Wirtschaft wirklich verstehen - Rahim Taghizadegan - E-Book

Wirtschaft wirklich verstehen E-Book

Rahim Taghizadegan

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Beschreibung

**Old School für ein neues Denken in der Ökonomie** Wenn es etwas Gutes an Krisen gibt, so zumindest, dass man ― posthum ― darüber nachdenkt, ob und wie die Katastrophe hätte verhindert werden können. Die jüngste Wirtschaftskrise wurde zumindest vorhergesehen, und das sehr präzise. Vollbracht hat das kein bekannter Prophet wie George Soros, sondern ein kleiner akademischer Kreis von Volksökonomen in den USA. Diese besinnen sich seit den Siebzigerjahren aus guten Gründen zurück auf die sogenannte Österreichische oder Wiener Schule. In seinem grundlegenden Werk zeigt der Wirtschaftsphilosoph Rahim Taghizadegan, welche Faktoren für eine Fortsetzung der Forschung in der Tradition von Carl Menger, Eugen von Böhm-Bawerk, Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek sprechen. Der Nutzen einer Wissenschaft, die verlässliche Zukunftsprognosen und Warnsignale für die Gesellschaft liefert, kann nicht hoch genug bewertet werden. Daher ist das Plädoyer des Autors für eine Neuorientierung oder Rückkehr zum Denken der Wiener Schule mehr als verständlich. So verständlich wie sein richtungsweisendes Werk.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:[email protected]

3. Auflage 2012

© 2011 FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH Nymphenburger Straße 86 D-80636 München Tel.: 089651285-0 Fax: 089652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Matthias Michel

Korrektorat: Rainer Weber

Satz: HJR, Jürgen Echter, Landsberg am Lech

Druck: CPI – Ebner und Spiegel, Ulm

ISBN 978-3-89879-624-8

eISBN 978-3-86248-316-7

Weitere Infos zum Thema

www.finanzbuchverlag.de

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INHALT

Vorwort von Philipp Vorndran: Ist gut gemeint wirklich immer gut?

Einleitung

Die Launen der Ökonomie

Ein Besuch im alten Wien

Was den Leser erwartet

Wiener und Berliner

Moderne Ökonomen

Was ist Ökonomie?

Die Verlockungen der Macht

Die Klassiker

Werte und Kosten

Objektive Wertlehren

Wasser und Diamanten

Grenznutzen

Präferenzen

Nutzenkalküle

Handel und Märkte

Warum Menschen tauschen

Arbeitsteilung

Wer profitiert vom Tausch?

Komparativer Vorteil

Tausch und Gesellschaft

Marktfeindlichkeit

Alternativen zum Markt

Globalisierung

Marktversagen und Interventionen

Profitstreben

Privateigentum

Sozialismus

Das Kalkulationsproblem

Beispiele für Marktversagen

Kommunismus

Mindestpreise

Höchstpreise

Interventionsspiralen

Arbeitsplätze

Das Arbeitsleid

Arbeitsbeschaffung

Produktionsfaktoren

Produktionsstruktur

Ertrag der Arbeit

Ausbeutung

Einpreisung von Erwartungen

Arbeitnehmerschutz

Wohlstand und Armut

Der Weg aus der Armut

Kapitalaufbau

Entwicklung

Sind Wohlstand und Armut messbar?

Investitionen

Ungleichheit

Zinsen

Zeitpräferenz

Zinssätze

Horten

Anpassung der Produktionsstruktur

Zinseszins

Darlehen

Der Umgang mit Fremden

Risikoloser Zins

Unternehmer

Gleichgewicht und Veränderung

Wirtschaft als Wissensproblem

Wissenslücken und Arbitrage

Ungewissheit und Verantwortung

Geld

Indirekter Tausch

Marktgängige Güter

Die Vorgeschichte des Geldes

Geld als Wertspeicher und Maßstab

Geldhaltung

Inflation

Umverteilung durch Inflation

Papiergeld

Deflation und Hyperinflation

Die keynesianische Täuschung

Messung der Inflation

Banken und Wirtschaftskrisen

Die Funktion von Banken

Liquidität von Banken

Kreditausweitung

Ausweitung der Geldmenge

Wenn den Banken das Geld ausgeht

Der Konjunkturzyklus

Spekulation

Pyramidenspiele

Regulierung und Steuern

Bankenrettung

Anreizanalyse

Steuerliche Anreize

Umverteilung

Kapitalismus

In welchem System leben wir?

Neoliberalismus

Soziale Marktwirtschaft

Staatskritik

Anleitung für den kritischen Bürger

Die ideale »österreichische« Welt

Theorie und Praxis

Politischer Wandel

Anlageempfehlungen

Wozu?

Literaturempfehlungen

Einführungen

Originalliteratur

Weiterführendes

Stichwortverzeichnis

VORWORT:

IST GUT GEMEINT WIRKLICH IMMER GUT?

Wenn ich mit Menschen über meine Passion, die Analyse wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen spreche, ernte ich von meinen Gesprächspartnern einerseits oft höchste Aufmerksamkeit, andererseits aber regelmäßig auch die Aussage, dass sie selbst von solchen Themen leider »absolut gar nichts« verstünden. Diese Bemerkung empfinde ich als irritierend. Nicht etwa deshalb, weil meine Gesprächspartner mein Interesse an wirtschaftlichen Sachverhalten nicht teilen würden, sondern weil sich mir der Verdacht aufdrängt, dass diese Abwehrhaltung großer Teile unserer Bevölkerung eine direkte Folge der untergeordneten Rolle von »Wirtschaft« in unserem Bildungssystem ist.

Die meisten Bürger haben meiner Meinung nach primär deshalb keinerlei konstruktiven Zugang zu ökonomischen Themen, weil sie die Grundlagen dafür einfach nie gelernt haben. Warum wir wirtschaftliche Fragestellungen so stark aus unserem Bildungssystem ausgrenzen, darüber kann ich nur spekulieren (und dies würde den Rahmen eines Vorwortes deutlich sprengen). Faktum ist jedenfalls, dass Schüler ein Vielfaches mehr über Biologie, Geografie, Geschichte, Chemie oder Religion erlernen als über das Funktionieren unseres Wirtschaftssystems. Nicht, dass ein breites Grundwissen kein entscheidendes Faustpfand für die Zukunft einer Nation wäre – nicht umsonst werden wir von vielen Staaten darum beneidet. Aber neben der erstklassigen philosophischen und naturwissenschaftlichen Ausbildung ist der schulische Rucksack in kaufmännischen Fragen vernichtend dünn bestückt.

Was aber sind die Folgen dieses Mangels? Ein Großteil der Bevölkerung verdrängt wirtschaftliche Themenstellungen so weit wie möglich aus seinem persönlichen Alltag. Eine Reaktion, die nicht verwundert, denn fehlende Grundlagenkenntnis führt verständlicherweise zu Verdrängungsreaktionen, denn berechtigterweise hat man Angst, aus Unwissen etwas falsch zu entscheiden. In vielen Bereichen unseres Lebens ist diese instinktive Reaktion auch völlig richtig. Wer nicht reiten kann, hat zu Recht Angst, vom Pferd zu stürzen und sich schmerzhafte Blessuren zuzuziehen – konsequenterweise wird er sich nicht auf den Rücken eines Pferdes begeben. Anders als vor 200 Jahren ist es in der heutigen Zeit nicht mehr wirklich relevant, ob man reiten kann oder nicht, das persönliche Wohlergehen wird dadurch nur wenig beeinflusst. Eine Vogel-Strauß-Politik gegenüber wirtschaftlichen Themen ist hingegen heute genauso hochgradig problematisch wie früher, denn hier geht es nicht zuletzt darum, sein hart erlerntes Wissen am Markt optimal einzusetzen und mit dem verdienten Lohn vernünftig zu wirtschaften. Nicht dass wir uns missverstehen, ähnlich wie Friedrich von Hayek bin ich nicht davon überzeugt, dass die Ökonomie durch Formulierung, Kenntnis und Anwendung von Formeln ähnlich der Physik zu einer »exakten Wissenschaft« aufgewertet werden kann, aber wir müssen zumindest in der Lage sein, bewusst eigene Entscheide zu treffen und die Entscheide anderer aktiv zu hinterfragen.

Unser aktuelles Wirtschaftssystem muss man nicht lieben. Nein, man darf es sogar hassen, aber man sollte wissen, warum! Wer Sachverhalte nicht versteht, kann sie nicht vernünftig bewerten. Die latent in der Bevölkerung zu beobachtende Einstellung, unser Wirtschaftssystem sei unfair, basiert sicher zu einem gewissen Teil auch darauf, dass man emotional dazu tendiert, etwas zu verwerfen, das man nicht versteht. Durch mangelndes Wissen verunmöglicht man nicht nur eine faire Analyse, man bringt sich auch persönlich um das konsequente Ausnutzen von Chancen für sich und die Gesellschaft.

Wer die Grundlagen einer Wissenschaft nicht selbst erlernt, dem verbleiben konsequenterweise nur drei realistische Handlungsalternativen. Er muss sich entweder aus dem Bereich komplett zurückziehen, er ist auf gute Berater angewiesen oder er spielt einfach Roulette. Sich wirtschaftlichen Themen vollständig zu entziehen, können sich heute wohl nur noch ganz wenige Menschen leisten. Glaubwürdige, wirklich unabhängige Berater zu finden ist sehr schwierig und beim Roulette verdient langfristig immer nur die Bank. Sinnvoller wäre es dann wohl doch dazuzulernen – vielleicht kommt ja mit dem Essen sogar der Appetit –, das ist der einzige verlässliche Schlüssel, der die Türe öffnet, um wirtschaftliche Chancen und Risiken sinnvoll abschätzen zu können. Damit begrenzt man nicht nur die Gefahren, die eigene wirtschaftliche Situation falsch einzuschätzen, sondern ist als Bürger auch in der Lage, unseren Volksvertretern und den verantwortlichen Managern von Großunternehmen glaubhaft auf die Finger zu schauen. Derjenige, der nicht weiß, welche positive, aber auch zerstörerische Wirkung der Zinseszins haben kann, der ist sich der Risiken eines Privatkredites genauso wenig bewusst wie der möglichen katastrophalen Wirkungen für unsere Staatshaushalte.

Zugegeben, ein bisschen Zeit muss man schon »investieren«, gut eingesetzte Zeit für sich selbst, aber auch für die Zukunft unseres Staatswesens. Denn nur dann können wir wirklich abschätzen, ob das, was gut gemeint ist, wirklich Sinn macht … oder eher das Gegenteil von gut ist. Nur wer über eine solide ökonomische Wissensbasis verfügt, kann Aussagen der Politik wie »der Euro nutzt uns allen« oder »die Rettung der Banken ist alternativlos« glaubhaft verifizieren. Zusammen mit dem gesunden Menschenverstand verfügt man dann über einen verlässlichen Kompass, um sich auch in einem scheinbar immer komplexer werdenden wirtschaftlichen Umfeld zurechtzufinden. Denn gerade dort, wo komplexe Formeln an die Stelle von guten Argumenten treten, ist oft Gefahr im Verzug. Das konsequente Umsetzen genau dieses gesunden Menschenverstandes als Basis eines theoretischen Rahmens hat sich die Österreichische Schule zum Ziel gesetzt. Lange Zeit vergessen, erlebt ihr Ansatz des »Wirtschaft wirklich verstehen« endlich seine längst überfällige Renaissance. Wirtschaft verstehen kann Spaß machen – auch wenn es nicht gleich zur Passion ausarten muss.

Philipp Vorndran

EINLEITUNG

Die Launen der Ökonomie

Das Interesse an Ökonomie nimmt gegenwärtig deutlich zu. Darin drückt sich aus, dass wir in besonders interessanten Zeiten leben. In einem chinesischen Sprichwort wird dem Feind das Leben in solchen Zeiten gewünscht. Denn besonders interessant sind Zeiten des Umbruchs – und kein Umbruch ist für jeden angenehm. Der Umbruch, dessen erste Anzeichen wir derzeit miterleben, wird viele unangenehm überraschen. Zunächst macht er sich dadurch bemerkbar, dass in den Zeitungen ökonomische Themen häufiger außerhalb des trockenen Wirtschaftsteils auftauchen. Dieses Ressort und damit die ökonomischen Themen konnte man bislang meist überspringen, um im Sportteil Zerstreuung von den Schreckensmeldungen der Welt zu suchen. Doch mittlerweile dringt die Ökonomie frech in die Wohnzimmer ein und kann niemanden mehr kaltlassen.

Ökonomie ist eine Sache, die die meisten angeht, von der die wenigsten aber eine Ahnung haben. Sie trifft uns als mysteriöse Begründung für ärgerliche Vorkommnisse. Der Verlust des Arbeitsplatzes wird plötzlich nicht mehr dem eigenen Versagen zugeschrieben, sondern dem Ärger einer seltsamen Gottheit mit Namen »Ökonomie«. Nicht der Vorgesetzte habe dies zu verantworten, sondern die »schlechte Konjunktur«. Die Gottheit habe also eben gerade schlechte Laune, da könne man nichts machen. Die Politiker können ihre Versprechen aufgrund einer »Finanzkrise« – völlig unerwartet natürlich – nicht einhalten. Die Ersparnisse für das Alter habe nicht der Bankbetreuer veruntreut, sondern sie seien von »Wertberichtigungen« aufgefressen worden. Allerorts wird zu Vertrauen aufgerufen, was verdächtig theologisch nach Glaube und Hoffnung klingt, die Liebe aber geflissentlich übergeht.

In solchen Zeiten wird uns bewusst, wie abhängig wir von dieser black box geworden sind. Die Wirtschaft erweckt den Eindruck eines solchen schwarzen Kastens, in der magische und launische Umtriebe, die unserem Blick und Verständnis entzogen sind, über unsere Existenz entscheiden. Die Experten im Fernsehen lassen sich immer noch als Auguren verehren, obwohl auch sie von der schlechten Laune der Ökonomie vollkommen überrascht wurden. Sie verkaufen sich als Dompteure jenes seltsamen Wesens in dem schwarzen Kasten, können jedoch nichts anderes tun, als dessen Gemütswallungen in komplizierte Formeln zu übersetzen. Verzweifelt versuchen sie so den Eindruck zu vermitteln, die Lage unter Kontrolle zu haben. Im Nachhinein freilich gibt es für alles plausibel klingende Begründungen.

Nicht grundlos sinkt jedoch das Vertrauen in die Auguren und Dompteure. Politiker, Manager, Banker und Ökonomen verlieren zunehmend an Ansehen. Auch dies ist ein untrügliches Zeichen des Umbruchs. Die Stimmen werden wieder laut, die nach der Zähmung des Wesens, der Bestie rufen. Doch wenn den Dompteuren, die mit diesem Anspruch angetreten sind, nicht mehr zu trauen ist, wer sollte dies dann vermögen? Die Verzweiflung könnte zum Versuch verleiten, die Bestie in Fesseln zu legen oder gar einzuschläfern. Dann, so die Hoffnung, wären wir wieder frei, in Frieden den Sportteil der Zeitung zu lesen, ohne Angst haben zu müssen, vollkommen unvorbereitet um unsere Existenz gebracht zu werden. Dann wäre endlich Schluss mit den »Sachzwängen«, die unangenehme Einschränkungen bedeuten. Und der große Sumpf könnte trockengelegt werden, in dem es sich wenige auf Kosten der Mehrheit gut gehen lassen: Banker, deren Banken gerettet werden müssen; Manager, deren Unternehmen Mitarbeiter einsparen müssen; Politiker, die nie genug Geld bekommen können nie genug Geld haben; Experten, die sich zwar stets uneinig sind, aber doch alle falschliegen.

Ein Besuch im alten Wien

Dieses Buch möchte sich an der schwierigen Aufgabe versuchen, jedermann einen Blick in die black box der Ökonomie zu erlauben. Wir werden die vermeintliche Bestie besuchen, ihre Launen verstehen und ihre traurige Geschichte anhören. Wir werden herausfinden, was das Wesen zur Bestie gemacht hat. Dazu müssen wir uns zunächst ihrer zwei Gesichter bewusst sein: Der Begriff Ökonomie wird heute verwendet, um sowohl die Wissenschaft von der Wirtschaft zu bezeichnen als auch diese Wirtschaft selbst. Diese zwei Aspekte liegen jedoch eng beieinander. Das Verständnis, wie aus jener Wissenschaft schwarze Magie wurde, die manche Kritiker als Voodoo-Kult bezeichnen, ist der Schlüssel zur Erkenntnis, wie die Wirtschaft zu jenem Frankenstein’schen Monster wurde, dessen Launen auch seine Schöpfer nicht mehr verstehen.

Es ist eine Geschichte, die so alt ist wie die Menschheit. Eine besonders wichtige Episode spielte sich im alten Wien ab. Das heutige Wien hat mit diesem historischen Ort leider nur noch jene Bausubstanz gemein, die den Wahnsinn des letzten Jahrhunderts überlebt hat. Die zerstörten Gebäude sind dabei jedoch der geringste Verlust gewesen. Im alten Wien, jenem geistigen Zentrum der Donaumonarchie und damit Mitteleuropas, trafen sich viele der wichtigsten Figuren jener Geschichte, die erzählt werden soll. Damals war Deutsch noch eine Sprache der Wissenschaft, in der auch die bedeutendsten Beiträge zur Ökonomie verfasst wurden. Viele der zu diesem Zeitpunkt weltweit führenden Ökonomen wirkten in Wien. Darum spricht man heute noch von einer Wiener oder Österreichischen Schule der Ökonomie, die freilich in Österreich selbst fast vollkommen in Vergessenheit geraten ist. Doch sie hat bis heute überlebt und gewinnt nun als Austrian School in den Vereinigten Staaten wieder an Prominenz. Denn dort fiel etwas sehr Merkwürdiges auf: Nahezu alle Ökonomie-Experten traf die 2007 hereinbrechende Finanzkrise vollkommen unvorbereitet. Dieser Sachverhalt gerät langsam schon wieder in Vergessenheit, nachdem Akademiker schnell dabei sind, im Nachhinein ausgefeilte Begründungen zu liefern und so zu tun, als hätten sie ohnehin schon immer gewusst, wie es kommen musste. Wer die Medien vor 2007 sorgfältig studiert, wird bemerken, dass die »Experten« vollkommen falschlagen. Es war nicht bloß so, dass sie die Dinge nicht kommen sahen, sie prophezeiten auch noch das glatte Gegenteil. Merkwürdig dabei war, dass es eine kleine Gruppe von Ökonomen gab, die schon lange recht präzise Warnungen abgaben. Viele davon gehörten der Österreichischen Schule an.

Eigentlich ziehe ich es vor, die Schule nach der Stadt zu benennen. Denn so wenig das Wien von heute mit dem Wien von damals gemeinsam hat, würden es die alten Wiener doch wiedererkennen, wenn sie uns per Zeitreise einen Besuch abstatteten. Sie wären wohl tief erschüttert und den Tränen nahe. Ihr Österreich hingegen, das gibt es gar nicht mehr – was sie weniger überraschen würde. Die bedeutendsten »Österreicher« der Österreichischen Schule kamen etwa aus Neu Sandez (heute Novy Saçz in Polen), Lemberg (heute Lviv in der Ukraine), Brünn (heute Brno in Tschechien) oder Raab (Györ in Ungarn).

Was den Leser erwartet

Es ist eine faszinierende Geschichte, wie eine Schule aus dem alten Österreich fast ein Jahrhundert nach ihrem scheinbaren Verschwinden auftaucht, um die Blößen der modernen Ökonomie aufzudecken. Diese Geschichte wird hier beiläufig erzählt werden, doch es handelt sich dabei nur um eine kleine Episode. Die Österreichische Schule ist keine Geheimwissenschaft, der mit religiösem Eifer anzuhängen ist. Sie ist kein Stein der Weisen und bietet nicht die Antworten auf alle unsere Fragen. Sie ist bloß ein kleiner, dafür aber besonders interessanter Mosaikstein, um unsere Welt zu verstehen – eine Welt, die uns immer unverständlicher erscheint.

Dieses Buch ist kein Geschichtsbuch, kein ökonomisches Traktat und kein Lehrbuch. Es ist eine sehr persönliche Einladung, sich mit dem Autor gemeinsam in den schwarzen Kasten zu wagen, in der die ökonomische Bestie haust. Wir werden ihr ins Auge sehen und unsere Angst überwinden. Wir werden viel über die Selbstüberschätzung und Leichtfertigkeit der falschen Dompteure lernen. Dabei wird uns die Österreichische Schule als Orientierungshilfe dienen, und wir werden diese Tradition des Nachdenkens über Ökonomie kennen, verstehen und schätzen lernen, aber auch auf ihre Beschränkungen, Widersprüche und Unzulänglichkeiten treffen.

Weil Ökonomie uns alle betrifft, ob wir wollen oder nicht, weil unsere materielle Existenz von ihr abhängt, kann und darf sie uns nicht kaltlassen. Jeder ist in der Lage, die grundlegenden Zusammenhänge zu verstehen, und eigentlich hat auch jeder die Pflicht dazu. Weil uns Ökonomie so bewegt, polarisiert sie. Wir leben in einem Zeitalter, das durch Ideologien durchgeschüttelt und verwirrt wurde. Wirtschaft lässt sich nicht ohne Geschichte verstehen und nicht ohne Politik diskutieren. Die Entdeckungsreise durch die ökonomischen Phänomene ist zugleich der beste Weg, die Ideologien, deren Schatten uns quälen, und die Politik, die uns dominiert und verärgert, wirklich tiefgehend zu verstehen. Das bedeutet heute vor allem, den Umbruch zu verstehen, der stattfindet und stattfinden muss.

Die alten Österreicher lebten in einer solchen Zeit des Umbruchs und sahen ihn schon damals eher als andere kommen. Ihre Welt ging unter; ihre Erfahrungen und Gedanken sind uns zumindest teilweise erhalten geblieben. Nun gilt es, aus der Geschichte zu lernen, um die Zukunft zu wagen. Das wird unglaublich viel Mut erfordern. Angst, insbesondere die unbewusste Existenzangst unserer Tage, lähmt, blendet und verblendet. Darum soll dieses Buch zu guter Letzt auch ein Mutmacher sein. Kein falscher Mutmacher, der die Dinge schönredet, um falsches Vertrauen zu erwecken. Es ist nötig, der Bestie in die Augen zu sehen, sich die Furcht einzugestehen und sie auf sich zu nehmen, um so die Angst zu verlieren. Den Leser erwartet eine turbulente Fahrt in der Geisterbahn der Ökonomie, in der mehr Irrtümer, Ideologien, Fehlentscheidungen, falsche Gewissheiten – Geister aus der Vergangenheit – spuken als sonst wo.

Noch einige Vorbehalte muss ich als Autor allerdings vorwegschicken. Ökonomie verstehe ich, neben Ethik und Politik, als Teil der praktischen Philosophie. Ich folge der Ansicht von Friedrich August von Hayek, dass ein guter Ökonom stets viel mehr als ein Ökonom sein muss. Wer das Wirtschaften realer Menschen verstehen will, muss versuchen, die Welt in ihrer gesamten Breite zu erfassen. Doch das stellt eine Lebensaufgabe dar – und noch mehr. Dieses Buch kann nur einen ersten Überblick geben. Gerne würde ich mehr Hintergründe anbieten, mich Geschichte, Philosophie, Theologie, Psychologie, Politik, Ethik und Recht widmen, doch in diesem Buch habe ich mich vorwiegend auf die Ökonomie zu konzentrieren. Immer wieder werde ich dennoch einen kurzen Exkurs in die benachbarten Disziplinen wagen.

Dieses Buch ist von dem Versuch getragen, Wirtschaft im Allgemeinen und die Österreichische Schule im Besonderen für jedermann verständlich zu machen. Die Ökonomie ist jedoch eines der kompliziertesten Gebiete. Es gibt stets so viele Aspekte zu beachten. Der Ökonom handelt sich zudem schnell den Vorwurf ein, zu reduzieren. Auch wenn es sich um die einfachste Einführung handelt, muss ein ökonomisches Buch daher sehr vieles ansprechen, um ernst genommen zu werden. Ökonomen stehen zu Recht im Verdacht, stets vieles zu verheimlichen. Ökonomie wirkt in weiten Teilen sehr einfach, allzu einfach, und dann wird sie plötzlich und unvermutet hochkomplex. Wer über diese Komplexitäten beim ersten Lesen stolpert, der habe etwas Geduld. Das ist ganz normal, und es wäre unehrlich, solche Stolpersteine gänzlich auszubügeln. Sie machen einen wesentlichen Reiz der Ökonomie aus.

Ich habe mir die Aufgabe bewusst noch etwas erschwert, indem ich einer Tradition der Österreichischen Schule gefolgt bin: Dieses Buch ist vollkommen frei von Formeln und Diagrammen. Das liegt nicht an mangelnder Begabung für Mathematik und auch nicht an Faulheit. Die »österreichischen« Ökonomen hüten sich davor, die Welt einfacher darzustellen, als sie ist. Ökonomie im Sinne der Österreichischen Schule ist begriffliches Verstehen der Realität, kein bloßes Beschreiben und Abbilden.

Manches in diesem Buch wird viele Leser zweifellos verärgern. Ich habe die Hoffnung, dass diese Ärgernisse nicht politisch gedeutet werden. Man sehe die kleinen Provokationen als Anregungen an, selbst nachzudenken. Ich rechne mich keinem ideologischen Lager zu. Dieses Buch hat keinen versteckten Auftrag, will nicht missionieren und steht nicht im Dienst einer Interessengruppe. Wenn Ärger aufkommt, so atme der geschätzte Leser tief durch und habe ein wenig Geduld. Womöglich klärt sich so manches Missverständnis im Laufe des Buches.

WIENER UND BERLINER

Moderne Ökonomen

Wenn wir heute an Wirtschaft denken, meinen wir, diesen Bereich klar abgrenzen zu können. Hier scheint es um Geld und Profitstreben zu gehen – wohl notwendige, dennoch unangenehme Begleiterscheinungen des modernen Lebens. Nehmen wir eine Zeitung zur Hand, so begegnen wir in den vorderen Ressorts Politikern als handelnde Personen. Im Wirtschaftsteil treffen wir auf die Manager von großen Unternehmen und Banken als Entscheidungsträger. Letztere versuchen stets, die Gewinne zu maximieren, und tragen gegeneinander Wettkämpfe – »Konkurrenz« genannt – darüber aus, wer dabei mehr zu profitieren vermag.

Diese Auffassung von Wirtschaft ist eine moderne Erscheinung und stellt nur einen Teilbereich dessen dar, was den Ökonomen interessiert. Der so bezeichnete Wissenschaftler ist ebenfalls ein Kind der Moderne. Die Vorläufer der modernen Wirtschaftswissenschaftler waren Theologen, Philosophen und Juristen, die über ökonomische Fragen nachdachten. Im alten Wien vor der Jahrhundertwende existierte an der Universität kein Fach mit dem Namen Ökonomie. Im alten Berlin war es ebenso. Die Wiener Ökonomen, die wir näher kennenlernen möchten, studierten Rechtswissenschaften. Die Berliner Ökonomen hingegen kamen aus der Philosophie. Auch diese alte deutsche Ökonomenzunft gibt es nicht mehr.

Damals wetteiferten Wien und Berlin ein wenig um die geistige Vormachtstellung im deutschsprachigen Raum. In Berlin beliebte man auf jene Stadt nahe am Balkan herabzublicken, die Zentrum des etwas rückständigen Österreichs war. Wien zog jedoch die besten Köpfe der Donaumonarchie an. Zunächst verlachte man in Berlin die Wiener Ökonomen, die sich, wohl weil sie Juristen waren, einbildeten, wirtschaftliche Gesetze formulieren zu können. Die Ökonomen der beiden Städte gerieten in einen handfesten Streit, den man später den Methodenstreit taufte. Der Berliner Ökonom Gustav Schmoller warf den Wienern eine »stubengelehrte Naivität« vor. Der junge Wiener Ökonom Carl Menger erwiderte bissig, der Berliner Löwe könne noch so laut brüllen, damit würde er höchstens seine Studenten beeindrucken, aber nicht die wirtschaftliche Realität nach seinem Belieben verändern können. Diese Realität eben wollten die nüchternen Wiener Juristen beschreiben und sich dabei von den Wunschvorstellungen und Machtfantasien ihrer Zeit lösen.

Was ist Ökonomie?

Der Kern dieses Streits ist bis heute von Bedeutung, wenngleich sich heute ganz andere Kontrahenten gegenüberstehen. Gestritten wurde seinerzeit darum, was die Ökonomie eigentlich leisten kann und welche Themen sie berührt. Der Streit ist noch längst nicht entschieden, aber die Debatte bewegt sich heute auf einem viel tieferen Niveau. Vertreter der Österreichischen und der Historischen Schule – wie man die damaligen reichsdeutschen Gegenspieler der »Österreicher« taufte – würden gegenwärtig wohl Seite an Seite stehen und mit Kopfschütteln die Entwicklung der Ökonomie betrachten. Beide Schulen würden vermuten, die jeweils andere habe sich durchgesetzt und sei, mangels Korrektiv, zu einem Zerrbild übertrieben worden. Und beide hätten ein wenig Recht und würden einander doch Unrecht tun.

Die Historische Schule würde uns heute daran erinnern, was Wirtschaft eigentlich und ursprünglich bedeutet. Die sprachliche Wurzel, die im Wirt steckt, meint den Gastfreund, der sich um den Nächsten kümmert, sich um ihn sorgt. Die Auffassung von Wirtschaft als Kunst des Geldmachens würde im Gegensatz dazu als Verirrung erscheinen. Die Österreichische Schule würde hingegen zu Recht darauf hinweisen, dass eine solche Idealisierung zu Eingriffen führte, die letztlich erst das atemlose Renditestreben der heutigen Zeit hervorgebracht haben. Die Ökonomie ist wie die Geschichte voll von paradoxen Wirkungen.

Ökonomie ist der Versuch, das Handeln der Menschen zu verstehen. Das ist zumindest der Zugang der Ökonomen der Österreichischen Schule. Die reichsdeutschen Philosophen und Historiker dachten da eher in historischen Kategorien. In der Geschichte scheint nämlich der Einzelne kaum ins Gewicht zu fallen. Nationen bekriegen sich, Klassen bekämpfen sich, Staaten entstehen und vergehen. Das Handeln des Einzelnen erscheint da als irrelevantes Detail. Und kann man überhaupt davon sprechen, dass der Einzelne handelt? Ist jede Tat nicht stets Ausdruck von gegebenen Nöten, kulturellen Kontexten, Identitäten, Rahmenbedingungen, Beschränkungen? Die deutsche Philosophie jener Zeit war tief geprägt von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der einen spukhaften Weltgeist am Werke sah.

Auch heute haben viele das Gefühl, einzeln kaum etwas bewegen zu können. Die Massengesellschaften unserer Zeit erwecken den Eindruck, wir wären alle bloß entbehrliche Zahnrädchen in einem großen Getriebe. Doch es ist genau jene Perspektive – die nämlich den einzelnen Baum vor lauter Wald nicht zu sehen vermag –, die dieses Zahnraddasein begünstigt. Tun wir, was wir tun, weil uns die Gesellschaft oder Wirtschaft dazu nötigt? Oder ist die Gesellschaft und Wirtschaft Ausdruck unseres Tuns? Manche mögen sich nur noch als Mitläufer empfinden; doch diese Vorstellung ist eine selbsterfüllende Prophezeiung: Das Leugnen der Freiheit beseitigt auch ihre letzten Reste.

Für die jüngere Historische Schule war alle Ökonomie Geschichtsschreibung: das Dokumentieren, wie sich Menschen einer bestimmten Kultur verhalten mussten, um den geschichtlichen Trends und dem Weltgeist zum Ausdruck zu verhelfen. Eine andere Wiener Schule gelangte zu ähnlichen Schlüssen, nur bezog sie diese nicht auf ein Gemeinwesen, sondern auf das Individuum: Die Freud’sche Tiefenpsychologie versucht das Handeln des Menschen aus seiner Vorgeschichte zu erklären. Unsere Taten fänden ihre Begründung in unserer Biografie, unserer Kindheit, unseren persönlichen Traumata.

Die Ökonomen der Österreichischen Schule leugneten weder Geschichte noch Psychologie. Doch ihr Ansatz war ein anderer: Sie wollten die wirtschaftlichen Phänomene aus dem Handeln der Menschen erklären. Zu ihrer Zeit hatten sie eher den Eindruck, sich vom ewigen Moralisieren und Psychologisieren des menschlichen Handelns frei machen zu müssen, das ihnen wenig fruchtbar erschien. Es ist ein Leichtes, die Gier der Menschen zu beklagen und zu rügen. Viel interessanter ist doch, warum die Gier der einen lohnt und der anderen nicht, warum bestimmte Institutionen sich durchsetzen und andere nicht. Bevor der Intellektuelle dem Unternehmer, dem Arbeiter, dem Schuldner, dem Gläubiger, dem Manager und Politiker Vorhaltungen macht, sollte er sich redlich darum bemühen, die Erscheinungen seiner Zeit wirklich zu verstehen. Viele glauben, es besser zu wissen. Könnte man es auch besser machen? Wenn ja, warum tut man es nicht?

Die Verlockungen der Macht

Aus Sicht der »österreichischen« Ökonomen waren die Berliner den Verlockungen der Macht erlegen. Sie erdachten eine ideale Welt und fühlten sich befähigt, die reale Welt dahingehend zu korrigieren. Das Profitstreben galt den deutschen Idealisten als angelsächsisches Laster. Deutsche Ökonomie folge anderen Gesetzen, einem anderen Volksgeist. Dem Typus des Krämers wurde der Typus des Helden gegenübergestellt. Die Politik sollte dabei helfen, dieses Volk von Helden hervorzubringen. Wo ein kollektiver Wille, da auch ein Weg, lautete die Devise. Gesetzmäßigkeiten, die diesem Willen im Wege stünden, gälten nichts.

Carl Menger, der als erster Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie gelten darf, schüttelte den Kopf über die Ausgeburten dieser Art von Ökonomie, bei der wirtschaftliche Gesetze zu bloßen Machtfragen wurden, nicht zu Gegebenheiten, die wir erkennen und befolgen. Mit Schrecken sah er, welche ideologischen Übertreibungen drohten. Den Wahnsinn, der erst nach seinem Tode wirklich wüten sollte, erahnte er bereits. Wenn es keine ökonomischen Gesetzmäßigkeiten gäbe, dann könnten diejenigen, die die Macht haben, alles nach ihrem Belieben handhaben und hätten keine Konsequenzen zu fürchten.

Als junger Mann erhielt Carl Menger bereits die ehrenvolle Aufgabe, den Kronprinzen Rudolf in Ökonomie zu unterrichten. Gewiss hat ihm Mengers Unterricht die Augen über die Entwicklungen geöffnet, die Europa bevorstanden. Manche munkeln, Rudolfs späterer Selbstmord sei solcher Einsicht geschuldet gewesen: dass sein Österreich-Ungarn nicht mehr zu retten war und jener globale Wahnsinn der Weltkriege und des Totalitarismus entfesselt würde. Die Wiener Ökonomen ließen sich jedoch von ihrem nüchternen Pessimismus hinsichtlich der Lage der Welt nicht zur Teilnahmslosigkeit verleiten. Ludwig von Mises, ein Vertreter der dritten Generation der Österreichischen Schule, der Wien nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verlassen musste, wählte zu seinem Lebensmotto den Satz »Tu ne cede malis sed contra audentior ito«. Weiche nicht dem Bösen, sondern kämpfe umso mutiger dagegen an. Mises musste zwar physisch weichen, doch auf dem Gebiet der Ideen blieb er stets standhaft. Die Nazis planten, seine Frau und seine Stieftochter zu entführen, um seiner habhaft zu werden. Im letzten Moment gelang beiden die Flucht zu Mises, der bereits in Genf war. Noch am Abend des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich drangen Nationalsozialisten in seine Wiener Wohnung ein und entführten anstelle seiner Familie seine Bibliothek. Diese blieb lange Zeit verschollen und tauchte erst vor wenigen Jahren in einem Moskauer Archiv wieder auf. Die Bibliothek war am Ende des Krieges ein zweites Mal entführt worden – diesmal von den Sowjetsozialisten.

Vor welchen Ideen fürchteten sich die braunen und roten Totalitären so, dass sie sie gewaltsam zum Verstummen bringen wollten? Die »österreichischen« Ökonomen hatten die verheerenden Folgen der Geld-, Schulden-, Wohlfahrts- und Arbeitspolitik der Nationalsozialisten wie des Sowjetsozialismus deutlich aufgezeigt. Doch ihre Argumentation bemühte sich um Wertneutralität. Selbst wenn die vermeintlichen Ziele der Totalitären gut wären, so argumentierten sie, seien ihre Mittel dazu ungeeignet. Lange hatten Vertreter der Österreichischen Schule vergeblich versucht, das Geldchaos in Ordnung zu bringen – wie die Weimarer Republik deutlich gezeigt hatte, bildet eine zerstörte Währung den besten Nährboden für totalitäre Strömungen. Doch ideologische und pragmatische Interessen vereitelten dies. Die unglaublichen Mittel für die Kriegsführung und die Ausweitung des Staates wurden einer ökonomisch ahnungslosen Bevölkerung großteils hinterrücks abgeknöpft. Ökonomische Aufklärung hätte diese Zwecke hintertrieben und musste als Hochverrat erscheinen.

In einem Zeitalter wildgewordener Ideologien, der Politisierung und Polarisierung der Gesellschaft, wurde die Ökonomie zunehmend zur Politik. So wird die Austrian School in den USA auch heute oft politisch gedeutet und in eine ideologische Schublade gesteckt. Insbesondere ein Vertreter dieser Schule weckt auch in Europa starke ideologische Assoziationen: Friedrich August von Hayek, jener Schüler von Ludwig von Mises, der 1974 den Preis der Schwedischen Reichsbank erhielt, der gegen den Willen Alfred Nobels und dessen Erben als »Nobelpreis« für Ökonomie ausgegeben wird. Hayek gilt heute als Inbegriff des Neoliberalen. Er merkte selbst einmal an, dass er sich den Ruf ruiniert habe, indem er es wagte, ein verständliches Buch für normale Menschen zu schreiben, das sich in die politische Debatte seiner Zeit einmischte. Sein Werk Der Weg zur Knechtschaft (The Road to Serfdom) wurde zum Bestseller und findet sich auch gegenwärtig in den Vereinigten Staaten wieder ganz oben in den Verkaufslisten. Darin warnte Hayek davor, zu glauben, nach dem Untergang des Sozialismus stelle der westliche Weg der Sozialdemokratien das Ende der Geschichte dar und verheiße ewige Freiheit. Der nächste Totalitarismus könne, so Hayek, unbemerkt und schrittweise kommen.

Es ist eine Geißel unserer Tage, stets zu politisieren, ohne sich die Zeit zu nehmen, den Dingen auf den Grund zu gehen. Zu Hayek und seinem vermeintlichen »Neoliberalismus« werden wir noch früh genug kommen. Zunächst wollen wir die Tradition verstehen, der er entstammte und von der er sich ein wenig löste. Dabei lässt sich zugleich auch ihr Gegenstand besser verstehen: das Wirtschaften, das Zusammenleben, das Handeln der Menschen. Es war ja auch zunächst kein politischer Streit, der zur Entstehung der Österreichischen Schule führte, sondern ein Streit um die richtige Methode der Ökonomie. Damals wie heute stand die dominante Methode, wirtschaftliche Phänomene zu untersuchen, im Kreuzfeuer der Kritik. Es ist überraschend, was sich letztlich durchsetzte. Noch mehr überrascht, wie sehr sich die Geschichte wiederholt, wenn man aus ihr nicht zu lernen vermag.

Die Klassiker

Jene Ökonomie, die damals schon so klassisch war, dass man von ihr bis heute als der Klassik spricht, stammte aus Großbritannien. Adam Smith war ihr bekanntester Vertreter. Doch in der Wissenschaft spricht es nicht immer für einen Denker, wenn er besonders berühmt ist. Berühmt können Wissenschaftler werden, wenn ihre Thesen besonders gut dem Zeitgeist entsprechen oder bestimmten Interessengruppen besonders nützlich sind. Originell sind bei Adam Smith nur seine Irrtümer, ansonsten war er ein nicht sehr systematischer Zusammenfasser von Ideen, die andere vor ihm bereits klarer ausgedrückt hatten. Systematik brachte erst David Ricardo, doch es war die falsche Systematik eines konstruierten Systems. Mit Ricardo begann die Klassik, das ökonomische Denken von konkreten Phänomenen und den dahinter stehenden realen Menschen hin zu Mutmaßungen über abstrakte Größen zu verschieben. Plötzlich war von einem »Nationaleinkommen«, vom »Preisniveau«, von »Profitraten« die Rede. »Kapital« und »Arbeit« standen sich als große Begriffe gegenüber, die eine Summe gleichartiger und auswechselbarer Geldscheine und Köpfe bezeichneten. Von dieser Ökonomie war es nicht weit zum pauschalen Denken in gesellschaftlichen Klassen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen, weil ihre kollektiven »nationalökonomischen« Interessen jeweils auf Kosten der anderen gehen.

Früh gab es Kritik an dieser neuen Ökonomie; die Motive für diese Kritik waren jedoch sehr unterschiedlich. Wesentlicher als die wissenschaftliche Kritik blieb stets die ideologische. Vielen waren die marktwirtschaftlichen Schlüsse der Klassiker ein Dorn im Auge. Die Rezepte zur Erhöhung des »nationalen Wohlstands« stießen auf Missfallen. Insbesondere die Großgrundbesitzer wehrten sich gegen die Aufhebung der Getreidezölle, deren negative Folgen die klassischen Ökonomen aufgezeigt hatten. Die Argumentation, die sich auf ökonomische Gesetze bezog, stieß auf harten Widerstand. Ökonomie wurde die dismal science getauft, die »ungute Wissenschaft« im Gegensatz zur gay science, zur »heiteren Wissenschaft« der Poesie. Tatsächlich wollten die Ökonomen ja auch keine Heldengesänge anstimmen, sondern widmeten sich harten Fakten. Leider überschätzten sich die klassischen Ökonomen dabei selbst. Da komplexe Phänomene selten messbare »harte Fakten« aufweisen und keine zahlenmäßigen Gesetze zulassen, stellte sich die reale Welt als zu unhandlich für die Werkzeuge der neuen Ökonomie dar. So gingen die klassischen Ökonomen dazu über, eine Scheinwelt zu erdenken, die aus »makroökonomischen« Faktoren bestand und sich wesentlich einfacher und eindrücklicher beschreiben ließ.

Als Reaktion auf diese sehr künstlich erscheinende »Makroökonomie« entstand letztlich die Historische Schule. Ihre Kritik an der klassischen Ökonomie war durchaus berechtigt. Die deutschen Ökonomen wandten ein, dass sich die angeblichen ökonomischen Gesetze doch bloß auf die Scheinwelt künstlicher Annahmen beziehen. In Wirklichkeit sei jede Beobachtung wirtschaftlicher Phänomene doch nur ein Zeitdokument. Keine daraus gewonnene Gesetzmäßigkeit könne universelle Gültigkeit beanspruchen. Die Historische Schule ging in ihrer Ablehnung ökonomischer Gesetze jedoch eine Spur zu weit, und sie begann jegliche Gesetzmäßigkeit und damit jegliche Möglichkeit ökonomischer Theorie zu leugnen. Das kam in Deutschland wie schon zuvor in Großbritannien und Frankreich den Machthabern und Interessengruppen gelegen, die den Menschen für ihre Experimente missbrauchen wollten. So wurden einige der jüngeren Vertreter dieser Schule von »unguten Ökonomen« wieder zu »heiteren Poeten«, die den Ruhm der Hohenzoller besangen, denen eine preußische Kameralistik oder Policeywissenschaft zu dienen habe – so die alten deutschen Begriffe für diese theorielose, vermeintlich »praktische« Ökonomie.

Carl Menger trat eigentlich in die Fußstapfen der älteren Historischen Schule. Er lernte nicht nur von den Klassikern, sondern bezog sich auf zahlreiche deutsche Ökonomen. Sein Hauptwerk widmete er gar Wilhelm Roscher, einem bedeutenden Vertreter der Historischen Schule. Menger wollte den Historikern mit etwas Theorie unter die Arme greifen. Er hatte erkannt, dass Geschichte ohne Theorie unmöglich ist. Ohne Theorie hat man es bloß mit einer Fülle leerer Fakten zu tun, die man nicht zu deuten vermag. Was bringt das Dokumentieren von Preisen, wenn man noch gar nicht wirklich versteht, was Preise sind, wie sie entstehen, was sie ausdrücken. In der Preistheorie und Werttheorie taten sich auch die größten Lücken der klassischen Theorie auf. Menger wollte zunächst bloß diese Lücken schließen.

Die Realitätsferne der Klassik und die Theorieferne der Historischen Schule ließen ihm keine andere Wahl, als eine eigene Schule zu begründen. Seine Betonung, dass Theorie wichtig sei und es in der Ökonomie Gesetzmäßigkeiten gebe, an die sich auch die Politik zu halten habe, trug ihm den Vorwurf ein, doch bloß ein Klassiker zu sein. Bis heute wird die Österreichische Schule oft der sogenannten Neoklassik zugeordnet. In Wirklichkeit nahm die Österreichische Schule eigentlich eine Position in der Mitte ein: Sie sucht zwar nach ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, lehnt aber die künstliche Theorie streng ab, die von einem homo oeconomicus ausgeht. Damit bezeichnet man jenes Modell eines Scheinmenschen, der sich genauso verhält, wie es den klassischen Ökonomen gefällt.

WERTE UND KOSTEN

Objektive Wertlehren

Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Krakau, seinerzeit zur k. u. k. Monarchie gehörend, war Carl Menger nach Wien gegangen. In der österreichischen Hauptstadt schlug er sich zunächst als Journalist durch. Eine seiner Aufgaben bestand darin, das Geschehen an der Wiener Börse zu kommentieren. Vermutlich erkannte Menger hier, dass die herrschende Preistheorie nichts mit der Realität zu tun hatte. Die klassischen Ökonomen hatten vergeblich versucht, Preise »objektiv« zu erklären, das heißt als Folge anderer Faktoren. Preise sind die wohl offensichtlichsten Fakten der Wirtschaft, daher dokumentieren Ökonomen sie mit großer Leidenschaft. Wie die Messwerte der Ingenieure lassen sich Preise sammeln, in umfangreichen Tabellen ordnen und für Berechnungen nutzen.

Wenn wir einen Händler fragen, warum er für ein von ihm angebotenes Gut einen bestimmten Preis verlangt, wird er vermutlich auf seinen Einkaufspreis und seine Kosten hinweisen. Daher war es für die klassischen Ökonomen naheliegend, Preise durch die darin enthaltenen Kosten zu erklären. Doch die Kosten drücken sich für den Händler selbst wieder in Preisen aus, die er zu zahlen hat. Wo endet diese Kette?

Carl Menger lebte bereits im Zeitalter moderner Blasenwirtschaft. Die Börse hielt sich nicht an die Wünsche der Ökonomen oder Politiker. Steigt eine Aktie, weil ihre »Kosten« steigen? Dies ist offensichtlich Unfug. Die klassischen Ökonomen hätten hier eingewandt, dass die Dinge eben nicht immer so viel kosten, wie sie wert sind. Dies führt uns zu der mindestens so schwierigen Frage, wie es dazu kommt, dass eine Sache einen größeren Wert aufweist als eine andere.

Die Klassiker David Ricardo und Adam Smith gaben folgende Antwort: Den objektiven Hintergrund aller Kosten und Werte bilde die dafür aufgewandte Arbeit. Dieser Gedanke ist naheliegend und durchaus eine mögliche Antwort auf die Frage: Wenn es kein Geld gäbe, was wäre dann der Wertmaßstab? Eine Stunde Arbeit klingt nach einem vernünftigen Vorschlag, denn nahezu jeder scheint dazu fähig, sie aufzubringen. Arbeit kennt jeder aus eigener Erfahrung: Das ist doch, was man tut, um das Geld zu verdienen, mit dem man einkaufen geht. Lässt man das Geld unberücksichtigt, so müsste sich also die Arbeit direkt in die eingekauften Güter übersetzen. Der Gedanke ist jedoch verkehrt; die Denker der Österreichischen Schule haben diese Argumentation mit einiger Mühe vom Kopf wieder auf die Füße gestellt. Wäre Arbeit wirklich der Wertmaßstab, dann würde mehr Arbeit eine Sache wertvoller machen. Das erinnert ein wenig an den Schüler, der beim Lehrer Einspruch gegen seine schlechte Note erhebt, weil er sich viel länger auf die Prüfung vorbereitet habe als andere. Eugen Böhm von Bawerk, ein Schüler von Carl Menger, brachte das Beispiel, dass guter Wein, der in Fässern reift, ganz ohne weitere Arbeit mit den Jahren im Wert steigt. Ist dieser Mehrwert ungerecht, nur reine Einbildung? Verliert ein Produkt an Wert, wenn der Produzent schneller oder weniger hart arbeitet, weil er über mehr Übung oder Routine verfügt?

Karl Marx versuchte die Arbeitswertlehre zu retten, denn er erkannte darin eine der wichtigsten Zutaten seiner Ideologie. Wenn aller Wert aus der Arbeit entstünde, folgerte er, müsste auch aller Wert dem Arbeiter zustehen. Jeglicher Mehrwert, der dem Sparer, dem Geduldigen, dem Unternehmer, dem Ideengeber zufällt, wäre ungerecht. Marx’ Rettungsversuch besteht darin, den Wert über die im Durchschnitt gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit zu erklären. Doch auch der Behelf der Statistik kann diese Lehre nicht retten. Selbst wenn die marxistischen Kontrolleure überall ihre Augen hätten, um solche Durchschnittswerte zu ermitteln, wie sollten diese die Grundlage menschlichen Handelns bilden? Wir müssten dann stets bei der Zentrale nachfragen, wie hoch wir die Dinge und Leistungen um uns zu bewerten haben.

Wasser und Diamanten

Betrachten wir ein anderes Beispiel, um den Fehler der Arbeitswertlehre zu verstehen. Wenn wir Minenarbeiter nach dem Wert ihrer Ausbeute fragen, dann werden sie uns versichern, dass der hohe Wert eines Diamanten eben darin besteht, dass sie dafür dieser gefährlichen und harten Arbeit nachgehen müssen. Weil das Auffinden eines Diamanten so schwierig sei und nur so wenige diese Kunst beherrschen, deshalb seien Diamanten teuer und dem edlen Schmuck vorbehalten. Doch sind Diamanten wirklich wertvoll, weil wir nach ihnen schürfen? Würden sie wertlos, wenn wir nicht mehr nach ihnen graben müssten? Sind die kostenlosen Güter im Schlaraffenland ohne jeden Wert?

Die Diamantenschürfer denken und argumentieren verkehrt. Sie haben schließlich auch ein Interesse daran, dass der Wert des Diamanten quasi den Wert ihrer Arbeit widerspiegelt. In Wirklichkeit jedoch ist das Argument wie folgt vom Kopf auf die Füße zu stellen: Diamanten sind nicht deshalb wertvoll, weil Menschen nach ihnen graben. Menschen graben nach Diamanten, weil sie wertvoll sind. Es gibt unzählige seltene, kuriose, nur unter Lebensgefahr zu erringende Dinge, mit denen niemand seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Warum sollte die nötige Arbeit ein objektiverer Maßstab sein als andere? Durchaus lässt sich auch viel Arbeit aufbringen, ohne irgendeinen Wert zu schaffen.

Zunächst wollen wir sehen, wie Carl Menger und mit ihm die Österreichische Schule die naheliegende Frage erklärte: Warum haben denn Diamanten einen Wert? Der Leser mag amüsiert den Kopf schütteln, aber diese Frage hat die Ökonomen tatsächlich jahrhundertelang in Bann gehalten. Es ist im Nachhinein erstaunlich, dass sie erst so spät befriedigend gelöst werden konnte. Manche Irrtümer sind eben sehr hartnäckig, besonders wenn wir sie gerne aufrechterhalten, weil sie in unserem Interesse liegen. Die Ökonomen sprachen sogar von einem Paradoxon, so rätselhaft war ihnen das Problem: Nahezu jeder Mensch würde versichern, dass Wasser eines der wertvollsten Güter sei. Und dennoch zieht fast jeder Mensch einen Diamanten einem Glas Wasser vor, wenn man ihn vor die Wahl stellt. Für die Moralphilosophen war das ein Hinweis auf den verdorbenen Charakter der Menschen: Es stehe objektiv doch fest, dass Diamanten im Vergleich zu Wasser vollkommen wertlos und entbehrlich seien, und dennoch würden sich die Menschen so falsch entscheiden.

Subjektive Wertbeimessung

Carl Menger erkannte, dass jene Werte, mit denen wir in der Wirtschaft zu tun haben, etwas anderes sind als die Werte, die in Sonntagsreden beschworen werden. Zur Verwirrung trägt auch bei, dass leider dasselbe Wort hier gänzlich verschiedene Aspekte bezeichnet. Als wir fragten, warum ein Diamant wertvoll sei, dann meinten wir die subjektive Wertbeimessung durch konkrete Menschen, nicht irgendwelche ewigen, universellen, objektiven Wertvorstellungen und Begrifflichkeiten. Letztere prägen zwar das Denken der Menschen, aber was wir beobachten können, ist ihr Handeln. Und dieses Handeln erfolgt durch konkrete Menschen mit ihren jeweils eigenen Gründen und Wünschen. Die Entscheidung darüber, was für die Menschen von Wert ist, treffen sie selbst. Der »Wert«, den die Ökonomie meint, ist der Ausdruck konkreter Entscheidungen. Was die Menschen zu ihren Entscheidungen bewegt, das ist in ihren Köpfen unsichtbar versteckt. Die Ökonomie im Sinne der Österreichischen Schule unterscheidet sich von der Psychologie dadurch, dass sie über die Beweggründe keine Mutmaßungen anstellt.

Menger warnte vor schlampigem Denken: Niemals können wir auf der Grundlage von »Wasser« an sich handeln. Es sind stets konkrete Gütereinheiten, zwischen denen wir zu entscheiden haben. Wasser mag uns als abstraktes Konzept unendlich wertvoll sein. In der Realität ist das allenfalls beim ersten Glas Wasser in der Wüste der Fall, das uns vor dem Verdursten bewahrt. Dem zweiten Glas kommt schon ein geringerer Wert zu. Für uns in unserer komfortablen Welt ist das Glas Wasser aus der Wasserleitung bloß ein Glas zusätzlich zu einem unerschöpflichen Reservoir – wir haben ja selbst eine Leitung zu Hause. Der Diamant hingegen, der uns angeboten würde, wäre in den meisten Fällen der allererste Diamant für uns.

Doch weshalb ist ein Diamant wertvoll für uns? Vielleicht haben wir selbst gar keine Verwendung für ihn. Wir ahnen aber, dass es andere Menschen gibt, für die der funkelnde Stein einen so hohen Wert darstellt, dass sie uns allerlei dafür anbieten würden, das für uns wiederum von größerem Wert wäre. Für die meisten Menschen besitzt der Diamant also bloß einen Tauschwert. Einen solchen kann er aber nur haben, wenn er wirklich für andere einen besonders hohen Gebrauchswert aufweist. Wieder stehen wir am Anfang unserer Frage. Der gute Wissenschaftler hört wie ein neugieriges Kind nicht auf damit, »Warum?« zu fragen.

Entscheidung für bestimmte Güter

Warum haben also bestimmte Dinge für Menschen einen Wert und andere nicht? Der Ökonom spricht von Gütern: Das sind Dinge und Dienste, für die wir uns entscheiden, auch wenn wir etwas anderes für sie aufgeben müssen. Carl Menger formulierte vier Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit wir uns für bestimmte Güter entscheiden: An erster Stelle steht ein reales, persönliches Ziel, das wir verfolgen, etwa unseren Hunger zu stillen. Zweitens muss die betrachtete Sache geeignet sein, uns bei der Erreichung dieses Ziels zu helfen. Drittens müssen wir das auch wissen. Viertens muss die Sache verfügbar sein. Diamanten sind wertvoll, weil sie für manche Menschen taugliche und bekannte Hilfsmittel sind, Ziele zu erreichen, die sie sehr hoch bewerten. Wir mögen den Kopf darüber schütteln, doch zum Glück wird in einer Gesellschaft der Wert der Dinge nicht von denjenigen bestimmt, denen sie gar nichts bedeuten. Die Dinge finden so den Weg zu jenen, für die sie besonders wertvoll sind, was eigentlich eine wunderbare Sache ist.

Grenznutzen

Ist es also ihre Seltenheit, die Diamanten so wertvoll macht? Der Zusammenhang ist nicht so einfach, wie er scheint. Knappe Güter werden nicht automatisch hoch bewertet, bloß weil sie knapp sind. Entscheidend ist die Knappheit im Bezug zu den menschlichen Zielen. Knappe Güter sind nur dafür ausreichend, die am höchsten bewerteten Ziele anzustreben. Je nachdem, wie hoch das letzte noch mit dem knappen Gut erreichbare Ziel von unseren Mitmenschen bewertet wird, desto höher ist der Tauschwert einer Sache. Ein einfaches Beispiel illustriert diesen Zusammenhang, bei dem es sich um eines der wenigen echten ökonomischen Gesetze handelt.

Ein Bauer erntet vier große Säcke Getreide. Wenn er in einem Jahr nur einen Sack geerntet hätte, würde er diesen verwenden, um daraus das tägliche Brot für seine Familie zu produzieren. Das ist seine höchste Priorität, ohne diesen Sack leiden er und seine Familie Hunger. Den zweiten Sack, den seine Ernte einbringt, wird er verwenden, um ihn im nächsten Jahr als Saatgut zu verwenden. Das ist seine zweite Priorität: auch im nächsten Jahr keinen Hunger zu leiden. Den dritten Sack kann er verwenden, um seine Tiere zu füttern und so seinen Speiseplan ein wenig zu erweitern. Der vierte Sack bleibt für Luxusgenüsse übrig: Der Bauer könnte damit etwa Bier brauen.

Welchen Wert hat nun ein Sack Getreide? Für andere klar erkennbar wird die Bewertung des Bauern dann, wenn er einen Sack für anderes aufgibt, das ihm wertvoller erscheint. Ist er über den Tausch mit anderen Menschen verbunden, so sind seine Wünsche und Ziele ein kleines Element der gesellschaftlichen Wertbildung. Wenn der Bauer einen Sack aufgibt, so wird es stets der zuletzt aufgeführte sein. Damit ist nicht exakt dieser Sack gemeint, sondern ein Sack unter der Bedingung, dass für die Abdeckung der drei höheren Prioritäten genügend Getreide zur Verfügung steht. Für den, der diesen Sack im Tausch erhält, wird es hingegen vermutlich der erste Sack sein. Diesen bewertet er nach dem am höchsten bewerteten Ziel, zu dem ihm das Getreide dient.

Der Wert eines Gutes bemisst sich also nach der zuerst aufgegebenen oder zuletzt hinzugekommenen Einheit dieses Gutes. Die Ökonomen sprechen dabei vom Grenznutzen. »Nutzen« bedeutet die Eignung eines Gutes, beim Erreichen unserer Ziele zu helfen. Für unsere Entscheidungen relevant ist der Nutzen, der an der »Grenze« unseres Handelns auftritt. Gemeint sind damit die Situationen, in denen wir gerade an der Kippe stehen, etwas herzugeben oder in Anspruch zu nehmen. Es handelt sich um die »Grenze«, die entlang der konkreten Gütereinheiten verläuft, die wir gerade angeboten bekommen oder bereit sind herzugeben.

Carl Menger war nicht der Erste, der den Wert der Güter erklären konnte. Vor ihm hatten schon zahlreiche Denker ähnliche Ansätze verfolgt, die jedoch immer wieder in Vergessenheit geraten waren oder verdrängt wurden. Einige wichtige deutsche Vorläufer von Menger seien erwähnt, um nicht den Eindruck zu erwecken, nur Österreicher seien zur Ökonomie befähigt: Johannes Nider, ein Schwabe, der bereits am Anfang des 15. Jahrhunderts (!) an der Universität von Wien wirkte, war schon fast so weit gelangt wie Menger. Dasselbe gilt für Gottlieb Hufeland, der Anfang des 19. Jahrhunderts an der Universität Halle lehrte. Der unmittelbarste Vorläufer Mengers schließlich war der Preuße Hermann Heinrich Gossen, der 1854 sein Werk Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln veröffentlichte.

Subjektivistische Wertlehre

Den Erklärungsansatz von Carl Menger nennt man subjektivistische Wertlehre. Um einer Begriffsverwirrung vorzubeugen: Diese Wertlehre ist nicht »subjektiv«, sondern stellt eine objektive Beschreibung der Realität durch die Handlungen einzelner Wirtschaftssubjekte dar. Die subjektiven Ziele verschiedener Menschen und ihr subjektiver Wissensstand spielen dabei die größte Rolle. Wirtschaft wird so als ein dynamischer Prozess von Entdeckungen und Entscheidungen verstanden. Was morgen den Menschen etwas wert sein wird, lässt sich nicht mit Sicherheit vorhersagen. Irrige Ziele, Illusionen über die Tauglichkeit von Gütern, Irrtümer und Wissenslücken können Werte und damit letztlich auch Preise bestimmen. Doch niemand kann es besser wissen als die handelnden Menschen selbst; um ihre Ziele und ihr Wissen geht es schließlich.

Präferenzen

Ein Börsenkurs wird nicht durch seine Vergangenheit bestimmt, so wenig wie ein Preis durch die Produktionskosten bestimmt wird. Entscheidend ist die Zahlungsbereitschaft und damit Bewertung der Käufer. Diese Bewertung richtet sich stets auf die Zukunft, auf ein unerreichtes Ziel und eine ungewisse Entscheidung über knappe Mittel. So wie Börsenkurse Erwartungen abbilden, tun das auch die unzähligen anderen Bewertungen der Menschen. Menschen sind in ihrem Handeln zum Glück nicht vollkommen durch ihre Vergangenheit bestimmt, sondern handeln auf eine ungewisse Zukunft hin.