mir hatte. Was natürlich exakt der Grund war, warum Kage ihm überhaupt erst gefolgt war. Ich zerrte Gannon über die Kante aufs Dach und legte ihm Handschellen an. „Keine Bewegung“, warnte ich ihn. Normalerweise drückte ich den Menschen, die ich festnahm, ein Knie in den Rücken, wenn ich sie vor mir auf dem Boden hatte, aber der Typ leistete keinerlei Widerstand. Er rührte sich nicht einmal, sondern lag völlig schlapp da.

„Nein“, brachte er zwischen krampfhaften Atemzügen heraus. „Keine Bewegung.“

Als ich mich umdrehte, hatte Kage bereits beide Hände auf die Kante gelegt. Ich machte eine Bewegung in seine Richtung, um ihm zu helfen.

„Sichern Sie den Gefangenen, Jones“, befahl er mir barsch, drückte sich hoch, schwang beide Beine herüber und richtete sich auf.

Ich stand da und sah zu, wie er sich kurz abklopfte, seinen marineblauen Anzug gerade zog und sich die Krawatte richte. Dann sah er mich an.

Ich konnte nicht aufhören, ihn anzustarren.

Er machte ein finsteres Gesicht.

Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.

„Kein Wort darüber“, wies er mich an, dann wandte er sich zur Tür um, die vom Dach führte.

Kein Wort darüber? Machte er Witze? Ich konnte kaum atmen!

Verdammter Mist.

Ich musste mich darauf konzentrieren, nicht zu hyperventilieren.

Als ich schließlich wieder in der Lage war, Luft durch meine Lungen zu bewegen – und gütiger Gott, ich hatte immer geglaubt, dass Ian gut darin war, mir das Herz stillstehen zu lassen –, wandte ich mich wieder meinem Gefangenen zu.

„Der Kerl ist irre“, sagte Gannon.

Ich nickte vollkommen ernst.

„Aber, ey“, fuhr er fort und stieß den Atem aus, „schon echt krass.“

Das brachte ihm ein mattes Lächeln ein.

Kage wartete unten am Fuß der letzten Treppe auf uns. Als er die Tür des Wohnhauses öffnete, standen sieben bewaffnete Streifenpolizisten des CPD vor uns. Da Kages Gesicht genauso bekannt war wie das des Bürgermeisters, des Polizeichefs und des Staatsanwaltes, standen sie bei seinem Anblick stramm, steckten ihre Waffen ein und erwarteten seinen Befehl.

Er machte lediglich ein noch finstereres Gesicht und wies sie an, uns Platz zu machen.

Als wir uns dem Lagerhaus näherten, sah ich Ching und Becker auf uns warten. Hinter ihnen standen Dorsey und Ryan, zusammen mit Sharpe und White. Ian konnte ich nirgendwo entdecken, was mich allerdings nicht sonderlich beunruhigte, denn auf dem gesamten Gelände wimmelte es nur so vor Mitarbeitern des Gesetzesvollzugs. Kowalski und Eli waren ebenfalls nicht vor Ort, da sie die Stellung in der Dienststelle hielten, Haftbefehle für uns überprüften und zwischen dem Rest von uns, der im Einsatz war, vermittelten. Eigentlich hätten Ian und ich das machen sollen, aber Elis Cousin Ira kam heute aus San Francisco zu Besuch und Eli hatte nicht riskieren wollen, in einem noch nicht abgeschlossenen Einsatz festzustecken, während er den Typ vom O’Hare hätte abholen sollen. Das verstand ich nur zu gut. Bei unserem Job konnten jederzeit vollkommen unerwartete Dinge passieren, die alle Pläne über den Haufen warfen. Besser, es gar nicht erst zu riskieren.

„… gesichert und alle VX-Kanister konnten sichergestellt werden.“

Meine Gedanken waren abgeschweift, und ich konnte von Glück reden, dass die Flut an Informationen nicht an mich gerichtet war.

„Aber die SOG wurde zu einem Notfall im Hyde Park gerufen, sie sind also weg.“

„Wir müssen die Festgenommenen auf ausstehende Haftbefehle überprüfen“, begann Kage und wies auf eine Reihe von Männern, die mit auf dem Rücken gefesselten Händen und dem Gesicht nach unten auf dem Boden lagen. „Lassen Sie sie alle einmal durchs NCIC laufen, und dann …“

„Ist das wirklich notwendig?“, fragte Darren Mills, der neue Supervisory Deputy, der Kages Stelle übernommen hatte, nachdem dieser befördert worden war.

Erstens, großer Gott, er hatte Kage unterbrochen.

Zweitens, er hatte nicht nur unseren Vorgesetzten, seinen Vorgesetzten, öffentlich infrage gestellt. Die Frage war auch noch extrem dumm.

Ich sah zu Ching, der Becker ansah, der zusammenzuckte. Es war nicht das erste Mal, dass Mills, der von einem Gremium auf den Posten gehoben worden war, und das ohne Rücksprache mit Kage oder Kages Vorgesetztem Tom Kenwood, den Mund aufmachte und Schwachsinn von sich gab. Und er hatte es vergeigt, rechtzeitig den Antrag bei der staatlichen Beschlagnahmungsstelle einzureichen, sodass wir die monatliche Auktion verpassten, bei der wir die Autos bekamen, die wir fuhren – oder manchmal auch nicht fahren wollten, aber eben mussten. Ich musste da an ein gewisses, nelkenrosa Cabrio denken. Außerdem wusste der Kerl immer noch nicht, wer in unserem Haus was machte.

Im Lauf der Jahre war mir klargeworden, dass es zwei Arten von Versetzungen gab, was vermutlich für jeden Arbeitsplatz galt. Da waren zum einen die Leute, die still hereinkamen, die Lage sondierten und dann verflucht hart arbeiteten, um allen zu zeigen, dass man sich auf sie verlassen konnte. Und da waren Leute wie Mills, die hereinstolziert kamen, sich aufspielten und so taten, als schmissen sie persönlich den ganzen Laden und als würden sie die Befehle geben.

Zu Mills Verteidigung musste man sagen, dass das Ermittlungsteam für gewöhnlich wirklich dem Supervisory Deputy Meldung geben musste, wie wir es bei Kage getan hatten, als er diesen Posten innegehabt hatte. Aber als Kage befördert worden war, hatte er die Weisungslinie geändert, sodass der oberste Ermittler, derzeit Becker, weiterhin ihm direkt unterstellt war, womit er Mills komplett umgangen hatte. In Reaktion darauf hatte Mills sich an Kenwood gewandt, den leitenden US Marshal für den Northern District of Illinois, einen der vierundneunzig Männer, die vom Präsidenten ernannt und dann vom Senat ratifiziert wurden, und sich darüber beschwert, dass Kage nicht alle seine Aufgaben und Zuständigkeiten an ihn übergeben hatte.

Das war der Knackpunkt gewesen, und ich wusste das nur, weil Dorsey und Ryan mit einem Flüchtigen in unserem Großraumbüro gesessen hatten, als Mills ungebeten in Kages Büro geplatzt war.

„Ernsthaft?“, hatte ich von ihnen wissen wollen, während ich mir einen Chicken Wing nach dem anderen in den Mund geschoben und zwischendurch die Finger abgeleckt hatte. Wir waren im Crisp auf dem Broadway, Ian saß dicht neben mir und beobachtete mich lachend, aber auch er hörte zu. „Mills ist einfach so in Kages Büro spaziert, ohne das vorher mit Elyes zu klären?“

So lange ich ihn kannte, hatte Kage eine Assistentin und schließlich die perfekte Version in Elyes Salerno gefunden: klein, schlank, hocheffizient und bei Weitem die schönste Frau, der ich je im Leben begegnet war. Sie trug ihre Haare in einem Pixie, hatte dunkle Haut mit einem bronzenen Unterton und riesige kastanienbraune Augen mit den dichtesten Wimpern, die ich je gesehen hatte. Sie besaß ein fantastisches Gespür für Mode, und wann immer ich ihr ein Kompliment diesbezüglich machte, gab sie es umgehend zurück. In der Regel mit der Anmerkung, dass sie nichts mehr zu beklagen hätte, wenn ihr Ehemann nur meine Schuhkollektion besäße. Darüber hinaus hatte sie die Fähigkeit, sich gleichzeitig mit mir zu unterhalten, E-Mails abzurufen und Kages Fragen zu beantworten, wenn er den Kopf durch die Bürotür steckte. Sie hatte jede Facette seines Jobs fest im Griff, angefangen davon, dass sie immer wusste, wo er gerade war, beziehungsweise sein sollte, bis dahin, scheinbar intuitiv zu wissen, welche Akten oder Unterlagen er gerade brauchte. Elyes verließ abends das Büro erst dann, wenn Kage gegangen war. Dass Mills sie ignorierte und an ihr vorbei in Kages Büro marschierte, war sicher sein erster Fehler gewesen.

„Jepp“, bestätigte Dorsey und seufzte, als der Kellner den nächsten Korb mit Chicken Wing auf den Tisch stellte. Mit Dorsey und Ryan ins Crips zu gehen, war immer eine feine Sache, denn sie aßen dieselben Wings wie Ian und ich: die Seoul Sassy und die Crisp BBQ. Die anderen im Team variierten ihre Bestellung gerne, aber ich sah den Reiz darin nicht, vom Altbewährten abzuweichen. „Mills schreit Kage an, sagt, dass er Kenwood am Apparat hat und ist schon drauf und dran, die Tür zuzuknallen. Kage kommt raus, bittet Elyes um Entschuldigung und macht dann die Tür hinter sich zu.“

Ich konnte mein Grinsen nicht unterdrücken. „Oh, wow. Dass Mills überhaupt noch am Leben ist!“

„Ja, oder?“ Dorsey lachte in sich hinein.

„Und wie ging’s weiter?“, wollte Ian wissen, während er mir den Mundwinkel abwischte. „Gott, ich kann aber auch nirgendwo mit dir hingehen.“

Ich wackelte mit den Augenbrauen. Ryan schnipste zwischen uns mit den Fingern. „He, hört zu, jetzt wird es richtig gut.“

„Wird es“, versprach Dorsey mit einem fiesen Grinsen. „Mills steht mit einem Mal stramm, ein bisschen so wie die Leute im Film, wenn sie gefrieren oder zu Stein erstarren oder so.“

Kages Büro war verglast und von Dorseys und Ryans Platz in unserem Großraumbüro aus musste es eine wirklich gute Show gewesen sein.

„Genau“, stimmte Ryan zu. Sein Lächeln mit den tiefen Grübchen und den blitzenden blauen Augen erklärte hinreichend, warum immer so viele Frauen hinter ihm her waren, wenn er ausging. Er war einer von den Typen, bei denen man gar nicht merkte, wie gut sie aussahen, bis sie lächelten. „Mills versteift sich und läuft im Gesicht feuerrot an, und dann macht Kage diese Sache, wo er sich langsam umdreht und dich ansieht, als wärst du das absolut dämlichste Lebewesen auf diesem Planeten.“

„Den Blick kenn ich“, sagten Ian und ich im Chor.

Dorsey schnaubte. „Den kennen wir alle. Das ist der Blick, den Phillip …“

„Nenn mich Phil, Kumpel“, fiel ich ein und Dorsey, Ryan und ich machten Pistolengesten in die Richtung der anderen beiden.

„Ich glaube, ich hab’ da was verpasst“, bemerkte Ian mit zusammengekniffenen Augen.

Ryan machte eine wegwerfende Geste. „Du hast absolut gar nichts verpasst. Tull war der Trottel, der uns quer im ganzen Land verteilt hat, als du im Einsatz warst und Kage im Urlaub.“

„Oh, als du in San Francisco warst“, kombinierte Ian und wischte mir ein weiteres Mal den Mund ab. Diesmal fuhr er mir dabei mit dem Daumen über die Unterlippe.

Die Glut in seinen Augen ließ mich auf meinem Stuhl hin und her rutschen, denn meine Chinohose war plötzlich ein wenig enger. Er hatte einen sehr ungehörigen Effekt auf mich. „Genau“, krächzte ich.

„Tull war ein absoluter Wichser“, versicherte Dorsey Ian, „und Kage hat ihm unmissverständlich klar gemacht, dass seine Zeit bei den Marshals vorbei ist. Und als er das machte, im Übrigen vor uns allen, da hat er ihm genau diesen Blick zugeworfen. Diesen Blick, der sagt ‚Du bist so ein Vollpfosten, wie hast du es überhaupt bis in mein Büro geschafft?‘.“

Ryan nickte lachend, denn er kannte Kages stechenden Blick der Missbilligung. So wie der Rest von uns.

„Er wollte zurück zur Gerichtssicherheit, aber die Jungs da arbeiten zu hart, um sich mit einem Idioten wie ihm rumschlagen zu müssen“, fuhr Dorsey mit noch tieferer Verachtung für Tull fort.

„Absolut“, stimmte ich zu, während Ian mir eine Haarsträhne hinters Ohr strich. Ich hatte mir die Haare jetzt seit einiger Zeit wachsen lassen und wartete immer noch darauf, dass Kage etwas sagte. „Die Gerichtssicherheit braucht eine Nase wie Tull genauso dringend wie wir.“

„Und wie ging’s mit Mills weiter?“, fragte Ian. Er wischte sich die Hände ab und legte einen Arm auf die Rückenlehne meines Stuhls.

Dorsey lachte leise. „Er steht ’nen Moment lang da und sieht Kage an, dann dreht er sich um und rennt beinahe aus seinem Büro. Ohne die Tür hinter sich zuzumachen.“

„Oh, Scheiße“, hauchte ich. „Und was dann?“

„Kage geht zur Tür, nickt mir und Mike zu und macht dann ganz langsam seine Bürotür zu“, beendete Dorsey seine Erzählung. „Ich meine, ich weiß ja nicht, was Kenwood da drinnen gesagt hat, aber ich wette, die Dinge sind nicht so gelaufen, wie Mills sich das vorgestellt hat.“

Ryan lachte höhnisch. „Was für ein Arsch.“

Und nach diesem ganzen Debakel – und obwohl Mills genau wusste, dass sein letzter Versuch, über Kages Kopf hinweg zu entscheiden, so episch in die Hose gegangen war – fragte er ihn trotzdem, vor versammelter Mannschaft, ob es notwendig war, die Festgenommenen auf ausstehende Haftbefehle zu überprüfen. Wenn doch jeder einzelne Marshal auf diesem Planeten wusste, dass dies das Standardprozedere war. Kage sagte es nur deshalb, weil er darauf programmiert war, es zu sagen, nicht weil er nicht der Meinung war, es wäre der erste Schritt. Er war wie ein Vater, der sein Kind daran erinnert, etwas aufzuräumen – reine Gewohnheit, mehr nicht.

„Ja“, sagte Kage mit einem Schnauben. Unmut strömte wie in Wellen von ihm aus. „Ist es.“

Mills hüstelte nervös.

„Wo ist Doyle?“, blaffte Kage.

„Oh, ähm, er ist mit dem SOG-Team gegangen“, antwortete Mills und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er war sichtlich aus dem Konzept gebracht.

„Wer hat das autorisiert?“

„Ich“, sagte Mills und sein Blick huschte über Kages Gesicht.

„Haben Sie seinen Ohrhörer?“

Er räusperte sich. „Den habe ich.“

Kage deutete mit dem Kopf in meine Richtung. „Das ist sein Partner. Geben Sie ihm den Hörer.“

„Oh, ja, richtig“, erwiderte Mills und reichte mir den Knopf, den Ian in dem Augenblick, in dem der Einsatz beendet gewesen war, selbst hätte zurückgeben sollen. „Die SOG hat bei der Stürmung einen Mann verloren. Er wird sich wieder erholen, musste aber ins Krankenhaus gebracht werden. Also hat Lieutenant Salford darum gebeten, dass Doyle mit ihnen geht, und ich habe zugestimmt.“

Ich sah zu Kage hinüber, dessen angespannte Kiefermuskeln deutlich zeigten, dass er darüber nicht sehr glücklich war.

„Doyle, der sich freiwillig für ihre Einsätze meldet, Salford, der ihn anfordert und Sie, die dem stattgeben – ich denke, ich sollte darüber nachdenken, ob ich ihn nicht neu zuweise.“

Ich stellte mit Entsetzen fest, dass Kage mich ansah. „Sir?“

Ernsthaft, warum war ich denn jetzt in Schwierigkeiten? Nur weil wir verheiratet waren?

„Jones?“

Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.

„Wenn ich eine Anmerkung machen dürfte?“, fragte Mills.

Kage antwortete nicht, wandte ihm aber seine Aufmerksamkeit zu.

„Sie wissen so gut wie ich, dass die Leitung der SOG hier frei ist. Ein ehemaliger Green Beret, der zudem noch ein Marshal ist, wäre perfekt für diese Position geeignet.“

Kage verschränkte die Arme und betrachtete Mills mit stechendem Blick. Mills schien vor meinen Augen förmlich in sich zusammenzusinken. „Wirklich? Sie denken, er wäre perfekt für die Position geeignet?“

Ich konnte den Moment sehen, in dem Mills klar wurde, dass er vielleicht ein klein wenig zu weit gegangen war. Als ob sein Vorgesetzter nicht schon sehr viel früher zu demselben Schluss gekommen wäre.

„Aber natürlich wissen Sie das bereits, Sir.“

Kage gab einen Laut von sich, der wie ein gereiztes Grunzen klang, und wandte sich an mich. „Prüfen Sie auf ausstehende Haftbefehle und auch die Fingerabdrücke der Festgenommenen. Sie und der Rest bleiben hier, bis das erledigt ist.“

Warum er das wiederholte, war mir schleierhaft, aber ich wagte es nicht, deshalb auch nur zu stöhnen – er würde mir sonst den Kopf abreißen. Stattdessen nickte ich und wandte mich ab, meinen Gefangenen im Schlepptau. Becker und Ching kamen mit uns mit.

„Captain America ist also wieder mal abgehauen, was?“, stichelte Ching, sobald wir außer Kages Hörweite waren.

Ich zeigte ihm den Mittelfinger.

„So empfindlich.“ Becker lachte gehässig, dann deutete er auf das Ende der vierundzwanzig Mann langen Reihe der Festgenommenen.

„Herrje“, murmelte ich bei dem Anblick. Ich wollte wissen, wo Ian war – und noch weitaus wichtiger, wie es ihm ging. Stattdessen hockte ich hier fest und durfte Fingerabdrücke und ausstehende Haftbefehle überprüfen. Und das, wie es aussah, für die nächsten Stunden.

Meine Gedanken wanderten zurück zum frühen Morgen, bevor wir zur Arbeit gefahren waren. Ich hatte Frühstück gemacht, Ei im Körbchen, und Ian seine E-Mails gelesen, als er mich plötzlich fragte, was „upcycling“ bedeutete.

„Was?“, fragte ich und wandte mich von der Pfanne ab.

„Du weißt auch nicht, was das ist?“

„Ich habe eine Vermutung, aber gib mir den Kontext.“

„Na ja, Josue sagt, dass er einen Etsy-Shop eröffnen will und dass er Vintage Schmuck ‚upcyceln‘ will“, antwortete er und sah mit zusammengekniffenen Augen zu mir hoch. „Was zum Henker soll das heißen?“

Josue Morat, damals noch Josue Hess, war ein Zeuge, den ich letzten November aus Las Vegas zurückgebracht hatte. So wie Cabot Kindcaid und Drake Palmer vor ihm, war er mehr als nur ein Zeuge für Ian und mich geworden. Er war fast eine Art Mündel. Dass er Ian mailte statt mir bedeutete, dass er versuchte, mich zu umgehen. Aber warum, da konnte ich es nur mit Raten probieren.

„Etsy ist eine E-Commerce-Website, auf der Künstler und so die Sachen verkaufen, die sie gemacht haben“, erklärte ich.

„Okay“, sagte er, als hätte ihm das nicht im Mindesten weitergeholfen.

„Und ich vermute, ‚Upcycling‘ bedeutet so viel wie für einen neuen Zweck herrichten.“

„Ist ja auch egal“, sagte er gleichgültig, nicht länger bereit, Dinge zu diskutieren, die ihn nicht interessierten. „Ich hab ihm gesagt, dass er weder seinen richtigen Namen verwenden kann noch einen, der in irgendeinem Zusammenhang mit seinem alten Leben steht, dass er kein Bild von sich selbst hochladen darf, auch keines, das er bearbeitet hat. Mal sehen, was er jetzt macht.“

„Der Arme, er hätte schon im Februar aussagen sollen.“

„Jepp.“ Ian gähnte und streckte sich. „Sowas passiert, wenn sich reiche Kriminelle gute Anwälte holen. Der Prozess wird immer weiter rausgeschoben.“

„Ich glaube ja, dass …“

„Hunger“, maulte er unmutig, „ich brauch Futter. Wie lange dauert es denn, ein Loch in eine Scheibe Brot zu machen, ein Ei da rein zu hauen und das Ganze in der Pfanne zu braten? Ich wäre schon seit Stunden fertig.“

Ich schnaubte spöttisch und wandte mich wieder meiner Pfanne zu. Die Eier in der Mitte der Sauerteigbrotscheiben sahen gut aus, also gab ich die Stücke roter Paprika, die ich vorher angedünstet hatte, dazu.

„Und ich will mich ja nicht beschweren, denn es ist sehr nett und sehr häuslich und so von dir, dass du für mich kochst. Aber normalerweise trinken wir nur schnell einen Kaffee. Warum also?“

„Na ja, ich … ich mache mir halt Sorgen, dass irgendetwas passiert und du keine Gelegenheit dazu bekommst, etwas zu essen“, antwortete ich. Eine Sekunde später stand er zu meiner Überraschung direkt hinter mir. Sein Mund landete auf meinem Nacken und er biss mich sacht. „Lass das. Sonst bestehe ich nur noch aus Gänsehaut und ich versuche hier, die Eier perfekt hinzubekommen. Weshalb es auch so lange dauert.“

Er hörte nicht auf mich und rieb stattdessen erst seine Nase in meinen Haaren und küsste dann mein Ohr. Sein warmer Atem sandte einen Schauer durch mich hindurch. Er legte seine Arme um meine Taille und zog mich enger an seinen harten Körper, was meinen Hintern direkt an seinen Schritt drückte.

„Himmel, Ian“, stöhnte ich. Mein Kopf fiel nach hinten gegen seine Schulter und ich zerfloss in seinen Armen wie heißes Wachs. Ich liebte es, ihn zu spüren, seine Kraft und seine Wärme, die Macht in einer schlichten Umarmung.

„Nimm die Pfanne vom Herd, damit ich das bekommen kann, was ich wirklich brauche“, verlangte er mit tiefer, grollender Stimme, eine Hand an meiner Gürtelschnalle, während er mir mit der anderen das Hemd aus der Hose zog.

„Was du brauchst, ist etwas zu essen“, brachte ich heiser heraus. Der raue Klang meiner Stimme war auch überhaupt nicht heiß, kein bisschen. Das war aber nicht meine Schuld: Ian konnte mich ohne große Anstrengung seinerseits meinen eigenen Namen vergessen lassen. Er hatte eine berauschende Wirkung auf mich, die geradezu sündhaft war. „Ich will dir etwas zu essen machen.“

„Mhm, und ich will …“

„Was im Mund“, behauptete ich mit einem Grinsen.

„Ich will definitiv etwas im Mund haben, ja“, bestätigte er. Dann drehte er mich zu sich um, hob gleichzeitig die Pfanne von der heißen Herdplatte und küsste mich auf eine Art, die keinerlei Zweifel in mir darüber übrig ließ, was er wollte. Wenn ihm nicht gerade in dem Moment so laut der Magen geknurrt hätte, dass wir beide überrascht zusammenfuhren, wären wir definitiv viel zu spät zur Arbeit gekommen.

Ich schmunzelte, als er sich von mir löste.

„Halt den Mund.“

„Vielleicht solltest du doch etwas essen, Baby?“

Er knurrte.

„Meinst du nicht?“

„Vielleicht“, gestand er zu und gab nach. „Und grins mich nicht so an.“

Ich konnte nicht anders. Allein ihn anzusehen, machte mich absolut lächerlich glücklich.

Als er wenige Augenblicke später sein Essen in sich hineinschaufelte, breitete sich ein unfreiwilliges Lächeln auf Ians Lippen aus. Dieses Lächeln, dazu seine funkelnden Augen, und mir wurden die Knie so weich, dass ich mich an der Anrichte festhalten musste. Es bestand kein Zweifel: Ian Doyle hatte mich absolut und unwiderruflich um den Finger gewickelt.

„Jones!“

Harsch in die Gegenwart zurückgebracht, drehte ich den Kopf und sah, wie Kage mir winkte. Ich sah Becker an.

„Ich übernehm ihn“, sagte er und packte meinen Gefangenen am Arm. „Geh.“

Ich hastete zu Kage hinüber. Er ergriff meinen Oberarm – was er gewöhnlich nie tat, mein Vorgesetzter war nicht der Typ, der andere berührte, egal aus welchem Grund – und obwohl seine Aufmerksamkeit noch den Männern galt, die im Halbkreis um ihn herum standen, war er eindeutig drauf und dran, mir Anweisungen zu erteilen.

Schließlich wandte er sich zu mir und ich sah Sorge in seinen Augen. „Erinnern Sie sich an den Marshal aus Alabama, der letzte Woche herkam? Vom Middle District in Montgomery?“

„Ähm, ja.“ Ich musste schnell nachdenken. „Juanita Hicks. Sie wollte mit dem Paar aus Madison sprechen, das hier im Zeugenschutzprogramm ist.“

Kage nickte. „Nun, wie sich herausstellt, ist das nicht Hicks. Hicks ist vor zwei Wochen ermordet worden und die Frau ist in Wahrheit Bellamy Pine, Dennis Pines Ehefrau.“

„Oh, Scheiße!“, stieß ich hervor, plötzlich sehr froh darüber, dass ich sie wegen der Vorschriften hingehalten hatte. Das war ein purer Glücksfall: Ich hatte das süße junge Pärchen nach Chicago gebracht und ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen; daher musste ich dabei sein, wenn irgendjemand die beiden sehen wollte. Da ich aber bisher keine Zeit dazu gehabt hatte, hatte die angebliche Hicks eben warten müssen. Sehr zu ihrer Verärgerung, wie mir jetzt einfiel.

Das nette Pärchen, eine Ballettlehrerin namens Jolie Ballard und ihr Ehemann Brett, ein Website-Designer, hatte es nicht verdient, dass Dennis Pine um drei Uhr morgens in ihr Haus eindrang, zusammen mit drei von seinen Leuten, die zwei Zeugen mit sich schleiften. Wie die beiden es geschafft hatten, erst mitanzusehen, wie Dennis Pine drei Menschen tötete – die zwei, die er hatte umbringen wollen, sowie einen seiner Männer, der Gewissensbisse bekommen hatte – und dann mitsamt ihren beiden Hunden aus dem Haus zu entkommen, grenzte an ein Wunder. So, wie Jolie es erzählte, beinhaltete dieses Wunder ein großes Maß an Irreführung, sowie einen gut getimten Sprung – ein Grand jeté, wie sie es nannte – über ein mittelgroßes Erdloch in ihrem Garten. Dank jahrelangem, intensivem Balletttraining gelang Jolie der Sprung, selbst mit ihrem Zwergspitz unter dem Arm. Pine schaffte ihn nicht, und das war das Ende vom Lied. Brett berichtete, dass der Landkreis das Erdloch schon längst hätte auffüllen sollen und er noch nie in seinem Leben so dankbar für bürokratische Hürden gewesen war.

Pines Gerichtsverhandlung sollte in zwei Wochen stattfinden, und wenn Jolie und Brett in den Zeugenstand traten, bedeutete das die Spritze für Pine. Seine Ehefrau Bellamy versuchte, das zu verhindern.

„Jones?“

„Ja, i… ich hätte sie heute anrufen sollen.“

Kage nickte. „Sie müssen das Treffen wahrnehmen. Wir werden Sie dabei überwachen. Hicks hatte einen Partner, Christopher Warren, der ebenfalls vermisst wird. Sie haben Hicks’ Leiche heute Morgen hinter einem Wohnmobilplatz in Mobile gefunden, aber von Warren keine Spur.“

„Sie wollen Bellamy also lebend fassen.“

„Das ist der Plan, ja.“

„In Ordnung.“

„War Doyle mit dabei, als Sie Bellamy getroffen haben? Wird sie es eigenartig finden, wenn Sie allein erscheinen?“

„Nein, Sir, Ian war letzte Woche mit Sharpe und White in Skokie, um einen Flüchtigen abzuholen, diesen Typen, der in Kalifornien aus dem Gefängnis ausgebrochen ist – ich habe vergessen, aus welchem“, gestand ich ihm ehrlich. „Deshalb habe ich mit ihr gesprochen, während beinahe alle anderweitig im Einsatz waren.“

„In Ordnung“, sagte er und sah reihum den Männern einem nach dem anderen in die Augen. Einige von ihnen trugen Anzug und Krawatte, andere taktische Ausrüstung. „Rufen Sie sie an und vereinbaren Sie ein Treffen. Wir erledigen den Rest.“

„Jawohl, Sir“, erwiderte ich und machte Anstalten, mein Handy aus der hinteren Hosentasche zu ziehen.

Er hielt mich mit einer Hand auf dem Arm auf und blickte dann erneut in die Runde, damit auch jeder verstand, dass er mit ihnen sprach. „Keiner lässt ihn aus den Augen, verstanden?“

Und sie hörten auf ihn, wie immer.

* * *

Ich stand an einem der Foodtrucks einen Block von unserer Dienststelle entfernt. Ich hatte Bellamy, die sich immer noch als Hicks ausgab, angerufen und sie gebeten, mich hier zu treffen, sodass wir den weiteren Ablauf besprechen konnten, bevor ich sie zu Jolie und Brett mitnahm. Sie fuhr zwanzig Minuten später vor und hielt am Bordstein an, stellte aber weder den Motor aus noch stieg sie aus dem Wagen. Ich nickte ihr zu, um ihr zu zeigen, dass ich sie gesehen hatte und tat weiter so, als würde ich telefonieren. In Wahrheit sprach ich laut mit meinem Team, das dank des Knopfs in meinem Ohr mithören konnte.

„Ist sie da?“, fragte Becker.

„Ja, ist sie.“

„Tu mir einen Gefallen und steig nicht in das Auto ein“, befahl Ching mir.

„Als ob ich noch nie vorher entführt worden wäre“, sagte ich spöttisch und tat so, als würde ich auflegen. Nicht, dass das eine Rolle spielte, hatte ich doch ihn und Becker auf einem offenen Kanal im Ohr.

„Da hat er nicht ganz Unrecht“, stimmte Becker zu.

„Halt’s Maul“, brummte ich.

„Schluss mit dem Gequatsche“, grollte Dorsey.

Ich ging zu dem wartenden Auto, und als ich näher kam, ließ sie das Fenster herunter. Statt mich zu ihr zu beugen und ihr damit zu nahe zu kommen, ging ich am Bordstein in die Hocke.

„Fahren wir?“, wollte sie wissen.

Ich schüttelte den Kopf.

„Und warum nicht?“

„Weil sie hierherkommen. Auf die Art können wir uns problemlos bei uns in der Dienststelle unterhalten“, erklärte ich ihr. Ein rascher Blick bestätigte mir, dass sie wirklich wie ein Marshal aussah: schwarzer Anzug, weiße Bluse, Dienstmarke an den Gürtel geklemmt, Pistolenholster. Alles wirkte, als würde sie das schon seit Jahren so tragen. Aber ich wusste, dass sie sich eingeprägt hatte, wie sich die wahre Hicks kleidete. Beim Anblick der Dienstmarke an ihrem Gürtel wurde mir schlecht, aber ich unterdrückte das Gefühl.

Sie musste dennoch irgendetwas in meinem Gesicht gesehen haben: Ekel, Hass, Abscheu. Ich versuchte zwar, den Unbeteiligten zu spielen, aber es mochte doch etwas durchgeschimmert sein. „Was ist los mit Ihnen?“, fragte sie, leise, besorgt, die Stirn in Falten gelegt.

„Nichts, warum?“ Ich zuckte die Schultern und stand auf. Wenn ich mich bewegte, hörte sie vielleicht auf, mich anzustarren. „He, haben Sie Hunger? Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen.“

„Warten Sie.“

Ich blieb stehen, die Augenbrauen hochgezogen, und hoffte, ganz lässig zu wirken.

„Als wir letzte Woche gesprochen haben, sagten Sie, es wäre kein Problem.“

„Ist es auch nicht“, erwiderte ich mit einem Schulterzucken. „Und jetzt ist es sogar noch weniger ein Problem, weil sie sich einverstanden erklärt haben, uns hier zu treffen, und wir so nicht die Stunde bis zu ihnen rausfahren müssen.“

Ihr Blick blieb starr auf mich gerichtet.

„Mittagessen?“, hakte ich nach.

Sie atmete durch und schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, das wird nicht reichen.“

„Was reicht nicht?“ Ich blieb auf dem Bürgersteig stehen und stellte mich dumm.

„Ich muss sie zu Hause sehen“, drängte sie.

„Aber Sie wissen doch, dass wir hier die Dinge anders handhaben“, erinnerte ich sie an unser letztes Gespräch über die Vorgehensweisen. Ich versuchte, nicht zu besserwisserisch zu klingen, was mir aber vielleicht nicht so ganz gelang. Ich wurde von Sekunde zu Sekunde wütender. Wie konnte sie es wagen, so zu tun, als wäre sie Hicks? Es war ekelhaft.

„Sie müssen das schon besser machen, Jones.“

„Ja, und wieso?“, fragte ich, als ich ein Geräusch hinter mir hörte. Ich bekam nicht einmal die Chance, mich umzudrehen. Stattdessen bohrte sich der Lauf einer Schusswaffe in meine rechte Seite und eine Hand schloss sich fest um meine linke Schulter.

„Keine Bewegung, Marshal“, befahl eine Männerstimme. Der Knopf wurde mir aus dem Ohr gezogen und unter einer Schuhsohle zertreten.

„Was geht hier vor?“, fragte ich gespielt überrascht.

Ihr Augen wurden schmal. „Geben Sie mir die Adresse.“

Ich ließ alle Verstellung fallen und funkelte sie an. „Sie wissen, dass ich das nicht kann.“

„Ich bringe Sie um, Marshal“, drohte sie. „Ich stehe hier ein bisschen unter Zeitdruck.“

„Wenn Sie wirklich ein Marshal wären, dann wüssten Sie, dass wir niemals unsere Zeugen ausliefern“, teilte ich ihr mit. „Das steht in der Berufsbeschreibung.“

„Scheiße.“ Bis zu diesem Augenblick hätte ich mein Leben darauf verwettet, dass ich die Situation unter Kontrolle hatte. Aber dann packte mich ein zweites Paar Hände und zwei Männer drängten mich auf das Auto zu.

Bellamy stieg aus und öffnete die Tür zur Rückbank der Audi-Limousine, damit die beiden mich dort hineinstopfen konnten. Mir war klar, dass der Moment meine einzige Chance war, mich zu befreien. Mein Team war bereits unterwegs, und ich wusste, sie waren nicht weit weg, also machte ich trotz der Waffe in meinen Rippen einen Satz nach hinten. Ich würde mich nie wieder entführen lassen. Einmal war mehr als genug.

Als mich Craig Hartley, der als Märchenprinz bekannte Serienmörder, vor zwei Jahren entführt hatte, war ich angekettet und gefoltert worden. Diese Tortur endete damit, dass Hartley, der Chirurg gewesen war, mir eine Rippe entnahm. Und auch wenn mein Verstand wusste, dass das dieses Mal nicht wieder passieren würde – sie würden mich erschießen, nicht zusammenschlagen und aufschneiden –, konnte ich doch meine instinktive Angst nicht unterdrücken. Rationales Denken trat in den Hintergrund, und da Flucht ausgeschlossen war, blieb nur der Kampf.

Ich entwand mich den Männern und wirbelte zu dem Kerl mit der Knarre herum. Statt abzudrücken, schlug er mir mit der Pistole ins Gesicht. Ich verstand: Ein toter Mann konnte sie nicht zu Jolie und Brett führen. Ich war so lange sicher, bis ich den Aufenthaltsort der beiden verraten hatte. Also holte ich aus, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass mein rechtes Auge explodierte und ich plötzlich blind war, und erwischte den Kerl mit einem Kinnhaken, der ihn rückwärts gegen die Beifahrertür taumeln ließ.

Ein Schlag traf mich hart am Kiefer und dann noch härter in den Magen, aber als ich zu Boden ging, schaffte ich es, dem Kerl die Füße wegzutreten. Natürlich landete er voll auf mir, was nicht so erfreulich war. Aber dann hörte ich Dorsey – sein Brüllen war unverkennbar – und die Anspannung wich aus mir.

„Jones!“

Ching war da und Becker ebenfalls. Sie zerrten den Kerl von mir herunter, sodass ich wieder Luft bekam. Dorsey stellte mich auf die Füße. Er war ein ziemlich großer Typ.

„Himmel Herrgott“, keuchte Ryan, beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf die Knie. „Als du zu Boden gegangen bist, dachte ich schon, sie hätten dich erschossen.“

„Ich auch“, schnaufte Ching, legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte sie fest. „Ich bin schon verdammt lange nicht mehr so schnell gerannt.“

„Du hast mich mehrere Jahre meines Lebens gekostet“, schimpfte Becker, als wäre das meine Schuld.

Aber es war nett, dass sie sich alle solche Sorgen gemacht hatten. Ich war ein wenig gerührt. „Ihr seid losgerannt, als die Verbindung abgebrochen ist?“

„Scheiße, ja“, antwortete Dorsey, der die mit Kabelbindern gefesselte Bellamy um das Auto herum auf den Bürgersteig führte. Er half ihr, sich hinzuknien, und legte sie dann mit dem Gesicht nach unten auf den Boden.

„Wo ist Warren?“, wollte Ryan wissen und hockte sich neben sie. „Wir wollen ihn haben.“

„Er liegt im gleichen Graben wie sie“, fauchte Bellamy, „aber Sie werden keinen der dämlichen Wichser finden, wenn Sie nicht …“

„Such nach ihrem Handy“, sagte ich schnell. „Als wir uns das letzte Mal getroffen haben, hat sie mir erzählt, dass sie zum ersten Mal in Chicago ist. Wir können wenigstens ihre Route überprüfen.“

„Jones!“, kreischte sie.

„Hab es“, ließ Ryan mich wissen, dann holte er sein eigenes Handy aus der Tasche und öffnete den Download auf ihrem. Hoffentlich ging es schnell.

„Ich sag Ihnen, wo Sie die beiden finden können“, bot der Typ an, der mich mit seiner Pistole geschlagen hatte. „Sie machen mir einen Deal, ich werde reden. Ich hab nichts gemacht, außer das Auto zu fahren.“

Er war Komplize eines Doppelmordes an Vollzugsbeamten, aber ja, es gab dabei Abstufungen.

„Ich schwöre bei Gott, ich war nicht mal dabei, als sie die Marshals umgelegt haben.“

Es tat weh zu hören, dass sie tot waren, auch wenn ich keinen der beiden je persönlich kennengelernt hatte. Sie gehörten zu meiner Sippe, und ich würde sie vermissen.

„Hey.“

Ich drehte mich zu Becker um, der mein Gesicht in beide Hände nahm und mein Kinn anhob. Sanfter, als ich ihn je erlebt hatte, untersuchte er mich.

„Du musst genäht werden, Jones. Ab ins Krankenhaus mit dir. Sie werden deinen Schädel fotografieren müssen, um zu sehen, ob du eine Gehirnerschütterung hast.“

„Ich habe nicht mal …“

„Entschuldige, wolltest du was sagen?“

Manchmal gab Becker mir das Gefühl, ziemlich dumm zu sein. „Nee.“

„Hab ich auch nicht gedacht. Lass uns gehen.“

„Jawohl, Sir“, stöhnte ich, während Bellamy hinter mir vor Wut schrie.

Ich war überrascht, als Becker meinen Arm ergriff.

„Ich kann schon noch gehen, weißt du.“

„Weiß ich“, gab er zurück und führte mich unverdrossen weiter zum Auto.

„Was soll das, was ist los mit dir?“, fragte ich.

„Wir hätten dich heute verlieren können“, antwortete er barsch. „Ich glaub nicht, dass ich schon ertragen könnte, einen aus dem Team einzubüßen.“

Weil wir heute von Hicks und Warren erfahren hatten. Die Realität war plötzlich sehr viel näher gerückt.

2

Meine Augenbraue musste nur mit fünf Stichen genäht werden. Im Vergleich zu den diversen Platz- und Schnittwunden, die ich mir im Lauf der Jahre zugezogen hatte, war das gar nichts. Der diensthabende Arzt untersuchte mich umgehend – ich wurde vorgezogen, da ich faktisch bei Ausübung meiner Pflicht verwundet worden war, und weil Ching stinksauer aussah und niemand ihm sagen wollte, dass das nicht ging.

Da ich ein US Marshal war und vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, eine Schusswaffe trug, musste ich immer untersucht werden und von einem Arzt die Bestätigung bekommen, dass mein Gehirn nicht zu sehr durchgeschüttelt worden war. Niemand wollte, dass ein Mensch versehentlich erschossen wurde, nur weil der Marshal eine Gehirnerschütterung und ihn für einen Bären gehalten hatte oder so. Ich für meinen Teil wollte jedenfalls definitiv nicht auf der falschen Seite eines Schießvorfalls enden.

Ich saß also wartend und mit blutbeflecktem Hemd und Pullover in der Notaufnahme. Becker sprach mit Kage und Ching, der auf und ab tigerte, mit Dorsey. Auf einmal wurde der Vorhang, der mein Bett vom nächsten abgrenzte, beiseitegezogen, und wie bei einer Zaubershow erschien Eli mit einem anderen Mann.

„Hi“, grüßte ich ihn mit einem Lächeln und wunderte mich, warum er wohl hier war. Eigenartig.

„Ich war gerade auf der Rückfahrt vom Flughafen, und sie haben gesagt, dass du noch hier bist. Da wir heute ohnehin zum Abendessen verabredet waren und ich annehme, dass Doyle dich am Treffpunkt abgesetzt hat, als er mit den SOG-Leuten los musste, fand ich es sinnvoll, wenn ich hierherkomme und dich abhole.“

Ich nickte. „Das klingt vernünftig“, neckte ich ihn. „Deine Logik ist schlüssig.“

Er verdrehte dramatisch die Augen, kam dann aber so schnell zu mir, dass es seine Gelassenheit Lügen strafte.

Er stellte sich zwischen meine gespreizten Beine und untersuchte mein Auge und den Rest meines Gesichts, auf dem sich bereits, so hatte Dorsey mir versichert, hübsche Blutergüsse bildeten. Eli zuckte zusammen, während er meine Verletzungen begutachtete, und dann ein weiteres Mal, als er das Blut auf meinen Klamotten ansah. „Ich denke, wir sollten vorher erst noch bei dir vorbeifahren, damit du duschen und dir etwas anziehen kannst, das nicht voll Blutspritzer ist.“

Ich brummte, dann reichte ich dem Mann, der Elis Cousin sein musste, die Hand. Er sah Eli kaum ähnlich. Eli war groß und gebaut wie ein Schwimmer, mit breiten Schultern, kräftiger Brust, schmaler Taille und langen Beinen. Sein Cousin war schmaler und seine Muskeln sehniger, nicht so fitnessstudiogestählt wie Elis.

„Oh, ja“, sagte Eli. „Das ist mein Cousin, Ira. Ira, das ist Miro Jones.“

Der kleinere, nerdigere, bebrillte Cousin des Mannes, dem ich blind mein Leben anvertraut hätte, machte einen Schritt auf mich zu und nahm meine ausgestreckte Hand.

„Freut mich, dich kennenzulernen, Ira.“

„Ebenso“, erwiderte Ira mit einer Miene, die halb Grimasse und halb Lächeln war.

Ich tätschelte unsere verschränkten Hände mit meiner freien Hand, dann ließ ich los und wies auf mein Gesicht. „Oh, das ist gar nichts. Sowas ist zu erwarten.“

Er nickte. „Ich habe einen Freund, Tracy. Ihm passiert das auch.“

„Ist er im Gesetzesvollzug?“

„Nein, aber sein Bruder.“

„Wie sich herausgestellt hat, kennst du diesen Bruder indirekt“, erklärte Eli. „Ira und ich haben im Wagen festgestellt, dass du Alex Brandt kennst. Und das ist der Bruder von Iras Freund.“

Woher kannte ich den Namen?

Eli, der mich nach all den Jahren ziemlich gut kannte, sah meine Schwierigkeiten, ihm zu folgen. „Letztes Jahr, als du in San Fran warst, hast du mit meinem Kumpel Kane Morgan zusammengearbeitet und …“