Es war einmal Deutschland - Nello Simeone - E-Book

Es war einmal Deutschland E-Book

Nello Simeone

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Beschreibung

„Es ist das Jahr 1965. Ich bin gerade 18 Jahre alt und einer von ihnen, den Gastarbeitern. Es sind nahezu Millionen von Menschen, die ihre Familien verlassen, um nach Deutschland zu gehen. Mein Ziel war es, der Enge der Familie zu entkommen, der Strenge der Eltern, der Sturheit der italienischen Mentalität zu entfliehen. Ich wollte frei sein. Andere Kulturen entdecken, ihre Denkweisen kennenlernen. Dafür war ich bereit einen hohen Preis zu zahlen... Mit „Es war einmal Deutschland“ erleben wir einen Perspektivwechsel. Für Nello Simeone und seine Landsleute waren wir das gelobte Land. Konnten wir diese Erwartungen und Visionen dieser Menschen erfüllen? Ihre Sehnsüchte, ihre Träume – fanden sie in Deutschland und dem Leben dort ihre Erfüllung? Wie sind wir Deutschen diesen Menschen begegnet? Haben wir sie würdevoll behandelt oder als Menschen zweiter Klasse gesehen? Nellos Erzählung gibt uns einen interessanten Perspektivwechsel. Sein Erleben, sein Bild. „Es gibt zwei Welten: Die eine Welt ist unser Herz, darin sind die Gefühle eingeschlossen. Man trifft jemanden wie dich und es gerät alles durcheinander. Die Gefühle wollen raus, alles ist in Bewegung. Aber die andere Welt ist das hier, diese Straße, die Bar, die Soldaten, die zu uns kommen, um sich zu amüsieren.“ Nello trifft eine Entscheidung, die sein Leben auf immer verändert. Ein bewegender, autobiographischer Roman.

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Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

7. Januar 1956

15. Januar 1965

15. Januar 1965

19. Januar 1965

8. Februar 1965

1. März 1965

11. April 1965

Karfreitag 1965

7. April 1965

1. Mai 1965

Der Autor Nello Simeone

Sparkys Edition

Zum Buch

Es ist das Jahr 1965. Zu der Zeit bin ich gerade 18 Jahre alt. Ich bin einer von ihnen, den Gastarbeitern. Es sind nahezu Millionen von Menschen, die ihre Familien verlassen, um nach Deutschland zu gehen, dort eine Arbeit suchen, eine neue Zukunft, Wohlstand für ihre Familie. Für mich war von alledem nichts ausschlaggebend. Mein Ziel war es, der Enge der Familie zu entkommen, der Strenge der Eltern, den Gesetzen und Sitten, der Sturheit der italienischen Mentalität zu entfliehen.

Ich wollte frei sein. Andere Kulturen entdecken, ihre Denkweisen kennenlernen. Dafür war ich bereit, einen hohen Preis zu zahlen...

Nello Simeone

Es war einmal Deutschland – gelobtes Land

Alle Rechte unterliegen dem Urheberrecht. Verwendung und Vervielfältigung von Text und Bild nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Hubert Romer

Korrektorat: Reemers Publishing Services GmbH

Umschlaggestaltung: Designwerk-Kussmaul,

Weilheim/Teck, www.designwerk-kussmaul.de

© 2022 Sparkys Edition; Autor: Nello Simeone,

2. überarbeitete Auflage

Herstellung und Verlag: Sparkys Edition,

Zu den Schafhofäckern 134, 73230 Kirchheim/Teck

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-949768-06-4

7. Januar 1956

Es ist der 7. Januar des Jahres 1965. An diesem Montagmorgen ist um 6 Uhr in der Früh der Abschied gekommen. Die Weihnachtsferien des Jahres 1964/65 sind gerade zu Ende und noch ahne ich nicht, dass es die letzten sind, die ich bei meiner Familie verbringen sollte.

Ach ja, ich habe mich euch noch gar nicht vorgestellt: Mein Name ist Nello. Zu diesem Zeitpunkt bin ich gerade 18 Jahre und 2 Monate alt, etwa 1,76 m groß, habe schwarze Haare und dunkle Augen. Natürlich habe ich eine ganze Menge Wünsche und Träume, die ich genau wie meine täglichen Erlebnisse in meinem Tagebuch festhalte. Ich spiele zum Beispiel leidenschaftlich gerne Fußball, doch für eine Karriere als Fußballprofi wird es sicher nicht reichen. Aber es gibt bestimmt noch viele andere interessante Dinge zu lernen, und darauf bin ich sehr neugierig. Ich lache für mein Leben gern und bin durch und durch optimistisch. Was die Zukunft mir bringen wird? Ich weiß es nicht, aber eines weiß ich sicher: Ich werde niemals einen Bart tragen, schon gar keinen Schnäuzer!

Die letzten zwei Jahre habe ich in Pisa gelebt, besser gesagt in Marina di Pisa, einem kleinen und wunderschönen kleinen Dorf an der Küste des Ligurischen Meeres. Begrenzt von einem riesigen Pinienwald schmiegt es sich so eng an die Küste, dass die Häuser fast alle direkt in den Dünensand gebaut sind. Zwischen Marina di Pisa und Livorno liegt die Schule, in der ich zwei wichtige Jahre meiner Jugend verbracht habe. Mit 1.200 anderen jungen Männern aus ganz Italien erlernte ich dort meinen Beruf, den des Maschinenschlossers.

Insgesamt waren diese zwei Jahre eine wunderbare Zeit, obwohl es streckenweise doch sehr hart war und wir oft mit Zweifeln, manchmal sogar mit Hoffnungslosigkeit zu kämpfen hatten. Andererseits war diese Zeit auch von einem großen Zusammengehörigkeitsgefühl geprägt. Es wurden Freundschaften fürs Leben geschlossen, die dann später leider doch auseinander gingen. Die große neue Erfahrung dieser Zeit war, zwei ganze Jahre ohne die Aufsicht unserer Eltern zu sein, also ganz auf uns selbst gestellt. Auf dem Weg, erwachsen zu werden.

In dieser Schule wurden wir auf das von uns gewählte Leben und Arbeiten im Ausland vorbereitet. Neben den verschiedenen Berufen lernten wir somit auch die jeweiligen Sprachen unserer Bestimmungsländer.

Ich hatte mich gegen den Willen meiner Eltern für Deutschland entschieden, also lernte ich die deutsche Sprache. Nach der Prüfung, die ich mit sehr guten Noten bestanden hatte, bekam ich tatsächlich einen Arbeitsvertrag. Als Einziger unserer Schule sollte ich eine Stelle in Remscheid antreten. Die Tätigkeit war mit „Maschinenschlosser im Elektrobetrieb“ beschrieben, der Stundenlohn betrug 3 D-Mark und 60 Pfennige. Anfangen sollte ich dort am 17. Januar 1965. Klar, dass ich auf diese Stelle sehr neugierig war!

Und nun war es so weit. An diesem Morgen um 6 Uhr war der traurige Moment des Abschieds gekommen. Mein einziger Koffer war gepackt. Es war nicht viel, was ich hatte. Außer dem, was ich am Leib trug, bestand mein Gepäck gerade mal aus zwei Hosen, zwei Jacken, drei oder vier Pullovern, Strümpfen, Unterwäsche und etwas Proviant für die Fahrt. Das größte und wertvollste „Gepäckstück“ war aber sicher all das, was ich in meinem Herzen mit mir trug.

Meine ganze Familie war um mich versammelt, meine Eltern, meine Brüder (damals waren es noch vier): Antonio, der Älteste, die Zwillinge Mario und Giovanni, beide nur 11 Monate jünger als ich, dann Pio, der jüngste Bruder, und zum Schluss Enza, meine sehr, sehr liebe Schwester, die damals gerade acht Jahre war. Alle standen sie dort, bedrückt und stumm. Mein Vater versuchte mir etwas zu sagen, aber war noch nie ein Mann der großen Worte und schaffte es in diesem Moment schon gar nicht. Meine Mutter hatte Tränen in den Augen, als sie zu mir sagte:

„Mein Junge! Du hast dich gegen meinen Willen für Deutschland entschieden. Ich will dich nicht nach dem Warum fragen, vielleicht wirst du es mir irgendwann einmal selbst sagen. Ich hoffe und bete für dich, dass du diese Entscheidung niemals bereuen wirst. Ich kann dir nur eines sagen: Du tust mir sehr weh damit, doch ich vertraue auf dich. Mein Segen wird dich immer begleiten! Und … vergiss nie deine Familie!“

Die Zeit drängte. Ich küsste sie fest, ich küsste meine Brüder und umarmte meine weinende kleine Schwester und drückte sie fest an mich. Danach nahm ich den Koffer und ging zur Tür. So oft war ich schon weggefahren, jedes Mal, wenn ich am Ende der Schulferien zurückmusste nach Marina di Pisa. Das Ritual war immer das gleiche. Ich schloss leise die Tür hinter mir, ging die Treppen hinunter, durch das kleine grüne Eisentor und schon befand ich mich auf dem schmalen Feldweg, der mich zur Via Appia brachte.

Obwohl dieser Feldweg wirklich klein war, kam er mir in diesem Moment ganz groß und breit vor, so hell und frei! Endlich war es so weit! Ich war meinem ersten Ziel greifbar nah, ich war frei – aber was mir in diesem Moment alles durch den Kopf ging! Ich blieb einen kurzen Moment stehen, drehte mich um und schaute noch einmal ganz bewusst das Haus an, in dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, und plötzlich war da dieses bittere und melancholische Gefühl in mir. Mutter, Mutter, bitte verzeih mir! Ich werde euch nie vergessen, das verspreche ich! Ein dicker Kloß saß in meinem Hals und ich merkte, wie mir ein paar Tränen das Gesicht hinunterliefen. Ich war ganz allein, denn ich hatte darum gebeten, dass mich niemand zur Bushaltestelle begleitete. Diesen Weg wollte ich einfach ganz allein gehen, niemand sollte mein Gesicht sehen in diesem Moment und vor allem sollte niemand den Versuch machen können, meine Gedanken zu lesen. Ich wollte mich so auf meine Weise verabschieden von dieser wunderschönen Umgebung, in der ich viele glückliche Jahre erlebt hatte, und von meinen Freunden, die in diesen Stunden noch schliefen. Spontan hob ich einen kleinen Stein vom Boden auf, steckte ihn in meine Jackentasche und ging weiter. Nach wenigen Minuten war ich an der Via Appia angekommen und kurz darauf saß ich schon im Bus.

Der Weg zum Bahnhof führte durch die Stadtmitte von Formia, am Markt vorbei, auf dem es schon lebhaft zuging, danach über die Via Vitruvio, die einzige Einkaufsstraße von Formia. Auf dieser Straße hatte ich mit meinen Freunden ausnahmslos alle Sonntage verbracht, sommers wie winters. Mir wurde bewusst, dass Formia eigentlich immer schön war, auch im Winter und selbst bei Regen, vielleicht sogar gerade dann. Vom Bahnhof aus konnte ich ein letztes Mal die Halbinsel von Gaeta sehen, an der Spitze den wohlbekannten alten Leuchtturm, der wie immer monoton, aber zuverlässig seine Arbeit machte. Ich hatte noch Zeit, also setzte ich mich auf eine Bank und dachte nach. Vieles ging mir durch den Kopf. Ich hatte mir selbst drei große Ziele gesetzt: Das erste Ziel war, meiner Familie zu helfen, das zweite, niemals die Verbindung zu meiner Familie und meiner Umgebung zu verlieren, und das dritte Ziel bestand darin, so viel wie nur möglich zu lernen. Ich war aufs Äußerste gespannt, was alles auf mich zukommen würde. Wer weiß, ob diese Ziele nicht vielleicht doch zu hoch gesteckt sind für einen noch so jungen Mann, der gerade im Begriff ist, die harte Erfahrung der Migration zu machen.

Während ich mich mit diesen Gedanken beschäftigte, fuhr der Zug ein. Nun war es Zeit, wirklich Abschied zu nehmen, und es war kein kleiner alltäglicher Abschied, sondern ein ganz besonderer: Ein Lebensabschnitt ging in dem Moment zu Ende. Aus einem Kind war ein junger Mann geworden, und jetzt, gerade 18 Jahre alt, war ich schon so erwachsen, dass ich sogar ins Ausland fahren durfte, um zu arbeiten. Das war ein Abschied nicht nur von der Familie, der Umgebung und den Freunden, nein, auch von einer Zeit, in der ich sehr glücklich gewesen war. Spätestens seit gestern Abend, als mir mein Mädchen den ersten Zungenkuss meines Lebens gab, fühlte ich mich endgültig erwachsen. Das alles lag in diesem Abschied.

Die Türen des Zuges gingen automatisch zu und er setzte sich in Bewegung. Die Odyssee begann und damit „das größte Abenteuer meines Lebens“!

Es war geplant, dass alle Schüler am 7. Januar wieder zurück zur Schule kommen sollten, um noch eine Woche gemeinsam mit den neuen Schülern zu verbringen und mit einer großen Feier verabschiedet zu werden. Anschließend würden wir nach Verona fahren und nach zwei Tagen Aufenthalt im „Migrationszentrum“ sollte es definitiv nach Deutschland gehen.

Auf dem ganzen Weg nach Rom schaute ich aus dem Fenster und sah mir die unzähligen kleinen Dörfer an, die auf der wunderschönen Bergkette verteilt lagen. Ich versuchte, so viel wie nur möglich mit den Augen aufzunehmen, um es genau im Gedächtnis zu behalten. Wie richtig das war! Es sollte sechs lange Jahre dauern, bis ich diese schöne Gegend wiedersehen würde. Nach einer guten Stunde konnte ich die Mauern von Rom sehen, faszinierend wie immer. „Welch eine Geschichte!“, ging es mir durch den Kopf. Am Bahnhof Termini angekommen machte ich mich sofort auf den Weg zum Bahnsteig Nr. 27. Diese Zahl war mir mittlerweile sehr vertraut, denn dort fuhr der Zug nach Pisa ab. Und da sah ich sie schon: Jede Menge Schüler waren schon angekommen und ständig wurden es mehr. Wir kannten uns alle, aber natürlich freute ich mich besonders, als ich auf meine Klassenkameraden traf.

Innerhalb unserer Klasse hatten sich, wie es üblich ist, verschiedene Gruppen gebildet. Unsere Gruppe bestand aus Angelo aus Neapel, Aldo aus Palermo, Dino aus Florenz, Rocco aus Lecce, Enzo und Paolo aus Viterbo und mir. Ich war zwar der Jüngste der Gruppe, aber ich hatte das Glück gehabt, in meinem bisherigen Leben bereits zehn Jahre eine Schule besuchen zu können. Dadurch war ich schulisch gesehen ziemlich fit und konnte den anderen helfen, die mit wesentlich schlechteren Vorkenntnissen kamen. Tatsächlich war es so, dass ich diesen Jungen zwei Jahre lang Nachhilfeunterricht gegeben habe. Abend für Abend saßen wir in unserer Aula und ich spielte den Lehrer. Bemerkenswert war, mit welcher Begeisterung sie dabei waren. Ich hatte alle Hände voll zu tun mit ihnen, doch es hat sich gelohnt: Wenn auch mit kleinen Mängeln, haben sie tatsächlich am Ende alle die Prüfung bestanden. Zu erleben, wie glücklich sie darüber waren, war für mich Lohn genug.

Bis auf Dino, der ja aus Florenz kam, waren alle schon da. Die Wiedersehensfreude war riesig. Wir umarmten uns, lachten und redeten gleichzeitig und erzählten uns alles über die Weihnachtsferien, über die Familien, die Mädchen … – unterdessen kam der Zug und knapp drei Stunden später waren wir da.

Pisa – eine wunderschöne Stadt! Nicht groß, aber sehr schön gebaut, sehr sauber und mit nur wenig Verkehr. Diese Schönheit hat mir immer sehr gut gefallen. Der mittelalterliche Charakter der Stadt weckte stets poetische Gefühle und Gedanken bei mir. Der berühmte Schiefe Turm kam mir allerdings im stimmungsvollen Gesamtbild der Stadt eher wie eine billige Touristenattraktion vor. Ich persönlich fand es am schönsten, entlang der Grenzmauern spazieren zu gehen und die schönen Wappen und Inschriften dort zu bewundern. Die Stadt musste eine große Geschichte und eine glorreiche Vergangenheit haben.

Von Pisa aus mussten wir noch eine halbe Stunde mit dem Bus fahren, dann tauchte sie vor unseren Augen auf: „Calambrone in Pisa“, unsere Schule. Ich war neugierig auf die neuen Schüler. Woher werden sie alle kommen, wie alt werden sie wohl sein? Ob sie wohl die gleichen Probleme haben werden wie wir? Ob es unter ihnen jemanden gibt, der so denkt wie ich? Na ja, bestimmt bin ich nicht der Einzige.

Es war schon 13 Uhr, als wir endlich an unserem Ziel eintrafen. Für lange Begrüßungen blieb nicht viel Zeit. Nachdem wir unsere Koffer abgestellt hatten, war unser erster Gedanke, schnell ins Restaurant zu kommen, denn wir hatten alle mächtigen Hunger. Es war ein sehr großes, gut organisiertes Restaurant, in dem mittlerweile jede Gruppe ihren eigenen „Stammtisch“ hatte. Und genau da wartete er, der Einzige, der nicht die lange Fahrt mit uns gemacht hatte, weil er in der Nähe wohnte: Dino! Das Besondere an Dino war sein einzigartiges Lächeln. Wenn er lächelte, lachte sein ganzes Gesicht mit! Genauso wie immer saß er jetzt da, mit gefalteten Händen und seiner besonderen Mimik. Wir stürmten auf ihn zu: „Da sind wir wieder!“ Und dann gab es natürlich wieder verdammt viel zu erzählen. Wunderschöne Momente, in denen wir völlig ausgelassen und frei über alles sprachen, was uns wichtig war.

„Kinder, bis vor zwei Jahren war ich noch Maurer, und heute? Ich bin Maschinenschlosser mit Gesellenbrief! Fürs Diplom hat es nicht gereicht, aber ich kann richtig schreiben und lesen, ich kann rechnen, ich habe Mathematik gelernt und Deutsch! Also, wenn mir das jemand vor zwei Jahren gesagt hätte, hätte ich ihn ausgelacht!“, sagte Angelo, der Neapolitaner. Ich hörte ihn gerne sprechen, denn ich mochte seinen Dialekt. „Und was machen wir heute Nachmittag? Wir haben frei, wir sollten die paar Tage noch ausnutzen. Nello, was schlägst du vor?“

„Ich würde sagen, nach dieser opulenten Mahlzeit machen wir einen schönen Spaziergang nach Livorno, drei Kilometer hin, eine Runde um die ganze Stadt, und drei Kilometer wieder zurück, das macht fast genau 10 Kilometer. Wenn wir um 14 Uhr losgehen, sind wir sicher gegen fünf wieder zurück und um sechs gibt es Abendessen.“

„Oh je, es spricht wieder der Sportler! Apropos Sport, du hast auch schon seit ein paar Wochen nicht mehr trainiert!“

„Du meinst Fußball?“

„Ja, natürlich! Du bist doch so ein begabter Spieler!“

„Na ja, sagen wir so, ich kann ganz gut Fußball spielen, aber im Vertrauen gesagt: Wenn ich wirklich so gut wäre, hätte Pisa mich behalten. Aber du hast ja gehört, was der Trainer gesagt hat, ich bin einfach zu weich.“

„Das verstehe ich nicht, dass du es nicht schaffst, etwas härter zu werden.“

„Ach, Angelo, Fußball ist für mich ein Spiel und kein Kampf.“

„Ich wusste es! Unser Nello, Pazifist bis auf die Knochen! Aber eines muss man ihm lassen: Er hält sich an seine Prinzipien und das ist gar nicht einfach. Wer weiß, wozu das noch mal gut sein wird.“

„Klar, sonst hätte ich dich nicht zur Ersten Heiligen Kommunion geführt. Aber jetzt mal im Ernst, was machen wir heute Nachmittag? Also, ich möchte nach Livorno.“

„Warum gerade nach Livorno und nicht nach Pisa?“

„Ich möchte so gerne noch mal zum Hafen in Livorno gehen. Es ist immer so schön da. Die amerikanische Flotte liegt vor Anker und die möchte ich mir ansehen. Kommst du mit, Dino?“

„Okay, ich komme mit. Aber mal ganz ehrlich, Nello. Du willst nur nicht nach Pisa, weil du Angst hast. Du willst eine gewisse junge Dame nicht mehr treffen, stimmt’s?“

„Wenn du Rita meinst, gebe ich dir recht, aber zwischen uns ist es sowieso schon aus.“

„Dein Wort in Gottes Ohr! Nun gut, wenn du unbedingt nach Livorno willst, komme ich mit.“

Das Wetter war nicht besonders gut, der Himmel grau, das Meer ebenfalls, aber es regnete zumindest nicht. Dafür war der Wind, der vom Meer kam, zwar nicht stark, aber eiskalt. Livorno ist eine sehr schöne Stadt, ganz anders angelegt als Pisa, eben eine typische Hafenstadt. Im Stadtzentrum gab es einen riesigen Platz, auf dem zweimal in der Woche großer Markt abgehalten wurde. Hier fand man für wenig Geld alles, was man sich denken konnte. Vom Marktplatz, der ringsherum umgeben war von Geschäften, zweigten Straßen in alle Himmelsrichtungen ab. Wir nahmen den Weg zum Hafen und befanden uns bald in einem Gewirr von kleinen Gassen mit Bars, Lichtern und Glitzer. Frauen und Männer, die kamen und gingen, Soldaten und Matrosen, die von einer Bar in die andere zogen. In diesen Bars arbeiteten meist junge hübsche Mädchen, aber nicht deshalb ging ich dorthin. Nein, was mich faszinierte, war dieses Flair: Soldaten aus vielen Nationen, die riesige Flotte von Kriegsschiffen, die Händler an den Straßenecken, alles war spannend und roch hochgradig nach Abenteuer. Während ich gerade voll in meine Beobachtungen und Gedanken vertieft war, sah ich plötzlich eine junge Frau direkt auf mich zukommen. Im ersten Moment hatte ich sie gar nicht erkannt, nun standen wir uns schon gegenüber. Sekundenlang fühlte ich mich wie gelähmt.

„Hallo Nello!“

„Habe ich doch richtig gesehen, Rita! Was machst du hier? Und wie siehst du überhaupt aus? Was ist aus deinen schönen schwarzen Haaren geworden? Wieso sind sie jetzt blond und kurz?“

„Hi Nello, darf ich auch mal was sagen?“

„Aber ja, entschuldige!“

„Also erst einmal: Wie geht es dir?“

„Na ja, wie soll es mir schon gehen? Ich habe mich heute Morgen von meiner Familie verabschiedet. Wer weiß, für wie lange. In zwei Tagen werden wir auch aus der Schule verabschiedet, danach fahren wir nach Verona und dann nach Deutschland, um zu arbeiten. Wer weiß, was noch alles kommt. Wie es mit meinem Mädchen in Formia weitergeht, weiß ich nicht und mit uns beiden wird es auch nichts ...“. Als ich das sagte, zuckte sie leicht mit den Schultern. „Ich habe einen kleinen Koffer, wenig Geld, und mein Vater hat noch nicht einmal den Versuch gemacht, mich festzuhalten. Hey, weißt du, wenn ich lache, dann nur, um nicht zu weinen. Jetzt weißt du, wie es mir geht.“

„Ist es so schlimm?“

„Schlimmer als du denkst! Ich habe jetzt schon Heimweh, jetzt, wo es ernst wird. Es wird ernst, aber was soll ich tun? Zurück nach Hause laufen, mich vor meinen Vater knien und weinen und ihn anbetteln: ‚Bitte, Vater, lass mich hierbleiben‘? Nein, es gibt kein Zurück!“

„Aber Nello, du bist noch so jung, du hast die Möglichkeit zu vergessen.“

„Ach ja, fällt dir das jetzt auch auf? Vor einem Jahr, weißt du noch, als du gerade angefangen hattest, in der Bar unserer Schule zu arbeiten, da hast du dich so sehr in mich verliebt. Während der ganzen Zeit, in der wir zusammen waren, hast du mir Hoffnungen und Versprechungen gemacht, Liebeserklärungen und so …, und zwei Tage vor den Ferien war plötzlich alles nicht mehr wahr. Als Begründung hast du gesagt, ich wäre dir einfach zu jung und außerdem käme ich aus dem Süden und wir Südländer wären eifersüchtig und würden die Frauen schlagen … lass mich das bitte nicht noch mal alles sagen. Ich finde das so schlecht, so mies! Du hast nur mit mir gespielt! Du hast mir monatelang was vorgemacht, du hast mich glauben lassen, dass ich endlich ein Mann geworden bin, und dann sagst du, dass ich noch viel zu jung für dich sei! Aber warum spreche ich eigentlich noch mit dir, Rita? Wir haben doch Schluss gemacht, oder nicht?“

„Nello, Nello, hör mir bitte einen Moment zu, ich muss dir auch noch etwas sagen. Erinnerst du dich daran, wie du früher zu mir in die Wohnung kamst? Ich habe dir immer gesagt, meine Eltern wären auf Reisen, aber das war nicht wahr! Es war gar nicht meine Wohnung! Ich bin auch nicht so reich, wie ich gesagt habe, und ich habe auch gar nicht in Pisa gewohnt. Hier in Livorno, in diesem Hafenviertel, bin ich geboren und groß geworden. Mein Vater hatte eine ziemlich verruchte Bar, Prostituierte, Drogen, Schmuggel usw. Jetzt sitzt er für zehn Jahre auf Elba! Meine Mutter hat uns schon vor langer Zeit verlassen. Die Bar hat jetzt mein Onkel übernommen. Er hat versprochen, seriös zu arbeiten und in zwei Jahren, wenn ich volljährig bin, werde ich alles übernehmen, wenn mein Onkel mich nicht vorher umbringt.“

„Hast du Angst?“

„Nein, Angst nicht gerade, aber hier sind schon viele seltsame Sachen passiert. Siehst du, du bist nicht allein. Hättest du das je von mir geglaubt? Sei ehrlich, glaubst du nicht, dass ein Mädchen wie ich auch Träume hat?“

„Aber du hättest mir auch die Wahrheit sagen können! Wer weiß, vielleicht wären wir ein kleines Stückchen erwachsener geworden, dagegen sind wir in der Welt der Träume geblieben, bis heute.“

„Nello, ich gebe dir einen guten Rat. Du hast noch viel Zeit, erwachsen zu werden, aber bis das passiert, träume, solange du kannst! Hey, du bist so ein schöner Mann!“

„Bitte höre auf damit.“

„Doch, doch, doch, lass es mich bitte sagen: du, mein kleiner süßer riesengroßer Traum! Verstehst du, was ich versuche, dir zu sagen? Es gibt zwei Welten: Die eine Welt ist unser Herz, darin sind die Gefühle eingeschlossen. Man trifft jemanden wie dich und es gerät alles durcheinander. Die Gefühle wollen raus, alles ist in Bewegung. Aber die andere Welt ist das hier, diese Straße, die Bar, die Soldaten, die zu uns kommen, um sich zu amüsieren – das ist kein Ort für dich! Ich kann dich nicht hierherziehen, du gehörst nicht hierhin, deshalb musste ich mich von dir verabschieden. Was glaubst du, wie es mir geht? Du, mein Traum ...!“

Ich war ganz still geworden, während sie so zu mir sprach. „Und jetzt, Rita? Was sollen wir tun?“

„Nichts, Nello, nichts. Wir können nichts tun, oder doch? Uns umarmen und verabschieden wie gute Freunde, die sich nie wiedersehen werden.“

„Gibst du mir deine Adresse?“

„Nein! Du musst deinen Weg machen. Ich will, dass du an dich denkst. Hey, Engelchen, du schaffst es, du schaffst es, glaub es mir! Komm, umarme mich, ja? Wie früher am Strand in Marina, weißt du noch?“

„Sicher. Aber dann muss ich wirklich gehen?“

„Ja, Nello, das musst du, und dreh dich nicht mehr um!“

Wir umarmten uns ganz fest und ich fühlte sie in ihrer ganzen Schönheit. Sie weinte. Dann machte sie sich von mir los, drehte sich um und verschwand durch eine Bartür, für immer.

Ich stand noch eine Weile auf dem gleichen Fleck und wusste nicht, was ich tun sollte. Sollte ich in die Bar gehen, zu ihr, und mich entschuldigen? Nein, es war eben so: Es war das Ende dieses Lebensabschnittes. Plötzlich war Dino neben mir. Während des Gesprächs mit Rita war er ein Stück abseits geblieben, jetzt holte er mich wieder zurück in die Gegenwart: „Nello, Junge, komm, wir gehen nach Hause!“

„Du meinst zur Schule zurück?“

„Na klar, wohin denn sonst?“

Ich drehte mich noch einmal um, damit ich mir zumindest den Namen der Bar einprägen konnte: „Trocadero Bar“.

Das Wetter war schlechter geworden und bis zur Schule waren es noch sieben Kilometer, deshalb entschieden wir uns, mit dem Bus zu fahren. Unterwegs sprachen wir kaum miteinander. Ich fühlte, dass ich gerade eine harte Lektion bekommen hatte. Ich verstand auf einmal, dass ich nicht der Einzige auf der Welt war, der Hilfe brauchte, der mit seinen Gedanken und Gefühlen allein war. Wie hatte ich nur so naiv sein können, das zu glauben? Wer weiß, wie viele andere Menschen ähnliche Sachen durchmachten wie ich oder noch viel Schlimmere?

Zurück in der Schule gab es direkt eine wichtige Neuigkeit: Die Abschiedsfeier war um einen Tag vorverlegt worden, sollte also schon am nächsten Tag stattfinden. Wir suchten unsere Gruppe und überlegten.

„Das ist ja schon morgen!“

„Das heißt, dass wir schon morgen Abend in Verona sein können.“

„Und wenn wir morgen schon in Verona ankommen, werden wir spätestens Freitag in Deutschland sein!“

„Das geht aber plötzlich schnell! Vielleicht wollen sie uns nicht mehr haben, weil wir zu viel Kosten verursachen: Essen, Unterkunft usw.“

„Ach, im Grunde brauchen wir doch bei der Feier gar nicht dabei zu sein. Es werden nur die besten dreißig von allen 1.200 Prüflingen aufs Podium gerufen und von unserer Klasse ist sicher keiner dabei“, sagte ich zu meinen Freunden.

„Da könnte Nello recht haben. Also, was mich betrifft, ich kann meinen Brief auch beim Pförtner abholen, Hauptsache, ich habe ihn.“

„Hm, ja, stimmt. Aber es wäre schön, ja sogar ein Traum, wenn einer von uns doch aufs Podium käme. Also, ich fände das toll! Nello, was sagst du dazu?“

„Öhm, ich weiß nicht. Ich bin in Gedanken schon in Verona. Aber ich finde, zu dieser Feier sollten wir doch hingehen. Ich bin doch neugierig, wer die dreißig Besten sind.“

„Na ja, warum soll man nicht ein bisschen träumen?“

Den Rest des Abends verbrachten wir in unserer Bar. Wir spielten Billard, schauten Fernsehen und es wurde sehr spät. Als wir dann in unseren Betten lagen und alle anderen schon schliefen, lag ich immer noch wach. Die Ereignisse des Tages waren noch so lebendig in mir, dass ich einfach nicht zur Ruhe kam. Heute Morgen um 6 Uhr war ich noch in Formia gewesen. Ich hatte mich gerade von der Familie und der Stadt verabschiedet. Heute Nachmittag habe ich zum letzten Mal Rita getroffen, ein Mädchen, das ich sehr liebhatte, und musste diese ganz andere Wahrheit über sie erfahren. Morgen Vormittag findet bereits die Abschiedsfeier statt und morgen Abend um diese Zeit werden wir in Verona sein. Eine Stimme in mir regte sich: „Hey Nello, versuch ein bisschen zu schlafen, es wird dir guttun. Morgen ist auch noch ein Tag.“

Und der nächste Morgen kam. An diesem Tag waren alle Schüler vom Unterricht befreit. In der größten Werkstatt wurde eine Bühne aufgebaut und nach dem Frühstück versammelten wir uns alle einschließlich der Lehrer in diesem Raum. Auf der Bühne saß schon die deutsch-italienische Delegation, die im Auftrag der Europäischen Gemeinschaft, der diese Schule unterstand, aus Brüssel angereist war. Es ging sehr feierlich zu. Die deutsche und die italienische Nationalhymne wurden gespielt, und nachdem mehrere Herren in beiden Sprachen zu uns gesprochen hatten, ergriff unser Direktor, Herr Bosco, das Wort. Seine Reden waren immer sehr patriotisch, denn er war ein alter Offizier der italienischen Armee. Auch an diesem Tag war er wieder in seinem Element: „Nun, liebe Kinder, es ist so weit. Ihr werdet uns verlassen, vielleicht für immer, wer weiß? Aber bitte denkt immer an eure Familien und an das Vaterland …“

Unser Direktor. Meine Gedanken wanderten zurück zu den vielen Abenden, an denen ich mit meinen Freunden nach Schulschluss noch gearbeitet hatte. Wie oft war er zu uns in die Aula gekommen! Ich erinnerte mich an das erste Mal: Es war noch Winter. Wir hatten uns nach dem Abendessen in der Aula getroffen, meine Mitschüler setzten sich an ihre Plätze, ich stand an der Tafel und Dino fragte mich als erstes: „Nello, zeig uns doch mal in aller Ruhe eine schöne Addition!“

„Okay, Jungs, ich zeig es euch. Hört gut zu und schaut vor allem genau hin!“ Ich begann, eine schöne Addition mit großen Zahlen zu erklären. Nach einer Weile kam Herr Bosco in die Aula und fragte resolut: „Wieso ist denn das Licht noch an?“

Dann staunte er nicht schlecht, als er begriff, wofür das Licht gebraucht wurde. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, setzte er sich hin und schaute zu. Ich machte weiter, als wäre ich ein Lehrer und meine Schüler waren sehr interessiert bei der Sache. Sie stellten vernünftige Fragen und übten fleißig mit. Nach einer halben Stunde stand der Direktor auf, schaute zu uns herüber und sagte leise: „Machen Sie weiter, meine Herren, bitte machen Sie weiter!“

Von da an durften wir ohne weiteres jeden Abend in der Aula lernen. Manchmal kamen Schüler aus anderen Klassen dazu und der Direktor beobachtete das Ganze mit großer Zufriedenheit.

Nachdem alle höheren Herren ihre Vorträge gehalten hatten, begann die Überreichung der Abschlusszeugnisse an die besten dreißig Schüler, auf die wir mit Spannung gewartet hatten. Der Beste von allen wurde aufgerufen: Es war Filosa, ein Junge, der wie ich aus Latium kam. Er bekam außer seinem Diplom als besondere Auszeichnung auch noch die italienische Fahne. Dann wurde der Zweitbeste genannt, der Dritte und so weiter, einer nach dem anderen wurde aufgerufen und ging unter dem großen Applaus der anderen Schüler auf die Bühne. Und dann, plötzlich, passierte es: Mein Name wurde aufgerufen! Ich war dermaßen überrascht, dass ich im Moment gar nicht wusste, was ich tun sollte. Mit einem Durchschnitt von 88,9% war ich an 16. Stelle von 1.200 Schülern! Ich war überwältigt und meine Freunde genauso. Ich ging zur Bühne und merkte, dass mir der Direktor das Diplom persönlich überreichen wollte. Ich stieg das kleine Treppchen hoch und stand dann direkt vor ihm, während hinter mir die anderen Schüler applaudierten. Es kam mir vor, als wäre dieser Applaus der größte – ich weiß nicht, warum und ob ich damit recht hatte, aber es war ein wunderbarer stolzer Moment in meinem Leben.

„Hallo, Herr Simeone!“, hörte ich den Direktor sagen. „Eigentlich hätten Sie den ersten Preis bekommen müssen!“

„Warum ich, Herr Direktor?“

„Nun, mein Junge, wir wissen Bescheid! Ich wünsche Ihnen alles Gute, wirklich alles Gute!“

„Danke, Herr Direktor!“

„Ach, noch etwas: Was ist aus Ihren Schülern geworden?“

„Sie haben es alle geschafft! Da hinten sitzen sie!“

„Bravo, bravo! Machen Sie weiter so!“

Es war schon Mittag, als die Feier zu Ende war. Schnell zum Mittagessen, denn um 14 Uhr sollten wir abfahren nach Verona. Wir trafen uns zum letzten Mal an unserem Tisch im Restaurant und saßen an den gleichen Plätzen wie immer: Dino, Aldo, Angelo, Rocco, Paolo und ich. Dino war der Einzige, der nicht ins Ausland fuhr, er wollte im kleinen Textilbetrieb seines Vaters bleiben. Angelo und Aldo fuhren nach München, Paolo und Rocco nach Belgien und ich nach Remscheid. Trotz des nahen Abschieds war unsere Stimmung gut und wir genossen unser letztes gemeinsames Essen und nannten es lachend „Henkersmahlzeit“.

Viel zu schnell ging diese letzte Stunde vorbei. Draußen warteten bereits die Busse, an die dreißig Stück, die uns nach Verona bringen sollten. Es wurde Zeit, die Koffer zu holen. Kurz vor dem Einsteigen nahm Dino mich noch einmal zur Seite, um sich von mir zu verabschieden. Er hatte noch eine Überraschung für mich.

„Nello, mein Bruder, neulich, als du zur Ersten Heiligen Kommunion gegangen bist, da konnte ich dir nichts schenken, weißt du noch? Aber jetzt habe ich etwas für dich! Ich schenke dir diese kleine silberne Statuette. Es ist die Madonna ‚Maria del fiore‘, die Schutzpatronin von Florenz. Und diese Taschenbibel ist auch für dich. Auf der ersten Seite steht eine Widmung. Nein, ich habe sie nicht geschrieben, ich kann so was nicht, meine Cousine hat das für mich getan. Ich hoffe, es gefällt dir. Und noch etwas wollte ich dir sagen, Nello. Du bist ein guter Kerl, aber sei doch etwas lustiger, sei nicht immer so ernst! Genieße das Leben! In Deutschland gibt es sicher viele schöne Mädchen, also, du weißt, was ich meine. Und noch etwas, Nello: Wenn ich dich nicht gekannt hätte, hätte ich dich erfinden müssen!“

„Danke, Dino! Ich werde an dich denken! Jetzt muss ich aber gehen. Ciao Dino!“

„Ciao Nello!“

Wir umarmten uns und ich stieg in den Bus. Drinnen herrschte ein riesiges Gedränge, weil jeder versuchte, einen Fensterplatz zu ergattern. Auf dem Bürgersteig hatte die Menschenmenge ein Spalier gebildet. Die neuen Schüler, die Lehrer, viele Eltern und auch einige Verlobte, alle hatten sich dort eingefunden, um uns zu verabschieden. Sie winkten uns zu, einige weinten und andere machten ernste Gesichter. Für einen Moment dachte ich, ein bekanntes Gesicht gesehen zu haben, aber nein, ich hatte mich geirrt. Im Bus war es plötzlich sehr still geworden, wir waren wieder allein mit unseren Gedanken, Gefühlen und Hoffnungen.

Die Buskarawane setzte sich in Bewegung und ich sagte in Gedanken: Ciao Calambrone, meine liebe Schule. Du warst zwei Jahre lang mein Zuhause, meine Familie. Hier habe ich vielleicht die schönsten Erfahrungen meines bisherigen Lebens gemacht, hier bin ich selbstständig geworden, hier bin ich zur Erstkommunion gegangen, leider ohne die Eltern, aber mit vielen Freunden. Auch du, Marina di Pisa, wunderschöner kleiner Ort, immer friedlich und gastfreundlich, deine Bewohner gaben uns stets das Gefühl, ganz einfach dazuzugehören. Ich werde diese Zeit nie vergessen. Ciao.

Instinktiv griff ich in meine Tasche und holte die kleine Bibel heraus. Ich schlug die erste Seite auf und las die Widmung:

„Lieber Nello, ich schenke dir diese Bibel in der Hoffnung, dass du beim Lesen die Bedeutung unseres Daseins verstehen wirst. Bitte behalte sie immer bei dir. Ciao Dino.“

In Pisa wartete schon der eingesetzte Zug auf uns und nach dem Umsteigen ging es zügig weiter. Bei einigen von uns machte sich mittlerweile die Müdigkeit bemerkbar. Diejenigen, die aus Sizilien kamen, hatten schon die ganze Nacht davor im Zug gesessen, die Sarden hatten die Nacht auf dem Schiff verbracht, kein Wunder also, dass die meisten von ihnen einschliefen, sobald der Zug losgefahren war und gleichmäßig vor sich hinratterte.

Nach ein paar Stunden überschritten wir die Schneegrenze, von Minute zu Minute sahen wir mehr Schnee, bis alles nur noch weiß war. Selbst die Dunkelheit schien dadurch anders zu sein als bei uns zuhause. Ach ja, zuhause. Was werden sie wohl gerade tun? Es ist 17 Uhr, Mama und Enza sitzen sicher in der Küche und nähen, Pio macht seine Schularbeiten, der Rest der Familie arbeitet noch und ich, ich bin auf der Reise nach Verona. Ob sie wohl auch an mich denken? Bestimmt tun sie das.

Es war fast 19 Uhr, als wir in Verona ankamen und beim Aussteigen eine böse Überraschung erlebten: Es war kalt, bitterkalt! Nach ein paar Minuten schon war mir klar, dass meine Schuhe für diese strenge Kälte völlig ungeeignet waren. Wie wird das erst in Deutschland werden? Womöglich ist es da noch kälter als hier! Ich wagte gar nicht, weiter darüber nachzudenken.

Kurze Zeit später standen wir vor dem Migrationszentrum. Der Anblick war nicht gerade schön: Es war ein riesiges Gebäude aus roten Ziegeln, das einen sehr strengen, dunklen und trostlosen Eindruck machte. Später sollte ich feststellen, dass der Eindruck von außen noch der beste war! Drinnen wurden wir vom Personal des Zentrums in Empfang genommen. Die Anweisungen waren knapp und präzise: „Heute Abend gibt es nichts mehr zu essen! Morgen müsst ihr nüchtern sein für die Untersuchung! Die Toiletten sind beschildert! Jetzt seid leise auf dem Weg zu den Betten, andere schlafen schon!“

Mir war unbehaglich. Es sind Italiener. Warum sprechen sie mit uns eigentlich deutsch? Und warum sprechen sie derart mit Ausrufungszeichen?

Eine alte, aber resolute Frau ging vor uns her und bedeutete uns zu folgen. Sie öffnete eine Tür, winkte uns mit einem Arm ins Zimmer hinein und begann zu zählen.

Auf diese Weise war ich nun auch in einem dieser Zimmer gelandet. Ich sah mich um. Das Zimmer war groß, aber für 50 Menschen immer noch viel zu klein. Der Raum selbst war absolut weiß, alles war weiß, die Decke, die Wände und selbst die Bettdecken. Es ging eine geradezu greifbare Kälte von diesem Raum aus, die durch die völlige Kahlheit der Wände noch betont wurde. Von der Decke leuchteten Neonröhren, sogar das Licht war weiß und kalt.

Die einzige Möblierung waren die Reihen von Etagenbetten. Jeweils vier Betten übereinander, sechs Reihen Betten links, sechs Reihen Betten rechts und zwei einzelne Betten in der Mitte für die, die nicht schwindelfrei waren. Um diese Einzelbetten gab es natürlich prompt ein erbittertes Gerangel. Mir war es gleichgültig, ich konnte überall schlafen, wo ich wollte. Ich überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte. An irgendeine Form von Abendtoilette war nicht zu denken bei diesem Menschenandrang, ja, selbst mich auszuziehen schien mir unmöglich. Ich zog nur meine Jacke und meine Schuhe aus und legte mich so ins Bett. Aber ich konnte und konnte nicht einschlafen. So viele fremde Menschen in einem Raum! Wer waren sie wohl alle? Woher kamen sie und wohin wollten sie? Ich konnte sie beim Schlafen beobachten und wunderte mich eigentlich, dass kaum jemand schnarchte. Trotzdem empfand ich die Situation als sehr belastend: Mit fünfzig Menschen, einer Menge Koffer und dem strengen Geruch von fünfzig Paar Füßen um mich herum hatte ich keinerlei Privatsphäre, nur in meinen Gedanken war ich für mich. Ich lag da und dachte intensiv an meine Familie und irgendwann, als alle anderen schon längst schliefen, holte auch mich endlich die Müdigkeit ein.

Morgens um 6 Uhr wurden wir geweckt. Wir durften uns nur kurz waschen, dann ging es sofort zur Blutabnahme und danach zur Urinprobe.

Dann, endlich, gab es Frühstück, und jetzt in der Kantine konnte ich sehen, wie viele wir wirklich waren: An die 1.500 Männer waren da versammelt! Ich staunte und sprach meinen Tischnachbarn an:

„So viele Menschen – fahren sie alle nach Deutschland?“

„Aber ja, mein Junge, jedenfalls die meisten. Im Durchschnitt sind es etwa tausend Italiener, die nach Deutschland fahren, jeden Tag wohlgemerkt, außer samstags und sonntags.“

„Tausend pro Tag? Mein Gott, wie viel werden das in einem Jahr sein … und in zehn? Ich verstehe nicht, warum so viele Italiener ihre Heimat verlassen, um woanders zu arbeiten, in ‚Terra straniera‘, wie meine Mutter immer sagte.“

Noch in der Kantine wurden wir über den weiteren Verlauf der Dinge informiert. Die Hauptuntersuchung sollte erst am nächsten Tag stattfinden, wenn die Ergebnisse der Blut- und Urinproben vorlagen. Diejenigen, bei denen die Proben nicht in Ordnung waren, brauchten an der Untersuchung nicht mehr teilzunehmen. Für sie war Schluss, sie würden sofort nach Hause zurückgeschickt werden. Das große Zittern begann! Wir saßen stumm da und in den Gesichtern war Anspannung und Ratlosigkeit zu lesen. Ich begann, in der Menschenmenge nach meinen Freunden zu suchen und bald hatten wir uns alle gefunden. Wir überlegten, was wir mit dem freien Tag anfangen könnten. Die meisten wollten nach Verona gehen und sich die Stadt ansehen. Sonst war gerade ich immer für Bewegung, aber diesmal hatte ich keine Lust auf einen Spaziergang. Ich spürte, dass der Schnee mich traurig stimmte: zu viel Weiß am Boden, zu viel Grau am Himmel, nein, das war nicht mein Wetter! Außerdem fehlte mir das Meer. Sicher, auch am Meer gibt es schlechtes Wetter, aber irgendwie ist es doch ganz anders. Ich zog mich auf mein Bett zurück und schrieb in mein Tagebuch:

9. Januar 1965

„Ich glaube, ich könnte hier in Verona nicht leben. Zugegeben, ich habe die Stadt noch gar nicht gesehen, aber meine innere Stimme sagt mir, dass ich keine Beziehung zu ihr aufbauen könnte. Alles ist hier so kalt und farblos und fremd, und sogar die Menschen. Ich glaube, sie fühlen sich überhaupt nicht als Italiener, sondern als Tiroler. Sie sind so distanziert uns gegenüber.

Liebe Familie, ich denke an euch! Und auch an dich, Aurora, denke ich sehr oft und habe Sehnsucht nach dir. Ich weiß nicht, ob du auch an mich denkst – ich glaube aber doch.

Das Essen heute Mittag war nicht besonders, es gab zwei harte Eier mit Rahmspinat, ein Gericht, das mir bis jetzt völlig unbekannt war. Aber ich will mich nicht beklagen. Ich habe Angst, dass meine Blutprobe nicht in Ordnung ist, aber mit dieser Angst bin ich nicht allein. Ich denke, bis zum Abendessen werde ich ganz einfach auf meinem Bett liegen bleiben und an Formia denken, und wenn ich weinen muss, dann werde ich es tun. Also, mein liebes Tagebuch, bis zum nächsten Mal.“

Ich verstaute das Buch wieder in meinem Koffer, legte mich hin und verfiel in Gedanken. Da sah ich sie genau vor mir: Formia, meine wunderschöne Stadt, alle meine Freunde, alle bekannten Gesichter. Ich konnte mir das Wetter dort vorstellen. Zu dieser Jahreszeit weht der Levante, der warme Wind, der vom Meer kommt, der Vorbote der Tramontana, der allerdings aus der anderen Richtung weht. Er kommt kühl und frisch aus der wundervollen Bergkette hinunter in die Ebene und weht aufs Meer hinaus. Ob ich diese vertrauten, lebendigen Naturkräfte jemals wieder auf meiner Haut spüren würde? Ich war traurig vor Sehnsucht danach, aber ich entdeckte auch etwas sehr Schönes: Ich konnte mich so in meine Gedanken vertiefen, dass ich glaubte, es wirklich zu erleben, was ich mir vorstellte, ja, ich glaubte sogar, die warme Hand meiner Mutter auf mir gespürt zu haben. Danach fühlte ich mich wieder etwas besser.

Der Abend verlief ruhig, ohne besondere Vorkommnisse, und nach dem kargen Abendessen ging ich endgültig zu Bett. Ob es die große Müdigkeit war oder eine gewisse Erleichterung, ich weiß es nicht, jedenfalls konnte ich fantastisch gut schlafen.

Am nächsten Tag wurden wir wieder sehr früh geweckt. Nun ging es zur Hauptuntersuchung.

Wir sollten uns alle in der Kantine treffen und dort warten, bis wir aufgerufen werden. Ein Mann begann, die Namen vorzulesen, einen nach dem anderen. Jeder Einzelne von uns war angespannt, denn seinen Namen jetzt zu hören oder nicht, würde über die persönliche Zukunft entscheiden! Ich musste lange warten, aber endlich klang auch „Simeone, Nello“ durch die Halle und ich machte mich auf den Weg. Man führte mich durch scheinbar endlos lange Korridore, eng, ohne Fenster, gesäumt von vielen schwarzen Türen. Mit Beklommenheit fragte ich mich, wo es eigentlich hingehen sollte. Endlich trafen wir auf eine offenstehende Tür, die in ein Vorzimmer führte. Was mich dort erwartete, fand ich allerdings schockierend. Ein junger Mann gab mir eine Plastikschüssel in die Hand und sagte:

„Bitte ausziehen, alles in die Schüssel legen und weitergehen!“

„Ausziehen?“ Ich dachte, ich hätte mich verhört. „Aber ja, und zwar alles!“

Ich konnte es kaum glauben, dass ich mich nackt ausziehen sollte.

„Hören Sie, Sie können es auch sein lassen, aber dann fahren Sie nach Hause. Also, avanti, viel Zeit haben wir nicht!“

Zögerlich begann ich, mich auszuziehen. Als ich fertig war, zeigte der Mann auf die nächste Tür, ich nahm die Schüssel und ging hinein. Als ich die Tür geöffnet hatte, dachte ich, mich träfe der Schlag! Das Zimmer war sehr groß und entlang der Wände standen lauter nackte Männer! Schon befand ich mich im Zimmer und damit für ewig lange Sekunden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ich spürte die vielen neugierigen Blicke auf meinem Körper und schämte mich in Grund und Boden. Dieses Zimmer war genauso farb- und trostlos wie die Schlafräume. Alles war weiß und kahl, Neonröhren an der Decke, Milchglasscheiben in den Fenstern – beklemmend steril und tot! Nur der strenge Geruch verriet, dass hier Lebendiges im Raum war, nämlich Menschen.

Die Tür ging hinter mir zu. Alle waren sehr ernst und still. Wir warteten schweigend, vielleicht nur Minuten, aber es schien mir ewig lang. Auf einmal ging eine zweite Tür auf. Fünf Ärzte kamen herein, jeder mit einer kleinen Tafel in der Hand. Sie unterhielten sich miteinander, sie lachten und scherzten und benahmen sich so, als wäre die Situation völlig normal. Dann kamen sie auf mich zu und begannen, ohne Gruß und ohne jegliches Wort, mich zu untersuchen. Einer horchte mein Herz ab, danach ein zweiter meine Lunge.

„Bitte tief einatmen, Luft anhalten, wieder ausatmen!“ Noch zweimal dasselbe, dann waren die beiden schon mit meinem Nebenmann beschäftigt. Dafür stürzten sich die anderen drei Ärzte auf mich. Einer quetschte beinahe meinen Kopf ein, während die anderen beiden meinen ganzen Körper abtasteten. Das Ganze dauerte etwa drei Minuten. Ich fühlte mich starr und steif wie ein Stück Holz und für einen kurzen Augenblick hatte ich Angst, in Ohnmacht zu fallen. Nachdem sie mit mir fertig waren, ging es genauso mit meinen Nachbarn weiter, ein festes Ritual, das wir schweigend und hilflos über uns ergehen ließen.

Nun stand ich da, mit gesenktem Kopf. Nein, ich wollte nicht nach den anderen schauen, denn ich selbst wollte ja auch nicht angeschaut werden. Nach ein paar Minuten hatte ich mich etwas gefangen und nach dem Schock der letzten Viertelstunde konnte ich zum ersten Mal wieder denken. In meinem Kopf tauchten Szenen aus Filmen auf, die ich gesehen hatte. Wurden wir nicht genauso begutachtet wie Tiere auf dem Viehmarkt? Oder ist es nicht sogar wie auf dem Sklavenmarkt? Natürlich, die Verkäufer waren da und die Käufer, die Sklaven ebenfalls, es fehlten nur noch Peitschen und Ketten, dann wäre das Bild perfekt gewesen.

Eine knappe Stunde später war der Spuk vorbei.

„So, meine Herren! Sie können sich die Hosen wieder anziehen, danach drehen Sie sich mit dem Gesicht zur Wand. Die Kollegin, die nach uns kommen wird, wird Ihnen das Weitere erklären. Ich wünsche Ihnen alles Gute!“

Schnell griffen wir uns das Nötigste, konnten endlich zumindest die Unterhosen wieder anziehen. Die anderen Sachen, Hose, Pullover, Strümpfe und Schuhe, na ja, das hatte Zeit. Wie auf Kommando drehten wir uns zur Wand, als wir hörten, dass die Tür aufging und jemand hereinkam. Wir vernahmen eine sehr entschiedene Stim­me:

„Ich werde jeden Einzelnen von Ihnen zu mir rufen. Wenn einer nur den leisesten Versuch macht, sich vorzeitig rumzudrehen, schmeiße ich ihn raus! Simeone, Nello, zu mir kommen!“

Sofort drehte ich mich um und ging auf die rigorose Stimme zu. Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, dass sie einer noch sehr jungen und schönen Ärztin gehörte. An der Wand hing ein Blatt mit Buchstaben und Zahlen, die ich vorlesen sollte. Aha, ein Sehtest! Glücklicherweise kein Problem für mich. Danach sagte die Ärztin mit veränderter Stimme, ganz ruhig und freundlich:

„Sie können gehen. Alles Gute!“

Erleichtert nahm ich meine restlichen Kleider, verließ den Raum und machte mich im Laufschritt auf in den Schlafsaal. Ich öffnete meinen Koffer und holte mein Tagebuch heraus. Ich spürte Wut in mir aufkommen, eine bis dahin noch nicht gekannte Wut und Verzweiflung, und schrieb:

„Also, Tagebuch, wo finde ich nur eine Erklärung für das, was sich hier heute abgespielt hat!? Ich bin unter freiem Himmel geboren worden, man hätte mich zumindest warnen können, was auf mich zukommt, dann hätte ich selbst entscheiden können, ob ich das Ganze auf mich nehmen will oder nicht. Ich fühle mich erniedrigt, fast schmutzig. Was werden sie noch von uns verlangen? Diese Welt hier drinnen hat nichts mit der Welt draußen zu tun, es kommt mir vor, als lebten wir hier auf einem anderen Planeten!

Hier, auf Seite 120, habe ich die Worte meiner Mutter aufgeschrieben, die sie mir am Montag beim Abschied sagte: „Du fährst in dieses Land gegen meinen Willen …“. Was genau meinte sie damit? Gut, natürlich, sie haben schwere Kriegsjahre hinter sich, aber die Italiener wollten auch den Krieg! Außerdem: Wir gehen dorthin, um zu arbeiten! Ich freue mich auf andere Menschen, andere Sitten, auf alles Neue. Ist das so schwer zu begreifen? Ich habe keine bösen Absichten, ich will nur arbeiten, und in ein paar Jahren komme ich sicher wieder nach Hause, zu euch.

Ich glaube, jetzt habe ich mich wieder ein bisschen beruhigt.

Ach, mir fällt ein, ich habe vergessen, das Datum zu schreiben. Heute ist der 11. Januar, 11 Uhr.

Das Wetter ist genauso wie gestern, grau oben und weiß unten. Ich bin nun seit Montag unterwegs. Drei Tage erst, aber es scheint mir eine Ewigkeit zu sein! Rita, Aurora, beide sind schon so weit von mir entfernt, genauso wie meine Familie. Gott, bitte lass es ihnen immer gut gehen, ja? Ich vertraue dir!

So, mein liebes Tagebuch, bis zum nächsten Mal, vielleicht auf der Reise nach Deutschland. Ciao!“

Ich schloss das Tagebuch und griff nach meinem Koffer, dunkelgrün, mit einem Ledergürtel rundherum, mein einziger privater Besitz. Ich steckte das Tagebuch zwischen die Wäsche, kontrollierte, ob alles in Ordnung war und verstaute den Koffer wieder.

Zurück in der Kantine, die mittlerweile voller Menschen war, machte ich mich auf die Suche nach Angelo und Aldo. Es dauerte ziemlich lange, bis ich sie endlich gefunden hatte. Auf den ersten Blick verriet mir Angelos rotes Gesicht, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmte. Aldo saß neben ihm und als beide zu mir hochsahen, gab ich mir einen Ruck und fragte:

„Angelo, was ist los mit dir?“

Aldo antwortete für ihn:

„Tja, Nello, es gibt ein Problem. Bei der Untersuchung haben sie bei Angelo etwas gefunden. Seine Wirbelsäule ist krumm und deshalb halten sie ihn für untauglich.“

„Oh Gott, ist das wirklich wahr, Angelo?“

„Ja, genauso ist es. Sie glauben, dass ich keine schwere Arbeit machen kann. Jedenfalls sieht es so aus, dass ich wieder nach Hause geschickt werde. Nello, es war alles umsonst!“

„Hey, Angelo, das darfst du nicht sagen und auch nicht denken, hörst du? Du bist gerade 24 und du hast verdammt viel gelernt in den letzten zwei Jahren. Weißt du noch, es waren nicht nur Mathe, Physik und Technik, nein, wir haben gelernt, Hoffnung zu haben, an die Zukunft zu glauben und dafür zu arbeiten. Und wir waren allein, ohne Eltern, mussten allein die Verantwortung für uns tragen und alle Probleme selbst lösen. Das haben wir geschafft und nun glaubst du, das sei alles umsonst gewesen? Und was ist mit meiner Arbeit mit euch, hast du das vergessen? Vor zwei Jahren konntest du kaum schreiben und lesen, weißt du noch? Jetzt hast du eine richtige Berufsausbildung, und zwar in einem echt guten Beruf. In Neapel wirst du damit bestimmt eine prima Arbeitsstelle finden und du bist bei deiner Familie! Ich habe zuhause fünf Geschwister und mein Vater wartet auf jede müde Lira, die ich ihm schicke. Hey, komm, Schüler Nr. 2, Kopf hoch, ja?“

„Nello hat recht, Angelo! Sicher, du wärst auch gerne mitgefahren, aber länger als ein Jahr würdest du es sowieso nicht aushalten, ohne dein Neapel zu sehen! Wenn du mal positiv denkst, ersparst du dir vielleicht auch eine Menge Strapazen. Die deutsche Kälte ist nicht gerade gesund für einen, der einen krummen Rücken hat und Rheuma im Anfangsstadium.“

„Na ja, vielleicht habt ihr ja recht. Wenn ich mir überlege, dass ich morgen schon wieder in Neapel sein kann …! Meine Mutter wird mich in die Arme schließen und sich bestimmt sehr freuen, dass ich wieder da bin. Und Nello, vielen Dank und … darf ich es dir noch mal sagen?“

„Was möchtest du mir denn sagen?“

„Du hättest doch lieber Rechtsanwalt werden sollen!“

„Ach Gott, wer will das wissen? Vielleicht schaffe ich es eines Tages noch, das zu werden, wer weiß. Geht es dir jetzt etwas besser?“ Er nickte. „Schön. Aldo, wartest du auch auf deinen Pass? Dann warten wir zusammen!“

Durch den Lautsprecher kam eine Durchsage: „Liebe Reisende, um 12.30 Uhr bekommen Sie ein Mittagessen. Danach können Sie Ihre Pässe abholen, die Schüler der CISO in Pisa und Mailand an den Schaltern 27 bis 30, alle anderen an den Schaltern 1 bis 20. Dort werden Ihnen auch weitere Informationen gegeben. An dieser Stelle wünschen wir Ihnen alles Gute und auf Wiedersehen!“

„Na, Gott sei Dank, in einer halben Stunde gibt es endlich etwas zu essen. Ich habe auch echt Hunger!“

„Wir müssen so viel essen wie möglich, denn wer weiß, wann wir das nächste Mal etwas bekommen!? Vor allem müssen wir genug zu trinken mitnehmen. Bis Düsseldorf ist es sehr weit. Ich habe das Gefühl, das ist am Ende der Welt!“

„Sei froh, dass du nicht nach Holland fährst! Das ist noch nördlicher und sicher auch noch kälter!“

„Na ja, ich lasse mich überraschen. Hey, Angelo, du hast es gut! Morgen siehst du deine Familie wieder …, na ja, scheiße.“

Obwohl es heute ein typisch italienisches Gericht gab, nämlich „Pastasciutta mit Steak und Salat“, wurde doch nichts aus dem „Auf-Vorrat-Essen“. Zum einen war ich noch nie ein großer Esser, zum anderen hatte uns alle das Reisefieber gepackt. Natürlich waren wir alle neugierig und gespannt, was uns jetzt erwartete. Nach dem Essen waren wir fast die Ersten, die an den Schaltern eintrafen. Wir mussten unsere Ausweise vorzeigen und bekamen dann die Pässe ausgehändigt. Das Ganze dauerte keine Minute – und dann waren wir Emigranten!

„Entschuldigen Sie, wie geht es jetzt weiter?“

„Ganz einfach, mein Junge: Du gehörst zu den CISO-Schülern. Für euch wird ein Sonderzug eingesetzt mit einem Reisebegleiter. Dieser Herr wird sich während der ganzen Fahrt bis zum Schluss um euch kümmern, also keine Angst! Euer Zug fährt erst um 19 Uhr, ihr habt also noch Zeit!“

Wir bedankten uns für die Information und überlegten in unserer kleinen Gruppe, was wir bis dahin anstellen sollten:

„Okay, Jungs, es ist jetzt gerade mal 14 Uhr. Was machen wir bis zum Abend? Gehen wir noch durch Verona?“

„Nein, ich gehe nicht mit. Ich gehe mit Angelo ein bisschen spazieren.“

Doch Angelo überlegte: „Hm. Eigentlich könnte ich schon direkt die Rückfahrt antreten. Wenn ich sofort losfahre, kann ich vielleicht diese Nacht schon wieder in Neapel sein und ich würde mir ersparen, euch abfahren zu sehen.“

„Gut, Angelo, dann bringe ich dich zum Bahnhof!“

„Nein, Nello, wir verabschieden uns besser hier und jetzt.“

„Wie du willst! Hey, Angelo, in zwei Jahren komme ich nach Neapel, und wenn du bis dahin keine Werkstatt aufgebaut hast, werde ich sehr sauer! Und denke daran, ich komme mit zwei deutschen Frauen, eine für dich und eine für mich, alles klar?“

Angelo lächelte und erwiderte:

„Ach du!“ Er umarmte mich und drückte mich fest an sich. „Mein Bruder, mach es gut, ja? Ciao, Nello!“

„Ciao, Angelo!“

In seinen Augen glänzten Tränen und ich war genauso gerührt. Wir gingen auseinander und ahnten nicht, dass wir uns nie mehr wiedersehen würden. Angelo nahm seinen Koffer und machte sich zusammen mit Aldo auf den Weg zum Bahnhof. Ich blieb zurück und dachte nach: Wieder hat sich jemand von mir verabschiedet. Wie viele Abschiede werden es noch sein? Soviel ich weiß, bin ich der Einzige, der nach Remscheid fährt, das heißt, es werden mir noch sehr viele Abschiede bevorstehen.

Fünf lange Stunden noch bis zur Abfahrt! Was könnte ich mit dieser Zeit machen?

Ich hatte eine Idee: Ich würde gerne meine Familie anrufen. Aber nein, sie haben ja kein Telefon. Meine Tante hat ein Telefon, aber ich kenne die Nummer nicht. Hm, das war doch keine gute Idee. Aber ein Brief, ja, ich könnte ihnen einen Brief schreiben, jawohl, das ist es!

„Liebe Mama, lieber Papa, liebe Geschwister!

Ich bin in Verona und habe schon alle Untersuchungen hinter mir. Meinen Pass habe ich auch schon bekommen und in fünf Stunden fahren wir endlich los. Mutter, mach dir keine Sorgen um mich! Ich fühle mich gut und stark. Sicher, ihr fehlt mir, aber du kennst mich: Ich werde es schon schaffen! Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Wenn du Aurora sehen solltest, könntest du ihr sagen, dass ich sie sehr lieb habe und sehr vermisse? Bitte nicht böse sein, dass ich es dir nicht vorher gesagt habe. Jetzt, wo ich ganz allein bin, kann ich jede Hilfe gebrauchen. Sag Mario und Giovanni, sie sollen ein bisschen Deutsch lernen. Ich lasse sie nachkommen, und wenn wir zu dritt sind, machen wir eine Fabrik auf. Ich meine es ernst damit! Weißt du noch, wie du, als ich noch Kind war, zu mir gesagt hast, ich sei nur ein kleiner Träumer? Jetzt bin ich kein Kind mehr!

Hey, vielleicht kann ich ganz viel für unsere Familie tun! Gib Enza ein ‚bacione‘ von mir!

Ich umarme euch alle! Ciao Nello“

Um 18 Uhr wurden wir ein letztes Mal versammelt, dann ging es in einer langen Prozession zum Bahnhof. Ich bemerkte die vielen Passanten, die uns anschauten, als ob wir Exoten wären. Sicher, wir waren eine große Menge und wir sahen auch nicht besonders nördlich aus. Aber wie sehen denn die „Nördlichen“ aus? Haben sie nicht auch zwei Beine und zwei Arme, einen Kopf mit Augen, Nase und Mund, so wie wir? Was gibt es denn dann so anzustarren? Der Bahnhof war nicht sehr weit entfernt und so war diese merkwürdige Szene zum Glück bald vorüber. Der Einsatzzug stand schon da und wartete auf uns. Unsere Begleiter wiesen uns die Plätze an und dann konnte es losgehen. Jeder von uns hatte eine Tüte mit Proviant für die Reise bekommen. Ich sah darauf das Zeichen des Roten Kreuzes aufgedruckt und fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Waren die Tüten eine Spende des Roten Kreuzes? Hatte die italienische Regierung noch nicht einmal Geld, um uns auf der Reise zu unterstützen? Vielleicht haben die Leute uns deshalb so angeschaut, weil sie dachten, wir seien Bettler?

Komm, Nello, hör auf zu grübeln, es ist vorbei. Unser Direktor hat immer gesagt: Männer, immer nach vorne schauen! Also, Junge, reiß dich zusammen, guck nicht zurück, sondern nach vorne in die Zukunft! Pünktlich setzte sich der Zug in Bewegung, Richtung München. Ciao Verona. Mit dir lasse ich eine bedrückende Erfahrung in meinem Leben hinter mir. Ich glaube nicht, dass ich noch oft an dich denken werde.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass sich ganz in der Nähe dieser Stadt, in Bassano del Grappa, sechs Jahre später ein tragisches Unglück ereignen würde.

Wir sechs, die wir zusammen im Zugabteil saßen, klappten erst einmal unsere Liegen aus und bereiteten uns für die Nacht vor. Ich war sehr neugierig auf den Brenner-Pass, über den wir nach Österreich hinüberfahren sollten. Der Brenner war berühmt-berüchtigt bei uns, weil zu dieser Zeit dort viele Attentate passierten. Gut, dass meine Mutter nicht wusste, dass wir in wenigen Minuten genau diese Strecke nehmen würden. Wenn ich an den Brenner-Pass dachte, fragte ich mich, ob ich irgendwann und irgendwo eine weiße Linie entdecken könnte, die die Grenze markiert.

Ich musste für eine Zeit lang eingeschlafen sein. Als ich wach wurde, schliefen alle anderen tief und fest und die Grenze musste lange hinter uns liegen. Ich verließ das Abteil und stellte mich in den Gang, um aus dem Fenster zu sehen. Minutenlang sah ich nichts, nur die Schwärze der tiefen Nacht. Dann tauchten immer wieder kleine Dörfer auf, meist in tiefen Tälern gelegen und vollständig eingehüllt von Schnee. Die Kirchen mit ihren Glockentürmen und rundherum die schönen Häuser wurden von wenigen Straßenlaternen beschienen. Alles schien fest zu schlafen, ein Bild tiefen Friedens. Mir liefen Kälteschauer über den Rücken: Herrgott, was für ein schönes Bild! Wie schön kann diese Welt sein. Wieso sind die Menschen trotzdem manchmal böse? Ich begreife es nicht. Ich war so fasziniert von diesem Anblick, dass ich nicht genug davon bekommen konnte, aber allmählich wurde mir hier draußen immer kälter. Ich ging doch wieder ins Abteil. Hier war es zwar muffig, aber immerhin warm. In meine Decke gewickelt lag ich auf meiner Liege und dachte an zuhause.

Oh, mein Formia, während ich auf dem Weg nach Norden bin, geht bei euch alles weiter wie gewohnt. Morgen ist Freitag, die Leute bereiten sich aufs Wochenende vor, meine Freunde informieren sich, was am Sonntag für ein Film läuft, sie verabreden sich mit ihren Mädchen …, und meines wird wieder allein sein, genau wie ich … Hoffentlich war es kein Fehler, wegzugehen!? Ich muss doch versuchen, etwas zu schlafen. Gute Nacht, Gedanken!

Pünktlich um 6 Uhr morgens traf der Zug in München ein. Ich war schon längst wach und freute mich auf diese große Stadt. Aber bis auf den Bahnhof sah ich nicht viel, und am Bahnhof selbst war nichts Besonderes. Er war groß, das war aber auch schon alles.

Wir hatten zwei Stunden Aufenthalt in München, durften aber „aus technischen Gründen“ den Zug nicht verlassen. In unserem Abteil sah es mittlerweile wüst aus, rundherum war alles schmutzig. Und erst die Toiletten! Selbst in der Erinnerung noch ein schlimmes Bild! Jetzt war es Freitag, seit Montag war ich unterwegs, ständig woanders, immer auf dem Sprung und immer noch lange nicht da. Ich fühlte mich schmutzig und klebrig, die Müdigkeit machte mich reizbar, zu essen hatten wir fast nichts mehr, zu trinken noch weniger. Ich sehnte mich nach einem wundervollen warmen erholsamen Bad, aber noch lagen wer weiß wie viele Reisestunden vor mir. Ich machte mich auf die Suche nach dem Reisebegleiter, um ihn zu fragen, wann wir ankommen würden, aber ich konnte ihn nicht finden. Die Stimmung im Zug war schlecht. Die anderen fühlten sich wohl genauso wie ich und der Unmut wurde immer lauter. Ich versuchte, mich selbst zu beruhigen: Es ist nur noch heute. Spätestens heute Abend wird diese Odyssee vorbei sein, hoffte ich.