Engelsknochen - Bruno Heini - E-Book

Engelsknochen E-Book

Bruno Heini

4,7

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Kaufhausdetektivin Palmer ist in großer Sorge. Niki, die Sängerin ihrer früheren Rockband, ist spurlos verschwunden. Palmer zweifelt keinen Moment, dass Niki Schlimmes widerfahren ist. Ihre Schuldgefühle treiben Palmers Ermittlungen unerbittlich an, bis sie selbst ins Visier der Polizei gerät. Als Palmer einer Gewalttat auf die Spur kommt, bestätigt sich ihr Verdacht auf grausame Weise. Sie kommt der Wahrheit gefährlich nahe und gerät in eine tödliche Falle. Mit allen Mitteln kämpft Palmer um ihr Leben.

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Seitenzahl: 262

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Bruno Heini

Engelsknochen

Kriminalroman

Zum Buch

Ohne jede Spur Niki, die Sängerin ihrer früheren Rockband, bittet Kaufhausdetektivin Palmer um ein dringendes Treffen – doch Niki taucht nicht auf. Laut ihrer Familie ist sie spontan verreist. Das macht Palmer misstrauisch, denn Niki würde nie einen vereinbarten Termin unentschuldigt sausen lassen. Währenddessen wird in der Zeitung über ein gefundenes Skelett berichtet. Die stets argwöhnische Palmer hat sofort einen entsetzlichen Verdacht. Stammen die Knochen von Niki? Palmer steht unter Schock. Trotz privater Sorgen nimmt sie die Ermittlungen auf, bis Palmer selbst unter Verdacht gerät, in Nikis Verschwinden verwickelt zu sein. Wird es ihr gelingen, den wahren Täter zu entlarven? Palmer kombiniert clever und stößt schon bald auf eine heiße Spur. Dabei enttarnt sie mehr als eine kriminelle Machenschaft – und muss um ihr Leben kämpfen.

Bruno Heini wurde in Luzern geboren, wo auch sein zweiter Thriller »Engelsknochen« spielt. Sein Debüt »Teufelssaat« schaffte es auf Anhieb in die Schweizer Taschenbuch-Hitparade. Bruno Heini arbeitete als Gastronomieunternehmer, wo er zahlreiche Auszeichnungen, wie beispielsweise den »Europäischen Branchen-Oscar« empfangen konnte, und hielt Referate zu Marketingthemen, ehe er sich dem Schreiben von Thrillern zuwandte. Seine Leidenschaft ist die Jazzmusik.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Teufelssaat (2016)

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © zardos4711/fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5604-6

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

1

Der kleine Kerl war total aus dem Häuschen, als Samantha endlich zur pinkfarbenen Leine griff, um Milky, ihren einjährigen Havaneser, Gassi zu führen. Mit ihren neun Jahren war Samantha erstaunlich pflichtbewusst, wenngleich ihre Mutter sie heute Abend zweimal hatte auffordern müssen. Sie sollte ihn einmal pro Tag persönlich ausführen, das hatten sich die Eltern ausbedungen, bevor sie den Widerstand aufgaben. Keine Ausnahmen. Samantha hatte übers ganze Gesicht gestrahlt und mindestens hundertmal mit dem Kopf genickt.

Eben erst war der Regen abgeflaut, und beide waren ganz aufgeregt. Milky, weil er es bei jedem Wetter liebte, etwas nachzujagen, einem Ball, einem Blatt im Wind oder einem unsichtbaren Feind. Samantha hingegen war noch immer aufgewühlt, da sie befürchtet hatte, die heutige Folge ihrer Lieblingsserie zu verpassen, sollte es zu lange regnen.

Aber nun war alles gut.

Ihr dunkelblonder geflochtener Zopf tanzte auf dem Kragen der Regenjacke, als sie, von der Löwenstraße her kommend, die breite Treppe zur Hofkirche emporhüpfte, während Milky oben bereits auf dem Kopfsteinpflaster losrannte. Nur da und dort tropfte es noch mit einem leisen Platschen vom Dach des Wohnhauses eines der Chorherren. Die sattgrüne Wiese roch moosig. Samantha schlenderte rechts bei den Gräberfeldern am Gotteshaus vorbei und spazierte über den Kapuzinerweg zielstrebig zur alten Grünanlage hoch, während ihr zotteliger Freund mit offener Schnauze, ganz so, als lächelte er, vor und zurück hetzte. Hier und dort hielt er jäh inne und beschnupperte das eine oder andere. Meistens gingen sie bis ins Dreilindenquartier zum Park der Musikhochschule hoch und erst dann wieder nach Hause. Aber Samantha befürchtete, ihr Spaziergang dauerte bereits jetzt zu lange. Würde die Zeit reichen, sein Fell rechtzeitig trocken zu kriegen, bevor »Hannah Montana« anlief?

»Milky!«, rief sie bestimmt.

Aber der schwarze Havaneser tauchte nicht auf.

Samanthas Vater, gelernter Metzger, der heute als Werbeverkäufer arbeitete, hatte diesem Hundenamen von Anfang an nichts Positives abgewinnen können. »Milky« für einen Hund mit schwarzem Fell! Erst erklärte er, dann appellierte er an ihre Vernunft. Die Kleine aber flehte, schmollte und stampfte beleidigt mit dem Fuß auf den Boden. Schließlich griff Samantha zu einem schlagenden Argument. Sie ließ über ihre Wangen die traurigsten Tränen der Welt kullern. Augenblicklich gab ihr Vater seinen Widerstand auf.

»Milky!«, rief Samantha wieder.

Sie wusste, wie verspielt der Kleine war, und hatte Mitleid mit dem lustigen Kerlchen. Noch eine weitere Minute wollte sie ihm lassen, das müsste dann aber reichen. Nach drei weiteren Atemzügen rief sie bereits wieder seinen Namen, denn sie hielt die Warterei bereits nicht mehr aus. Als er auch diesmal nicht auftauchte, stiefelte sie ihm nach, den Park hoch, am alten Steinkreuz vorbei.

Sie verschärfte die Tonart, schrie seinen Namen, so laut es ging, und klatschte dabei in die Hände.

Nichts.

Sie schnaubte und spähte durch den ganzen Park.

Noch einmal beorderte sie ihn her, jetzt zunehmend schrill und besorgt.

Wo steckte der Bengel?

War ihm etwas zugestoßen?

Sie erstarrte.

War der Dummkopf etwa am oberen Ende des Parks die Treppe hochgehetzt und auf die Hauptstraße hinausgesprungen?

Samanthas Atem ging schnell, als sie den Weg emporeilte.

Noch bevor sie die Treppe erreicht hatte, sah sie ihn.

Wie angewurzelt blieb sie stehen und blickte zur Wiese neben den Bäumen.

Gänsehaut breitete sich über ihren Körper aus. Ihre Lippen formten einen Kreis, doch sie brachte keinen Laut hervor.

»Milky?«, fragte sie unsicher.

Nun hob ihr kleiner Hund den Kopf, dunkelbraun gefärbt von nasser Erde. Er machte einen Satz aus dem Erdloch und hopste zu Samantha. Allerdings schnellte sein Kopf bei jedem Sprung schräg zur Seite, da er etwas in seiner Schnauze trug. Einen Meter entfernt legte er Samantha seinen Schatz vor die Füße, setzte sich, hielt den Kopf schräg und hechelte mit heraushängender Zunge. Treuherzig blickte er Samantha an, wedelte mit dem Schwanz und wartete auf ein Kompliment.

Samantha schlug die Hände vors Gesicht. Nach einigen Sekunden getraute sie sich, zaghaft die Augen zu öffnen.

Im nassen Rasen vor Milky lag ein grausiges Ding.

Ein riesiger weißer Knochen.

Samantha presste beide Fäuste an ihren Mund und begann zu weinen.

Als sie sich etwas gesammelt hatte, schritt sie zögerlich zum ausgebuddelten Loch. Aus sicherer Distanz und mit gestrecktem Hals wagte sie einen ängstlichen Blick.

Ihr zog sich der Magen zusammen, denn im gleichen Moment wünschte sie sich, sie hätte darauf verzichtet.

2

Ein Tag zuvor. Montag. Es war kurz nach halb zehn Uhr morgens. Der Sturmwind peitschte Gewitterregen durch die Straßen, als missfiele dem Himmel, was hier unten geschah. Palmer hatte es beinah bis zum Bahnhof geschafft, hatte in einer Toreinfahrt Schutz gefunden und erblickte nun zwei Passanten, die tapfer gegen eine kalte Sommerböe ankämpften. Ein Lastwagen preschte durch die Straße und spritzte beide nass, bevor sie sich unter einem Vordach aneinanderdrängten, eine Aktentasche noch immer schützend über dem Kopf.

Ein Blitz spaltete das nasse Grau, und für den Bruchteil einer Sekunde erstrahlte Palmer in gleißendem Licht.

Vor längerem hatte ein Vibrieren in der Hosentasche eine eingehende SMS angekündigt. Aber Palmer war gerannt und getraute sich erst jetzt, halbwegs im Trockenen, das Handy aus der Tasche zu fischen.

›Chef, es eilt‹, las Palmer, während ein Windstoß den Regenschirm zerstörte.

Durch das Unwetter und den Lärm der Stadt drang aus der Ferne die Sirene eines Polizeiwagens. Schon schoss die verästelte Zeichnung des nächsten Blitzes über den Himmel. Donner grollte.

Palmer drückte sich gegen die Hauswand, während der Sturmwind die Haare platt an den Kopf presste.

›Diebesbande im Anmarsch! Chef, wir brauchen dich. Echt‹, hatten die Warenhausdetektive geschrieben. Dem zarten »Pling« der ersten Nachricht vor knapp 30 Minuten wäre es beinahe nicht gelungen, Palmer wachzurufen. Heute war ihr arbeitsfreier Tag, so dass sie sich gestern Abend tiefgründig miteinander unterhalten hatten, Palmer und Johnny Walker. Allerdings lagen die Zeiten weit zurück, als Palmer nicht mehr wusste, wo sie die Nacht von Donnerstag auf Montag verbracht hatte.

Aber dies war einer jener Notfälle, die keine Rücksicht nahmen auf Brummschädel und freie Tage. Also war Palmer sofort nach der SMS aus dem Bett gesprungen, hatte einen kurzen Anruf in die Sicherheitsabteilung des Warenhauses getätigt und kämpferisch Befehle erteilt.

Mistwetter.

An den Verkehrsschildern rüttelte der Wind. Er versetzte allen Passanten einen seitlichen Schubser, wenn sie um eine Hausecke bogen, so dass sie um ihr Gleichgewicht rangen. Palmer löste sich fröstelnd aus der geschützten Ecke, klammerte im Weiterrennen mit der linken Faust die Regenjacke vor der Brust zusammen, stürzte mit eingezogenem Kopf durch die Pforte und stand exakt in dem Augenblick im Eingangsbereich des Warenhauses, als ein gewaltiger Donner über der Stadt krachte.

Nass bis auf die Haut, neigte sich Palmer nach vorne und schüttelte, so gut es ging, ihre kurzen blonden Haare trocken. Dann strich sie sich einige Strähnen aus der Stirn. Auch nach Monaten kam es noch immer vor, dass sie innerlich zusammenfuhr, wenn sie sich in die Haare fasste und beinahe ins Leere griff. Zeitlebens hatte ihre goldene Mähne bis zur schlanken Taille gereicht, bis sie eines Tages in einer heftigen Gemütsbewegung der Schere zum Opfer fielen. Palmer war es leid gewesen, dass man sie bei ihren Arbeitsleistungen auf ihre blonden Haare reduzierte. Noch über Wochen flackerte dann und wann ein Gefühl auf, als hätte der Friseur einen Teil ihrer Identität weggeschnitten. Erst als ihre Freundinnen beteuerten, ihr Kurzhaarschnitt passe wunderbar zu den blauen Augen, freundete sie sich mit ihrem neuen Look an.

Palmer drückte eine Kurzwahltaste am Handy und fragte:

»Welche Etage?«

»Ist okay, Chef«, beruhigte ihr Stellvertreter, »inzwischen haben wir alles unter Kontrolle. Die ersten vier haben wir im Büro eingeschlossen. Die Polizei ist unterwegs. Der Rest der Bande hat sich verzogen, als wir aufgetaucht sind.«

Palmer sog die Luft ein, dann glättete sich ihre Stirn. »Gute Teamarbeit. Wie groß ist der Schaden?«

»Soweit wir dies beurteilen können, waren wir rechtzeitig vor Ort. Alles übrigens genauso, wie du’s vorausgesagt hast.«

Palmer grinste entzückt. »Okay, bis morgen«, sagte sie, »Kompliment. Habt ihr gut gemacht. Ich freue mich für euch.« Sie verabschiedete sich mit netten Worten. Insgeheim verstimmte sie dieser Einsatz ein klein bisschen, denn sie hätte gern wieder mal ausgeschlafen an ihrem freien Tag. Die Freude aber überwog. Und sie fühlte sich geschmeichelt, dass ihre Abteilung in einer brenzligen Situation wie selbstverständlich Hilfe gesucht hatte bei ihr.

Sogleich tippte sie »Cappuccino???« ins Handy ein. Da sie schon mal im Stadtzentrum war, wollte Palmer ihre rare Zeit für ein Treffen mit Juli nutzen. Vielleicht hatte sie Glück, und ihre Freundin weilte gerade in Luzern und jettete mal nicht als Fotomodell um die Welt.

Julis Antwort ließ nur Sekunden auf sich warten.

»Nööö, geht leider nicht, Shooting auf den Malediven. Melde mich.«

Palmer senkte langsam den Kopf. Schade, dachte sie.

Den Vordächern entlang huschte sie in die Konditorei zwischen Hauptpost und dem Geschäft mit Luxusuhren am Bahnhofplatz, erstand eine Haselnussschnecke und setzte sich dann ins Café. Kaum hatte sie die nasse Jacke ausgezogen, stand bereits ein heißer Espresso mit Keramikdeckel vor ihr auf dem Tisch, denn die Bedienung kannte Palmer seit langem und las ihr jeden Wunsch von den Augen ab.

In Palmers Brust breitete sich ein Wärmegefühl aus.

»Wie aufmerksam von dir«, sagte sie zur Bedienung.

Diese quittierte mit einem Lächeln und einem »Schön, dass du hier bist«.

»Ist Niki letzten Freitag noch aufgetaucht, nachdem ich gegangen bin?«, fragte Palmer sie. »Wir waren verabredet, aber ich habe vergeblich gewartet.«

»Wir haben sie schon länger nicht mehr gesehen«, sagte sie und stellte sich neben Palmer. »Hast du nicht gesagt, heute ist dein freier Tag? Dann kreuzt du doch sonst hier nicht auf. Schön, dass du wieder bei Othello arbeitest. Die wären auch zu blöd gewesen, auf deinen guten Riecher zu verzichten.«

In der Tat war Palmer trotz Bedenken auf das Jobangebot des ehemaligen Arbeitgebers eingegangen. Im Unterschied zu früher und unter einem neuen Direktor war sie jetzt zur Leiterin der Warenhausdetektive aufgestiegen. Zur Genüge hatte sie ihr Können bewiesen.

»In einem Notfall dürfen meine Leute mich auch an freien Tagen rufen«, antwortete Palmer. »Zwei Diebe haben sich viel zu leicht überführen lassen.«

Die Bedienung nickte zwar, aber dies widersprach ihrem fragenden Gesicht.

»Dies bedeutet für uns, dass gleich eine professionelle Bande das Haus heimsuchen wird«, fuhr Palmer fort. »Der Trick geht so: Die einen lassen sich mit geringfügigem Diebesmaterial erwischen, wofür kein Richter der Schweiz eine Strafe ausspricht. Kleine Diebstähle scheinen ein Menschenrecht zu sein. Also: Die ertappten Diebe beschäftigen alle diensthabenden Warenhausdetektive. Diese führen die Diebe ab, hinter die Kulissen. Dann tauchen ihre Komplizen auf und klauen unbehelligt echt Wertvolles, weil die Detektive in den Hinterräumen beschäftigt sind. Aber nicht bei uns. Heute haben meine Kollegen den Braten gerochen. Sie markierten rechtzeitig wieder auf den Abteilungen Präsenz.«

»Othello tut aber auch alles, dass man dieses Zeug unbedingt haben will. Würdest du mich laufen lassen?« Sie lächelte ironisch.

»Auch ich kann mir nicht alles leisten.« Palmer wedelte den Gedanken fort wie eine Fliege. »Ich verstehe sogar, dass der eine oder andere der Verlockung erliegt. Andererseits stößt mich diese Unersättlichkeit ab. Nein, nein, es ist richtig, dass ich Diebe fasse. Und zwar alle. Die Leute brauchten ja gar nicht erst das Warenhaus zu betreten, wenn die Sachen außerhalb ihres Budgets liegen.«

»Aber dann hättest du deinen Job nicht.«

Palmer zwang sich zu einem Lächeln.

Dann griff sie zum Handy und drückte Nikis Kurzwahl. Sofort sprang die Mailbox an. Palmer probierte es noch einmal. Wieder nichts. Dann simste sie: »Ruf mich bitte zurück. Jetzt.«

Palmer wartete.

Nichts geschah. Auch nicht nach Minuten.

Ungeduldig blickte sich Palmer um, während die Gewitterfront vor dem Schaufenster weiterzog. Das war sie von Niki nicht gewohnt. Niki hatte Termine immer pünktlich eingehalten. Ihre Schwächen, mit denen sie ihren damaligen Bandkollegen auf den Keks ging, lagen anderswo. Und alle hatten damals damit zu leben. Denn sie war nun mal die Sängerin, also jener Teil einer Band, welchen die Medien und die Öffentlichkeit wahrnahmen.

Palmer schnaubte kurz. Sie fragte sich, weshalb Niki so dringend um ein Treffen für Freitag gebettelt hatte, dann aber unentschuldigt ferngeblieben war und auch heute auf nichts reagierte. Allerdings hatte es früher auch schon dann und wann Zeiten gegeben, in denen Niki mit ihren Freundinnen fahrlässig umgegangen war. Auch Juli war zurzeit nicht gerade ihr größter Fan. Irgendwas muss da gewesen sein zwischen den beiden.

Palmers Kiefer mahlten.

Sie wählte Nikis Festnetznummer und war bereit, es zehn Minuten lang klingeln zu lassen, bis die Freundin den Anruf entgegennehmen würde.

Doch bereits nach dem dritten Läuten kam Palmer durch.

»Weshalb rufst du nicht zurück?«, fragte sie sofort.

»Kenn ich Sie?«, fragte eine Frauenstimme.

Palmers Mundwinkel zuckten und sie zog die Augenbrauen hoch.

»Sie sind nicht Niki. Können Sie bitte Niki ans Telefon rufen?«, sagte Palmer.

»Niki ist nicht hier. Aber wer ist dort?«

»Palmer.«

»Palmer? Chris Palmer? Sind Sie das?«, fragte die Frauenstimme.

»Mit wem spreche ich?«

»Toll. Ich habe Ihre Band immer bewundert. Da ich jetzt selber ein Star bin mit meinem Song, sind wir eigentlich Kolleginnen. Ich sag deshalb einfach mal du zu dir. Was hältst du von meinem Lied?«

»Sorry, wer spricht dort?«, fragte Palmer verwirrt.

»Jessica. Mein Song läuft dauernd im Radio.«

Als es Palmer dämmerte, klang ihre Stimme entschlossen: »Ihr Song? ’tschuldige, aber ich hätte schwören können, der sei von Niki. Niki meinte dies übrigens auch.« Palmers Unterkiefer schob sich nach vorne. »Würden Sie jetzt bitte Niki ans Telefon holen?«

»Die ist nicht hier. Die ist in Afrika«, sagte Jessica. »So schön, mit dir persönlich zu sprechen. Können wir uns mal treffen? Ich hätte da einige Fragen, so von Musikerin zu Musi…«

Palmer unterbrach die Verbindung.

Eigentlich wollte Palmer nicht unfreundlich sein. Aber sie erinnerte sich an die kleine Vorgeschichte.

Niki hatte vor einigen Tagen angerufen und geschäumt vor Wut. Sie hatte sich darüber beschwert, Jessica habe ohne Einwilligung von Niki den noch unveröffentlichten Song »Dance With Me« von ihr rausgebracht. Hierauf hatte Palmer den Radio angedreht. Es dauerte dann nicht lange, bis Jessicas Liedchen ertönte. Der Text, oder besser die aneinandergereihten Worthülsen waren dann auch belanglos genug, um es in die Hitparade zu schaffen. Aber ab dem ersten Ton der fröhlichen Melodie war für Palmer klar, Jessica war keine Musikerin, sondern halt bloß ein hübsches Ding mit dünnem, aber herzigem Stimmchen. Doch den Leuten schien es zu gefallen.

Palmer ärgerte sich nun trotzdem, dass sie das Gespräch abgebrochen hatte. Denn sie hätte gerne mehr über Nikis Aufenthaltsort erfahren. Afrika? Weshalb behauptete diese Jessica, Niki sei in Afrika?

Palmer war von Niki einiges gewohnt. Aber Niki war immer pünktlich gewesen. Dies machte Palmer stutzig. Erst recht, da Niki sie so dringend um einen Termin gebeten hatte. Nein. Niki ließ keinen Termin sausen, weil sie nach Afrika verreist war. Sie hätte entweder das Treffen gar nicht vereinbart oder sich abgemeldet, wenn sie verhindert wäre.

Da Palmer keine Geschäftsnummer von Nikis Ehemann hatte, rief sie die Auskunft an, ließ sich verbinden, wartete, bis jemand den Anruf entgegennahm, um dann aber sogleich zu erfahren, dass Aschwanden zwar anwesend sei, jedoch gerade ein anderes Telefonat führe.

Großzügig legte Palmer Münzen für den Kaffee auf den Tisch und verabschiedete sich mit einem »Pass gut auf dich auf.«

Es hatte zu regnen aufgehört.

Aber Palmer ging nicht nach Hause, denn sie wollte sich Klarheit verschaffen.

3

Die Sempacherstraße lag zentral in einem geschäftigen Wohnquartier. Ein mehrstimmiger Akkord erklang, nachdem Palmer mit dem Aufzug in den dritten Stock gefahren war und bei ›Dr. jur. Beat Aschwanden, Advokatur und Wirtschaftsberatung‹ geklingelt hatte.

Sie betrat die Kanzlei.

Eine Sekretärin blickte von der Tastatur hoch und fragte, wie sie weiterhelfen könne, erhob sich jedoch nicht, um Palmer am Empfangstresen zu begrüßen. Eine schmallippige Frau, die offenbar aus Prinzip auf Make-up verzichtete. Ihr Gesicht sah so aus, als sei sie ständig empört.

»Nein, leider telefoniert Herr Aschwanden noch immer. Ob er anschließend Zeit für Sie hat, weiß ich nicht. Darf er Sie später anrufen?«

Palmer drehte den Kopf zur Tür, die sich eben geöffnet hatte.

»Hallo, Frau Palmer, was führt Sie zu uns?«, fragte Aschwanden, legte einen dünnen Stapel Papiere auf den Schreibtisch der Empfangsdame und richtete ihn bündig zur Tischkante aus, während ein breites Lächeln einen goldenen Backenzahn enthüllte.

Die glänzenden schwarzen Schuhe, das weiße Hemd mit Windsor-Kragen und die hellblaue Seidenkrawatte trugen das Ihre dazu bei, dass er aussah wie Mitte 50. Aber sie wusste von Niki, dass er 48 Jahre alt war und somit zwanzig Jahre älter als sie selber. Groß, schlank, die Lesebrille an einer Kette um den Hals, perfekt gebräunt und mit einem kleinen Leberfleck auf der linken Wange. Bei einer Frau wäre er als Schönheitsfleck durchgegangen, bei ihm war’s halt ein Leberfleck. Allerdings verströmte er eine Aura von stählerner Kraft, so als müsse er ein ganz wichtiger Mensch sein. Und er hatte einen Ausdruck um die Augen, der ihn auch dann so wirken ließ, als lächelte er, selbst wenn er es nicht tat.

»Was verschafft mir die, äh, Ehre?«, sagte er. Wenn er sprach, bewegten sich seine Lippen kaum. Er stellte sich in geschäftsmäßigem Abstand vor Palmer, die Hände so in die Hüften gestemmt, dass sie eine goldene Rolex zum Vorschein brachten.

Palmer kannte Aschwandens grundsätzliche Bedenken ihr gegenüber. Er missbilligte jeden weiteren Kontakt von Niki zur Musikszene. Dies hatte er sich ausbedungen, als er Niki heiratete. Als Treuhänder lebe er von Vertrauen und Glaubwürdigkeit und das Musikbusiness sei schließlich als ausschweifend berüchtigt, hatte er seine Forderung begründet. Niki war darauf eingegangen und hatte sich vollständig aus der Musikszene verabschiedet.

Palmer begrüßte ihn mit einem Lächeln, fragte jedoch sogleich:

»Wo steckt Niki?« Unbewusst wippte sie bereits mit dem Fuß.

Aschwanden verdrehte die Augen und blickte weg. »Monika, äh, Niki findet gerade zu sich selber.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah Palmer streng in die Augen. »Letzten Donnerstagabend bin ich mit Jessica, meiner, äh, Freundin, nach Hamburg geflogen. Am Freitagabend habe ich Niki telefonisch im ›Titlisblick‹ erreicht, unserem Wochenendhaus in Engelberg. Da hat sie mir mitgeteilt, sie verreise für einige Tage nach Marokko. Als wir gestern Abend zurückkamen, war sie jedenfalls nicht mehr zu Hause.«

»Entschuldigen Sie, aber das kann nicht sein. Sie hatte dringend um ein Treffen mit mir gebettelt, ist jedoch nicht erschienen und war nicht mal telefonisch erreichbar. Bis heute.«

»Wundert Sie das?«

Palmer wusste, dass dicke Luft herrschte zwischen Niki und ihrem Ehemann. Und sie kannte Nikis Zickigkeit zur Genüge. Auch als Sängerin in Palmers Band hatte sich Niki einiges geleistet. Zwar verfügte sie über eine Hammerstimme, aber als Persönlichkeit war sie kein Hauptgewinn. Eine Schönheit, die ihren Kopf durchsetzte und sich schnell langweilte. Okay, Palmer kannte mit ihr auch gute Zeiten, insbesondere auf Tourneen, wenn das Publikum so richtig abging und auch Niki gut drauf war. Dann war sie ein richtiger Schatz. Von solchen Momenten zehrte dann die ganze Band über die darauffolgenden Durststrecken.

»Wovon hatte Niki denn die Nase voll, dass sie sich nach Afrika absetzt?«, fragte Palmer.

Aschwanden lächelte traurig und schüttelte den Kopf.

Offenbar war Niki mal wieder abgetaucht, weil sie von allem, insbesondere ihrem Ehemann, genug hatte. Aschwanden war zwar überhaupt nicht Palmers Welt, trotzdem tat er ihr leid. Für getrennte Schlafzimmer hatten sie sich schon bald nach der Hochzeit entschieden. Und es war kein Geheimnis, dass Niki ihn sich nur der Kohle wegen ausgesucht hatte. Bereits nach einigen Monaten hatte Niki durchblicken lassen, ihr fehle es im Leben mit Aschwanden an nichts, außer an Abwechslung und Action.

»Kaum langweilt sie sich, schaut sie sich in der weiten, äh, Welt um«, sagte er jetzt. »Sie hat einfach zu viel Zeit und erträgt die Stille nicht. Vermutlich nicht mal sich selber. Ich habe sie x-mal am Handy angerufen, aber sie hat nicht geantwortet, jedes Mal ist die Mailbox angesprungen. Mit Zurückrufen tut sie sich schwer. Schon seit längerem.«

Niki war eine Frau, nach der die Männer ihre Hälse reckten. Aber es ging ihr nicht um Abenteuer. Palmer konnte sich vorstellen, wie sich Niki einen Spaß daraus machte, irgendwohin zu verreisen und für einige Tage ihr Handy auszuschalten. Aber für Palmer blieb die Frage unbeantwortet, weshalb Niki sie so dringend treffen wollte, dann aber, ohne sich abzumelden, nicht aufgetaucht war.

»Was will sie denn in Marokko?«

»Sie hat zwei Wochen im Mandarin Oriental gebucht, in Marrakesch. Auf unserer Hochzeitsreise ist sie dort auf Wolke sieben geschwebt.« Er atmete tief durch, dann ergänzte er: »Niki kommt bestimmt bald zurück. Das tat sie noch jedes Mal.«

»Aber Niki hasst Fliegen. Das weiß ich genau.«

Er schüttelte den Kopf. »Ihre Flugangst hat sie nie überwunden. Sie wird wohl mit dem Zug gefahren sein. Über Frankreich und, äh, Spanien. Ist durchaus machbar.« Er starrte auf seine Handrücken. Dann hob er seinen Blick und lächelte. »Allerdings steht ihr Wagen nicht in der Garage, das irritiert mich schon etwas. Vielleicht hat sie ihn im Bahnhofparkhaus abgestellt.«

»Ist sie im Hotel eingetroffen?«

Aschwanden drehte sich zu seiner Sekretärin und übertrug ihr die Aufgabe, im Hotel nachzufragen. Dann prüfte er, ob sein Krawattenknoten richtig saß und streckte Palmer die Hand hin, um sich zu verabschieden. »Gleich kriege ich Besuch. Muss mich noch kurz vorbereiten. Ich ruf Sie später an, um Nikis Ankunft zu bestätigen.« Er drehte sich um und winkte im Weggehen mit der Hand über dem Kopf. »Frau Eiholzer nimmt Ihre Nummer entgegen. Schönen Tag noch.«

Palmer fragte sich, ob er die in der Geschäftswelt übliche Nummer des Vielbeschäftigten abzog. Sie drehte sich zur Sekretärin, stieß langsam die Luft aus und fragte sich selbst: Scheint ihn das alles gar nicht groß zu kümmern?

Ihr schwante Böses.

4

Palmer traf Alex nur auf ein Feierabendbier, da er später noch nach Genf fahren wollte, um dort am Tag darauf einen Termin bei einem Kunden wahrzunehmen. Dies würde ihr ermöglichen, sich wieder einmal eingehend ihrer Gitarre zu widmen. Nicht nur das Feuer mit Alex flackerte seit einigen Wochen wieder auf, auch die alte Liebe zu ihrem Musikinstrument war von neuem entbrannt. Sie war zutiefst gerührt gewesen, als er sie gebeten hatte, sie möge ihm doch den ganzen Roman und nicht bloß ein Kapitel ihres Lebens widmen.

In der belebten Bar entdeckte sie ihn in einer etwas abgeschiedenen Ecke, als er gerade ein Glas mit klarer Flüssigkeit und Eiswürfeln zum Mund führte. Sein milder Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass er die kalte Hitze seines geliebten Gins genoss, welche sich in seiner Kehle ausbreitete.

Ein attraktiver Mann, dachte Palmer, trotz des großen Adamsapfels, oder auch gerade deshalb. Dichtes, leicht gewelltes dunkles Haar, um die fünfunddreißig und damit sieben Jahre älter als Palmer, einen halben Kopf größer und glatt rasiert. Sein Blick schien zu signalisieren, dass er die Welt auf andere Art betrachtete und sich dabei amüsierte. Dieser Eindruck täuschte aber insofern, dass er Aufgaben, die er anpackte, zielstrebig und erfolgreich abschloss. Allerdings hätte sie Jeans seinem Anzug mit Krawatte vorgezogen. Dass bei Alex der Frühling einige Kilos zu früh gekommen war, machte ihn Palmer umso sympathischer. All diese Gockel, die sich tagtäglich in Muckibuden nichts anderem widmeten als ihrem Aussehen, langweilten sie.

Als sie sich zu ihm durchschlängelte, entging ihr nicht, wie eine blonde Frau zwei Tische weiter zu ihm hinüberblickte, ihn sanft anlächelte und dann den Kopf senkte wie ein Kätzchen, das darauf wartete, dass man es kraulte.

Er hatte ein unbelebteres Plätzchen ausgesucht. Dies ließ Palmer ahnen, dass er sich mit ihr unterhalten wollte, denn hier war die Musik leiser. Hätte er es vorgezogen, in ihrer Gesellschaft zu schweigen, hätte er sich an den Tresen gesetzt, wo satte Bässe tiefgründige Gespräche schlicht unmöglich machten.

Palmer und Alex hatten eines gemeinsam: Beide verloren vor langer Zeit die große Liebe ihres Lebens infolge Krebs. Palmer ihre Mutter, Alex seine Ehefrau. Wer seine Liebste hatte leiden sehen müssen, sah die Welt danach mit anderen Augen. Für Alex war Palmer seit Jahren die erste Beziehung gewesen. Palmers Affären hatten allesamt nur kurz gedauert. Allerdings hatte sie noch nie jemanden so nahe an ihr Innerstes herangelassen wie Alex.

Sie begrüßten sich herzlich, Palmer spürte, dass sich Alex echt freute, sie zu sehen. Sein Lächeln, das ein Grübchen in die linke Wange grub, war es ihr wert, ihn in der Bar zu treffen, obwohl sie weder die vielen fremden Leute noch die Musik hier mochte.

Palmer bestellte ein Bier ohne Glas und begutachtete den Teller mit der übrig gebliebenen Hälfte seines Nutellabrots. Eine Aufmerksamkeit des Hauses, extra für ihn. Palmer fühlte sich eher zu Fertigpizza mit Fertigsalat hingezogen und konnte gut nachvollziehen, dass er Diätfutter ablehnte. Er hatte mal zu verstehen gegeben, Nutella bestehe zu sechzig Prozent aus Pflanzenfett, sei also praktisch ein Gemüse.

Er interpretierte ihren begehrlichen Blick richtig und schob den Teller zu ihr hinüber. Als sie reinbiss, quoll nussbraune Creme an den Seiten heraus und tropfte ihr aufs Kinn. Sie mampfte, griff zur Serviette und lächelte mit vollem Mund, während sie das Kinn abwischte.

Sie hatte heute noch kaum etwas gegessen, so dass ihr dieses Brot mit Schokoladeaufstrich vorkam wie die beste Mahlzeit ihres Lebens.

Die Musik füllte den stillen Teil ihrer Unterhaltung, als sie von neuem hineinbiss.

Als Palmer einen Blick auf Alex´ Notizen im aufgeschlagenen Block zu erhaschen versuchte, sagte er: »Morgen treffe ich den Sportschuhhersteller. Wichtiger Kunde. Ich war eben dabei, mir noch die eine oder andere Idee zu notieren für seine jugendliche Zielgruppe.«

»Typisch Marketingfritze, denkt immer ans Geschäft.« Sie lachte und tupfte sich mit der Serviette die Lippen sauber. »Du wirst wohl erst zufrieden sein, wenn sich jeder noch ein fünftes Paar Joggingschuhe kauft.«

»Nun, wer den Lohn nicht aus Steuererträgen erhält wie beispielsweise ein Gemeindeangestellter, der lebt von Verkäufen, direkt oder indirekt. Und mein Kunde stellt nun mal Sportschuhe her.« Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie, um dem Gespräch einen vertraulicheren Charakter zu verleihen. »Und unter uns gefragt: Was willst du als Warenhausdetektivin denn noch beschützen, wenn ihr all die Waren nicht mehr verkauft?« Er lehnte sich wieder nach hinten.

Sie legte den Kopf in den Nacken. Dann blickte sie ihn über den Nasenrücken hinweg an. Geld an und für sich war ihr nicht sonderlich wichtig. Sie war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Und sie gab sich mit wenig zufrieden. Aber ein ausfüllender Job, der ihr genügend zum Leben bot, war ihr wichtig. Auf eine Art war sie schon beeindruckt, wie er sein Ding eisern durchzog.

Während Alex das Glas an die Lippen hob, ergänzte Palmer mit einem ironischen Unterton: »Schon okay, du liebst deine Kunden. Und deinen Job. Wir alle leben letztlich davon, unsere Kunden glücklich zu machen.« Sie bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick. »Auch ich lebe davon, einen guten Eindruck zu hinterlassen.«

Er atmete tief durch die Nase ein, als würde er über das Gesagte nachdenken, während er sich mit dem Zeigefinger über die Lippen strich. Endlich nickte er.

Palmer sah, wie Begreifen in Alex’ Augen aufflackerte.

»Abdruck hinterlassen?«, fragte Alex. »Wie kommst du auf so einen Gedanken?« Er breitete die Arme aus und strahlte übers ganze Gesicht. »Du schneist hier rein und bringst mich sogleich auf eine grandiose Idee.« Er beugte sich über den Block und vermerkte etwas.

»Eindruck, nicht Abdruck, hab ich gesagt«, stellte Palmer klar. Aber Alex wehrte sie mit der Handfläche ab, während er eilig schrieb.

Sie sah ihm zu, wie er nachdachte und Gedanken flink zu Papier brachte. Ihr gefiel diese kleine senkrechte Falte, die zwischen seinen Augenbrauen erschien, wenn er sich konzentrierte.

»Danke«, sagte er und klappte mit zufriedenem Gesichtsausdruck den Notizblock zu. »Du kannst dir nicht vorstellen, welch genialen Einfall dein Kommentar bei mir ausgelöst hat.«

Palmer sah ihn verblüfft an.

»Mein Kunde will vermehrt Sneakers für Jugendliche anbieten. Aber ihm fehlt die zündende Idee, auf welche Art sich seine Sportschuhe abheben sollen von jenen der Konkurrenz. Klar müssen sie modisch sein, aber das sind die andern auch. Und hier nun die Neuheit, die ich meinem Kunden präsentieren werde: Er könnte Sohlen mit auswechselbaren Gummiteilen anbieten. Stell dir vor, du trittst mit nassen Schuhen auf einen trockenen Boden. Dies erzeugt einen Abdruck. Wenn man nun einen Teil der Sohle individuell gestalten könnte und diesen in die Sohle einklebt, stempelt man den Boden mit einer eigenen Aussage. Das könnte eine Figur nach Wahl sein, ein Name oder ein Spruch, zum Beispiel ›follow me‹.«

»Du hättest Lehrer werden sollen«, erklärte Palmer und prostete ihm zu. »Du erklärst immer alles.«

»Sind wir heute ein bisschen gereizt?« Noch immer in Hochstimmung wegen seines Geistesblitzes, zog er Palmer zu sich heran und küsste sie auf die Stirn.

»So«, sagte er und ließ erkennen, dass die Sache für ihn abgeschlossen war. »Und wie war dein Tag? Ich verspreche, dass ich weder lache noch etwas auf Twitter verbreite.«

»Entschuldige bitte. Erst hat es mir einen Schreck eingejagt, als ich gemeint habe, Niki sei verschwunden. Nun ist aber alles okay, weil ich in der Zwischenzeit erfahren habe, Niki sei nach Marokko gefahren. Sie hatte einfach keine Lust, mir und auch den andern etwas davon zu erzählen.« Palmer schüttelte den Kopf. »Eigensinnig war sie schon immer. Wenn etwas nicht nach ihrem Geschmack lief, konnte sie quengeln wie ein kleines Kind. Oder sie ist einfach davongelaufen«, erklärte Palmer.

Dass sie damals kurz davorgestanden hatte, Niki durch eine andere Sängerin auszuwechseln, hatte sie Alex bereits früher einmal erzählt.

»Eigentlich war ihr ursprünglicher Plan, als Fotomodell zu arbeiten. Geld zum Verschleudern und präsent auf allen Frontseiten der Modemagazine, so wie Juli. Schlanke Statur, makelloses Gesicht, volle Lippen, hätte sie alles. Aber mit eins siebenundsechzig war sie für ein Modell zu klein, bei einer Mindestgröße von eins fünfundsiebzig oder sogar eins achtzig für den Laufsteg. Aber ich sag dir, letztlich war Niki den Scouts zu zickig. Auch ich habe Nikis Launen satt gehabt. Ihretwegen habe ich die Band aufgelöst.«

Palmer führte die Bierflasche an ihre Stirn und genoss, wie diese die Haut kühlte. Dann griff sie sich die Serviette aus dem leeren Teller und wischte sich das Kondenswasser ab.

»Über Vorstellungsgespräche bei vier Agenturen ist sie nicht hinausgekommen, auch wenn sich Juli für sie mächtig ins Zeug gelegt hatte.«

Palmer nahm einen Schluck.