Fabelhafte Rebellen - Andrea Wulf - E-Book
SONDERANGEBOT

Fabelhafte Rebellen E-Book

Andrea Wulf

0,0
22,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der neue Bestseller von Andrea Wulf - »›Fabelhafte Rebellen‹« ist eine Möglichkeit, die deutsche Geistesgeschichte zum Tanzen zu bringen, sie für sich persönlich zu entdecken und unglaublich viel für das eigene Leben zu lernen.« Denis Scheck

Seit wann genau kreist unser Denken und Handeln um uns selbst, um unser Ich? Seit wann erwarten wir, dass wir allein über unser Leben bestimmen?

Ende der 1790er Jahre – als die meisten Staaten in Europa noch im eisernen Griff absolutistischer Herrscher waren – galt die Idee vom freien Individuum als brandgefährlich. Und doch wagte zu dieser Zeit eine Gruppe von Denkern in der kleinen Universitätsstadt Jena, das Ich in den Mittelpunkt ihres Denkens, Schreibens und Lebens zu stellen. Zu diesen fabelhaften Rebellen gehörten die Dichter Goethe, Schiller und Novalis, die Philosophen Fichte, Schelling und Hegel, die genialen Schlegel-Brüder sowie der junge Wissenschaftler Alexander von Humboldt und ihre Muse, die mutige und freigeistige Caroline Schlegel.

Während die Französische Revolution die politische Landschaft Europas veränderte, entfachten diese jungen Romantiker in Jena eine Revolution des Geistes. Ihr Leben bewegte sich zwischen wortreichen Auseinandersetzungen, aufsehenerregenden Skandalen, leidenschaftlichen Liebesaffären und vor allem radikalen Ideen. Ihre Gedanken über die kreative Macht des Ich, den Anspruch von Kunst und Wissenschaft, die Einheit von Mensch und Natur und die wahre Bedeutung von Freiheit sollten nicht nur das Werk vieler Maler, Dichter und Musiker beeinflussen, sondern prägend werden für unser Naturverständnis, unsere Gesellschaftsentwürfe und unsere Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben.

In ihrem inspirierenden Buch erzählt Bestsellerautorin Andrea Wulf deswegen nicht nur von dem wohl turbulentesten Freundeskreis der deutschen Geistesgeschichte, sondern erklärt auch, warum wir bis heute zwischen den Gefahren der starken Ichbezogenheit und den aufregenden Möglichkeiten des freien Willens schwanken. Denn die Entscheidung zwischen persönlicher Erfüllung und zerstörerischem Egoismus, zwischen den Rechten des Einzelnen und unserer Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft und künftigen Generationen ist heute so schwierig wie damals.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 917

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Seit wann genau kreist unser Denken und Handeln um uns selbst, um unser Ich? Seit wann erwarten wir, dass wir allein über unser Leben bestimmen?

Ende der 1790er Jahre – als die meisten Staaten in Europa noch im eisernen Griff absolutistischer Herrscher waren – galt die Idee vom freien Individuum als brandgefährlich. Und doch wagte zu dieser Zeit eine Gruppe von Denkern in der kleinen Universitätsstadt Jena, das Ich in den Mittelpunkt ihres Denkens, Schreibens und Lebens zu stellen. Zu diesen fabelhaften Rebellen gehörten die Dichter Goethe, Schiller und Novalis, die Philosophen Fichte, Schelling und Hegel, die genialen Schlegel-Brüder sowie der junge Wissenschaftler Alexander von Humboldt und ihre Muse, die mutige und freigeistige Caroline Schlegel.

Während die Französische Revolution die politische Landschaft Europas veränderte, entfachten diese jungen Romantiker in Jena eine Revolution des Geistes. Ihr Leben bewegte sich zwischen wortreichen Auseinandersetzungen, turbulenten Skandalen, leidenschaftlichen Liebesaffären und vor allem radikalen Ideen. Ihre Gedanken über die kreative Macht des Ich, den Anspruch von Kunst und Wissenschaft, die Einheit von Mensch und Natur und die wahre Bedeutung von Freiheit sollten nicht nur das Werk vieler Maler, Dichter und Musiker beeinflussen, sondern prägend werden für unser Naturverständnis, unsere Gesellschaftsentwürfe und unsere Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben.

In ihrem inspirierenden Buch erzählt Bestsellerautorin Andrea Wulf deswegen nicht nur von dem wohl umtriebigsten Freundeskreis der deutschen Geistesgeschichte, sondern erklärt auch, warum wir bis heute zwischen den Gefahren der starken Ichbezogenheit und den aufregenden Möglichkeiten des freien Willens schwanken. Denn die Entscheidung zwischen persönlicher Erfüllung und zerstörerischem Egoismus, zwischen den Rechten des Einzelnen und unserer Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft und künftigen Generationen ist heute so schwierig wie damals.

Andrea Wulf, geboren in Indien und aufgewachsen in Deutschland, lebt in London. Als Autorin wurde sie mit einer Vielzahl internationaler Preise ausgezeichnet, vor allem für ihren Weltbestseller »Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur« (2016), der in 27 Sprachen übersetzt wurde und 2016 den Bayerischen Buchpreis bekam. Bei C.Bertelsmann, sind von ihr außerdem erschienen »Die Vermessung des Himmels. Vom größten Wissenschaftsabenteuer des 18. Jahrhunderts« (2012/2017) und »Die Abenteuer des Alexander von Humboldt. Eine Entdeckungsreise« (2019). Sie schreibt u. a. für die New York Times, die LA Times, das Wall Street Journal, The Atlantic und den Guardian. Sie ist Mitglied des PEN American Center und ein Fellow der Royal Society of Literature. www.andreawulf.com

www.cbertelsmann.de

Andrea Wulf

Fabelhafte Rebellen

Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe ist 2022 unter dem Titel Magnificent Rebels: The First Romantics and the Invention of the Self bei John Murray in London erschienen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2022 by Andrea Wulf

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

C.Bertelsmann in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Karten: Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

Umschlagabbildungen: (von links nach rechts)

Novalis: © akg-images

Caroline Schlegel: © public domain sourced/access rights from The Picture Art Collection/Alamy Stock Photo

August Wilhelm Schlegel: © akg-images

Schelling: © akg-images

Hintergrund (Vorderseite) Markt Jena: © akg-images

Hintergrund (Rückseite) Landschaft bei Jena: © Bridgeman

Rücken Feder: © akg-images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-25252-6V005www.cbertelsmann.de

Für Saskia, mein »mothership«.

Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem was dich umgiebt, ab, und in dein Inneres – ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling thut. Es ist von nichts, was ausser dir ist, die Rede, sondern lediglich, von dir selbst.

Johann Gottlieb Fichte

Woher entlehn ich meine Begriffe? – nothwendig ich – nothwendig von mir. Ich bin für mich der Grund alles Denkens.

Novalis

Ich bin gewiß um so glücklicher, je freyer ich mich weiß.

Caroline Schlegel-Schelling

Inhalt

Karte: Frieden von Basel

Karte: Jena

Prolog

TEIL I ANKUNFT

1 »Ein glückliches Ereignis« Sommer 1794: Goethe und Schiller

2 »Ich bin ein Priester der Wahrheit«Sommer 1794: Fichtes Ich-Philosophie

3 »Die besten Köpfe der Nation«Winter 1794 – Frühjahr 1795: Alle Wege führen nach Jena

4 »Wo wir uns durch eine Geistesreibung elektrisierten«1795–1796: Liebe, Leben, Literatur

5 »Die Filosofie ist ursprünglich ein Gefühl«Sommer 1796: Verliebter Novalis

6 »Unser prächtiger Kreis«Sommer – Winter 1796: Die Schlegels treffen ein

TEIL II EXPERIMENTE

7 »Unsere kleine Akademie«Frühjahr 1797: Goethe und Alexander von Humboldt

8 »Greift doch eine Handvoll Finsterniß«Sommer – Winter 1797: Novalis’ Todeswunsch

9 »Erhabne Frechheit«Winter 1797 – Frühjahr 1798: Die Morgendämmerung der Romantik

10 »Symphilosophie«Sommer 1798: Eine Auszeit in Dresden und Schellings Ankunft

TEIL III VERBINDUNGEN

11 »Eins zu sein mit allem, was lebt«Herbst 1798 – Frühjahr 1799: Schellings Naturphilosophie

12 »Götzendiener, Atheisten, Lügner«1799: Skandale, Teil 1 – Fichtes Entlassung

13 »Man verliert sich in einem Schwindel«1799: Skandale, Teil 2 – Scheidung, Frauen und Sex

14 »Die Schlegelsche Clique«Herbst 1799: Arbeit und Vergnügen

15 »Der feierliche Ruf zu einer neuen Urversammlung«November 1799: Ein Treffen in der Leutragasse

TEIL IV ZERSPLITTERUNG

16 »Eine Republik von lauter Despoten«Winter 1799 – Sommer 1800: Entfremdungen

17 »O welch ein schwarzer Nebel«Sommer 1800 – Frühjahr 1801: Die Finsternis bricht an

18 »Wenn Philosophen wie ausgehungerte Ratten sich einander selber auffressen«Frühjahr 1801 – Frühjahr 1803: Trennungen

19 »Gegenwärtige Auswanderungen«1804–1805: Jena verstummt

20 »Die Franzosen sind in der Stadt!«Oktober 1806: Die Schlacht bei Jena

Epilog

ANHANG

Dank

Anmerkungen

Literatur und Quellen

Bildteil

Bildnachweis

Register

Prolog

Mein ganzes Leben lang habe ich die Dinge falsch herum gemacht. Vielleicht habe ich aber auch alles richtig gemacht. Oder ich habe einfach nur den unkonventionellen Weg genommen. Aus Protest gegen meine klugen, liberalen, liebevollen und akademischen Eltern habe ich mich jedenfalls geweigert zu studieren und stattdessen in Restaurants und Bars gearbeitet. Das hieß aber nicht, dass ich mich nicht weiterbildete. Ich habe gelesen. Vor allem Belletristik und Philosophie. Ich war eine unersättliche Leserin, aber ich wollte selbst entscheiden, was ich las, und keinem universitären Lehrplan folgen. Ich habe auch eine Lehre als Malerin und Dekorateurin begonnen, war Museumsführerin und habe ein Praktikum am Theater gemacht. Mit dem unerträglichen Selbstbewusstsein jugendlicher Selbstsucht sah ich die Welt nur aus meiner eigenen – zugegebenermaßen engen – Perspektive.

Was war falsch daran, den ganzen Tag zu lesen? Meine Meinung zu ändern? Die ganze Nacht zu tanzen? Ich war schnell verliebt und genauso schnell wieder entliebt. Mit zweiundzwanzig Jahren bekam ich eine Tochter. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich vielleicht nicht ewig in Restaurants und Bars arbeiten konnte, und ich fing an zu studieren. Spaß machten mir allerdings nur die Philosophieseminare. Sie waren wie ein Strudel, der mich in eine berauschende Welt des Denkens hineinzog. Mir war, als hätte ich die Antworten auf die grundlegenden Fragen des Lebens entdeckt: Was ist das Böse? Was heißt es, gut zu sein? Wer sind wir? Warum sind wir? Heute, dreißig Jahre später, kann ich mich kaum noch daran erinnern, was ich gelesen habe, aber die Bücher und die Diskussionen mit meinen Professoren und Kommilitonen gaben mir das Rüstzeug zum Denken und Hinterfragen. Und ich fing an, Geschichte nicht mehr als eine Abfolge von Ereignissen und Daten zu sehen, die wie Perlen an einer Schnur aufgereiht sind, sondern als ein zusammenhängendes Netz. Ich begann, die Gegenwart aus der Perspektive der Vergangenheit zu betrachten.

Ich nahm das Leben jetzt etwas ernster, traf aber weiterhin impulsive Entscheidungen. Ich fühlte mich frei und war fest entschlossen, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Vielleicht waren einige meiner Entscheidungen leichtsinnig, aber es waren eben meine Entscheidungen – zumindest dachte ich das. Heute weiß ich natürlich, dass ich mich nur deshalb so verhalten konnte, weil ich wusste, dass ich, wenn alles schiefging, immer an die Tür meiner Eltern klopfen konnte.

Schließlich hatten meine Eltern mir beigebracht, meinen Träumen zu folgen. Wie sie selbst, als sie in den 1960ern von Deutschland nach Indien zogen, um dort für den Deutschen Entwicklungsdienst zu arbeiten. Hatte die Kindheit meiner Eltern in den Luftschutzkellern des Zweiten Weltkriegs begonnen, so war meine Kindheit von den knalligen Farben Indiens geprägt. Als sie 1966 ein Flugzeug bestiegen, ließen sie ein sicheres Leben zurück. Meine Mutter gab ihren Job als Sekretärin auf und mein Vater seine Arbeit in einer Provinzbank. Sie kehrten mit zwei kleinen Kindern zurück und fingen neu an. Beide waren zu diesem Zeitpunkt Anfang dreißig und besuchten – als Erste in ihren Familien – eine Universität. Meine Mutter wurde Lehrerin und mein Vater ein renommierter Akademiker in der Friedens- und Konfliktforschung.

Als meine Tochter sechs Jahre alt war, zogen wir von Deutschland nach England. Das war eine spontane Entscheidung. Ich brach mein Studium ab, verkaufte meine wenigen Besitztümer und ging nach London. Ich war eine alleinerziehende Mutter mit einer halb abgeschlossenen Ausbildung, einem Koffer voller Bücher, ohne Einkommen und mit einem scheinbar unerschöpflichen Vorrat an Selbstvertrauen. Ich zog zu einer Freundin (der besten Art von Freundin), bewarb mich um ein Stipendium und begann (und beendete) einen neuen Masterstudiengang in London. Ich habe hart gearbeitet. Ich hatte meine Zweifel, ich machte mir Sorgen, und wir haben uns durchgeschlagen. Gerade so. Aber es war ein Leben voller Liebe, Wärme und Glück. Ich war wohl impulsiv, aber auch immer ausgesprochen gut organisiert und strukturiert. Es war keine chaotische Impulsivität, sondern eine lebensbejahende.

In England habe ich meine Stimme gefunden, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Ich fand sie in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache war. Und ich wurde Schriftstellerin. Ich war älter, aber immer noch kein bisschen weiser. Na ja, mag mancher fragen, es gibt doch sicher besser bezahlte Jobs? Ja, aber keinen, den ich so sehr liebe. An den meisten Tagen fühlt sich mein Job nicht wie Arbeit an. Ich möchte genau das tun. An jedem einzelnen Tag in meinem Leben. Schreiben. Geschichten erzählen. Versuchen, die Vergangenheit zu verstehen, damit ich etwas über die Gegenwart lernen kann. Ich habe Glück. Unglaubliches Glück. Das alles hätte auch fürchterlich schiefgehen können. Ist es aber nicht. Bis jetzt hatte ich das Privileg, mein Leben zu leben. Und ich bin mir sehr wohl bewusst, dass es vielleicht nicht immer so bleiben wird.

Es gab Zeiten, in denen mein unbändiger Drang nach Unabhängigkeit egoistisch wurde. Ich bin mir sicher, dass meine Tochter lieber nicht so oft umgezogen wäre, wie wir es getan haben. Aber trotz dieser ständigen Veränderungen hat sie sich zu einem ganz wunderbaren Menschen entwickelt. Und ich bin in der Zeit mit ihr erwachsen geworden. Dieses kleine Mädchen gab mir Halt und verwandelte meinen Wunsch nach Freiheit in etwas Größeres: das Bemühen, ein guter Mensch zu sein. Durch sie fand ich das Gleichgewicht zwischen freigeistig und verantwortungsvoll.

Wir leben in einer Welt, in der wir uns auf einem schmalen Grat zwischen freiem Willen und Egoismus, zwischen Selbstbestimmung und Narzissmus, zwischen Empathie und Ichbezogenheit bewegen. Hinter allem stehen zwei entscheidende Fragen: Wer bin ich als Individuum? Und wer bin ich als Mitglied einer Gruppe und Gesellschaft? Ich lebe in London, einer großen, schmutzigen Metropole voller Menschen, in der sich jeden Morgen Hunderttausende Pendler in die U-Bahnen zwängen, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Wenn sie sich in dieser riesigen menschlichen Welle aneinanderdrängen, teilen sie sich einen physischen Raum, befinden sich aber gleichzeitig auch in ihrer eigenen Welt. Sie starren auf ihre leuchtenden kleinen Bildschirme, lesen E-Mails, checken Social-Media-Accounts, vertreiben sich die Zeit mit Spielen oder scrollen durch Fotos. London ist eine Stadt, in der Touristen vor Big Ben oder St. Paul’s Cathedral eifrig nach dem besten Platz für das perfekte Selfie suchen. Aber es ist auch eine Stadt, in der Menschen ihr Leben riskieren, um anderen bei Messerstechereien oder Terroranschlägen zu helfen, und in der sich Menschen um ihre Nachbarn kümmern.

Wir haben mit denen, die uns regieren, einen Gesellschaftsvertrag geschlossen. Wir akzeptieren die Gesetze, die den Rahmen für die Gesellschaft bilden, in der wir leben – allerdings nicht auf Dauer. Sie sind verhandelbar. Gesetze können revidiert oder geändert werden, um sie an neue Gegebenheiten anzupassen – aber gibt es Momente, in denen ich als Einzelner oder wir als Gesellschaft gegen diese Gesetze protestieren oder sogar dagegen verstoßen sollten? Veränderungen passieren meistens schrittweise – sie werden diskutiert, verabschiedet und dann umgesetzt. Und auch wenn dieses rechtliche Gerüst oft mit jeder Menge Rückschläge, Frustrationen und Ungerechtigkeiten behaftet ist, ist es doch ein wesentlicher Bestandteil unserer demokratischen Beziehung zum Staat und zueinander. Manchmal sind die Veränderungen radikaler, manchmal sind sie nur vorübergehender Natur. In der weltweiten Pandemie zum Beispiel haben Millionen von uns zum Wohle der Allgemeinheit freiwillig auf einige ihrer Grundrechte und Freiheiten verzichtet. Monatelang sahen wir unsere Freunde und Familien nicht und befolgten drakonische Regeln, weil wir das moralisch richtig fanden. Andere taten das nicht. Sie weigerten sich, diese Beschränkungen zu befolgen, und beharrten darauf, dass ihre individuellen Freiheiten wichtiger seien.

Seit ich erwachsen bin, will ich verstehen, warum wir so sind, wie wir sind. Deshalb schreibe ich Bücher über Ereignisse der Geschichte. In meinen früheren Büchern habe ich mich mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur beschäftigt, um zu begreifen, warum wir unseren herrlichen blauen Planeten so zerstören. Aber mir ist auch klar, dass es vielleicht nicht reicht, sich nur auf die Verbindung zwischen uns und der Natur zu konzentrieren. Zuerst müssen wir uns als Individuen betrachten – wann haben wir damit angefangen, so ichbezogen zu sein, wie wir es heute sind? Seit wann wollen wir über unser Leben ganz allein bestimmen? Seit wann glauben wir, es sei unser Recht, uns zu nehmen, was wir wollen? Woher kommt das alles – wir, du, ich, unser kollektives Verhalten? Wann haben wir uns zum ersten Mal die Frage gestellt: Wie kann ich frei sein?

Bei den Recherchen zu meinem Buch Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur fand ich die Antworten auf diese Fragen im thüringischen Jena, gut zweihundertfünfzig Kilometer südwestlich von Berlin. Hier traf Humboldt im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts auf eine Gruppe von Schriftstellern, Dichtern, Literaturkritikern, Philosophen, Essayisten, Übersetzern und Dramatikern, die, berauscht von der Französischen Revolution, das Ich in den Mittelpunkt ihres Denkens stellten. In Jena prallten ihre Ideen aufeinander und verbanden sich, und die Auswirkungen waren wie ein Erdbeben, das sich über die deutschen Staaten und in die ganze Welt ausbreitete – und in unseren Köpfen.

Zu einer Zeit, als der größte Teil Europas von Monarchen und Regenten beherrscht wurde, die zahlreiche Aspekte des Lebens ihrer Untertanen kontrollierten, folgte die Gruppe der Idee des freien Ich. »Der Mensch«, rief der Philosoph Johann Gottlieb Fichte während seiner ersten Vorlesung in Jena, »soll sich selbst bestimmen und nie durch etwas fremdes sich bestimmen lassen.«1 Diese Betonung des Ich und die Bedeutung der individuellen Erfahrung wurden zum Leitmotiv der Gruppe.

Für die etwa zehn Jahre, die sie ab Mitte der 1790er Jahre in Jena zusammenlebten, wurde die kleine Stadt an der Saale zum Mittelpunkt der abendländischen Philosophie – ein kurzer Augenblick im Zeitenlauf, aber der Moment, der unser Denken von Grund auf veränderte. Außerhalb Deutschlands kennt heute kaum jemand Jena, aber was in diesen paar Jahren dort geschah, gilt auch heute noch. Wir denken mit dem Verstand dieser Menschen, sehen mit ihrer Vorstellungskraft und fühlen mit ihren Emotionen. Wir wissen es vielleicht nicht, aber ihre Art, die Welt zu begreifen, prägt nach wie vor unser Leben und unser Sein.

Zu der Gruppe gehörte auch Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling. Sie trug zwar die Namen ihres Vaters und ihrer drei Ehemänner, weigerte sich aber, die Rolle zu spielen, die für Frauen damals vorgesehen war. Caroline steht im Mittelpunkt dieser inspirierenden Geschichte.

30. März 1793. Die Kutsche blieb abrupt stehen. Soldaten umringten das Fahrzeug und einer der preußischen Offiziere trat vor. Als er die Tür öffnete, sah er eine gut gekleidete Frau mit Kind. Er fragte nach Namen und Papieren und woher sie kämen. »Aus Mainz? Böhmer?«, sagte er, als er durch die Dokumente blätterte, und mit dieser einfachen Frage war das Schicksal der jungen Frau besiegelt. Die Preußen hatten von Caroline Böhmer und ihrer Verbindung zu den französischen Revolutionären, die Mainz besetzten, gehört.2

Caroline Böhmer war empört über die Verhöre und Anschuldigungen und verweigerte jede Zusammenarbeit. Sie war so unhöflich, wie Freunde später berichteten, dass sie brüllend und protestierend nach Frankfurt eskortiert wurde, wo sie und ihre siebenjährige Tochter Auguste unter den Argusaugen von drei Wachen unter Hausarrest gestellt wurden.3 Während ihrer Befragung erklärte sie dem Beamten, der ihre Antworten aufzeichnete, sarkastisch, »er wäre ein trefflicher Redacteur, indem er Alles so schön kurz zu fassen gewußt hätte«.4

Danach hatte sie keine Chance mehr. Ihr Gepäck wurde beschlagnahmt, sie als Sympathisantin der Franzosen angeklagt und ohne Gerichtsverfahren inhaftiert. Ihr Gefängnis war die alte Festung Königstein, gut fünfzehn Kilometer nordwestlich von Frankfurt und rund dreißig Kilometer nordöstlich von Mainz. Am 8. April 1793, neun Tage nach ihrer Verhaftung, mussten sie und die kleine Auguste einem Zug von angeketteten und gefesselten deutschen Revolutionären folgen.5 Als sie Frankfurt in einer bewachten Kutsche verließen, bewarfen Umstehende sie mit faulen Eiern, Steinen und Äpfeln. Noch schlimmer erging es den männlichen Gefangenen. Sie mussten zu Fuß gehen und wurden geschlagen, bis sie bluteten.

Einige Stunden später konnte Caroline die Festung erkennen, die über den Ruinen von Königstein thronte. Die Preußen hatten die Stadt beschossen und die Franzosen vertrieben. Die Gefangenen wurden durch ein bogenförmiges Tor in den schattigen Innenhof der Festung getrieben.6 Es war ein beängstigender Anblick und ganz sicher kein Ort für ein Kind. Kein Sonnenstrahl berührte die kalten Steine, und das Klappern von Eisenschlössern und die Stiefelschritte der Wachen hallten in den Gängen wider. Hin und wieder war ein entferntes Stöhnen zu hören. Schließlich wurden Caroline und Auguste zusammen mit einigen anderen Frauen in einen dunklen, schmutzigen Raum geschoben. Hier gab es nur ein paar dreckige Strohmatratzen, grobe Holzbänke und einen Bottich mit trübem Wasser. Die Luft roch abgestanden, die Wände waren feucht. In den folgenden Tagen und Wochen aßen sie mit den Händen Kartoffeln und schöpften mit Bechern Wasser aus dem Bottich. Schon bald wimmelte es in ihren Kleidern und Haaren von Ungeziefer.

Das Gefängnis stand in krassem Gegensatz zu Carolines gewohntem Leben. Sie war die Tochter eines berühmten Professors an der Universität Göttingen – und ihr Vater, ein renommierter Orientalist und Theologe, war für seinen Witz und seine groben Scherze ebenso bekannt wie für seine Gelehrsamkeit.7 Die Familie lebte in einem großen und eleganten Stadthaus im Zentrum von Göttingen, in dem unter anderem Goethe und der amerikanische Revolutionär Benjamin Franklin zu Gast waren,8 aber auch viele Studenten, die die Vorlesungen des Vaters im Hörsaal im ersten Stock besuchten.

Caroline wuchs auf umgeben von Büchern, Wissen und geistvollen Gesprächen. Die Bibliothek der Universität stand ihr zur Verfügung, und Privatlehrer sorgten für ihre umfassende Bildung. Sie lernte leicht, sprach mehrere Sprachen fließend, und im Gegensatz zu den meisten gebildeten Frauen ihres Alters war ihre Rechtschreibung so akkurat wie die jedes schreibkundigen Mannes. Sie war selbstbewusst, furchtlos und dafür bekannt, »ein wenig wild« zu sein.9 Schon als Fünfzehnjährige erklärte sie: »Ich schmeichle niemals, ich sage was ich denke und fühle.«10 Sie war klein und schlank, hatte blaue Augen, die vor Neugierde funkelten, und braunes Haar, das ihr in dichten Locken ins Gesicht fiel.11 Sie war hübsch, aber die Pocken hatten Narben auf ihrer Haut hinterlassen, und sie schielte auch ein wenig. Caroline kleidete sich elegant, hatte viele Verehrer und war sich ihrer selbst gewiss. Es gab kaum etwas, das ihr Angst machte.

Sie und ihre Tochter versuchten am 30. März 1793 aus Mainz zu fliehen, als fast 50 000 preußische und österreichische Soldaten anrückten, um die Stadt von der französischen Revolutionsarmee zurückzuerobern. Caroline hatte etwas mehr als ein Jahr in Mainz gelebt. Sie war dabei gewesen, als die Franzosen im Oktober des Vorjahres einmarschierten und deutsche Revolutionäre am nächsten Tag die »Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit« gründeten. Adlige, Geistliche, Beamte und der regierende Kurfürst flohen völlig verängstigt aus der Stadt, aber viele Bürger begrüßten die französische Armee und ihre neuen demokratischen Überzeugungen. Diejenigen, die geblieben waren, steckten sich eine rot-blau-weiße Kokarde als Symbol der Revolution an den Hut und riefen »Vivre libre ou mourir« – »Frei leben oder sterben«, – als sie durch die Straßen marschierten.12

Wie andere liberale Deutsche hatte auch die neunundzwanzigjährige Caroline Böhmer die Französische Revolution und die Franzosen begrüßt. Vier Jahre zuvor, im Juli 1789, las sie in den Zeitungen, wie Frankreichs feudale Wurzeln durch den Sturm auf die Bastille in Paris ausgerissen wurden und wie die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte alle Menschen für gleichberechtigt erklärte. Als die Protestierenden zu Tausenden zum Schloss von Versailles marschierten und der französische König und die Königin in Panik flohen, erzählte Caroline ihrer jüngeren Schwester von den glorreichen Ereignissen in Frankreich.13 »So möchten denn die Reichen abtreten und die Armen die Welt regieren«, sagte sie.14

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – die Parolen der Revolution – versprachen eine neue Welt. Nach jahrhundertelanger Herrschaft despotischer Monarchen, die einige wenige begünstigten und den Rest hungern ließen, hatte das französische Volk eine Republik gegründet und seinen König hingerichtet. Anstelle einiger weniger Privilegierter sollte nun das französische Volk regieren. Caroline war von diesen Aussichten begeistert. »Wir sind doch in einem höchst interreßanten politischen Zeitpunkt«, schrieb sie kurz nach ihrer Ankunft in Mainz.15 Sie konnte es kaum erwarten, ihren zukünftigen Enkelkindern davon zu erzählen, dass sie Zeugin des größten Umbruchs aller Zeiten war. Das alles war aufregend, bedeutungsschwer und schwindelerregend. »Wer kan sagen wie bald mein Haupt eine Kugel trift!«, meinte Caroline,16 aber sie wollte auf keinen Fall irgendetwas verpassen.

In Mainz verbrachte Caroline viel Zeit mit Georg Forster, einem alten Freund aus Göttingen. Forster war ein furchtloser Entdecker, der Anfang der 1770er Jahre an Captain Cooks zweiter Weltumsegelung teilgenommen hatte. Und er war einer der führenden deutschen Revolutionäre. Jeden Tag ging Caroline zu ihm, sie wohnte nur fünf Minuten entfernt. Abends trafen sich die Mainzer Revolutionäre bei Forster, um bei einer Tasse Tee über die Neuigkeiten aus Frankreich und ihre eigenen Pläne für eine Republik in Mainz zu diskutieren.17

Caroline stürzte sich begeistert mitten ins Geschehen. Sie diskutierte mit Freunden und Fremden über Politik und Revolution, las die neuesten Zeitungen und ließ sich von dem Aufruhr mitreißen. Sie war in Mainz, als ein Freiheitsbaum18 aufgestellt wurde und alle bis tief in die Nacht um den Baum herum tanzten und sangen. Sie ging zu Abendeinladungen und auf Partys der Franzosen – und schon bald machten Gerüchte die Runde. Einige behaupteten, sie habe eine Affäre mit General Custine, dem französischen Befehlshaber der Mainzer Besatzungstruppen, mit dem sie mehrmals zu Abend gegessen hatte.19 Andere vermuteten eine Liaison mit Georg Forster. Es half auch nicht gerade, dass Caroline gern flirtete und fand, französische Männer sähen besser aus als deutsche.20

Mitte März 1793, sechs Monate nach der Ankunft der Franzosen, riefen die deutschen Revolutionäre die Mainzer Republik aus, die erste auf deutschem Boden. Lange dauerte sie nicht. Zwei Wochen später rückte die preußische Armee an, um die Stadt wieder von den Franzosen zurückzuerobern. Caroline zog es vor, die Stadt zu verlassen, aber sie war nur ein paar Kilometer weit gekommen, als die Preußen sie verhafteten.

Ihre Inhaftierung in Königstein kam zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Sie und Auguste konnten Kälte und Hunger ertragen und die Matratzen mit Fremden teilen, doch im Gefängnis stellte Caroline mit Schrecken fest, dass sie schwanger war.21 Schlimmer noch, die Schwangerschaft war das Ergebnis einer stürmischen Begegnung auf einem Ball Anfang Februar, während der französischen Besetzung von Mainz. Der Vater war ein achtzehn Jahre alter französischer Offizier, den sie nur ein einziges Mal getroffen hatte. In einer Zeit, in der Frauen ihres Standes schon um ihren guten Ruf fürchten mussten, wenn sie auch nur mit einem Mann allein in einem Zimmer waren, galt Carolines Verhalten als skandalös.

Diese Mischung – Witwe mit einer kleinen Tochter, schwanger von einem französischen Soldaten, in preußischer Gefangenschaft und der Konspiration mit dem Feind beschuldigt – machte selbst der furchtlosen Caroline zu schaffen. Ihr blieben drei, vielleicht vier Monate, bevor die Schwangerschaft deutlich zu sehen war. Wenn bekannt würde, dass sie ein Kind erwartete, wäre ihr Ruf ruiniert, und die Behörden würden ihr womöglich die geliebte Auguste wegnehmen.

Als ihr Bauch dicker wurde, schnürte Caroline ihr Korsett immer enger und schickte Briefe an Freunde und Bekannte mit politischen Verbindungen. Ein alter Verehrer hatte Kontakte zum preußischen Hof, und sie schrieb auch an August Wilhelm Schlegel, einen jungen Schriftsteller und treuen Bewunderer aus ihrer Göttinger Zeit. Die Preußen blieben jedoch standhaft. Carolines Abendessen mit General Custine und den Franzosen waren öffentlich bekannt, und dass die kleine Auguste begeistert »Vive la nation!« rief und die Marseillaise sang,22 machte die Situation nicht besser. Mit jedem Tag wuchs Carolines Verzweiflung. Ihr Leben komme »durch eine lange Gefangenschaft in Gefahr«, schrieb sie an den Ehemann ihrer ältesten Freundin und offenbarte ihm schließlich in einem verzweifelten Hilferuf die Wahrheit, aber »theilen Sie es niemand mit«.23

Anfang April war sie inhaftiert worden, und Mitte Juni befand sie sich immer noch in Königstein, als ungewöhnlich kalte Stürme die Trauben an den Rebstöcken in den Weinbergen erfrieren ließen.24 In ihrer feuchten Zelle kämpften Mutter und Tochter verzweifelt gegen die Kälte, wobei Auguste besser zurechtkam als Caroline, die unter morgendlicher Übelkeit und entzündetem Zahnfleisch litt. Caroline fehlten Bewegung und frische Luft und ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends.25 Sie litt ständig unter Kopfschmerzen und einem inzwischen chronischen Husten. Sie hatte Angst. Selbst hier, etwa vierzig Kilometer von der Front entfernt, hörte sie das Donnern der französischen und preußischen Geschütze, als Mainz bombardiert wurde.26 Hunderte neuer Gefangener wurden in die Festung gebracht, wo die Preußen sie verprügelten; viele starben an ihren Verletzungen.27

Carolines größte Sorge blieb jedoch ihre fortschreitende Schwangerschaft. Sie schrieb immer wieder Briefe, in denen sie ihre bedrohliche Lage betonte – »wie dringend meine nahe Rettung für mich sey« –, doch ein Freund nach dem anderen zog sich zurück.28 Ihr alter Verehrer aus Göttingen, August Wilhelm Schlegel, tat sein Möglichstes, um ihr zu helfen.29 Auch er wandte sich an Freunde und Bekannte, die ihr möglicherweise helfen konnten. Er ließ nicht locker – weder als Caroline die Schwangerschaft zugab, noch als sein Bruder ihm von Carolines angeblicher Affäre mit General Custine erzählte.30 Wenn August Wilhelm sie nicht bald aus dem Gefängnis holen könne, schrieb Caroline ihm, müsse er ihr wenigstens Gift besorgen, damit sie sich das Leben nehmen könne.31 Für Auguste sei es weit besser, Waisenkind zu sein, als mit einer entehrten Mutter zusammenzuleben.

Im Juli 1793 wurde Caroline tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen, und zwar mit Hilfe ihres jüngeren Bruders, der bei einer alten Freundin, der Mätresse des preußischen Königs, seine Beziehungen spielen ließ.32 Im November brachte sie heimlich einen Sohn zur Welt. In den folgenden zwei Jahren irrte sie kreuz und quer durch Deutschland, verfolgt von bösen Gerüchten und behandelt wie eine Aussätzige. Ihr Leben schien vorbei zu sein, doch dann kam August Wilhelm Schlegel zu ihrer Rettung. Sie heirateten 1796 und zogen nach Jena, wo Caroline das Herz und der Geist einer Gruppe junger Männer und Frauen wurde, die hofften, die Welt zu verändern. Sie war Muse, Kritikerin und Schriftstellerin, die zu den literarischen Werken dieses Kreises beitrug – und ihr Haus war der physische Ort, an dem sich die Freunde trafen, nachdachten, redeten, lachten und schrieben.

Zu dieser außergewöhnlichen Gruppe rebellischer Zwanzig- und Dreißigjähriger gehörten der rätselhafte Dichter Novalis, der mit dem Tod und der Dunkelheit spielte, der schroffe Philosoph Johann Gottlieb Fichte, der das Ich in den Mittelpunkt seiner Arbeit stellte, sowie die genialen Schlegel-Brüder, Friedrich und August Wilhelm, beide Schriftsteller und Kritiker, der eine so ungestüm und aufbrausend wie der andere besonnen und ruhig. Sowie Dorothea Veit, eine Schriftstellerin, deren Affäre mit dem viel jüngeren Friedrich Schlegel für einen Skandal in der Berliner High Society sorgte. In Jena lebte auch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, ein hellwacher Philosoph, der sich mit dem Verhältnis zwischen Individuum und Natur beschäftigte. Und Friedrich Schiller, Deutschlands revolutionärster Dramatiker – der einerseits die jüngere Generation magnetisch anzog, sie andererseits aber auch spaltete.

Am Rande dieses Kreises bewegten sich Georg Wilhelm Friedrich Hegel, einer der einflussreichsten Philosophen der Geschichte, und ein weiteres Brüderpaar – Wilhelm und Alexander von Humboldt, der eine ein begnadeter Sprachwissenschaftler und Gründer der Berliner Universität und der andere ein unerschrockener und visionärer Naturwissenschaftler und Forschungsreisender. Im Zentrum dieser Galaxie brillanter Köpfe stand Johann Wolfgang von Goethe, Deutschlands berühmtester Dichter. Goethe war älter als die anderen und wurde so etwas wie ein strenger und wohlwollender Pate. Er fungierte oft als Vermittler, ließ sich von ihren neuen und radikalen Ideen inspirieren, und die Jüngeren ihrerseits verehrten ihn. Goethe war ihr Gott und sie stellten ihn auf ein Podest.

Jeder dieser bedeutenden Intellektuellen lebte ein Leben, das es wert ist, erzählt zu werden. Außergewöhnlicher als ihre individuellen Geschichten ist jedoch die Tatsache, dass sie alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort zusammenkamen. Und deshalb als Jenaer Kreis in die Geistesgeschichte eingegangen sind.

Sie lebten in einer Welt, die sich so sehr von unserer unterscheidet, dass man sie sich kaum noch vorstellen kann – ein Europa, regiert von Monarchen, die das Leben ihrer Untertanen in weiten Teilen bestimmten. Das Schloss des französischen Königs in Versailles mit seinen vergoldeten Sälen und prächtigen Gärten war Zeichen der absoluten Macht des Regenten über ganz Frankreich, und das zu einer Zeit, in der viele Franzosen bitterarm waren. So wie die Gärten und Bäume zurechtgestutzt und Blumen in kunstvolle Muster gepresst waren, so waren auch die Menschen durch Geburt und den König an ihr Schicksal gebunden. Nichts durfte am falschen Platz sein – alles wurde nach göttlichem Recht gebogen und geformt. Und während die französische Königin Marie-Antoinette im kleinen Schloss Petit Trianon ihre Herde parfümierter Schafe hütete, hungerten die Bauern und Arbeiter.

Weiter im Osten, in Russland, präsentierte sich Katharina die Große als aufgeklärte Monarchin und modernisierte das Land, doch auch sie regierte mit eiserner Faust. Hier wie auch im Osten Deutschlands herrschte noch die Leibeigenschaft. Dieses alte Feudalsystem band die Menschen an Grund und Boden und an ihre Herren. Wie Sklaven mussten sie für die örtlichen Grundbesitzer schuften und durften deren Land nicht verlassen. Die Abgaben, Zehnten und Steuern waren oft so hoch, dass man von dem, was übrig blieb, nicht leben konnte.

In ganz Europa wurden Philosophen wegen ihrer Ideen zensiert, Schriftstellern wurde verboten zu schreiben, Professoren verloren ihre Stelle, wenn sie ihre Meinung sagten, und Dramatiker wurden wegen ihrer Stücke inhaftiert. Einige Herrscher hatten das Recht, über das Erbe oder den Beruf ihrer Untertanen zu entscheiden, während andere sie verbannen, zur Arbeit zwingen oder ihre Bewegungsfreiheit einschränken konnten.33 Und auch wenn Friedrich der Große sich rühmte, ein aufgeklärter König zu sein, durften selbst in Preußen männliche Adlige nur mit einer Sondergenehmigung die Tochter eines Bauern oder eines Handwerkers heiraten.34 Manche Monarchen konnten ihre Untertanen sogar als Söldner an fremde Mächte verkaufen, andere verpachteten ganze Regimenter, um ihren eigenen Haushalt zu subventionieren. Die Welt, in der die Mitglieder des Jenaer Kreises aufwuchsen, war eine Welt des Despotismus, der Ungleichheit und der Kontrolle.

Doch dann, 1789, kam die Französische Revolution – ein Ereignis, das so einschneidend und dramatisch war, dass niemand in Europa davon unberührt blieb. Es war wie eine Explosion. Als die französischen Revolutionäre alle Menschen für gleichberechtigt erklärten, versprach das die Möglichkeit einer neuen Gesellschaftsordnung, die auf der Macht der Ideen und der Freiheit beruhte. »Es realisieren sich Dinge«, schrieb Novalis 1794, »die vor zehn Jahren noch ins philosophische Narrenhaus verwiesen wurden.«35

Die Französische Revolution bewies, dass Ideen stärker waren als die Macht von Königen und Königinnen. »An die Kraft der Worte soll man glauben«, erklärte der Schriftsteller Friedrich Schlegel und schwang seine Feder wie ein Schwert.36 Seine Freunde waren von der Revolution begeistert. Caroline, die die kurzlebige Mainzer Republik hautnah miterlebt hatte, begrüßte die Ideen, die sich von Frankreich aus verbreiteten, und glaubte, dass »die Schriftsteller die Welt regieren«.37 Schelling und Hegel hatten während ihres gemeinsamen Studiums in Tübingen voller Inbrunst die Marseillaise gesungen, und der Philosoph Fichte schrieb ein Pamphlet, in dem er erklärte: »Die französische Revolution scheint mir wichtig für die gesammte Menschheit.«38

Fichte stellte das Ich in den Mittelpunkt seiner neuen Philosophie. Und er stattete es mit der aufregendsten aller Ideen aus: dem freien Willen. Diese Idee war vom Feuer der Französischen Revolution entzündet worden. Bei der Ermächtigung des Ich ging es ebenso sehr um die Befreiung des Individuums wie um eine Rebellion gegen die Despotie des Staates. In dieser radikal neuen Vorstellung eines ungebundenen Ich lag das Potenzial für ein anderes Leben. Der Mensch »soll seyn, was er ist«, erklärte Fichte seinen Studenten in Jena, »weil er es seyn will, und wollen soll«.39 Sie alle glaubten, wie Schelling sagte, an eine »Revolution, die durch die Philosophie bewirkt werden soll«.40

Jahrhundertelang hatten Philosophen und Denker behauptet, die Welt werde von göttlicher Hand gelenkt und von Gottes absoluten Wahrheiten beherrscht. Der Mensch könne diese absoluten Wahrheiten zwar verstehen, aber nicht erzeugen oder gestalten. Das 18. Jahrhundert war ein Zeitalter der Entdeckungen, in dem Naturgesetze wie die Physik der Lichtbrechung oder die Kräfte, die die Bewegung des Mondes und der Sterne bestimmen, erkannt wurden. Mathematik, rationale Beobachtung und kontrollierte Experimente hatten den Weg zur Erkenntnis geebnet, doch der Mensch blieb ein Rädchen in einer scheinbar gottgegebenen Maschine. Er war vieles, aber mit Sicherheit nicht frei.

Doch der Mensch übte nunmehr zumindest eine gewisse Kontrolle über die Natur aus. Erfindungen wie Teleskope und Mikroskope hatten bereits Geheimnisse wie die Bewegungen der Planeten und die Struktur des Blutes gelüftet. Neue Technologien wie die Dampfmaschinen pumpten Wasser aus Bergwerken, Ärzte impften gegen Pocken, und Heißluftballons brachten Menschen in Höhen, zu denen noch nie jemand aufgestiegen war. Als Benjamin Franklin Mitte des 18. Jahrhunderts den Blitzableiter erfand, hatte die Menschheit sogar das gezähmt, was lange Zeit als Zorn Gottes galt.

Ein immer größer werdendes Straßennetz durchzog die deutschen Staaten und Fürstentümer – und neue detaillierte Karten und Straßenschilder wiesen den Reisenden den Weg, wenn sie sich aus ihren Heimatstädten hinauswagten. Das Ticktack der neuen Pendeluhren wurde zum Herzschlag der Gesellschaft. Minute für Minute bewegten sich die Zeiger mit zunehmender Genauigkeit über die Ziffernblätter in den Taschen und Stuben der Menschen, auf Rathäusern und auf Kirchtürmen. Diese neuen Zeitmesser sagten jedem, wann er essen, arbeiten, beten und schlafen sollte. Ihr Rhythmus gab einen neuen Takt an, mit dem die Menschen um die Wette rannten. Das Leben beschleunigte sich, wurde vorhersehbarer und rationaler. Das Motto der Aufklärung lautete Hegel zufolge: »Alles ist nützlich.«41

Die Kehrseite all dieser wissenschaftlichen Erfindungen, Produktivität und Nützlichkeit, so befürchteten die Freunde in Jena, war, dass sich die Menschheit zu sehr allein auf den Verstand konzentrierte. Die Realität, so glaubten sie, sei der Poesie, der Spiritualität und des Gefühls beraubt worden. Die Natur sei zu einer »einförmigen Maschine … erniedrigt« worden,42 schrieb Novalis, und die »unendlich schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle« verkommen.43 Hatte der britische Philosoph John Locke im späten 17. Jahrhundert noch darauf beharrt, dass der menschliche Geist ein unbeschriebenes Blatt sei, das sich im Laufe des Lebens mit Wissen fülle, das allein aus Sinneserfahrungen stammte, so erklärte der Jenaer Kreis, dass neben der Vernunft und dem rationalen Denken auch die Fantasie ihren Platz haben müsse. Die Freunde wandten den Blick nach innen.

Jena selbst war klein. Die Universitätsstadt mit gerade einmal 4500 Einwohnern, die in rund 800 Häusern lebten,44 gehörte zum Herzogtum Sachsen-Weimar, an dessen Spitze Herzog Carl August stand. Geografisch gesehen lag das Herzogtum im Herzen der deutschen Gebiete und am Kreuzungspunkt zahlreicher Postrouten – Reisende und Postsäcke aus Böhmen, Sachsen, Preußen, Westfalen, Frankfurt und anderswo kamen hier an und brachten Briefe, Bücher und Zeitungen mit den neuesten politischen und philosophischen Schriften mit. Wie in vielen alten Städten in Deutschland herrschte auch in Jena noch eine mittelalterliche Atmosphäre.

Das Zentrum bildete ein großer, offener Marktplatz, und gleich dahinter, im Norden, erhob sich die riesige Stadtkirche St. Michael, deren Turm das Stadtbild dominierte. Im Nordosten der Stadt, einen Häuserblock von der Kirche entfernt, stand das Stadtschloss, einst Sitz der Herrscher des Herzogtums, das aber nur noch selten genutzt wurde, da der Hof längst ins nahe gelegene Weimar umgezogen war. Am entgegengesetzten Ende, ganz im Südwesten der Stadt, befand sich die Universität, das eigentliche Zentrum Jenas. Sie war in einem ehemaligen Dominikanerkloster untergebracht und verfügte über eine Bibliothek mit mehr als 50 000 Büchern45 sowie über eine Mensa, eine Brauerei und Unterkünfte, wenngleich die meisten Studenten in der Stadt wohnten und aßen. Jena und seine Universität waren ein Ort des Wandels. Die Menschen kamen und gingen, verliebten sich und trennten sich wieder und hinterließen eine Spur aus Skandalen, Kindern und gebrochenen Herzen – immerhin ein Viertel aller Geburten in Jena war unehelich, in den anderen deutschen Gebieten waren es lediglich zwei Prozent.46

Jena wurde ganz offensichtlich von der Universität dominiert.47 Die lokale Wirtschaft blühte, es gab Buchbinder, Drucker, Schneider und Wirtshäuser. Dank der rund 800 Studenten wurde hier auch mehr Tee, Kaffee, Bier und Tabak konsumiert als in jeder anderen deutschen Stadt ähnlicher Größe. Zwar hatte das Essen in den Jenaer Gasthäusern den Ruf, ungenießbar zu sein, doch die Studenten wussten, dass ihr Geist mit feinster Kost gespeist wurde.48 »Hier brennen zu jeder Tagesstunde die Fackeln der Weisheit«, sagte ein Student.49

Die Literatur war allgegenwärtig. Es gab nicht nur eine Universitätsbibliothek, sondern auch eine Leihbücherei mit mehr als hundert deutschen und internationalen Zeitschriften sowie sieben gut sortierte Buchhandlungen.50 Wenn man an einem warmen Sommerabend durch die kopfsteingepflasterten Straßen ging, hörte man Gesprächsfetzen über Philosophie und Poesie sowie den Klang von Geigen und Klavieren.51 Dann, spät in der Nacht, wenn leere Bierkrüge die groben Holztische in den zahlreichen Wirtshäusern der Stadt füllten, diskutierten Studenten über Kunst, Philosophie und Literatur. Nach acht oder neun Flaschen Bier,52 so erinnerte sich ein dänischer Student, torkelten die aufgekratzten jungen Männer nach Hause, wachten frühmorgens mit schmerzendem Kopf auf und eilten in die Hörsäle, Anatomietheater und Seminarräume, um von ihren jungen und radikalen Professoren zu lernen. Da es kein Theater, keine Oper, keinen Musiksaal, keine Kunstgalerie und somit kaum irgendwelche Ablenkungen gab, waren die Studenten praktisch gezwungen zu studieren.53

Jena war ein angenehmer Ort. Die Stadt hatte sich über die zerfallenden mittelalterlichen Mauern hinaus ausgedehnt mit weiteren Häusern, Gärten, Gemüsebeeten und Feldern. Im Norden, gleich außerhalb der alten Stadtmauern, lag der neue botanische Garten, den Goethe hatte bepflanzen lassen. Und der sogenannte »Philosophenweg« lud alle ein, die spazieren gehen und nachdenken wollten. Felder und Weinberge zogen sich die umliegenden Hügel hinauf, und über allem thronte der Jenzig, ein kleiner Berg mit einer markanten dreieckigen Form, den man von fast überall in der Stadt aus sehen konnte.

Im Süden schlängelten sich Wege durch eine bewaldete Parklandschaft, die die Einheimischen »Paradies« nannten. Hier, entlang der Saale, säumten Bäume das sanft abfallende Ufer und Angler warfen ihre Köder aus. Im Frühling blühten auf den Wiesen violette Leberblümchen und gelbe Primeln, und im Sommer machten die vollen Biergärten hier gute Geschäfte, wenn die Nachtschwärmer in der Dämmerung von einem Orchester aus Nachtigallen mit ihrem fröhlichen Trillern und Flöten unterhalten wurden.54 Im Winter sahen die Studenten der Stadt manchmal sogar den großen Goethe beim Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Fluss.55 Wie aber kam es, dass dieser kleine und ausgesprochen ländliche Ort zum Schmelztiegel des zeitgenössischen Denkens wurde – ein »Königreich in der Philosophie«, wie Caroline es nannte?56

Warum ausgerechnet Jena? Und überhaupt, warum Deutschland? Ende des 18. Jahrhunderts war Deutschland noch keine einheitliche Nation, sondern ein Flickenteppich aus mehr als 1.500 Staaten, von winzigen Fürstentümern bis hin zu großen Lehen, die von mächtigen und konkurrierenden Dynastien wie den Hohenzollern in Preußen und den Habsburgern in Österreich regiert wurden.57 Diese bunte Landkarte stellte das sogenannte Heilige Römische Reich deutscher Nation dar, das, wie der französische Denker Voltaire einmal sagte, weder heilig noch römisch noch ein Reich war. Fast 30 Millionen Menschen nannten es ihre Heimat, aber nur ein paar wenige herrschten über Millionen.

Das Heilige Römische Reich war durch ein kompliziertes Geflecht von Zollschranken, unterschiedlichen Währungen, Maßen und Gesetzen geteilt und durch miserable Straßen und unzuverlässige Postdienste verbunden, was Kommunikation, Vereinheitlichung und Modernisierung erschwerte. Die Macht war nicht zentralisiert, sondern wurde von Fürsten, Herzögen, Bischöfen und ihren Höfen ausgeübt, die über dieses riesige Puzzle verteilt waren. Anders als in Frankreich regierte in Deutschland nicht ein einziger König auf seinem weit entfernten Thron, was aber nicht bedeutete, dass die Herrscher weniger despotisch oder gar nachsichtiger gewesen wären.

Einen unbeabsichtigten Vorteil hatte diese Zersplitterung jedoch: Die Zensur war viel schwieriger durchzusetzen als in großen, zentral verwalteten Nationen wie Frankreich oder England.58 Jeder deutsche Staat, mochte er auch noch so klein sein, hatte sein eigenes Regelwerk. Außerdem gab es in Deutschland mehr Universitäten als irgendwo sonst, etwa fünfzig, während England nur Cambridge und Oxford hatte.59 Zugegebenermaßen waren einige von ihnen winzig, aber dank ihrer Anzahl konnten selbst Söhne aus ärmeren Familien studieren.

Die Deutschen waren zudem fanatische Leser. Die Alphabetisierungsrate stieg so stark an, dass Preußen und Sachsen im späten 18. Jahrhundert weltweit an der Spitze standen.60 »In keinem Land ist die Leseliebhaberei ausgebreiteter als in Deutschland«, bemerkte ein Besucher.61 Handwerker, Mägde und Bäcker lasen genauso eifrig wie Universitätsprofessoren und Adlige. Die Nachfrage nach Romanen war riesengroß, und in den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verdoppelte sich die Zahl der Autoren – 1790 gab es in Deutschland tatsächlich 6000 Schriftsteller. Der deutsche Buchhandel belieferte einen vier- bis fünfmal größeren Markt als der englische und diese Epoche wurde als das »papierne Zeitalter« bekannt.62

Während Frankreich, Spanien und England mächtige Monarchien und durch ihre Kolonien global aufgestellt waren und die Vereinigten Staaten ihren großen unerforschten Westen hatten, war in Deutschland alles klein, zersplittert und nach innen gerichtet. Die deutsche Fantasie wurde allein durch Worte angeregt, und die deutschen Leser reisten anhand der schwarzen Buchstaben auf bedruckten Seiten in ferne Länder und neue Welten. In den meisten deutschen Städten gab es Leihbibliotheken und Lesegesellschaften, und an jeder Ecke konnte man billig gedruckte Prospekte und Romane kaufen. Bücher waren überall.

Aber trotzdem: Warum ausgerechnet Jena? Die Antwort, so glaubte Friedrich Schiller, war die Universität der Stadt. Nirgendwo sonst, sagte er, könne man so viel echte Freiheit genießen.63 Zur Zeit ihrer Gründung im 16. Jahrhundert waren die Universität und die Stadt Jena Teil des Kurfürstentums Sachsen. Über Generationen hinweg führten komplizierte Erbschaftsregeln dazu, dass Teile des Staates unter den männlichen Erben in immer kleinere Parzellen aufgeteilt wurden. In den 1790er Jahren kontrollierten nicht weniger als vier verschiedene sächsische Herzöge die Universität, mit Herzog Carl August von Sachsen-Weimar als nominellem Rektor. In Wirklichkeit hatte aber keiner von ihnen tatsächlich das Sagen.64[1]

Deshalb genossen die Professoren in Jena weitaus mehr Freiheiten als anderswo in Deutschland. Kein Wunder also, dass die visionären Ideen Immanuel Kants hier auf fruchtbaren Boden fielen. Die Jenaer Allgemeine Literatur-Zeitung beispielsweise wurde 1785 explizit mit dem Ziel gegründet, Kants Philosophie zu verbreiten.65 Wie ein britischer Besucher bemerkte, war Jena der »modischste Sitz der neuen Philosophie« und eine Stadt, in der die Leser mit der gleichen Leidenschaft über Kants Philosophie diskutierten wie andere über Romane und Unterhaltungsliteratur.66

Der Philosophenkönig vertrat die Ansicht, dass der Geist und die menschliche Erfahrung unser Verständnis von Natur und Welt prägten und nicht irgendwelche von Gott aufgestellten und auferlegten Regeln. Statt nach absoluten Wahrheiten oder objektiver Erkenntnis zu suchen, richtete Kant sein Augenmerk auf die Subjektivität und das Individuum. »Sapere aude!«, hatte er 1784 in seinem berühmten Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« gefordert, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.67 Kant hatte den »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« verkündet und erklärte: »Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit.« Und Jenas Studenten und Professoren machten sich daran, genau dies umzusetzen.

Die liberale Atmosphäre Jenas zog fortschrittliche Denker aus den anderen eher repressiven deutschen Staaten an. »Die Profeßoren sind in Jena fast unabhängige Leute«, bemerkte Schiller,68 und ein anderer Gelehrter fügte hinzu: »Hier ist vollkommene Freyheit, zu denken, zu lehren, und zu schreiben.«69 Natürlich bedeutete das nicht, dass die Jenaer Intellektuellen tun und lassen konnten, was sie wollten – gegnerische Stimmen sprachen abfällig von der » tollkühnen Freiheitssucht«70 –, aber sie genossen einen deutlich größeren Spielraum. Denker und Schriftsteller, die in ihren Heimatstaaten Ärger mit den Behörden oder Regierungen hatten, kamen nach Jena, angezogen von der Offenheit und den relativen Freiheiten. Deshalb lebten im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts gemessen an der Einwohnerzahl mehr berühmte Dichter, Schriftsteller und Philosophen in Jena als in jeder anderen Stadt davor oder danach.

Fabelhafte Rebellen erzählt von einem dieser aufregenden Momente in der Geschichte, in dem eine Gruppe von Intellektuellen, Künstlern, Dichtern und Schriftstellern zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort zusammenkommt, um die Welt zu verändern. Darin ähnelt der Jenaer Kreis anderen einflussreichen Gruppen: etwa den nordamerikanischen Transzendentalisten, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Concord, Massachusetts, lebten und zu denen Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Nathaniel Hawthorne und andere gehörten. Oder der Bloomsbury-Gruppe, die im London des frühen 20. Jahrhunderts zusammenfand und der Virginia Woolf, E. M. Forster, Vanessa Bell und John Maynard Keynes angehörten. Oder dem modernistischen Zirkel um Ernest Hemingway, Ezra Pound, Gertrude Stein und F. Scott Fitzgerald im Paris der 1920er Jahre.

Ich glaube, dass der Jenaer Kreis intellektuell gesehen die wichtigste dieser Gruppierungen ist. Zu ihren Lebzeiten wurden die Mitglieder so berühmt, dass Berichte über ihre Ideen und Skandale durch deutsche Zeitungen auch in andere Länder gelangten. Aus ganz Europa kamen Studenten nach Jena, um bei ihren intellektuellen Helden – den sogenannten »Jacobinern der Poesie«71 – zu studieren und um dann ihre Ideen mit nach Hause zu nehmen. »Wir sind auf einer Mißion«, schrieb Novalis 1798 mit unverhohlenem Optimismus, denn »zur Bildung der Erde sind wir berufen«.72 Indem sie das Ich in den Mittelpunkt aller Überlegungen stellte, veränderte diese Gruppe von Schriftstellern, Dichtern und Denkern in Jena die Art und Weise, wie wir über die Welt denken. Sie befreiten den Geist des Menschen aus dem Korsett der Doktrinen, Regeln und Erwartungen.

Sie wurden als »Frühromantiker« bekannt. Tatsächlich waren sie die Ersten, die den Begriff »romantisch« in ihren Schriften verwendeten und die Romantik als internationale Bewegung einläuteten, indem sie ihr nicht nur einen Namen und ein Ziel gaben, sondern auch einen intellektuellen Rahmen. Aber was bedeutet Romantik? Heute assoziiert man mit dem Begriff eher Künstler, Dichter und Musiker, die das Emotionale betonen und sich danach sehnen, mit der Natur eins zu werden. Bilder von einsamen Gestalten in mondbeschienenen Wäldern oder auf zerklüfteten Klippen über Nebelmeeren werden ebenso mit der Romantik in Verbindung gebracht wie Gedichte über verlassene Liebende. Manche behaupten, die Romantiker lehnten die Vernunft ab und feierten den Irrationalismus; andere argumentieren, dass sie die Idee eines absoluten Wissens zurückgewiesen haben. Wenn wir jedoch die Anfänge der Romantik betrachten, stoßen wir auf etwas viel Komplexeres, Widersprüchlicheres und Vielschichtigeres.

Dass sich Denker, Historiker und Wissenschaftler nicht auf eine kurze und prägnante Definition der Romantik einigen können, hätte den Jenaer Freunden gefallen, weil sie gerade diese Undefinierbarkeit des Begriffs schätzten. Sie selbst haben nie versucht, starre Regeln aufzustellen – tatsächlich zelebrierten sie gerade das Fehlen von Regeln. Es ging ihnen nicht um eine absolute Wahrheit, sondern um den Prozess des Verstehens. Sie rissen die Grenzen zwischen den Disziplinen ein, überwanden damit die Trennung zwischen Kunst und Wissenschaft und stellten sich gegen das Establishment.

August Wilhelm Schlegel erklärte 1809, lange nach seinem Weggang aus Jena, was die Gruppe versucht hatte: Sie hätten Poesie und Prosa, Natur und Kunst, Verstand und Sinnlichkeit, Irdisches und Göttliches, Leben und Tod miteinander verwoben.73 Sie wollten das zunehmend mechanische Rasseln der Welt poetisieren. »Die Dichtung«, so Hyperion in Friedrich Hölderlins gleichnamigem Roman, »ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft.«74 Und im Zentrum dieses romantischen Projekts stand die neue Betonung des Ich.

Heute verehrt die englischsprachige Welt die Zeitgenossen des Jenaer Kreises, also Samuel Taylor Coleridge, William Wordsworth, William Blake und die jüngere Generation von Lord Byron, Percy Bysshe Shelley und John Keats als die großen Dichter der Romantik. Das stimmt sicherlich, aber sie waren nicht allein und sie waren nicht die Ersten. Es waren vielmehr die Jenaer Freunde, die diese Ideen zuerst verkündeten, und in den nachfolgenden Jahrzehnten spürte die ganze Welt die Auswirkungen. Coleridge war von ihren Ideen so fasziniert, dass er 1798 mit dem festen Entschluss nach Deutschland reiste, Deutsch zu lernen und seine Helden in Jena zu treffen. »Sprich nichts als Deutsch. Lebe mit Deutschen. Lies Deutsch. Denke auf Deutsch«, lautete sein Motto.75 Allerdings ging Coleridge, der ständig pleite war, das Geld aus, bevor er Jena erreichte, aber immerhin lernte er Deutsch. Mit dieser neuen Sprache ausgestattet, übersetzte er später Schillers Wallenstein und Goethes Faust, las Fichtes philosophische Schriften und war von Friedrich Schellings Ideen über den Geist und die Natur tief beeindruckt.76

Coleridges Schriften machten den Jenaer Kreis nicht nur bei englischen Lesern bekannt, sondern etwa dreißig Jahre später auch bei amerikanischen Denkern wie Ralph Waldo Emerson, dessen eigene Philosophie von den Ideen »dieses bewundernswerten Schelling«, wie er ihn nannte, durchdrungen war.77 Davon inspiriert, machten sich viele der amerikanischen Transzendentalisten daran, Deutsch zu lernen, um die Werke der Jenaer Denker im Original zu lesen und »diese seltsame geniale poetische Gesamtphilosophie«, wie Emerson es definierte, näher kennenzulernen.78 Kant, Fichte, Schelling und Hegel, so betonten die Transzendentalisten, seien die »großen Denker der Welt« und genauso bedeutsam wie Platon, Aristoteles, Descartes und Leibniz.79

Der Jenaer Kreis wollte verstehen, wie die Welt einen Sinn ergibt. Fragen wie »Wer sind wir?«, »Was können wir wissen?«, »Wie können wir verstehen?« und »Was ist die Natur?« näherte man sich durch eine Untersuchung des Ich. Diese Selbstreflexion wurde zur Methode, um die Welt zu verstehen, und dieser Blick nach innen wurde wiederum Teil der gelebten Realität des Jenaer Kreises.

Indem sie ihr Selbst erkundeten, brachen viele der Frühromantiker mit Konventionen und befreiten ihr Ich aus unglücklichen Ehen oder langweiligen Karrieren. Sie waren rebellisch und fühlten sich unbesiegbar. Ihr Leben wurde zum Spielplatz dieser neuen Philosophie. Und die Geschichte ihres Wandelns auf dem schmalen Grat zwischen der Macht des freien Willens und der Gefahr, sich darüber nur mit sich selbst zu beschäftigen, ist von universeller Bedeutung. Seither steht das Ich im Mittelpunkt, im Guten wie im Schlechten. Die französischen Revolutionäre haben die politische Landschaft Europas verändert, aber der Jenaer Kreis setzte eine Revolution des Geistes in Gang, die wir immer noch spüren. Die Befreiung des Ich aus der Zwangsjacke eines göttlich organisierten Universums ist das Fundament unseres heutigen Denkens. Sie schenkte uns die aufregendste aller Kräfte: den freien Willen.

Im Mittelpunkt von Fabelhafte Rebellen steht das spannungsgeladene Verhältnis zwischen den atemberaubenden Möglichkeiten des freien Willens und den Fallstricken des Egoismus. Die Gratwanderung, die die Jenaer Freunde zwischen dem Tunnelblick der individuellen Perspektive und dem Glauben an eine Veränderung zum Wohle der Allgemeinheit vollführten, ist auch heute noch aktuell. Ihre Ideen sind so tief in unsere Kultur und unser Verhalten eingedrungen, dass wir vergessen haben, woher sie stammen. Wir sprechen nicht mehr über Fichtes selbstbestimmtes Ich, weil wir es verinnerlicht haben. Wir sind dieses Ich. Oder anders ausgedrückt: Heute ist es für uns selbstverständlich, dass wir die Welt um uns herum durch unser Ich beurteilen. Nur so begreifen wir unseren Platz in der Welt. Unsere Stärke beruht darauf, dass der Jenaer Kreis das Ich mutig in den Mittelpunkt gestellt hat. Aber es liegt an uns zu entscheiden, wie wir dieses Vermächtnis nutzen.

[1] Die vier sächsischen Staaten wurden eigenständig regiert, bildeten aber eine politische Einheit. Es handelte sich um die Herzogtümer Sachsen-Weimar, Sachsen-Coburg-Saalfeld, Sachsen-Gotha-Altenburg und Sachsen-Meiningen.

TEIL I ANKUNFT

Nun geht es doch endlich über Stock und Block, die wir hinter uns laßen, weg, im graden Gleise, wie Ihr lange gegangen seyd, und in einem nachbarlichen dazu. Ich bin unbeschreiblich froh … und ich bin schon mit diesem Thal ganz befreundet.

Caroline Schlegel an Luise Gotter, 11. Juli 1796

1 »Ein glückliches Ereignis«

Sommer 1794: Goethe und Schiller

Am 20. Juli 1794 ritt Johann Wolfgang von Goethe von seinem Haus im Zentrum Weimars nach Jena, wo er an einer Sitzung der neu gegründeten Naturforschenden Gesellschaft teilnehmen wollte. Es war ein heißer Sommer, der bald in einen herrlichen Herbst übergehen sollte – lange, sonnenverwöhnte Monate, in denen Birnen, Äpfel, süße Melonen und Aprikosen vier Wochen früher reiften und die Weinberge einen der besten Jahrgänge des Jahrhunderts hervorbrachten.1

Auf dem gut zwanzig Kilometer langen Weg von Weimar nach Jena kam Goethe an Bauern vorbei, die auf goldenen Feldern Weizen ernteten, und an großen Heuhaufen, die bald als Winterfutter in den Scheunen lagern würden. Zwei Stunden ritt Goethe durch flaches Ackerland, dann änderte sich die Landschaft allmählich. Kleine Dörfer und Weiler schmiegten sich in sanfte Senken, dann wurde der Wald dichter und die Felder verschwanden. Die Gegend wurde hügeliger. Auf der linken Seite erhoben sich Felsen aus Muschelkalk, das geologische Vermächtnis der Region. Dieser Teil Deutschlands war vor etwa 240 Millionen Jahren ein Binnenmeer gewesen. Kurz bevor er Jena erreichte, überquerte Goethe die sogenannte »Schnecke«, den steilen Hügel, nach den Serpentinen benannt, die sich hier nach oben winden.2

Dann endlich erblickte er Jena vor sich, eingebettet in ein weites Tal im Bogen der Saale, vor den zerfurchten Umrissen der bewaldeten Berge. Es waren eher Hügel als hohe Berge, doch die Aussicht war spektakulär – und der Grund, warum die Schweizer Studenten in Jena die Umgebung liebevoll »die kleine Schweiz« nannten.3

Goethe war der Zeus der deutschen Literatur. 1749 in Frankfurt als Sohn einer wohlhabenden Familie geboren, war er mit vielen Annehmlichkeiten und Privilegien aufgewachsen. Sein Großvater mütterlicherseits war Bürgermeister von Frankfurt, sein Großvater väterlicherseits hatte sein Vermögen als Kaufmann und Schneider gemacht. Goethes Vater musste nicht arbeiten. Er verwaltete sein Vermögen, sammelte Bücher und Kunst und kümmerte sich um die Erziehung seiner Kinder. Obwohl Goethe ein lebhaftes und aufgewecktes Kind war, zeigte er keine außergewöhnlichen Talente. Er zeichnete gern, war stolz auf seine tadellose Handschrift und liebte das Theater. Als die Franzosen während des Siebenjährigen Krieges 1759 Frankfurt besetzten und ihr Kommandant im Haus der Goethes einquartiert war, machte der junge Goethe das Beste draus und lernte von den Besatzern Französisch.4

Er studierte Jura in Leipzig, arbeitete als Anwalt und begann zu schreiben. Mitte der 1770er Jahre war er mit der Veröffentlichung seines Romans Die Leiden des jungen Werthers – der Geschichte eines verzweifelten Liebenden, der Selbstmord begeht – ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Goethes Protagonist ist irrational, emotional und frei. »Ich kehre mich in mich selbst zurück und finde eine Welt«, erklärt Werther.5 Der Roman fing die Empfindsamkeit der Zeit ein und wurde zum Buch einer ganzen Generation.6 Er war ein internationaler Bestseller und so populär, dass sich unzählige Männer, darunter Carl August, der Regent des kleinen Herzogtums Sachsen-Weimar, wie Werther kleideten – mit gelber Weste und Kniehose, blauem Frack mit Messingknöpfen, braunen Stulpenstiefeln und einem runden grauen Filzhut.7 In China wurde sogar Werther-Porzellan für den europäischen Markt hergestellt.

Es hieß, Werther habe eine wahre Selbstmordwelle ausgelöst, und vierzig Jahre nach seinem Erscheinen scherzte der britische Dichter Lord Byron mit Goethe, sein Protagonist habe »mehr Menschen aus der Welt geschafft als selbst Napoleon«.8Die Leiden des jungen Werthers waren Goethes bedeutendster Beitrag zum sogenannten Sturm und Drang, einer literarischen Bewegung, die sich gegen den Rationalismus der Aufklärung wandte. Die Schriftsteller des Sturm und Drang zelebrierten Emotionen in all ihren Extremen, von leidenschaftlicher Liebe bis zu düsterer Melancholie, von selbstmörderischer Sehnsucht bis zu rasender Freude – und Goethe wurde damit zum literarischen Superstar.

Der achtzehn Jahre alte Herzog Carl August war von dem Roman so angetan, dass er Goethe 1775 einlud, bei ihm im Herzogtum zu leben und zu arbeiten. Goethe war sechsundzwanzig, als er nach Weimar zog. Und er wusste sich in Szene zu setzen. Zu seinem Antrittsbesuch trug er seine Werther-Uniform.9 In den folgenden Jahren zogen der Dichter und der junge Herzog durch die Straßen und Kneipen von Weimar, spielten arglosen Einwohnern Streiche und flirteten mit Bauernmädchen.10 Der Herzog liebte es, über die Felder zu galoppieren, in Heuschobern zu schlafen oder im Wald zu kampieren. Sie betranken sich und lieferten sich Schlägereien mit anderen, gaben theatralische Liebeserklärungen ab, badeten nackt und kletterten nachts auf Bäume – aber diese wilden Jahre waren längst vorbei und Goethe hatte seine Sturm-und-Drang-Phase hinter sich gelassen.

Mit der Zeit mäßigten sich sowohl der Dichter als auch der Herrscher, und Goethe gehörte nun zur Regierung des Herzogtums. Der kleine Staat zählte nur etwas mehr als 100 000 Einwohner – winzig im Vergleich zu den fünf Millionen Einwohnern des nahen Preußen oder anderer mächtiger Staaten wie Sachsen, Bayern oder Württemberg.11 Die Landwirtschaft machte den überwiegenden Teil der Wirtschaft aus – mit Getreide, Obst, Wein, Gemüsegärten sowie Schafen und Rindern. Handel und Handwerk waren im Herzogtum Sachsen-Weimar kaum vertreten. Dafür aber existierte ein aufgeblähter Hofstaat mit 2000 Höflingen, Beamten und Soldaten, die alle finanziert werden mussten.12 Die Stadt Weimar selbst wirkte provinziell. Die meisten der 750 Häuser hatten nur ein Stockwerk und so kleine Fenster, dass sie düster und beengt wirkten. Die Straßen waren schmutzig, und auf dem Marktplatz gab es nur zwei Läden, die Waren verkauften, die man als Luxusartikel bezeichnen konnte – eine Parfümerie und ein Textilgeschäft.13 Weimar hatte nicht einmal eine Postkutschenstation.

Goethe wurde zum Vertrauten Carl Augusts und zu seinem Geheimrat – ihr Verhältnis war so eng, dass man munkelte, der Herzog beschließe nichts ohne den Rat des Dichters.14 Im Laufe der Zeit übernahm Goethe die Leitung des Hoftheaters und den Wiederaufbau des abgebrannten Schlosses in Weimar sowie mehrere andere gut bezahlte Verwaltungsposten, darunter die Kontrolle über die Bergwerke des Herzogtums. Er arbeitete intensiv mit seinem Kollegen in der Weimarer Verwaltung, dem Minister Christian Gottlob Voigt, zusammen. Goethe war nie untätig: »Ich habe keinen Tabak geraucht, nicht Schach gespielt, kurz, nichts betrieben, was mir Zeit rauben koennte.«15

1794 war Goethe vierundvierzig und nicht mehr der gut aussehende Apollo seiner Jugend.16 Er hatte so stark zugenommen, dass seine einst schönen Augen im Fleisch seiner Wangen verschwunden waren, und ein Besucher verglich ihn sogar mit »einer Frau im letzten Stadium der Schwangerschaft«.17 Seine Nase war groß und markant, und wie bei so vielen Zeitgenossen waren seine Zähne gelb und schief. Er hatte eine Vorliebe für gestreifte und geblümte lange Westen, die er über seinem runden Bauch stramm zuknöpfte. Im Gegensatz zur jüngeren Generation, die oft modische, weite Hosen trug, bevorzugte Goethe Kniehosen. Er trug Stulpenstiefel und immer seinen Dreispitz. Sein Haar war stets frisiert und gepudert, mit »zwei tüchtig pomadesierten Querlocken über die Ohren … und einem sehr langen steifen Zopf«.18 Da er wusste, dass jeder ihn beobachtete, achtete er stets darauf, dass er ordentlich gekleidet und gepflegt war, wenn er aus dem Haus ging.19 1782 hatte der Herzog ihn geadelt und nun war er Johann Wolfgang von Goethe. Er lebte in einem großen Haus in Weimar, wo er oft vergeblich versuchte zu arbeiten, während ständig Fremde an seine Tür klopften, um den berühmten Dichter zu bestaunen. Er verabscheute diese Störungen fast so sehr wie den Lärm, insbesondere das Klappern des Webstuhls seines Nachbarn und die Kegelbahn in einem nahe gelegenen Gasthaus.20

Goethe mochte dem Sturm und Drang