Europa auf der Intensivstation - Rahim Taghizadegan - E-Book

Europa auf der Intensivstation E-Book

Rahim Taghizadegan

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Beschreibung

Als Teile Europas zum Epizentrum der Coronavirus-Pandemie wurden, war der Schock groß. An den Folgen wird Europa noch länger leiden. Der Patient hängt an den Schläuchen vermeintlich grenzenloser künstlicher Liquidität. Dabei geht die medizinische Analogie erstaunlich weit: Komorbidität ist der Begriff der Stunde. Bei der Einordnung des Krankheitsgeschehens muss das Augenmerk den Vorerkrankungen gelten, den Gründen für Immunschwäche und versäumte Prävention. Das Virus offenbart das Versagen der Institutionen, besonders der gesamteuropäischen. Aber auch die nationalen, die sich als handlungsfähige Krisenretter inszenieren, bedürfen einer kritischen Analyse. Die aktuelle Episode wird die Ablösung der Führungsposition des Westens, des Eurodollar-Raums, beschleunigen. Viele ergriffene Maßnahmen werden sich, statt als Löschversuche, als Brandbeschleuniger erweisen. Diese Wirtschaftskrise ist kein vorübergehender Einschnitt. Sie ist Ausdruck der mangelnden Stabilität wirtschaftlicher Kartenhäuser, sinkender Lernfähigkeit und wachsender Erstarrung. Diese Pandemie wird nicht den Untergang bringen. Sie könnte jedoch Anstoß sein, weg von westlicher Selbstüberschätzung zu einem realistischen Selbstverständnis zu gelangen. Nur mit neuer Nüchternheit wird sich echter Optimismus finden lassen.

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Widersprüchliche Deutungen und Omen
1. Europa auf der Intensivstation, ist das nicht eine Übertreibung?
2. Was ist Europa?
3. Ist es nicht ein Privileg in Europa zu leben?
4. Sollten wir nicht gerade jetzt die europäische Identität stärken?
5. Können die Folgen von Pandemie und Wirtschaftskrise nur auf europäischer Ebene bewältigt werden?
6. Die alte Leier vom Untergang des Abendlandes?
7. Welche Rezepte verschreibt der Autor Europa?
8. Haben europäische Länder die Pandemie besser in den Griff bekommen?
9. War die Pandemie ein Schock, ohne den wir kaum Probleme hätten?
10. Warum wurde Europa zum Epizentrum?
11. Sollten exponentielle Entwicklungen verhindert werden?
12. Wären wir ohne politische Interventionen nicht in die Katastrophe gerutscht?
13. Bedeutet strengerer Datenschutz mehr Freiheit?
14. Also doch nur ein weiterer Corona-Leugner?
15. Was können wir schon wissen?
16. Was ist der wissenschaftliche Konsens?
17. Wann kommt der große Krach?
18. In welcher Blase befinden wir uns – in einer Börsenblase?
19. Ist die Digitalisierung Gefahr oder Chance?
20. Was ist falsch an der Geldpolitik?
21. Was ist MMT?
22. Sind wachsende Schulden wirklich ein Problem?
23. Ist der Euro sicher?
24. Haben wir nicht schon genug Wohlstand?
25. Erfordert die wachsende Ungleichheit mehr Umverteilung?
26. Wie kann Arbeitslosigkeit bekämpft werden?
27. Was bedeutet Stagflation und warum droht sie?
28. Welche Dynamik schwindet, und ist das schlecht?
29. Welche Wirtschaftspolitik führt aus der Krise?
30. Wie kann man krisensicher anlegen?
31. Was bedeutet Liquidität?
32. Wie kann die Altersversorgung gesichert werden?
33. Sind Aktien noch eine gute Anlage?
34. Sind Staatsanleihen eine sichere Anlage?
35. Ist Gold nicht ein barbarisches Relikt?
36. Sind Immobilien eine sichere Anlage?
37. Was hat Bitcoin mit dem Zustand Europas zu tun?
38. Sind die meisten Kritiker nicht Verschwörungstheoretiker und Spinner?
39. Warum diese extreme Spaltung rund um Corona?
40. Warum sinkt das Vertrauen und was kann man dagegen tun?
41. Enthüllt dieses Buch die ganze Wahrheit, welche die »Lügenpresse« vorenthält?
42. Was sollen Gedankenviren sein?
43. Was ist Innovation und wie kann man sie fördern?
44. Wären Investitionen in Bildung nicht das Wichtigste?
45. Ist nicht viel wichtiger als Wirtschaft die Förderung der Kultur?
46. Sollten wir die Kreativität fördern?
47. Wie viel technische Entwicklung ist gut und nötig?
48. Was ist Freiheit und warum ist sie wichtig?
49. Ist die Krise nicht eine Chance für Natur und Klima?
50. Ist die Krise nicht eine Chance, dem Wachstumswahn zu entkommen?
51. Ist Fortschritt immer gut?
52. Zeigt die Krise nicht die Probleme der Globalisierung?
53. Haben Institutionen versagt?
54. Warum sind wir in einer Interventionsspirale?
55. Warum drohen Kapitalverkehrskontrollen?
56. Ist Auswanderung aus Europa nicht unsolidarische Resignation?
57. Steht Europa heute besser da als die USA?
58. Wird uns China überholen?
59. Ist dieses Buch links oder rechts?
60. Welche Rolle spielt der Bürger?
61. Wie stärken und schützen wir die Demokratie in Europa?
62. Brauchen wir mehr oder weniger Staat?
63. Wie würde ein gerechteres Wirtschafts­system aussehen?
64. Was kann der Einzelne tun?
65. Was können Gemeinden tun?
66. Was sind Freie Privatstädte?
Weiterführende Literaturempfehlungen zur Vertiefung

Einleitung: Widersprüchliche Deutungen und Omen

Anfang 2020 befand ich mich ausgerechnet in Singapur, als die COVID-19-Pandemie ausbrach. Ich konnte so aus nächster Nähe den Beginn der öffentlichen Wahrnehmung und politischen Reaktion verfolgen. Die mangelnde Transparenz Chinas und die an SARS gewachsene Erfahrung Singapurs weckten mein Interesse in besonderem Maße: Ich richtete für eine Weile den größten Teil meiner Aufmerksamkeit auf dieses Thema.

Meine Absicht war, bis zum Frühjahr in Asien zu überwintern. Um das Risiko für meine Familie zu senken, verließ ich Asien früher als geplant und setzte den Urlaub in den Tiroler Bergen fort. Das Virus reiste schneller als ich: Tirol wurde zum überraschenden Epizentrum. Diese bittere Pointe war nur der Auftakt eines Jahres voller Widersprüche.

Ich sollte ein Buch über die Zukunft Europas schreiben. Die Pandemie hätte da ein guter und aktueller Aufhänger sein können. Doch der Fokus auf die Tagesaktualität hat mir die Laune gehörig verdorben und mich mehrmals dazu bewogen, die Arbeit an diesem Buch einzustellen. Mir schwirrt noch immer der Kopf von dem rapiden Wechsel der »Narrative« oder – neudeutsch – »Spins«, die immer wütender als Wahrheiten verkündet werden. Heute treten die gegensätzlichsten Spins parallel auf, da die Feedback-Schleife des digitalen Informationsaustauschs praktisch verzögerungslos läuft.

Sonst entziehe ich mich so gut es geht dem Nachrichtenstrom, der keinerlei Mehrwert liefert, sondern nur Seelen ­vergiftet. Die Zeit ist vorbei, als es nur den einen prominenten Nachrichtenableser gab, der eine verbindliche Referenz für Alltags­gespräche bot. Die Explosion an Informationsquellen, Perspektiven und Erzählungen war eine große Befreiung. Doch wahre Freiheit ist eine Bürde, und die meisten flüchten vor ihr. Zuflucht vor der neuen Komplexität und erfahrbaren Vielfalt der Welt bieten Filterblasen – und in diesen tobt es immer unerbittlicher.

Vermutlich wird meine Perspektive zwischen den lauteren aufgerieben. Ich fasse dennoch den Mut, trotz grassierender Denkverbote und virtueller Hetzjagden auf Andersdenkende ein heißes, polarisierendes Thema anzufassen. Es geht mir um die Frage nach der Zukunft Europas. Werden wir auf einen Scherbenhaufen blicken, wenn die aktuellen Aufreger wieder in den Hintergrund treten und den Blick freigeben?

Dabei geht es mir nicht um Utopien, nicht um wütendes Politisieren, sondern um die Frage nach den nachhaltigen Lebensbedingungen dieses zuletzt so gesegneten und glücklichen Fleckens Erde. Doch die allzu kurzfristige Perspektive und der oberflächliche Vergleich verleiten zum Irrtum der »besten aller Welten«, den Voltaire einst als Widerstand gegen Weiterentwicklung und Vernunftgebrauch so gekonnt persifliert hat.

Ich hatte zunächst angenommen, dass die Schockstarre nach den Pandemie-Maßnahmen zu Selbstzweifeln und Reflexion führen würde. Doch bevor noch der Schaden sichtbar werden konnte, drängt sich eine Deutung in den Vordergrund, die ich in ihrer Selbstgefälligkeit für gefährlich halte:

Italien und Spanien versagten als typische »Südländer« und machten Europa zum Epizentrum der Pandemie. Die höher entwickelten Länder Europas, allen voran Österreich und Deutschland, zeigten aber bald, wie sich durch effektive staatliche Interventionen die Pandemie rasch unter Kontrolle bringen lässt. Die großartigen Gesundheitssysteme, die rasch agierenden Behörden und der soziale Zusammenhalt beweisen wieder einmal die Überlegenheit der EU gegenüber dem Rest der Welt, insbesondere den USA. Zum Glück informierten die europäischen Massenmedien, insbesondere die der öffentlichen Hand, die Bevölkerung in sachlicher und umfassender Weise, sodass die Zustimmung zu den gebotenen Maßnahmen sehr hoch war. Die weltweite Führungsposition in den Wissenschaften bot die nötige Kompetenz, auf welche Politiker zurückgreifen konnten, um die öffentliche Gesundheit, auch gegen Wirtschaftsinteressen, zum Leitmotiv ihres Handelns zu machen. Der plötzliche Einkommensausfall im Zuge der Pandemie kam aus heiterem Himmel und hätte eine schwere Wirtschaftskrise verursacht, wenn die Politik nicht alle Mittel mobilisiert hätte, um den Schaden einzugrenzen. Hauptsächlich über höhere Staatsverschuldung, um die Steuern nicht erhöhen zu müssen, wurde Not-Liquidität zur Verfügung gestellt. Die Maßnahmen gingen in die richtige Richtung, waren aber nicht ganz ausreichend. In solchen Fällen müssen wir dankbar sein, dass Finanz- und Geldpolitik für rasche Liquidität sorgen können.

Gegen diese Deutung richtet sich am stärksten die Gegenposition derjenigen, die jegliches Vertrauen in Politik, Medien und Wissenschaft verloren haben.

Es ist alles ein abgekartetes Spiel. Europas Politiker haben eine künstliche Panik geschaffen, um ihre eigenen Interessen gegen die der Bevölkerung durchzusetzen. Experten, die von Massenmedien und Politik ausgeblendet – fast schon verheimlicht – wurden, hatten von Anfang an darauf hingewiesen, dass das Coronavirus ein gängiger Grippevirus und damit genauso ungefährlich ist. Die Krise ist eine Folge aktiver und bewusster Wirtschaftszerstörung, die Alibi und Ablenkung bieten soll, damit sich organisierte bösartige auf Einzelinteressen fixierte Eliten auf Kosten der Allgemeinheit weiter bereichern können, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Diese Abrechnung stand kurz bevor. Der Zechpreller schlägt die Wirtschaft kurz und klein, um ungeschoren davon zu kommen.

Die erste Deutung, die von größtem Vertrauen in die Institutionen getragen wird, lässt sich nicht einfach durch Behauptungen widerlegen, die vor allem auf allergrößtem Misstrauen beruhen. Die Nachkriegsordnung Europas ging mit einer Phase des Wohlstands und Friedens einher, die – auch wenn in der Geschichte Kausalität stets eine unbewiesene Behauptung ist – zu Vorsicht mahnt, die Legitimität dieser Ordnung nicht leichtfertig zu untergraben. Die nationalen und supranationalen Strukturen Europas verdienen es, mit Respekt betrachtet zu werden.

Doch dieser Respekt muss selten eingefordert werden, außer es geht bergab. Menschen hängen intuitiv am Status quo, wenn sie sich nicht für die Verlierer desselben halten. Die konservative Sorge um den Bestand von Institutionen kann zu Erstarrung führen, sodass es irgendwann mit Gewissheit bergab geht, bis sich Institutionen nur noch mit Gewalt Respekt verschaffen können – und ihn damit endgültig verlieren.

Noch ist die Perspektive des völligen Misstrauens eine Minderheitenperspektive. Sie scheint in einem der wohlhabendsten und friedlichsten Teile der Welt völlig verrückt, wenn nicht gemeingefährlich zu sein. Das Misstrauen in die Misstrauenden ist groß, der Respekt für ihre Positionen gering. Doch ich halte die Zunahme des Misstrauens für ein wichtiges Omen.

Ein anderes Omen ist der Bewusstseinswandel, der schon lange vor der aktuellen Wirtschaftskrise eingesetzt hat. Das Vertrauen in die Zukunft hat sich gewandelt in eine düstere Ahnung, die wenig in Worte gefasst wird. Diese Ahnung zeigt sich in der Antwort auf die Frage: Glauben Sie, dass es Ihren Kindern besser oder schlechter gehen wird als Ihnen selbst? Die Antworten darauf werden seit geraumer Zeit immer negativer.

Ich halte nichts von Angstmache auf der Grundlage esoterischer Vorzeichen. Dennoch sehe ich diese Omen als ernstzunehmende Anstöße, über die Zukunft nach der aktuellen Krise nachzudenken. Ich werde keine Utopie entwerfen, kein politisches Programm, sondern versuchen, Argumente zu bieten, die hoffentlich zugleich ungewöhnlich und überzeugend genug sind.

Ich halte kritische Argumentation für die Grundlage der ­Erkenntnis und einer Ordnung freier Menschen. Dabei geht es nicht darum, welche Welt wir uns wünschen, sondern ob wir die Welt, die wir teilen, gemeinsam begreifen können – in allen ihren Facetten, die unseren Wünschen und Interessen so oft widersprechen. Ich habe mich daher dazu entschieden, das gesamte Buch über kritische Fragen zu strukturieren– wie ein offenes Gespräch über all die konträren Deutungen der Zeit.

Eine kurze Anleitung für den Leser: Ausgehend von der Einstiegsfrage verweisen Begriffe auf Themen für weitergehende Fragen. Die Hochzahl neben Wörtern verweist also nicht auf eine Fuß- oder Endnote, sondern auf die Nummer jener Frage, die das entsprechende Thema behandelt. Der Leser ist also völlig frei, thematisch zu springen. Dieses Buch müssen Sie nicht von vorne bis hinten lesen, sondern können es in genau der Reihenfolge und Tiefe lesen, die Ihren Interessen entspricht. Am Ende jeder Frage finden Sie die Fragen, die auf die gerade aufgeschlagene verweisen – Sie können also auch einfach zurückspringen. Damit handelt es sich um das wohl erste Buch mit bidirektionalen Verweisen. In den digitalen Formaten können Sie über das Klicken von Links weiterspringen, im physischen Format blättern Sie einfach zur jeweiligen Frage – dazu sind die Fragennummern sichtbar angeführt.

Ich werde versuchen, Argumente, denen ich widerspreche, mit Empathie und Respekt zu behandeln. Auch das unausgesprochene Argument gegen die Argumentation, gegen den Zweifel und die Kritik. Umso schärfer wende ich mich gegen die – meiner Einschätzung nach – dominante Position, die nicht aus einer begründeten Ablehnung von Kritik und Argument hervorgeht, sondern sich oft bloß für besonders »kritisch« hält: jene der Selbstgefälligkeit, die eigentlich Angst ist. Angst vor wirklichem Widerspruch, vor der peinlichen Blöße. Es ist die Angst der Mitläufer. Diese Mischung aus Selbstgefälligkeit und Angst ist eine weitaus gefährlichere Seuche als COVID-19. Sie könnte »Europa«, diese Ahnung einer geographischen Verdichtung positiver Besonderheiten, tatsächlich zu Grabe tragen.

Jene, die ihre düsteren Ahnungen schon ernster nehmen, sollen durch meine Argumente ein wenig von der Panik befreit werden: nicht durch Schönreden der Zustände, sondern durch argumentatives Durchdringen. Gute Philosophie ist ein Programm, Angst zu verlieren, nicht weil die Welt in rosarotes Licht getaucht wird, sondern weil das Verstehen der Schatten ihre Bedrohlichkeit mindert. Doch dieses Buch ist kein »Philosophieren« im heutigen Sinne, nicht das sprachlich kunstvolle Aneinanderreihen von Wunschbildern, sondern soll eher als »ökonomisches« Argumentarium wahrgenommen werden: Mein Augenmerk gilt dem Austausch realer Menschen und der für sie relevanten Probleme. Mit welcher Art von Krise haben wir es zu tun, wie könnte sie weitergehen und was könnte danach kommen? Gibt es Auswege und Alternativen? Wie gut geht es uns wirklich, wie schlecht könnte es uns noch gehen? Woher kommen die Widersprüche unserer Zeit und wohin führen sie?

Doch beginnen wir das Gespräch auf Augenhöhe, lieber ­Leser. Ich halte Sie im Zweifelsfall für vernünftig und anständig, auch wenn Sie mir in vielen Punkten widersprechen werden. Eine gemeinsame Basis können wir in Zeiten der Zerrüttung und Spaltung kaum noch voraussetzen. Sie halten mich im Zweifelsfall für jemanden, der etwas zu verkaufen hat, vielleicht eine Ideologie, Ausreden und Alibis für Interessen, zumindest ein Buch. Es ist also durchaus vernünftig, gleich mit dem Widerspruch zu beginnen. Nur zu: Europa auf der Intensivstation, ist das nicht eine Übertreibung?¹

1. Europa auf der Intensivstation, ist das nicht eine Übertreibung?

Es ist eine Analogie und ein Aufhänger für ein Buch, wofür etwas Dramatik zugegebenermaßen günstig ist. Die Analogie lag inmitten der Coronavirus-Pandemie8 nahe.

Ein gewaltiger Schock9 erfasste die Welt, und dieser Kontinent scheint besonders getroffen. Eine Wirtschaftskrise17 scheint unabwendbar, mittels politischer Interventionen12 soll das Schlimmste abgewandt werden. Es ist naheliegend, in einer solchen Situation innezuhalten und Zukunftsfragen zu stellen. Zunächst überwiegen aber die gegenwärtig drängenden Probleme. Da scheint eigentlich Zuversicht geboten, dass wir diese Probleme vielleicht sogar relativ besser lösen können als anderswo, etwa in den USA57.

Ich stehe aber zur Analogie: Die Lebendigkeit Europas ist in besonderer Gefahr. Europa hängt an allerlei Schläuchen und damit immer mehr von künstlichen Interventionen12 ab. Das ist kein negatives Urteil über Europa2 und die Europäer, sondern eine Warnung, dass die alte Dame fragil geworden ist und an einer existenziellen Weggabelung steht: Niedergang6 oder Heilung7.

Das ist wieder allzu dramatisch formuliert, es dient ja auch dem Aufhänger, soll aber eine erste, vereinfachte, Annäherung an das Thema bieten. Vor der Therapie steht die Anamnese, der Krankenbefund. Dieses Buch ist allenfalls eine eingeholte Drittmeinung und folgt weitgehend Minderheitenmeinungen38.

Vor schwerwiegenden Eingriffen ist eine solche Drittmeinung dringend geboten. Bei den Kollegen wird sie Kopfschütteln auslösen. Mein Befund ergibt: Die Patientin ist kranker als diagnostiziert, und dennoch sind die empfohlenen Therapien schlimmer als das Leiden, das zum Teil iatrogen (arztgemacht) ist: die Folge bisheriger Kunstfehler. Lasst die alte Dame wieder an die frische Luft!

Kapitel, die auf dieses verweisen: Einleitung

2. Was ist Europa?

Europa ist ein Begriff aus Mythologie, Geographie und Geschichte. Solche Begriffe berühren Identitäten4 und sind daher besonders sensibel.

Die auffälligste Besonderheit, die diesen Subkontinent auszeichnen könnte, ist für mich, dass er die Wiege der modernen Welt ist, einer Welt dichter und weitreichender Verbindungen52, eine Welt exponentiell wachsender11 Dynamik28.

Andere Teile der Welt folgten dieser Modernisierung. Heute ist unser Teil der Welt vielleicht noch immer dichter verbunden als andere, aber in dieser Hinsicht längst nicht mehr so besonders. Und wenn wir die Dynamik28 betrachten, die Geschwindigkeit neuer Verbindungen und Kombinationen, dann fällt Europa zurück.6 Viele Ort sind heute dynamischer, doch bislang hat kein Ort der Welt den Westen – Europa und seine jüngeren und energischeren Nachkommen USA57 und Israel – bei der Innovation43 deutlich abgehängt. China58 zeigt beeindruckende Dynamik, ist aber noch am Aufholen.

Dass Teile Europas früher eine moderne Dynamik aufwiesen als Teile Chinas, die zivilisatorisch meistens weiter entwickelt waren, ist eine europäische Besonderheit. Sie ist in dem Sinne spezifisch europäisch, dass die Elemente und Indizien dieser besonderen Entwicklung im Laufe der Geschichte recht breit über den Subkontinent verstreut waren.

Europa scheint stets unter auffälliger Spannung gestanden zu haben, dicht gepackt und doch nicht eins. Spaltung und Einigung waren ständige Gegensätze, die einander bedingten. Die Geographie trennte das Nahe und verband das Ferne: Die Vielfalt getrennter Täler erhielt eine besondere Sprachen- und Dialektvielfalt, doch die Zahl schiffbarer Flüsse und Binnenmeere (Nordafrika war einst zum europäischen Kern zu zählen) begünstigte den Fernhandel. Die Gespaltenheit nährte religiöse und intellektuelle Einigungsbewegungen, welche wiederum neue Spaltung erzeugten.

Diese Spannung entlud sich oft in Wahn und Blutvergießen, doch sie erwies sich als fruchtbar. Hinreichend Einigkeit für den Austausch von Ideen und Gütern, hinreichend Spaltung, um zu verhindern, dass keiner der vielen Irrtümer jemals den gesamten Subkontinent erfasste – zumindest nicht bis zu den Weltkriegen. China war geeinter, homogener und fiel zurück, weil zentralistische Fehler gravierendere Auswirkungen hatten: als etwa mit einem Schlag die Entdeckungs- und Handelsreisen der viel höher entwickelten chinesischen Flotte durch ein Verbot beendet wurden.

Haben wir zu viel Spaltung in Europa oder zu viel Einheit? Beides, denn die fruchtbare Spannung droht verloren zu gehen, weil die Geduld für Widersprüche sinkt und alles dem Mittelmaß untergeordnet wird. Es ist das Manko der Politik mit ihren Kompromiss-»Lösungen«, die für alle gleich zu gelten haben. Wir bräuchten Einigung ohne Einheitlichkeit und Widerspruch ohne Spaltung39.

Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 1,3, 7, 40, 45, 48, 53, 58, 66

3. Ist es nicht ein Privileg in Europa zu leben?

Europa2 ist ein Gebiet der Erde, das besonders dicht an vielfältiger Kultur45 und Geschichte ist, damit gewiss ein Teil der Welt, für den man viel empfinden kann. Einst reichster Platz der Welt, bietet es noch relativ hohen Wohlstand. Das »Privileg« eines Lebens in Europa meint hauptsächlich den Zugang zu diesem Wohlstand.

Der größte und wichtigste Teil dieses Wohlstands ist unsichtbar, er ist nicht in Geld oder Konsumgütern ausgedrückt. Es ist der unter der Oberfläche liegende Teil des Eisbergs, den die Kapitalstruktur bildet. Kapital im tieferen Sinne wird gebildet durch all jene Verbindungen von Geistigem und Materiellem, die helfen, menschliche Ziele zu erreichen.

Am wenigsten sichtbar und damit am meisten unterschätzt ist stets die geistige oder kulturelle45 Komponente. Werkzeuge sind wertlos ohne das Wissen und die Fähigkeit, sie zu nutzen. Und die Voraussetzung für materielle Werkzeuge sind geistige Werkzeuge wie Sprache, Vorstellungskraft, Problemlösungsfähigkeit47. Die Gesamtheit nützlicher Verbindungen geistiger und kultureller Elemente dieser Art können wir kulturelles Kapital nennen.

Die hohe Lebensqualität für viele (nicht alle) Menschen in weiten (nicht allen) Teilen Europas ist nichts anderes als die Möglichkeit, das vorhandene Kapital zu nutzen. Eine Nutzung, welche die Abnutzung oder Vergänglichkeit von Kapital jeder Art nicht kompensiert, ist Konsum. Viele Konsummöglichkeiten sind nur über Tausch zugänglich, weil sie von uns fremden Menschen privat bereitgestellt werden. Teile Europas scheinen sich dadurch von anderen Orten zu unterscheiden, dass relativ mehr freie Konsummöglichkeit besteht: viel freier Zugang zu Natur49 und Kultur45. Das ist einerseits die Folge hohen unsichtbaren Kapitals: Die vermeintliche Natur Europas ist das Ergebnis besonders langer und kapitalintensiver Landschaftspflege. Der freie Zugang ist wiederum eine Folge hohen Wohlstands (wenn die Bewirtschaftung über Zugangskontrolle gar nicht lohnt), vielmehr aber noch die Folge einer lange gewachsenen Kultur hohen Vertrauens40.

Dieser Teil des kulturellen45 Kapitals schwindet jedoch am schnellsten, daher wird auch die Lebensqualität in Europa für die meisten Menschen sinken. Insbesondere dann, wenn diese Lebensqualität von Menschen, die sie konsumieren, ohne zu ihr beizutragen, wütend als Recht und unverdienter Identitätsstolz4 proklamiert wird.

Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 9, 40, 47, 56, 57, 60, 62

4. Sollten wir nicht gerade jetzt die europäische Identität stärken?

Identität ist ein menschliches Grundbedürfnis. Sie stellt un­sere Existenz in einen größeren Sinnzusammenhang. Grundbedürfnisse sind Teil unserer Natur49. Diese müssen wir res­pektieren, sonst richtet sie sich gegen uns. Doch wir sollten ihr mit Vorsicht begegnen – wie einem wilden Tier.

Die europäische Identität erscheint vielen als Hoffnungsschimmer, weil sie an die Stelle des Nationalismus treten soll, der in Europa besonders stark wütete. Doch gerade der heute so gefürchtete deutsche Nationalismus war einst als fortschrittliche Einigungsbewegung angetreten, als moderne Identität freier Bürger60. Ein »Wir« wird aber am stärksten genährt durch gemeinsame Feinde.

Die neue europäische Identität ist noch frisch, nicht durch Kriege belastet, sogar dem Frieden verbunden. Doch sie be­nötigt ebenso den Kontrast zu den Anti-Europäern, den ewiggestrigen Nationalisten oder zu den USA57. In der ersten Ausprägung kann man dann »europäische Gesinnung« leicht mit den Interessen einer kosmopolitischen Oberschicht verwechseln, welche geringschätzig auf die Unterschicht blickt, die nicht genug Muße zum Reisen und nicht genug Beziehungen für die internationale Karriere hat. In der zweiten Ausprägung ist es der Anti-Amerikanismus, der ein wichtiges Korrektiv zu imperialem Zynismus und transatlantischer Ergebenheit sein mag, aber keine positive Identität nähren kann, nur Selbstgerechtigkeit und Selbstgefälligkeit, kulturellen Snobismus und weinerliche Nostalgie.

Identität gibt Kraft, und als Einzelmensch mit einem Kontinent mythisch verwoben zu sein, mag Sinn stiften. Da ist es allerdings ein wunder Punkt, dass der Kontinent nicht klar abtrennbar von der asiatischen Masse ist. Man könnte das Christentum bemühen, das wäre aber zu universalistisch für einen engeren Europäismus und zu unmodern für den aufgeklärten Europäer.

Europäische Identität meint daher oft nur die politische Position, eine weitere Übernahme von Agenden durch die EU5 zu befürworten. Doch die vermeintliche Einigung könnte sich noch als Spaltung39 erweisen.

Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 2, 3, 23, 46, 49, 57, 59, 60

5. Können die Folgen von Pandemie und Wirtschaftskrise nur auf europäischer Ebene bewältigt werden?

Die Europäische Union ist die große Nachkriegshoffnung ­Europas. Sie drückt den Wunsch nach Einigung und Frieden aus und ist ein ambitioniertes Projekt der Gründung einer ­neuen Institution, das – trotz aller Probleme – als gelungen gilt, wenn auch lange nicht als abgeschlossen.

Dass kluge Menschen nach dem Krieg über einen institu­tionellen Neuanfang auf der Grundlage einer geeinten freien Welt nachdachten, ist ihnen hoch anzurechnen. Doch Visionäre sind meist Denker und keine Macher, sie sind selten diejenigen, die eine neue Institution wirklich aufbauen. Sie liefern Ideen, Begründungen, ideologische Alibis, hinter denen Macher ­harte Bretter bohren.

In der Politik ein »Macher« zu sein, unterscheidet sich leider vom Unternehmertum. Interessenausgleich mag ein Ergebnis von Politik sein, doch es werden nur organisierte Interessen ausgeglichen. Der nötige Kuhhandel hat mit Handel wenig zu tun: Es geht nicht um den Tausch zwischen Landwirten, die über ihre Rinder verfügen, sondern eher um Menschenwirte, die über Menschenherden verfügen.

Die Europäische Union war wie jede politische Institution53 durch solchen »Kuhhandel« über die Köpfe von Menschen hinweg geprägt. Besonders der Euro23 zeigt eine dunkle Vorgeschichte eiskalter Interessenpolitik, die sich weniger an Bürgerinteressen als an den Interessen der Herdenhirten orientiert.

Solch ein Ausgleich muss nicht schlecht sein, wenn die ­Alternative Entzweiung zwischen politischen Räumen ist. Oft ist aber die langfristige Folge eine Spaltung39, wenn das Vertrauen40 Schaden nimmt – etwa durch wachsende Sorge, als Bürger60 übervorteilt zu werden.

Je größer die Institution, je komplexer, desto wichtiger wird die kritische Durchleuchtung. Denn komplexe Institutionen bieten hervorragende Blasen18 für Menschen, die Kapitalkonsum betreiben, anstatt Werte für ihre Mitmenschen zu schaffen. Komplexe Institutionen schirmen Verantwortung ab und nähren damit Selbstüberschätzung und Inkompetenz.

So kommt es, dass sich Menschen, die außerhalb der Blase18 der Politik keinerlei Erfahrung aufzuweisen haben, plötzlich für Investoren, Feldherren und Manager kontinentaler Dimension halten.

Wahrscheinlich wird die Europäische Union zu einem Papiertiger, zu einem Beschäftigungsprogramm für weltwirtschaftlich nicht mehr vermittelbare Akademiker und nationalstaatlich nicht mehr gewählte Politiker. In den kommenden Problemen, für welche die aktuelle Pandemie nur eine sanfte Generalprobe war, geht die Spaltung quer durch die Gesellschaften. Solidarität, Frieden, Einigung werden dann vielleicht wieder reale Notwendigkeit und nicht bloß politische Phrasen sein. Im besten Fall werden die positiven Elemente der europäischen Nachkriegsvision wieder reale Wirkung und Relevanz entfalten. Erzwingen kann man sie nicht, man muss sie sich erarbeiten. An manchen Stellen wird man wieder bei null anfangen müssen.

Kapitel, die auf dieses verweisen: Kap. 4, 7, 13, 19, 23, 25, 53, 55, 58, 60

6. Die alte Leier vom Untergang des Abendlandes?

In der Tat wurde in keinem Teil der Welt öfter der Untergang prophezeit, herbeigesehnt oder als Vorwand politischer Interessen genutzt. Je dynamischer Europa wurde, desto stärker wurden diese Untergangsphantasien.

Die Modernität lastet dem Menschen ein enormes Sinnproblem auf. Wie Viktor Frankl erkannt hatte, sagen dem modernen Menschen weder Instinkt noch Tradition, was richtig ist. Das führt zu Angst und Wut. Die Dynamik28 Europas vergrößerte die Widersprüche und Spannungen.

Den Niedergang dieser Dynamik festzustellen, ist etwas ganz anderes als die historischen Warnungen vor einer unkontrollierbaren und rasanten Fahrt in den Abgrund.

Noch schlimmer aber als das Schwinden einer Dynamik, was man empathisch als verdiente Altersschwäche betrachten könnte, wäre eine falsche Dynamik aus Ungeduld, Selbstüberschätzung und Selbstgerechtigkeit. Dann schwindet die Fruchtbarkeit europäischer Spannung. Zwischen Zwangsvereinheitlichung und spalterischem Misstrauen könnte dann aufgerieben werden, was Europa immer noch besonders lebenswert macht.

Viele Europäer haben es sich in Blasen18 so bequem eingerichtet, dass sie Wirtschaft für den nebensächlichen Zeitvertreib der Zu-kurz-Gekommenen und der Zu-hoch-Gewachsenen sehen, der Ärmsten und Reichsten. Das gemächliche Weitergereicht-Werden durch Institutionen53 wird zum Ideal der Mittelschicht – von der Wiege bis zu Bahre: Kindergarten, Schule, Universität, Behörde oder staatlich finanzierte »NGO«, Ruhestand.

Es droht kein Krach, sondern viel schlimmer, eine ewige Wirtschaftskrise