Erich Glaubmirnix - Kriminalfälle und Abenteuer heute und im Mittelalter - Gregor Kästner - E-Book

Erich Glaubmirnix - Kriminalfälle und Abenteuer heute und im Mittelalter E-Book

Gregor Kästner

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Beschreibung

Erich Glaubmirnix ist ein gutmütiger und hilfsbereiter Polizeibeamter. Er ist gern im Dienst und immer bereit, die Kriminalität zu bekämpfen und deren Opfer zu helfen. Eines Tages kam es während einer Zugstreife zu einem Zusammenstoß seines Zuges mit einer entgegengekommenen Lok. Da gab es für ihn nur noch eine Sache: Menschenleben retten und die Ursachen ermitteln. Ein anderes Mal war er froh, dass er ein Opfer von Gewalt helfen konnte und musste dennoch am Ende eine Niederlage einstecken. Und wenn ein Polizeibeamter Urlaub macht, kann er wirklich seinen Beruf, auch wenn es nur für ein paar Tage ist, an den Nagel hängen? Und eines Tages hatte Erich Glück, denn durch Zufall wurde ein Buch gefunden, welches von den Abenteuern eines Bodo Glaubmirnix berichtet. Es war sein Vorfahre und er hatte im mittelalterlichen Heiligenstadt einen harten Kampf um Gerechtigkeit für sich und seine Familie zu führen. Dabei traf er auf ein Mädchen, welches ein ähnliches Schicksal erleiden musste. Von nun an passten sie, jeder auf seine Art, aufeinander auf. Und in dem Buch steht auch geschrieben, wie Erich zu seinem Familiennamen gekommen ist und warum die Heiligenstädter den Spitznamen »Möhrenkönige« erhielten.

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Ähnliche


Gregor Kästner

ERICH GLAUBMIRNIX

Kriminalfälle und Abenteuer

Heute und im Mittelalter

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2020

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2020) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Covergestaltung: Gregor Kästner

Vorderseite:

oberes Bild: Burg Hanstein

unteres Bild: Personen aus meinem Freundeskreis

Rückseite:

oberes Bild: Bahnhof Heilbad Heiligenstadt

mittleres Bild: Bahnhof Nordhausen

Person aus meinem Freundeskreis

verwendete Fotografien: Gregor Kästner

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Der Tag fing doch so schön an

Ein Überfall im Regionalexpress

Wenn ein Polizeibeamter Urlaub macht

Bodo Glaubmirnix und die Möhrenkönige

Schicksalsschläge

Jäger und Gejagte

Gerechtigkeit?

Bodo Qualmsock

Das siebte Haus

Kilian Glaubmirnix

Maria Dengelhardt

Quellen

Die Polizeiliche Kriminalstatistik besagt: Die Kriminalität ist im Vergleich zum Vorjahr leicht zurückgegangen.

Das ist doch ein gutes Zeichen.

Ich sage: Jedes Kriminalitätsopfer, ob Mann, Frau oder Kind, ist ein Opfer zuviel!

GREGOR KÄSTNER

VORWORT

LIEBE LESERINNEN UND LIEBE LESER,

dieser Roman handelt von einem Polizeibeamten mit Namen Erich Glaubmirnix. Dieser Erich Glaubmirnix setzt sich, genauso wie jeder andere Polizist, für Ordnung und Sicherheit zum Wohle der Menschen ein. Auch wenn er kein Superheld ist, ist er dennoch bereit, da zu helfen, wo seine Hilfe nötig ist. Selbst in Situationen, die verdammt schwer zu ertragen sind, steht er seinen Mann. Er überlegt nicht lange und greift ein. Und wenn am Ende ein Erfolg zu verzeichnen ist, ist das für ihn Belohnung genug. Und sollte es doch mal zu einer Niederlage kommen, ist es für ihn genauso schmerzhaft wie für die Opfer der Straftat.

Und wenn die Zeit gekommen ist und der wohl verdiente Urlaub ansteht, will auch der Polizeibeamte Erich Glaubmirnix einfach nur ein Zivilist sein, die täglichen Sorgen vergessen und sich vom alltäglichen Stress erholen. Aber kann ein Polizeibeamter seinen Beruf einfach so ablegen? Auch wenn es nur für eine kurze Urlaubszeit ist?

Erich Glaubmirnix ist glücklich verheiratet und liebt seine Frau Heidi. Und er ist stolz auf seine zwei Kinder, Kerstin und Wolfgang.

Durch Zufall kommt er in den Besitz eines Buches, welches von den Erlebnissen und Abenteuern seines Vorfahren Bodo Glaubmirnix berichtet. Bodo Glaubmirnix wohnte im mittelalterlichen Heiligenstadt und wollte sich dort ein glückliches Leben aufbauen. Aber es kam anders. Er hatte einen Gegner, der ihm das Glück nicht gönnte. Er hieß Bodo Qualmsock. Es entbrannte im Laufe der Zeit ein Kampf auf Leben und Tod.

Nebenbei erfährt Erich auch, wie seine Vorfahren zu dem Namen Glaubmirnix gekommen sind.

Nun ja, ich will Ihnen hier an dieser Stelle noch nicht zu viel verraten.

Ich habe die Geschichten an einer real existierenden Dienststelle der Bundespolizei in Nordhausen angesiedelt. Es ist jene Dienststelle, an der ich als ehemaliger Polizeibeamter meinen Dienst verrichtet habe. Ich habe dort nach wie vor gute Freunde und ja, ich möchte mich mit diesen Geschichten bei ihnen bedanken. Sie leisten eine hervorragende Arbeit und ich möchte ihnen sagen: „Macht weiter so!“

Weiterhin möchte ich noch betonen, dass die Namen und die hier beschriebenen Geschichten frei erfunden sind. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Sachverhalten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die mittelalterlichen Abenteuer siedelte ich in meiner Heimat, dem wunderschönen Eichsfeld an.

An dieser Stelle möchte ich mich bei der hilfsbereiten Petra Holzborn und bei der hilfsbereiten Susanne Rieger für die freundliche Unterstützung bei der Fehlersuche bedanken.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen,

Ihr Gregor Kästner

DER TAG FING DOCH SO SCHÖN AN

04:00 Uhr, Bahnhof Nordhausen

Um diese Uhrzeit war es auf dem Bahnhof Nordhausen noch sehr ruhig. Die Beleuchtung in der Vorhalle stand auf „Sparflamme“ und etliche Winkel waren dunkel. Dort nächtigte ab und zu auch mal ein „Durchreisender“, der seinen letzten Zug verpasst hatte. Und wenn man sich um die Uhrzeit vor den Bahnhof stellt, um die Bahnhofsstraße hoch zu schauen, hat man das Gefühl, dass die ganze Stadt noch schläft. Aber das stimmt nicht. Es gab etliche Menschen, die um diese Uhrzeit schon aufgestanden beziehungsweise unterwegs waren. Man musste nur genauer hinschauen, dann sah man sie. Und wenn man seinen Blick nach Osten richtet, stellt man fest, dass sich langsam der Tag ankündigt und die Nacht sich dem Ende neigt. Am dortigen Horizont begann nämlich die Morgendämmerung. Man sah einen dezent schimmernden Streifen, der sich abzeichnete und langsam aber stetig immer heller wurde. Schaute man hingegen in die westliche Richtung, sah man noch den dunklen Sternenhimmel. Aber nur, wenn man den hell leuchtenden Straßenlaternen ausweichen konnte. Und zu dieser Zeit fuhr auf dem Bahnhofsvorplatz ein Kleintransporter vor. Der Kraftfahrer stieg aus, öffnete die hintere Tür seines Fahrzeuges, nahm etliche Bündel mit Zeitschriften heraus, brachte sie in die Vorhalle und legte sie vor dem Zeitschriftenladen ab. Dort begegnete er einem Eisenbahner, der vermutlich Feierabend hatte und wünschte ihm einen „Guten Morgen“. Der Eisenbahner, der nicht damit gerechnet hatte, um diese Uhrzeit angesprochen zu werden, wünschte dem Fahrer ebenfalls einen „Guten Morgen“. Danach gingen beide ihren Weg, so als hätten sie sich nicht getroffen. Der Bahnsteig selbst war hell erleuchtet und ein Güterzug rollte heran. Als der Zug während der Durchfahrt auf Höhe des Bahnsteiges war, wurde es richtig laut und danach war alles wieder ruhig.

Genau in dem Moment näherten sich vom östlichen Ende des Bahnsteiges zwei dunkle Männergestalten. Als sie näher kamen, sah man, dass es Bundespolizisten waren. Die hatten es, dem Schritt nach zu urteilen, sehr eilig. Vermutlich hatten sie noch einen Anruf bekommen und mussten schleunigst los. Die zwei Polizisten gingen bis zum Ende des Bahnsteiges, schauten nach links und rechts und gingen in den Gleisbereich bis zu einer abgestellten Lok. Einer der beiden schnappte sich einen Fotoapparat, ging um die Lok und machte etliche Aufnahmen. Der zweite Beamte hatte ein Heft mit Kugelschreiber in der einen Hand und in der anderen Hand befand sich ein Zollstock. An der Lok wurden durch unbekannte Täter mehrere Graffiti aufgesprüht und sie sollten den Sachverhalt aufnehmen. Nachdem das Wichtigste aufgenommen war, wurde der Standort auch noch nach Farbspuren abgesucht. Denn die Beamten wollten wissen, ob die Lok hier im Bahnhof besprüht wurde oder ob das Graffiti schon älter ist. Da keine weiteren Farbspuren gefunden wurden und die Farbe komplett ausgehärtet war, ging man davon aus, dass der Tatort woanders lag. Das galt es nun zu ermitteln. Somit war der nächste Weg zum Weichenwärter, der eine gewisse Sicht zur abgestellten Lok hatte. Vielleicht hatte der ja was gesehen und konnte Hinweise geben. Wenn nicht, konnte er sich auf jeden Fall beim Fahrdienstleiter erkundigen, wo die Lok herkam. Danach wollten die zwei auf die Dienststelle zurück, einen „Dreizeiler“ in den Computer geben und Feierabend machen.

05:15 Uhr, vor der Dienststelle der Bundespolizei

Der Polizeiobermeister Erich Glaubmirnix fuhr wie immer mit seinem Auto nach Nordhausen zum Dienst und war auch wie immer, pünktlich angekommen. Nun stand er mit seinem Auto vor der Dienststelle, schaltete den Motor ab, schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er noch knapp dreißig Minuten Zeit hatte. Nun konnte er sich ein wenig Zeit nehmen und das tat er auch. Immerhin hatte er eine Strecke von knapp über sechzig Kilometer hinter sich. Und wenn man diese Strecke jeden Tag zweimal fährt, schlaucht das auf Dauer. Das ließ sich er sich aber nicht anmerken. Das verbot ihm ganz einfach sein Ehrgefühl. Und da er immer pünktlich sein wollte, fuhr er immer bei Zeiten los. Die Zeiten hatte er sich am Anfang einmal ausgerechnet und seit der Zeit waren sie wie in Stein gemeißelt in seinem Kopf verankert. Im Allgemeinen braucht Erich für die Strecke, je nach Verkehrslage, auch dank der Autobahn, zwischen vierzig und fünfundvierzig Minuten. Heute brauchte er nur fünfunddreißig. Da gab es mal Zeiten, so hatte es ihm sein Kumpel Josef Löwinger, auch als Leo bekannt, erzählt, da waren diese Fahrzeiten ein Traum gewesen. Da brauchte man anderthalb Stunden und mehr für die gleiche Strecke. Zu der Zeit gab es noch keine Autobahn und der ganze Verkehr rollte über die Bundesstraße. Und jede Schranke, die sich auf der Strecke befand, war ausgerechnet dann geschlossen, wenn er mit seinem Auto angefahren kam. Und bei manchen Bahnübergängen musste man halbe Ewigkeiten ausharren bis der Zug endlich angefahren kam, am Bahnsteig anhielt, die Fahrgäste aus- und einstiegen und nachdem alle Türen wieder geschlossen waren, die Fahrt weiterging. Und erst wenn der Zug dann endlich über den Bahnübergang gefahren war, konnten die Schranken geöffnet werden. Und manchmal öffneten sich die Schranken, weil schon wieder ein Gegenzug unterwegs war, nicht. Dann wiederholte sich das Ritual. Nur dieses mal in der Gegenrichtung. Der Zug fuhr ein, hielt an, die Leute stiegen ein und aus … Und wenn der dann endlich abgefahren war, konnte es passieren, dass auf der erstgenannten Fahrtrichtung schon wieder ein Zug unterwegs war. Das war auch die Zeit, als ein großer Teil des Güterverkehrs noch auf den Schienen unterwegs war. Da waren zehn bis zwanzig Minuten Wartezeit keine Seltenheit. Und als Krönung fuhr sein Freund Leo noch mit dem Trabi. Das ist zwar schon lange her, aber Leo hat das sein Leben lang nicht vergessen. Es war für ihn halt eine verrückte Zeit.

Leider ist sein Freund schon im Ruhestand. Erich gönnte es ihm. Er hat viel in seinem Leben durchmachen müssen und dabei einen Großteil seiner Gesundheit geopfert, ohne je ein Dankeschön zu erhalten. Das alles ist nun Geschichte. Es gibt Tage, da vermisste er seinen Freund Leo.

Und bei der kurzen Fahrzeit, die Erich heute früh gebraucht hatte, freute er sich: „Na da bin ich ja wieder gut durchgekommen. Autobahn war leer, was will man mehr. Kein Stress am Morgen, also keine großen Sorgen.“ Bei dem letzten Gedanken huschte ihm ein leichtes Lächeln über die Lippen und der nächste Gedanke war: „Hoffentlich bleibt das auch so!“, und stieg aus.

Da wurde er von hinten angesprochen: „Morgen, Erich! Hast du Feierabend?“

Erich kannte die Stimme, drehte sich um und sagte: „Guten Morgen, Anika, auch wieder zum Dienst? Und ja, Feierabend habe ich auch. Aber erst heute Nachmittag.“

Anika lächelte und sagte: „Ich auch. Hab dich lange nicht gesehen. Warst du etwa krank?“

„Nein, meine Gutste, ich war immer im Dienst. Und mit deinem Spruch kann ich übrigens mithalten. Hab dich auch lange nicht gesehen.“

„Und? Gibt’s bei dir was Neues?“

„Nee, eigentlich nicht. Nur mein Sohn will nicht in die Schule. Du glaubst gar nicht, was ich deswegen schon alles durchgemacht habe. Seitdem der aus dem Kindergarten raus ist, fängt er an zu spinnen.“

„Anika, du sagst immer Kindergarten. Heißt das nicht richtig Kita?“ Kurz darauf bereute Erich seine Frage. Denn er bekam einen Vortrag: „Höre auf mit dem Wort: Kita oder Kindertagesstätte! Wenn ich das harte Wort höre, da geht mir schon wieder die Hutschnur hoch. Das ist ganz einfach nur Beamtendeutsch! Möchte mal wissen, wer das Wort erfunden hat. Der Fröbel, der den Kindergarten ins Leben gerufen hat, würde sich im Grabe nicht nur einmal umdrehen, wenn der das Wort hören könnte. Auf der ganzen Welt sagt man das schöne Wort: ‚Kindergarten‘. Selbst im fernen China wird es verwendet, und hier? Da wo es erfunden wurde? Sagt man Kita! Was soll der Scheiß? Wie soll ich dir das bloß auf die Schnelle erklären? Nimm mal das Wort Kindergarten. Was sagt dir das Wort? Überlege mal. Kinder im Garten. Im Garten fühlt man sich wohl und ist geborgen. Im Garten können glückliche Kinder spielen und in Liebe aufwachsen und da dürfen Kinder noch Kinder sein. Nun ja, genau das will das Wort Kindergarten ausdrücken: ‚Behütet sein und spielend aufwachsen!‘ Und was sagt das harte und lieblose Wort ‚Kita‘ oder ‚Kindertagesstätte‘? Das ist eine Stätte, wo die Kinder am Tag hingebracht oder abgestellt werden und Punkt. Obwohl ich die Arbeit der Kindergärtnerinnen achte und lobe. Ach so, nein, ich meine Erzieherinnen. Heute sind es Erzieherinnen. Sie machen trotzdem eine gute Arbeit. Das drückt aber der Name ‚Kita‘ so nicht aus! Weißt du eigentlich, dass die allererste Kindergärtnerin eine Nordhäuserin war?“

„Nee, das habe ich nicht gewusst. Echt? Wirklich eine Nordhäuserin?“

„Na, da will ich dich mal aufklären. Die allererste Kindergärtnerin auf der ganzen Welt hieß Ida Seele. Man nannte sie auch Fröbels Ida. Die wurde im Jahr 1825 hier in Nordhausen geboren, wurde vom Pädagogen Friedrich Fröbel in Blankenburg ausgebildet und dort begann sie auch mit ihrer Tätigkeit. Dann arbeitete und lehrte sie an verschiedenen Kindergärten und Schulen in Darmstadt, Landsberg an der Warthe und in Berlin. Hoffentlich habe ich keinen Ort vergessen. Danach kam sie nach Nordhausen zurück. Lebte und arbeitete hier bis zu ihrem Tod. Das war, glaube ich, im Jahr 1901. Ich muss mal wieder auf das Denkmal schauen. Ich fahre ja fast täglich dran vorbei. Fröbels Ida wurde auch hier in Nordhausen beigesetzt. Die würde sich übrigens auch im Grabe umdrehen, wenn sie das Wort ‚Kita‘ hören könnte. Ach, verdammt! Ich muss mich wieder abregen. Wo waren wir doch gleich wieder stehengeblieben?“

„Bei deinem Sohn. Der will nicht in die Schule.“

„Ach so, ja, sein bester Freund wurde ein Jahr zurückgestellt und deshalb will meiner auch im Kindergarten bleiben. Was hab ich da bloß mit dem Bengel falsch gemacht? Kannst du mir das mal erklären?“

„Ich? Nein, ja! Das ist garantiert Kinderfreundschaft. Aber bei dem Problem kann ich dir nun wirklich nicht helfen. Das musst du schon alleine hinkriegen. Mach das, was für deinen Sohn das Beste ist. Dann liegst du immer richtig. Und was sagt dein Mann dazu?“

„Gar nichts. Der ist auf Montage und kommt nur ab und zu, zu den Wochenenden, heim. Und meistens ist das immer dann, wenn ich arbeite.“

„Ach Anika, wie ich dich kenne, kriegst du das schon hin.“

„Ja, irgendwann, ja. Ich habe übrigens heute die Touren nach Erfurt und da kriege ich einen Praktikanten mit. Der will vielleicht später mal als Azubi bei der Eisenbahn anfangen. Ach, schon wieder so eine Abkürzung. Ich krieg …! Egal, da komme ich wenigstens mal auf andere Gedanken. Immerhin soll ich dem was von der Eisenbahn erzählen. Ich weiß zwar noch nicht was. Aber mir wird schon was einfallen. Erich, nimm’s mir nicht übel, wenn ich dir jetzt sage, dass ich los muss. Man sieht sich.“

„Ja mach’s gut, Anika. Und viel Spaß mit deinem Praktikanten und lass dir den Tag nicht von dem verderben. Und viel Glück mit deinem Sohn. Irgendwann geht der genauso gerne in die Schule, wie du einst gegangen bist. Glaub es mir.“

„Ich? Gerne in die Schule gegangen? Vergiss es.“

Anika drehte sich um und sah zu, dass sie zum Bahnhof kam.

Und pünktlich zum Dienstbeginn um fünf Uhr fünfundvierzig, war auch Erich in der Dienststelle, meldete sich beim Gruppenleiter und ging zu seinen Kollegen. Der Mehlmann, der schon seit zwanzig Minuten auf der Dienststelle war, hatte zwischenzeitlich die Kaffeemaschine in Gang geschmissen und alle warteten darauf, dass das Getränk fertig wird. Nach weiteren zwei Minuten brodelte und zischte es in der Maschine und das war des ultimative Signal: „Der Kaffee ist durch!“

Jeder schnappte sich seine Tasse und Jutta schenkte ein. Dann unterhielt man sich über dieses und jenes und wartete darauf, dass der Gruppenleiter reinkommt und mit der Einweisung beginnt.

Zwischenzeitlich gingen zwei Beamte aus der Nachtschicht an ihnen vorbei, um die Frühschicht zu begrüßen. Denn sie wollten Feierabend machen und verabschiedeten sich. Martin Schön, der auch Feierabend hatte, wollte noch ein bisschen sticheln und fragte: „Na Erich? Hast ja vor der Dienststelle ganz schön mit der Schaffnerin geflirtet. Hast noch nicht mal mitgekriegt, dass wir direkt an dir vorbeigegangen sind.“

Erich ließ sich nicht aus der Reserve locken und antwortete ganz cool: „Wenn das ein Flirt war, fress ich den Besen! Und ja, ich hab euch gesehen, wie ihr vorbeigerannt seid!“

Martin konnte aber nicht locker lassen und musste noch einen drauf geben: „Ich kann das ja verstehen, dass du dich so aufregst. Ich geb’ dir trotzdem noch ’nen Tipp: Verbrenne dir nicht die Finger an der Frau!“

Erich reagierte nicht mehr und Martin Schön verließ die Dienststelle. Und pünktlich wie immer stand der Gruppenleiter in der Tür, nahm sich seinen Kaffee und setzte sich. Die Einweisung begann: „Guten Morgen, ich hoffe doch, dass ihr alle gut geschlafen habt.“, und ohne eine Antwort abzuwarten erzählte er weiter: „Und zu der heutigen Lage, da kann ich euch beruhigen. In den letzten drei Schichten war nichts polizeilich Relevantes los. Nur die letzte Nachtschicht hatte ein Graffiti. Ich hoffe, dass es heute ebenso ruhig weitergeht. Nun zur Einteilung: Elu, du schnappst dir ein Auto und fährst mit Jutta die Strecke bis nach Arenshausen ab, kontrollierst die Unterwegsbahnhöfe nach Sachbeschädigungen und nehmt, wo möglich, Kontakt mit der Eisenbahn auf. Und meldet euch von unterwegs. Mehlmann, du schnappst dir den Erich, und ihr fahrt eine Zugstreife nach Erfurt und zurück. Wenn ihr in Erfurt seid, geht bitte mal auf die Inspektion. Die haben dort wichtige Dokumente für uns. Die bringt ihr natürlich mit. Und vergesst nicht die Fahndungskontrollen im Zug.“

„Nein, wie könnten wir das nur vergessen? Das geht ja überhaupt nicht. Und wenn wir alles vergessen, die Fahndungskontrollen nicht!“

„Erich, sei nicht so schnippisch. Schaut auf den Fahrplan und dann macht euch auf die Socken.“

Er ging zum Fahrplan und musste feststellen, dass der Zug bereits abgefahren war.

„Na, dann nehmt den nächsten.“

„Zu Befehl! Den nächsten Zug! Ach, da fällt mir gerade ein. Ich hab noch einen wichtigen Sachverhalt zu schreiben. Der Ermittlungsdienst wartet schon darauf.“

„Eeerich …!“

07:30 Uhr, Bahnhof Kleinfurra, Fahrdienstleiterstellwerk „KS“

Der Fahrdienstleiter Robert Schmidt hatte gerade den einfahrenden Triebwagen aus Richtung Sondershausen beobachtet und sah nebenbei seinen ehemaligen Kollegen Ingolf Glöckner. Dieser näherte sich vom Bahnsteig 1 kommend dem Fahrdienstleiterstellwerk „KS“ (Kleinfurra Süd). Er nutzte dabei den nicht öffentlichen Dienstweg. Dieser führte auf direkten Weg vom Bahnsteig zum Stellwerk und der diensthabende Fahrdienstleiter Robert Schmidt sprach ihn verwundert an: „Ingolf, was machst du denn hier? Ich dachte, die haben dich entlassen?“

„Robert, lass mich bitte hoch. Ich muss unbedingt noch mal an meinen Spind. Ich hab da was vergessen.“

„Okay, komm hoch.“

Während der ehemalige Kollege das Stellwerk betrat und die Treppe zum Bedien- oder Dienstraum hoch ging, erfolgte mittels Streckenfernsprecher die Meldung von der Ankunft des Triebwagens an den Fahrdienstleiter im Bahnhof Sondershausen. Danach erfolgte die Vormeldung an den Fahrdienstleiter im Bahnhof Wolkramshausen. Nachdem die nötigen Handlungen (Weichen stellen, Signale bedienen usw.) abgeschlossen waren, hatte Robert Schmidt ein wenig Zeit für seinen ehemaligen Kollegen und begrüßte ihn freundlich: „Na, Ingolf, wie geht es dir?“

„Was willst du hören? Willst du hören, dass es mir gut geht? Wie geht es einem, der seinen Job verloren hat? Ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Erzähl mir lieber, wie du dich darüber freust, dass du noch da bist und ich nicht mehr. Du hast deinen Job und es geht dir gut. Du darfst hier weiter machen und ich musste gehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gerne ich hier geblieben wäre. Ich hatte hier eine tolle Zeit und nun ist alles vorbei. Es fällt mit richtig schwer, hier wegzugehen.“

„Ingolf, das glaube ich dir. Mir würde das auch schwer fallen. Aber tröste dich, uns wird es auch irgendwann treffen. Spätestens dann, wenn die Strecke modernisiert wird. Danach ist unser Stellwerk auch weg. Und wir natürlich auch.“

„Ach, das glaube ich nicht. Da werden noch Jahrzehnte ins Land gehen bis sich hier mal was tut. Glaub es mir. Du wirst deine Rente hier noch erleben. Ich nicht mehr.“

„Ingolf, soweit kannst du nicht in die Zukunft blicken. Das hier mit dem Stellwerk kann nächstes Jahr schon vorbei sein.“

„Oh, das kann ich. Ich weiß, was die Zukunft bringt.“

„Kannst du nicht. Glaub es mir. Ich hatte es früher auch mal gewagt, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Damals war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich recht hatte. Ich will es dir mal kurz erzählen. Es war genau im Jahr 1973. Da bin ich als Lehrling auf diesen Bahnhof gekommen. Für mich war es damals eine schöne Zeit. Da gab es noch den Fahrkartenschalter, den Dienstvorsteher, die Aufsicht, den Bahnhofshelfer und natürlich auch die Bahnhofskneipe. Dort in der Kneipe waren wir innerhalb kürzester Zeit Stammgast. Wir haben da drin gemeinsam gefrühstückt, zu Mittag gegessen und zum Abendbrot waren wir auch dort. Je nachdem, was wir für eine Schicht hatten. Und nach Feierabend haben wir dort unser Bierchen getrunken. Jeder kannte jeden und dazu gehörte natürlich auch der Kneiper, und der kannte uns auch. Der Kneiper hieß übrigens Fazius. Mann, da war noch richtiges Leben auf dem Bahnhof. Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern. Und wenn ich heute dahin schaue …“

„Sprich es nicht aus.“

„Hast recht, ich erzähle weiter. Also, ab und zu musste ich im Rahmen der Ausbildung auch mal zum Haltepunkt Großfurra und dort, ausgerechnet dort, hatte ich meine Zukunftsvision: Also, in der kalten Jahreszeit musste, wie sollte es auch anders sein, der Warteraum für die Fahrgäste beheizt werden. Und wer war für das Heizen verantwortlich, wenn ein Lehrling da war? Natürlich der Lehrling. Also ich. Zuerst musste ich aus dem Ofen die kalte Asche rauskratzen. Dann wurde sie zur Aschentonne gebracht und danach ging es zum Kohlebunker. Dort wurden zwei Eimer gefüllt und zurückgebracht. Ein Eimer war für den Warteraum und ein Eimer war für den Dienstraum. Danach wurde im Warteraum das Feuer angezündet. Das war ganz einfach. Da wurde mit einer Schippe ein bisschen Glut aus dem Ofen des Dienstraumes herausgeholt und zum Warteraum hinübergetragen. Manchmal war das nicht notwendig, weil noch ein bisschen Glut vom Vortag im Ofen war. Das kam aber immer darauf an, wann und wie viel das letzte Mal aufgelegt wurde. Und dann musste ich darauf achten, dass das Feuer nicht wieder aus geht. Denn die Fahrgäste sollten es ja immer warm haben und durften auf keinen Fall frieren. Und damals hatte ich mir gedacht, dass es die Lehrlinge in der Zukunft auf jeden Fall besser haben werden. Denn spätestens, allerspätestens im Jahr 2000 gibt es dort im Haltepunkt keine Kohlen mehr und der Warteraum wird durch eine elektrische Heizung oder so etwas Ähnliches beheizt. Auf jeden Fall würde dort keiner mehr Kohlen schleppen. Und wie ich schon sagte, ich war damals felsenfest davon überzeugt. Immerhin gab oder gibt es doch den kontinuierlichen Fortschritt. Und das Jahr 2000? Ja, das lag für mich unerreichbar weit in der Zukunft. Und heute? Das Jahr 2000 ist schon lange Geschichte. Und auf dem Haltepunkt Großfurra stehen die Leute, auch bei Regen und Sturm, im Kalten. So kann man sich täuschen. Und Lehrlinge wird der Haltepunkt wohl auch nicht mehr sehen.“

„Aber in einem Punkt hattest du damals doch recht gehabt.“

„In welchem?“

„Dort schleppt keiner mehr Kohlen aus dem Bunker.“

Beide schauten sich an und lachten. „Ja, von dem Standpunkt aus betrachtet lag ich damals wohl doch richtig. Dort schleppt keiner mehr Kohlen. Und wenn ich darüber nachdenke, wie lange das schon her ist. Das ist doch der blanke Wahnsinn.“

So unterhielten sich die beiden über einen längeren Zeitraum. Zwischendurch wurden die Zugfahrten mal vom diensthabenden Fahrdienstleiter Robert Schmidt geleitet und der ehemalige Kollege Ingolf Glöckner durfte unter Aufsicht hier und da auch mal einen Zug ein- und ausfahren lassen. Für Ingolf, so sagte er, war das noch mal ein schönes Erlebnis und das würde er ihm auch nie vergessen. Dann sagte er: „Ich habe noch eine Thermoskanne mit Kaffee im Auto. Hast du was dagegen, wenn ich den hier hoch hole? Der muss ja nicht sinnlos kalt werden.“

„Ingolf, das ist eine gute Idee. Da muss ich mir nicht selber einen brauen.“

Ingolf Glöckner ging zum Auto, welches auf dem Bahnhofsvorplatz stand, und holte die Thermoskanne, schenkte ein und während die Unterhaltung weiterging, tranken beide genüsslich ihren, noch heißen, Kaffee. Dabei nahm man sich sehr viel Zeit, denn sie hatten sich noch allerhand zu erzählen.

Nach fast zwei Stunden verabschiedete sich der ehemalige Kollege, ging zu seinem Auto und fuhr los.

Robert Schmidt schaute hinterher und hatte ein wenig Mitleid mit ihm. Und ja, das mit der Kündigung seines Arbeitsverhältnisses konnte er auch nicht ändern. Er kannte noch nicht mal den Grund dafür. Ingolf hatte nie darüber gesprochen.

09:20 Uhr Bahnhof Nordhausen, Bahnsteig 3, Regionalexpress RE 16573

Der Zug 16573 (Nordhausen – Erfurt), bestehend aus einer doppelten Triebwageneinheit, stand abfahrbereit am Bahnsteig 3. Die zum Zug gehörige Kundenbetreuerin Anika Bachmann stand vor dem Zug am Bahnsteig und beobachtete eine ältere Dame. Diese hatte beim Einsteigen Schwierigkeiten mit ihrer Reisetasche. Sie ging augenblicklich hin und half ihr beim Tragen. Sie nahm mit ihrem Einverständnis die schwere Reisetasche und sie gingen zusammen in das nächstgelegene Abteil. Die dankbare Frau brauchte sich nur noch auf ihren Platz zu setzen.

Danach stieg Anika wieder aus und wartete vor dem Zug auf die Abfahrtzeit. Neben ihr stand ein Jugendlicher und sie unterhielten sich über dieses und jenes. Es war der ihr zugewiesene Praktikant. Er war sechzehn Jahre alt und sein Name war Knut Hölzel. Er war Schüler in der zehnten Klasse und wollte sich eventuell bei der Eisenbahn bewerben. Und Frau Bachmann, die jetzt die Verantwortung für den Praktikanten hatte, hatte das Herz einer Eisenbahnerin. Und das spürte der Praktikant. Sie gab sich ihm gegenüber besonders viel Mühe und erklärte jeden Schritt, den sie tat, und jede Tätigkeit, die sie gerade machte beziehungsweise noch machen wollte. Augenscheinlich waren dem Praktikanten die Erklärungen jetzt schon zu viel oder er hatte einfach nicht verstanden, was sie da gerade sagte und deshalb nickte er immer nur noch mit sichtlichem Desinteresse. Nachdem Frau Bachmann gesehen hatte, dass der Bahnsteig menschenleer war, stieg sie mit ihrem Praktikanten ein.

09:25 Uhr, Bundespolizeidienststelle

Auf der Bundespolizeidienststelle bereiteten sich gemäß ihrem Auftrag zwei Polizeibeamte auf die angewiesene Zugstreife nach Erfurt vor.

„Erich, wo bist du denn schon wieder? Unser Zug fährt gleich ab. Der wartet nicht! Und auf uns schon gar nicht!“

„Noch fünf Minuten, bin gerade am Spind und suche was.“

„Soll ich schon mal losgehen und den Zug solange für dich festhalten, bis du gefunden hast, was du da suchst?“

Erich schaute auf die Uhr und erschrak: „Ach du liebe Sch…! Mehlmann! Ich komme!“

Innerhalb weniger Sekunden stand der Obermeister Glaubmirnix vor dem Eingang und fragte: „Mehlmann! Wo bleibst du denn? Ich stehe die ganze Zeit in der Tür und warte auf dich!“

„Erich, du kannst mich nicht verarschen!“

Beide lächelten und beeilten sich, zum Zug zu kommen.

09:29 Uhr, Bahnsteig 3

Lothar Büttner, der Triebfahrzeugführer des Zuges 16573, schaute auf die Uhr und wartete darauf, dass das rot leuchtende Ausfahrsignal grün wird und er endlich losfahren kann. Damit die Zeit bis zur Abfahrt schneller verstreicht, schaute er immer mal über den Bahnsteig und beobachtete die Leute beim Einsteigen und nachdem der Minutenzeiger pünktlich um neun Uhr neunundzwanzig auf die vorgegebene Abfahrtzeit sprang, leuchtete auch das Ausfahrsignal grün und die Strecke war für die Zugfahrt freigegeben. Der Triebfahrzeugführer schaute sicherheitshalber noch mal über den Bahnsteig und sah noch zwei Polizeibeamte, die zielstrebig aus der Unterführung hoch kamen und den Bahnsteig entlang, auf den Zug zu hasteten. Also wartete er noch einen kurzen Moment.

Nachdem die Beamten eingestiegen waren, verriegelte er die Türen und der Zug fuhr los. Nun, nachdem der Zug abgefahren war, ging die Kundenbetreuerin mit ihrem Praktikanten vor zum Führerstand und setzte sich. Sie legte nebenbei ihre persönlichen Sachen ab und machte sich für die Fahrausweiskontrolle fertig. Der Praktikant schaute neugierig zum Fenster hinaus und war erstaunt. Solch eine interessante Aussicht hatte er noch nicht gehabt. Er sah die Gleise und verschiedene Weichen vor sich und beobachtete, wie der Zug von einem Gleis über die nächste Weiche fuhr, abbog und auf dem Nachbargleis weiter fuhr. Das konnte er zweimal beobachten. Danach war der Zug auf dem richtigen Streckengleis und nachdem der Zug die letzte Weiche hinter sich gelassen hatte, beschleunigte er bis auf hundert Kilometer pro Stunde. Nun schnappte sich Anika ihren Praktikanten und gemeinsam gingen sie los, um die Fahrausweise auf ihre Gültigkeit zu kontrollieren und nebenbei gingen die Erklärungen weiter: „Sollte jemand ohne Fahrausweis angetroffen werden, so hab ich die Aufgabe, eine Nachlösung auszustellen, und wenn einer nicht bezahlen kann oder nicht bezahlen will, bin ich berechtigt, die Personalien festzustellen und aufzunehmen. Und sollte die Herausgabe der Personalien verweigert werden, kommt die Bundespolizei ins Spiel. Heute haben wir Glück, es sind gerade zwei eingestiegen. Wenn wir die treffen, werde ich sie dir kurz vorstellen und wir können uns ein wenig unterhalten. Ich kenne alle beide. Die sind voll in Ordnung.“

„Muss das wirklich sein?“, fragte daraufhin der Praktikant und bekam die entsprechende Antwort: „Natürlich! Ich kenne die schon seit Ewigkeiten. Und wenn ich die ignoriere, sind die am Ende noch böse mit mir. Wirst schon sehen. Die tun dir nix!“

Heute hatte die Kundenbetreuerin doppeltes Glück. Es sind Polizisten im Zug und sie musste sich bis jetzt mit keinem Fahrgast herumärgern. Alle zeigten ihre Fahrkarten und waren freundlich zu ihr. Der Praktikant, der gerne ein wenig sticheln wollte, erklärte die Situation so: „Also, wenn man keine Polizei braucht, ist sie da. Und wenn man die Polizei braucht, ist sie nicht da.“

„Knut! Erzähle nicht so einen Quatsch! Und lass die das nicht hören.“

„Aber ein Fünkchen Wahrheit ist schon dran. Oder nicht? Hatte da nicht mal einer gesagt: ‚Wenn du einen Polizisten sehen willst, musst du den Fernseher einschalten und den nächsten Krimi gucken?‘“

„Knut! Jetzt ist es aber gut! Lass uns unsere Arbeit machen!“

Die zwei Bundespolizisten hatten sich im letzten Abteil niedergelassen und schauten zum Fenster raus. „Mehlmann, wie sieht es aus. Wollen wir los?“

„Wenn du nichts dagegen hast, warten wir noch bis Wolkramshausen. Danach gehen wir los.“

„Okay. Hast du gesehen, wer als Kundenbetreuerin an Bord ist?“

„Ja, Anika ist an Bord und Lothar sitzt im Führerstand.“

Oh, Anika, das ist gut. Die hat mir heute früh den Unterschied von Kindergarten und Kindertagesstätte erklärt. Wenn du es auch wissen willst, frage ich gleich mal nach. Ich bin mir sicher, dass das für dich ein sehr interessanter Vortrag wird.“

„Höre auf. Das will ich gar nicht wissen. Habe gerade andere Probleme. Aber da spreche ich nicht drüber.“

„Na, dann eben nicht. Kannst es dir ja noch überlegen.“

„Wen interessiert schon der Unterschied zwischen Kita und Kindergarten? Mich nicht!“

„Schau mal da, wer da kommt? Wie heißt das so schön? Spricht man vom Teufel …“

„… da ist er nicht weit! Grüß dich, Anika, der Erich lästert gerade über dich.“

„Waaas? Der kann doch gar nicht lästern.“ Anika drehte sich um und rief: „Knut, komm mal her. Ich will dir zwei gute Polizisten vorstellen. Nun komm schon endlich! Die beißen nicht!“ Danach wandte sie sich wieder den Polizisten zu: „Das ist mein Praktikant. Sein Name ist Knut Hölzel. Den hab ich heute mitbekommen. Der ist unheimlich wissbegierig und will mal bei der Eisenbahn anfangen. Der hat schon allerhand von mir gelernt. Stimmt’s Knut?“

Der Bengel nickte verlegen.

„Du, Anika? Der Mehlmann kennt nicht den Unterschied von Kita und …!“

„Kein Problem!“, sagte Anika, setzte sich und fing an zu erzählen: „Also …“

„Anika, höre auf! Der Erich will dich doch bloß ärgern.“

„Der? Der kann mich nicht ärgern! Das hat er damals in der Schule schon versucht. Hat aber nie geklappt. Da weißt du, wie lange ich den Kerl schon kenne.“

„Na gut! Wechseln wir das Thema! Was gibt es Neues bei der Eisenbahn?“

„Eigentlich nichts! Nur, ja …, lass mich mal kurz überlegen. Ach ja, der Zug ist bis jetzt pünktlich!“

Im selben Moment kam eine Durchsage: „Werte Fahrgäste! Wir warten auf dem Bahnhof Wolkramshausen auf den verspäteten Anschlusszug aus Leinefelde. Die Weiterfahrt könnte sich deswegen um wenige Minuten verzögern. Wir bitten um Ihr Verständnis!“

„Na Anika, sind wir nach dem Anschlusszug immer noch pünktlich?“

„Erich! Der Mehlmann hatte doch recht! Du willst mich ärgern! Ich sage dir nur das eine: Wir warten garantiert nicht länger als zehn Minuten! Und was sind schon zehn Minuten bis Erfurt? Die haben wir spätestens in Greußen wieder drin. Du kennst doch meinen Lokführer!“

Mit Anikas Ankündigung fuhr der Zug in Wolkramshausen ein und musste tatsächlich zehn Minuten auf den Anschlusszug warten. Während der Wartezeit ging Anika mit ihrem Praktikanten wieder vor zum Triebfahrzeugführer und wollte hinter Sondershausen die nächsten Fahrausweise kontrollieren. Die zwei Polizisten beobachteten von ihrem Sitzplatz aus den Umstieg der Reisenden, um im Notfall helfen zu können.

„Und wenn der Zug abfährt, beginnen wir mit unseren Fahndungskontrollen!“, schlug der Mehlmann vor und schaute auf die Uhr. Als der Zug endlich abfuhr, beschleunigte der Triebwagen ungewöhnlich schnell und bei der Einfahrt in den Bahnhof Kleinfurra hatte sich die Verspätung auf neun Minuten verringert und nach Abfahrt vom Haltepunkt Großfurra waren es nur noch acht Minuten. Dieser Fakt führte unseren Erich zur Einsicht: „Langsam glaube ich doch, dass Anika recht hat. Da muss ich mich wohl oder übel doch noch bei ihr entschuldigen.“

Zur selben Zeit in einem Haus in Großfurra

„Verdammt noch mal, du siehst in deinem Hochzeitskleid umwerfend aus. Lass dich mal so richtig anschauen und drehe dich bitte einmal um. Ich will mal sehen, wie dein Kleid von hinten aussiehst.“

„Vati! Du sollst nicht immer verdammt noch mal sagen!“

„Ja, ja, ist schon gut. Dreh dich doch bitte einmal rum.“ Während sich die Tochter Andrea umdrehte, redete der Vater weiter: „Das Kleid passt wie angegossen. Da bin ich gespannt, was dein Bräutigam dazu sagt. Wo ist der denn überhaupt? Hätte der nicht schon längst da sein müssen? Immerhin wollen wir in einer Stunde auf dem Standesamt sein.“

„Beruhige dich, der wird gleich da sein.“

„Der Polterabend war für deinen Ingo bestimmt ein bisschen zu anstrengend. So lustig und ausdauernd, wie der gestern Abend war, hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“

„Vati, das musst du auch nicht. Wo ist denn überhaupt Mutti abgeblieben?“

„Ich denke mal im Schlafzimmer und zieht sich um.“

„Und wo ist Omi?“

„Ich denke mal bei deiner Mutter.“

Kurz darauf ging die Tür auf und zwei festlich gekleidete Frauen kamen rein. Beide waren aufgeregt und diskutierten über das Wetter und die anstehende Hochzeit: „Hoffentlich regnet es nicht, und schau dir mal das wunderschöne Brautkleid an. Das darf auf keinen Fall nass werden … und sieht sie nicht himmlisch aus, meine Kleine? Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie jetzt schon heiratet. Gestern war sie noch in der Schule und heute ist sie schon neunzehn.“

„Moni, beruhige dich. Vorgestern hattest du dein Brautkleid an und ich konnte es genauso wenig begreifen. Und jetzt …? Und wenn ich mir deine Tochter genauer anschaue, bist du auch bald ’ne Oma.“

„Nein, das glaube ich nicht. Ich bin doch erst vierzig! Da kann man doch noch keine Oma werden.“

„Glaub es mir. Man kann. Ich war neununddreißig.“

Der Brautvater, Manfred Kaune, schüttelte bei der Diskussion nur noch mit dem Kopf und lächelte in sich rein.

„Manni! Lache nicht! Kümmere dich lieber um den Sägebock und um die Blumen, die verstreut werden müssen! Und hast du auch genug Kleingeld für die Kinder eingesteckt? Und wo hast du den Brautstrauß? Und hast du …?“ Moni fiel nichts mehr ein und so endete sie mit ihren Forderungen: „Denke dran! Heute darf nichts schiefgehen!“

„Immer schön langsam. Punkt eins steht schon im Hinterhof bereit. Darum hat sich Bernd gekümmert. Wir haben uns auch die stumpfeste Säge ausgesucht und den dicksten Holzklotz besorgt. Mal sehen, wie lange das Brautpaar sägt.“

„Manni, du bist gemein.“

Der Brautvater drehte sich zu seiner Andrea und flüsterte: „Ich habe euch eine extra scharfe Säge hingelegt.“ Dabei zwinkerte er mit dem rechten Auge und die Braut freute sich und dachte: „Wenn Vati jetzt geschwindelt hat, tue ich nur noch so, als ob ich säge. Mein Ingo ist ein kräftiger Mann. Der macht das schon.“

„Punkt zwei hab ich in der Tasche und bei Punkt drei und vier bin ich nicht zuständig! Das ist eure Aufgabe.“

„Beruhigt euch doch bitte“, mischte sich Oma Selma ein, „der Blumenstrauß steht in einer Vase in der Küche. Wenn es soweit ist, hole ich ihn.“

„Du bist doch die beste Oma.“

„Seid mal ruhig! Ich glaube, da kommt eine Kutsche vorgefahren.“

Alle stürmten zum Fenster und schauten auf die Straße. Da stand tatsächlich schon die heiß ersehnte, reich verzierte und mit vielen Blumen geschmückte Kutsche. Der Kutscher im festlichen Anzug mit Fliege und Zylinder, stieg ab und öffnete dem Bräutigam die Tür. Der stieg aus und ging zum Haus. Das war für alle das Aufbruchssignal. Alles rannte im Haus durcheinander und trotzdem stand innerhalb kürzester Zeit die komplette Hochzeitsgesellschaft vor der Tür.

Im Regionalexpress 16573

Die zwei eingesetzten Polizeibeamten erhoben sich von ihren Sitzen und fingen gutgelaunt mit ihren stichprobenartigen Fahndungskontrollen an. Blieben aber gleich bei der ersten Person stecken. Der junge Mann schien keinen Personalausweis bei sich zu haben. Er suchte verzweifelt all seine Taschen ab, fand aber nichts.

„Haben sie kein anderes Dokument wie zum Beispiel eine Fahrerlaubnis, Studentenkarte oder irgendeinen Versicherungsausweis mit Lichtbild bei sich? Schauen Sie bitte noch mal nach.“

Der junge Mann fing wieder an zu suchen.

Zur selben Zeit erklärte Anika ihrem Praktikanten: „Siehst du, wie der Zug die Verspätung aufholt? Spätestens, wenn wir in Sondershausen abfahren, sind wir wieder pünktlich! Wenigstens fast.“

Knut nickte skeptisch.

Jetzt mischte sich der Triebfahrzeugführer ein: „Anika, übertreibe nicht. Es reicht, wenn wir bis Erfurt wieder pünktlich sind. Und nun anderes Thema. Habe ich dir schon erzählt, dass mein Großer gestern eine Fünf in Mathe mit nach Hause gebracht hat? Ich war ganz schön sauer auf diesen Bengel. Und das ist ja nicht die erste Fünf. Erst neulich, das ist gerade mal drei Wochen her, hatte der sogar eine Sechs! Jetzt hab ich ihm eine Woche Ausgangssperre aufgebrummt. Es scheint zu helfen. Glaube ich wenigstens. Du musst mal sehen, wie der jetzt büffelt. Gerade in der heutigen Zeit ist es doch wichtig, dass man gute Noten … Anika! Ich glaube, da kommt eine Lok auf uns zu! Verdammt! Da kommt tatsächlich eine Lok! Scheiße! Anika! Schnapp dir deinen Praktikanten und rennt so schnell wie möglich in den Zug und sucht euch einen sicheren Platz!“

Im selben Moment riss der Triebfahrzeugführer die Bremse herum und schlug mit der Faust auf das Signalhorn. Bei dem Druck, der bei dieser Gefahrenbremsung entstand, hatten sie aus eigener Kraft kaum eine Chance, den Führerstand zu verlassen. Knut, der in der Tür stand, rannte los und erreichte das erste Abteil. Der Triebfahrzeugführer sprang nach Auslösung der Bremse auf, stemmte sich gegen die Bremswirkung, schnappte sich die Kundenbetreuerin und schob sie aus dem Führerstand, schmiss die Tür hinter sich zu und im selben Moment erfolgte der Aufprall. Durch den Aufprall wurde der Führerstand komplett zusammengepresst. Der Druck verformte auch den dahinter liegenden Bereich bis hin zur Eingangstür. Der Triebwagen entgleiste, kippte zur Seite und kam in einer gefährlichen Schräglage zum Stehen. Nun drohte der Triebwagen zu jeder Zeit umzustürzen und die entgegengekommene Diesellok hatte sich im Triebwagen verkeilt.

Im hinteren Teil des Triebwagens hörte man zuerst einen lauten Knall, dann das Bersten von Metall und Kunststoff und dann spürte man die Wucht des Aufpralls. Die Reisenden wurden durch den Zug geschleudert und blieben irgendwo im Abteil liegen. Auch die zwei Bundespolizisten blieben davon nicht verschont. Obwohl sie versucht hatten sich festzuhalten, riss die Wucht beide Beamten mit und sie schlugen auf dem Boden auf und rutschten meterweit durch den Zug. Dabei hatten sie mächtig Glück gehabt, da sie nicht ernsthaft verletzt wurden.

Nun hörte Erich schmerzhafte Schreie und verzweifelte Hilferufe. Er rappelte sich auf und schaute sich um. Was er da sah und hörte, machte ihn fassungslos. Bei dem Anblick musste er sich zusammenreißen und durfte nicht zeigen, dass er selbst auch Schmerzen hatte. Und im ersten Moment wusste er nicht, was er zuerst und zuletzt machen sollte: „Ich brauche Hilfe. Nein! Ich nicht! Die Leute brauchen Hilfe. Ich muss helfen! Verdammt noch mal!“ Er nahm sein Funkgerät und rief die Leitstelle: „Efeu 47 für die Efeu 47-20 kommen!“

„Efeu 47 hört.“

„Hier die Efeu 47-20! Ich muss einen Unfall melden! Unser Zug ist vermutlich mit einem Hindernis zusammengestoßen! Wir haben hier etliche Verletzte und brauchen dringendst Unterstützung vom Rettungsdienst, Notarzt und Feuerwehr. Unser Standort liegt zwischen Großfurra und Sondershausen. Den genauen Bahnkilometer kann ich von hier aus nicht sehen. Unser Zug steht ungefähr auf halber Strecke zum ehemaligen Bahnhof ‚Glück Auf‘. Ich gehe jetzt durch den Zug und helfe den Verletzten. Und wenn ich Näheres weiß, melde ich mich wieder. Efeu 47-20 Ende!“

Eine Hochzeitsgesellschaft in Großfurra

Der Brautvater Manfred Kaune verließ als letzter das Haus und schaute nach, ob alles ordnungsgemäß verschlossen war. Dann ging auch er zur Kutsche und begrüßte seinen zukünftigen Schwiegersohn und dessen Eltern. Dieser bestaunte seine zukünftige Braut und war über das Hochzeitskleid sprachlos: „Schatz du siehst umwerfend aus. Komm, lass dich küssen.“

„Nein, jetzt noch nicht!“, mischte sich der Brautvater ein. „Erst nachdem du ‚Ja‘ gesagt hast!“

Der Bräutigam gab nach und half seiner Braut beim Einsteigen in die Kutsche. Da klingelte ein Handy. Es war das Handy des Brautvaters. Er zog es aus seiner Tasche und legte es an sein Ohr. Dann wurde er blass und fing an, ein wenig zu zittern. Alle, die das mitbekommen hatten, sahen, dass hier irgendwas nicht stimmte. Manfred ging ein wenig zur Seite und schaute seine Tochter an. Es war ein trauriger Blick. Er war verunsichert und wusste nicht, was er dem Anrufer antworten sollte. Er ging beiseite und setzte sich auf einen Stein. Stand sofort wieder auf und steckte sein Handy wieder weg. Mit unsicheren Schritten ging er zur Tochter und sagte: „Ich kann nicht mitkommen. Verzeih mir, liebe Andrea. Ich glaube, du musst ohne mich heiraten.“

Die Braut schaute ihn entsetzt an und sagte: „Nein! Das darfst du nicht! Du musst mitkommen! Egal, was man dir da gerade gesagt hat. Das ist unwichtig! Mach mir meinen schönsten Tag nicht kaputt!“

„Ich kann nicht anders. Da gab es einen Unfall auf der Eisenbahn mit vielen Verletzten. Es können auch Tote dabei sein. Ich muss dort hin und muss helfen. Es tut mir wirklich leid. Fahrt los und wartet nicht auf mich. Ich komme so schnell wie möglich nach.“

„Nein! Du steigst sofort in die Kutsche! Die können auch ohne dich dorthin fahren.“

„Nein, das geht nicht. Ich kann nicht anders. Ich bin der Wehrführer.“ Dem Brautvater standen bei dem Anblick seiner Tochter die Tränen in den Augen. Dann drehte er sich um und rannte schweren Herzens zur Einsatzstelle der Feuerwehr.

Kurz darauf hörte man die Sirene.

Im Zug

Erich hatte noch nicht wirklich begriffen, was passiert war, und er musste sich ein Bild von der Situation machen. Zuerst suchte er seinen Kollegen und fand ihn zwei Sitzreihen weiter. Der versuchte auch gerade aufzustehen und stützte sich dabei auf eine Sitzfläche, diese brach auf Grund einer Beschädigung weg und er stürzte wieder zu Boden. Erich rannte hin, half ihm hoch und fragte: Hast du irgendwo Schmerzen? Was kann ich für dich tun?“

„Ich? Ich hab doch keine Schmerzen. Mir geht es gut!“

„Und was ist das für Blut an deiner Schläfe?“

Der Mehlmann fasste sich dorthin und antwortete: „Das ist nicht mein Blut!“

Erich sah, dass er schwindelte, und begutachtete die Wunde genauer. Es war Gott sei Dank nur eine Schürfwunde. Ein größeres Pflaster konnte da schon helfen.

„Mehlmann, wir müssen uns unbedingt einen Überblick verschaffen und den Verletzten helfen. Wir müssen durch den Zug. Die Leitstelle weiß schon Bescheid.“

Beide gingen los. Nebenbei sah Erich den jungen Mann, welcher seinen Personalausweis nicht vorzeigen konnte, wie er sich um eine verletzte ältere Frau kümmerte. Erich fand das gut, war froh und nickte freundlich. Der junge Mann sprach: „Ich wurde beim Militär zum Rettungssanitäter ausgebildet. Ich werde helfen, wo ich kann!“

Und ja, Hilfe war dringend notwendig. Die zwei Polizeibeamten, die den ersten Schock hinter sich gelassen hatten, kümmerten sich ebenfalls um die Verletzten. Nebenbei wurden die Betroffenen gezählt und überprüft, wie schwer die Verletzungen sind. Es sollte dementsprechend Hilfe angefordert werden. Im hinteren Abteil, wo sich die zwei beim Aufprall aufgehalten hatten, zählten sie acht Leichtverletzte und eine schwerverletzte Frau. Die Zahlen wurden sofort durchgegeben. Im Bereich der Eingangstüren wurde versucht, wenigstens eine Tür zu öffnen. Denn sobald die Rettungskräfte eintreffen, sollten sie einen schnellen und barrierefreien Zugang in den Triebwagen haben. Das klappte leider nicht. Die Türen waren verriegelt und hatten sich durch den Aufprall verklemmt. Somit wurden mit dem Nothammer, welcher sich in jedem Abteil befinden sollte, zwei Scheiben eingeschlagen und die Glassplitter entfernt. „So Mehlmann, jetzt wird es schwieriger. Wir müssen sehen, was da vorne los ist.“

„Siehst du, wie schräg der Wagen steht? Hoffentlich kippt der nicht gänzlich um, wenn wir da durch gehen!“

„Egal, wir müssen da rein. Verdammte Scheiße! Siehst du das? Der Führerstand ist komplett eingedrückt.“

„Los, wir müssen da hin! Siehst du die Kundenbetreuerin?“

„Nein.“

„Und den Lokführer?“

„Nein.“

„Hoffentlich ist denen nichts passiert. Das sieht da vorne richtig schlimm aus. Sag mal, die hatten doch noch einen Praktikanten bei sich?“

„Den sehe ich auch nicht.“

Beide Polizisten kämpften sich nun Schritt um Schritt durch das Abteil, mussten ausgerissene Sitzbänke und andere Hindernisse bei Seite schieben und das kostete Kraft und Zeit. Sie wollten alles begutachten und den Verletzten helfen und Hoffnung zusprechen. Und sie wollten bei ihrem Einsatz nicht riskieren, dass durch unnötige oder hastige Bewegungen der Triebwagen gänzlich umkippt und es weitere Verletzte oder Tote gibt. Sie zählten auf ihren Weg noch mal zwölf Leichtverletzte und drei schwerverletzte Personen. Und dort, wo der Wagen zusammengedrückt war, fanden sie den Praktikanten. Der war gerade dabei, eine eingedrückte Seitenwand beiseite zu schieben. Das klappte aber nicht, weil die Decke teilweise eingestürzt war und sich über die verbogene Wand gelegt hatte. Somit war alles blockiert.

Erich sprach ihn sofort an: „Was machst du denn da?“

„Dahinter sind meine Chefin und der Lokführer. Ich will sie da rausholen. Ich hab schon ein paarmal gerufen. Aber die antworten nicht. Deshalb will ich diese Wand hier wegschieben. Ich will nicht, dass alle beide dahinter tot sind.“

Der letzte Satz fiel ihm sichtlich schwer. Erich schnappte sich sein Funkgerät und informierte die Leitstelle über den momentanen Stand. Danach baten sie den Praktikanten, beiseite zu gehen und wollten selber ihr Glück versuchen. Egal, was man ihm sagte und zu erklären versuchte, der Praktikant ließ sich nicht vertreiben. Der wollte hartnäckig seine Chefin retten und antwortete: „Dort hinter dieser Wand ist Frau Bachmann! Und ich bin verantwortlich für sie! Stellen Sie sich mal vor, die kommt da raus, sucht mich überall und findet mich nirgendwo. Was sie sich da für Vorwürfe macht.“

„Nein“, konterte Erich, „du bist nicht für sie verantwortlich. Rede dir das ja nicht ein. Eher ist es umgedreht. Sie trägt für dich die Verantwortung!“

„Na ja, das meine ich doch. Wenn Frau Bachmann da rauskommt und ich bin nicht da! Ich bleibe hier und helfe mit, sie da rauszuholen, und Punkt!“

Da halfen von Seiten der Beamten keine weiteren Drohungen. Der Bengel blieb hart. Nun ja, da wurde eben von Seiten der Polizisten nachgegeben und zu dritt angefasst. Immerhin galt es, Menschenleben zu retten. Egal wie und zu welchem Preis. Während sie nun gemeinsam versuchten, die Wand beiseite zu bekommen, riefen sie immer wieder ihre Namen: „Anika! Anika Bachmann! Lothar! Wo seid ihr? Meldet euch! Wenn ihr nicht könnt, gebt wenigstens ein Zeichen. Ein einfaches Klopfen reicht. Nur damit wir wissen, wo ihr seid und wie es euch geht.“ Es kam keine Antwort. Nach und nach kam der Verdacht auf, dass sie den Unfall nicht überlebt haben könnten. Dieser schreckliche Gedanke spornte die Retter noch mehr an und obwohl der Gedanke immer wieder weggewischt wurde, war er doch immer zugegen: „Wir retten sie auf jeden Fall! Und die sind auch nicht tot!“

Nun hörte man draußen die ersten Signalhörner. Es war die freiwillige Feuerwehr von Großfurra und die von Kleinfurra und Sondershausen waren auch schon auf dem Weg und sollten in Kürze eintreffen. Da kamen die ersten Rettungswagen zum Unfallort. Die Rettungssanitäter und der Notarzt stiegen aus und begaben sich unverzüglich zu den Verletzten. Dann traf die Landespolizei ein und selbst die Kollegen der Bundespolizei waren innerhalb kürzester Zeit vor Ort. Obwohl sie den längsten Anfahrtsweg hatten. Sie kamen von Sollstedt rüber gefahren. Auch der Notfallmanager der Bahn war anwesend und Erich sah, wie er den Einsatzkräften irgendwelche Hinweise gab. Erich achtete nicht weiter auf das Einsatzgeschehen. Er wollte unbedingt mit dem Mehlmann die verdammte Wand wegbekommen.

Und als die ersten Einsatzkräfte der Feuerwehr am Zug waren und dabei die drei Retter im Zug entdeckten, pochten sie vorsichtig mit der Faust gegen das Fenster. Danach gingen sie sofort wieder auf Sicherheitsabstand und beobachteten ihre Reaktion. Sie sahen die gefährliche Position des Triebwagens und wollten unnötige Aktionen vermeiden. Mit Handzeichen und kurzen Sätzen erklärte Erich die Situation im Zug und bat gleichzeitig um Hilfe. Sie sollten so schnell wie möglich zu ihnen kommen, um bei der Rettung zu helfen. Denn, egal wie sie sich anstrengten, alleine schafften sie es nicht. Die Wand war zu sehr mit der herunterhängenden Decke verkeilt. Hier konnte nur noch schwere Technik helfen.

Dann meldete sich das Funkgerät: „Efeu 47-20 für die Efeu 47-30 kommen!“

Erich meldete sich: „Efeu 47-20 hört!“

„Efeu 47-20, wir sehen euch nicht! Seid ihr im Zug? Gebt mal euren Standort! Wir wollen zu euch.“ Sie standen nach ihrer Ankunft mit ihrem Streifenwagen auf Grund von Platzmangel etwas ungünstig und hatten dadurch nur eine begrenzte Sicht zum Ereignisort.

Erich antwortete: „Die Efeu 27-20 ist mit Kollege M. im vorderen Teil des Zuges und sucht die Kundenbetreuerin und den Triebfahrzeugführer. Könnt ihr mal von außen schauen und uns mitteilen, was da konkret passiert ist? Vielleicht seht ihr was von den beiden?“

„Die Efeu 37-30 ist unterwegs, und wie ich von hier aus schon sehe, ist euer Triebwagen gegen eine entgegengekommene Diesellok der Baureihe 232 geprallt. Sieht schlimm aus. Die Lok hat sich voll im Triebwagen verkeilt. Die Feuerwehr ist gerade dabei, auf den Führerstand der Lok zu klettern. Wie es aussieht, suchen die den Lokführer.“

Erich schaute aus dem Fenster und sah, wie sein Kollege Elu zu einem Feuerwehrmann ging und sich mit ihm unterhielt. Dabei schauten beide auf den Triebwagen. Kurz darauf kam der nächste Funkspruch: „Efeu 47-30 hat gerade mit dem Einsatzleiter gesprochen. Der hat mir erklärt, dass sie an den Triebwagen noch nicht herangehen können, weil dieser umzustürzen droht. Uns will der Einsatzleiter auch nicht durchlassen. Es sei zu gefährlich. Der Triebwagen muss erst von beiden Seiten abgestützt werden. Danach können sie handeln. Die entsprechende Technik wurde bereits angefordert und ist unterwegs. Das einzige, was im Moment getan werden kann, ist die Bergung der Verletzten im hinteren Teil des Triebwagens.“

„Efeu 47-30 für die 47-20! Wir haben hier vorne auch Verletzte und zwei von ihnen sind eingeklemmt und wir kommen nicht an sie ran. Die sollen sich so schnell wie möglich was einfallen lassen!“

„Efeu 47-20, der Einsatzleiter Kaune hat mitgehört.“

Erich schaute wieder aus dem Fenster und sah, wie sich der Einsatzleiter nach dem Funkspruch mit schnellen Schritten vom Zug entfernte. Erich war fassungslos: „Der wird doch wohl nicht …?“

„Efeu 47-30, was hat der Mann vor? Hat er dir was gesagt?“

„Nein, leider nicht, und was er vorhat, kann ich dir auch nicht sagen. Ich denke mal, dass der eine Idee hat.“

„Wir werden sehen. Efeu 47-20 Ende!“

Im hinteren Triebwagen hörte Erich, wie die ersten Einsatzkräfte anfingen die Verletzten zu bergen. Diese Aktion funktionierte aus Sicht der zwei Beamten hervorragend. Und das war in der verzweifelten Situation der nächste Funke der Hoffnung. Nun würde es nicht mehr lange dauern und sie wären bei ihnen.

„Mehlmann, wir versuchen es trotzdem noch mal.“

Mit vereinten Kräften wurde wieder an der Seitenwand gezerrt und es war ein leichtes Knarren zu hören und die Wand schien sich zu bewegen. Aber dann gab es einen lauten Knall, der Triebwagen zitterte kurz und neigte sich noch weiter zur rechten Seite.

„Verdammte Sch…! Es hat keinen Zweck. Wenn der jetzt umkippt, gib es …!“ Erich sprach den Satz nicht zu Ende. Er wollte das Wort „Tod“ nicht in den Mund nehmen.

„Ich glaube, wir müssen uns gedulden.“

„Hast recht, Mehlmann, wir können im Moment nichts tun.“ Aber eins machte er dennoch. Er sprach mit den Vermissten: „Anika und Lothar, wir lassen euch auf keinen Fall in Stich! Wir geben nicht eher auf, bis wie euch gefunden und in Sicherheit gebracht haben. Das verspreche ich euch, so wahr ich hier stehe! Wir haben hier viele Helfer, die sind alle hierhergekommen, nur um euch zu retten. Haltet durch! Es dauert nicht mehr lange und wir sind bei euch.“ Und zum Mehlmann gewandt flüsterte er: „Hoffentlich sind sie noch am Leben.“

Da meldete sich der Praktikant: „Natürlich leben die Zwei noch! Das spüre ich! Genau hier drin spüre ich das!“ Dabei schlug er sich mit der rechten Hand auf die Brust und traf genau die Stelle, an der sein Herz schlug, und redete weiter: „Auch wenn ich Frau Bachmann und den Lokführer bis heute Morgen noch nicht kannte, so will ich doch, dass sie leben! Und sie leben, glaubt es mir! Und deshalb bleibe ich auch hier! Basta!“

Nun staunten die zwei Polizisten nicht schlecht über den Praktikanten Knut Hölzel. Diese eindringlichen Worte hätten sie ihm gar nicht zugetraut. Ein anderer hätte vielleicht die erstbeste Gelegenheit genutzt, um sich aus dem Staub zu machen. Aber dieser Praktikant gehörte nicht dazu.

Erich hörte im Hintergrund Schritte und drehte sich um. Er sah den Einsatzleiter, wie er mit schwerer Technik wieder kam. Er brachte auch zwei Kameraden mit.

„Ich habe hier eine Säge und Hebelwerkzeug und meine Leute sind gerade dabei, mehrere Luftkissen auszulegen und zusätzlich Metallstützen aufzustellen. Wenn die aufgeblasen und verankert sind, legen wir los.“

„So machen wir das!“

Diese schnelle Antwort kam vom Praktikanten und der erntete damit irritierte Blicke getreu dem Motto: „Was bildet der sich ein? Das ist doch kein Chef! Aber er zeigt, selbst in seinen jungen Jahren, schon sehr viel Mut.“

Danach wurde aus dem Triebwagen heraus der Fortschritt der Sicherungsmaßnahmen beobachtet und dann sagte der Einsatzleiter: „Ich glaube, wir können jetzt mit der Bergung anfangen. Reicht mir bitte die Säge!“ Nun erklärte er den Anwesenden, was er vorhatte, und nach deren Zustimmung, setzte er die Säge an. Er fing im oberen Bereich der Wand an und schnitt vorsichtig ein quadratisches Loch hinein. Danach nahm er eine Taschenlampe und leuchtete dahinter. Er sah, dass hinter der Wand alles zusammengepresst war und eine herausgerissene Sitzbank lag quer im Weg. Er sah aber auch einen Teil von einem Bein, welches auf dem Fußboden lag. Mehr konnte er bei aller Anstrengung nicht sehen. Somit wurde die Säge wieder angesetzt und er arbeitete sich vorsichtig von oben nach unten durch. Danach wurde mit Hilfe der Technik die Wand auseinandergedrückt und der Blick war frei. Das was man nun sah, versprach nichts Gutes. Sie sahen zwei eingeklemmte leblose Körper.

Erich erschrak bei dem Anblick, riss sich zusammen und sagte zum Praktikanten: „Knut, schau nicht hin. Das ist nichts für dich. Gehe lieber raus. Einer der Feuerwehrmänner wird dich begleiten.“

Eine zitternde Stimme antworte mit unverständlichen Worten und der Angesprochene ging langsam los. Er machte nur wenige Schritte und drehte sich wieder um. „Ich bleibe hier! Ich habe es versprochen!“

„Knut, du kannst hier nichts mehr machen. Warte draußen auf uns!“

Erichs letzte Worte schienen bei ihm angekommen zu sein. Der Praktikant verließ mit gesenktem Haupt den Triebwagen. Beim Verlassen des Triebwagens sagte er zu sich: „Der Tag hat doch so schön angefangen. Warum muss der so grausam enden?“

Erich schaute in den aufgebrochenen Schlitz und griff nach einer Hand. Auch wenn sie blutig war, wollte er ein Lebenszeichen und das bekam er. Er spürte den Puls.

„Sie leben! Ich spüre es! Sie leben noch!“

Aufgeregt zog er sich zurück und die Säge kam wieder zum Einsatz. Erich und der Mehlmann schauten aufgeregt zu und sahen professionelle Arbeit. Nachdem das letzte Hindernis beseitigt wurde, konnte keiner mehr unseren Erich festhalten. „Entschuldigt bitte!“, rief er. „Ich kann nicht anders. Ich muss da rein!“ Er schob alle Rettungskräfte bei Seite und kroch los und da für eine weitere Person kein Platz darin war, musste er alleine handeln. Das spielte für ihn keine Rolle. Zuerst war er bei dem Lokführer. Da er über der Kundenbetreuerin lag, wurde dieser zuerst geborgen. Erich zog ihn vorsichtig heraus und die Einsatzkräfte übernahmen ihn und brachten ihn aus dem Zug. In der Zwischenzeit konnte er sich um die Kundenbetreuerin kümmern. Nachdem auch sie aus dem zusammengepressten Abteil herausgeholt war, stellte ein Notarzt fest, dass beide noch am Leben sind, aber leider ohne Bewusstsein. Nun wurden sie zusammen mit den anderen Verletzten ins nächst gelegene Krankenhaus gebracht um, auf der Intensivstation behandelt zu werden.

Als das der Praktikant sah, ging er auf die zwei Polizisten zu und sagte: „Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich später machen will. Ich gehe zur Bundespolizei!“

Erich antwortete: „Überlege dir das gut. Das ist kein einfacher Weg und der will wohl überlegt sein.“

Nach Bergung der letzten Fahrgäste wurden die Rettungsmaßnahmen im Zug eingestellt und Erich setzte sich auf einen größeren Stein, um Luft zu holen. Er war froh, dass alles so glimpflich ausgegangen war. Jutta und die anderen zwei Kollegen setzten sich zu ihm. Auch der Einsatzleiter der Feuerwehr setzte sich dazu, um sich zu bedanken.

„Nein“, antwortete Erich, „wir haben zu danken. Ohne Ihren selbstlosen Einsatz hätten wir die zwei nicht retten können.“

Der Einsatzleiter nickte, schaute dabei auf die Uhr und sagte: „Wissen Sie eigentlich, dass meine Tochter gerade heiratet? Und ich kann nicht mit dabei sein? Ich hatte hier einen Einsatz zu leiten? Wissen Sie, was ich gerade gemacht habe? Ich habe meine Tochter in ihrem schönsten Moment verlassen. Wissen Sie, wie man sich da fühlt? Wissen Sie, was für ein schlechtes Gewissen ich dabei habe? Das können Sie sich nicht vorstellen. Da steht freudestrahlend der Bräutigam und da ist meine glückliche Tochter. Alle freuen sich. Und was mache ich? Ich drehe mich um und renne weg. Ich glaube …“

Der Einsatzleiter hörte mitten im Satz auf und Erich sah, wie schwer ihm die Sätze gefallen waren. Erich hatte zugehört und versuchte zu antworten. Es war nicht einfach: „Nein, das habe ich nicht gewusst. Es tut mir wirklich leid. Aber lassen Sie mich bitte dazu was sagen: Sie haben Ihre Pflicht getan und Menschenleben gerettet! Und jetzt gebe ich Ihnen noch einen Rat: Laufen Sie los! Worauf warten Sie noch? Sehen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich zu Ihrer Tochter kommen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.“

Einer seiner Kameraden, der das Gespräch mit angehört hatte, sagte: „Manni, der Mann hat recht. Mache dich in die Spur. Das bisschen Aufräumen da ist nun wirklich kein Problem mehr. Das schaffen wir auch ohne dich!“

Der Einsatzleiter Manfred Kaune stand auf, bedankte sich noch mal und wollte los. Da kam die nächste Botschaft: „Manni, warte mal, da will dich jemand sprechen. Du sollst mal zu dem Polizeiauto, welches da hinten an der Straße steht, kommen.“

Der Einsatzleiter schaute in die Richtung und sagte zu sich: „Verdammt noch mal, was wollen die denn schon wieder von mir? Der Einsatz ist doch gelaufen.“

Widerwillig ging er los, bis er eine Frau im weißen Kleid sah. Dann rannte er so schnell es ging. Es war seine Tochter, die er dort gesehen hatte. Als er ankam, sah er nicht nur seine Tochter. Nein, die gesamte Hochzeitsgesellschaft hatte sich hinter den Einsatzfahrzeugen versteckt.

„Überraschung! Wir sind alle hier!“

„Meine Kleine, du bist doch verrückt!“

„Ja Vati, das bin ich. Aber das kann ich nur von dir geerbt haben. Von Mami nicht. Und ja, ich bin stolz auf dich. Jetzt, wo ich das hier gesehen habe, kann ich nur noch sagen: Du bist der beste Papi auf der ganzen Welt!“

Manni fiel ein Stein vom Herzen. Nein, es war nicht nur ein Stein. Es waren hunderte. Er hatte mit allem möglichen gerechnet, nur nicht damit. Die Überraschung war ihr gelungen.

„Vati, ich konnte ohne, dass du mit dabei bist, nicht ‚Ja‘ sagen. Deshalb sind wir alle hierhergekommen. Auch der Standesbeamte ist da. Es hat zwar ’ne Weile gedauert, bis wir ihn davon überzeugen konnten. Aber es hat geklappt. Er hatte es irgendwann eingesehen und nun wartet er da drüben unterm Baum. Jetzt kann ich endlich heiraten.“

Die nun doch ungewöhnliche Hochzeitszeremonie wurde fortgesetzt, indem der Standesbeamte fragte: „Andrea Kaune, möchtest du … so sage: Ja.“

„Ja, ich will! Ich will unbedingt.“