Fannipold - Karin Peschka - E-Book

Fannipold E-Book

Karin Peschka

4,8

Beschreibung

Das Poldi-Erbrochene ist im Moment das kleinste Problem. Fanni krallt sich an den Stamm, man weiß nicht, wie stark der Schirm sich verkeilt hat. Oder ob der Stoff reißt. Ist der reißfest, der Stoff? Jeden Mittwoch Frauenstammtisch, Blattsalat mit Zanderstreifen in Cornflakespanier, Grappa auf's Haus. Die Pizzeria zwischen Fleischhacker und Bestatter. Links ein tönernes Schwein im Schaufenster, Rauchwurst und Salami, ein Plastikschinken auf einem Teller mit karierten Servietten. Rechts der beleuchtete Kasten mit den Partezetteln, Seidenblumen, eine goldene Urne auf einem weißen Sockel. Im Ort wächst der Leerstand, verstauben die Auslagen. Wiederholen sich ewig gleiche Routinen bis an den Rand des Ertragbaren. "Ich habe Krebs", lügt Fanni. "Hat schon gestreut." Harzduft. Grüner Nadelduft. Ein abgebrochener Ast, ein Stummel, so lang wie eine Hand breit, knapp vor Fannis Brust. Tupft sie an. Die Lüge führt zu weiteren Lügen, zu Wahrheiten und zum tatsächlichen Absturz: Ein Tandemflug endet in einem Tannenwipfel, Poldi und Fanni müssen auf Hilfe warten. Absurd, findet Fanni. Aber auch nicht absurder als ihr bisheriges Leben. "Brangelina, verstehst?" "Was?" Poldi entlastet vorsichtig den linken Fuß, nur eine Spur, um die Zehen zu bewegen. "Angelina Jolie und Brad Pitt. Wären wir berühmt, weißt, wie wir heißen würden?" "Wie?" Poldi spürt Fannis Herz pochen unter seiner Hand. "Fannipold", sagt sie.

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Karin PeschkaFanniPold

Karin Peschka

FanniPold

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

Für Ursula und Andrea

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1244-3

© 2016 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIENAlle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.atDruck: CPI Moravia Books s.r.o., Pohořelice, TschechienCoverbild: „Ameisen“ von Oskar StockerCovergestaltung: Taha Alkadhi

Inhalt

15. April, Samstag: Wald

Im Wald

8. März, Mittwoch: Pizzeria

Im Wald

9. März, Donnerstag: Küche

Im Wald

9. März, Donnerstag: Vorzimmer

Im Wald

9. März, Donnerstag: Küche

Im Wald

7. Februar, Dienstag: Küche, Wohnzimmer, Pizze ria, Heimweg

Im Wald

8. Februar, Mittwoch: Daheim

Im Wald

8. Februar, Mittwoch: Pizzeria

Im Wald

9. Februar, Donnerstag: Küche, Wohnzimmer, Garten

Im Wald

10. Februar, Freitag: Wohnzimmer, Ines’ Zimmer

Im Wald

11. Februar, Samstag: Supermarkt

Im Wald

12. Februar, Sonntag: Friedhof, Little Miami, Felder

Im Wald

12. Februar, Sonntag: Küche

Im Wald

12. Februar, Sonntag: Küche, Vorzimmer

Im Wald

13. bis 18. Februar, Montag bis Samstag: Küche, Pizzeria, Supermarkt, Goldenes Kalb, Damenklo

Im Wald

18. Februar, Samstag: Kabine, Damenklo

Im Wald

22. Februar, Mittwoch: Pizzeria

Im Wald

25. Februar, Samstag: Supermarkt

Im Wald

1. März, Mittwoch: Pizzeria

Im Wald

1. März, Mittwoch: Hauptplatz

Im Wald

1. März, Mittwoch: Hauptplatz

Im Wald

1. März, Mittwoch: Frau Rainers Haus

Im Wald

3. März, Freitag: Supermarkt

Im Wald

7. März, Dienstag: Rainers Haushaltswaren

Im Wald

7. März, Dienstag: Heimweg, Küche

Im Wald

8. März, Mittwoch: Garten

Im Wald

8. März, Mittwoch: Schlafzimmer, Bad, Auto, Pizzeria, Wohnzimmer

Im Wald

10. März, Freitag: Rainers Haushaltswaren

Im Wald

10. März, Freitag: Rainers Haushaltswaren

Im Wald

10. März, Freitag: Rainers Haushaltswaren, Lisas Auto

Im Wald

10. März, Freitag: Frau Rainers Haus

Im Wald

10. März, Freitag: Rainers Haushaltswaren, Küche

Im Wald

11. März, Samstag: Supermarkt, Parkplatz

Im Wald

13. März, Montag: Ines’ Schule

Im Wald

14. März, Dienstag: Hauptplatz, vor Waltrauds Haus

Im Wald

15. März, Mittwoch: Pizzeria

Im Wald

17. März, Freitag: Kirchenplatz, Lisas Auto, Ordination Ronkavic

Im Wald

18. März, Samstag: Rainers Haushaltswaren

Im Wald

21. März, Dienstag: Silber & Söhne, Perückengeschäft, Café

Im Wald

22. März, Mittwoch: Gerfriedes Haus, Gerfriedes Garten, Pizzeria

Im Wald

23. März, Donnerstag: Rainers Haushaltswaren

Im Wald

1. April, Samstag: Konditorei Rössl, Damenklo

Im Wald

14. April: Freitag, Rainers Haushaltswaren

Im Wald

Epilog

Danksagung

15. April, Samstag: Wald

Das muss jetzt …

… etwas Schnelles sein, ein sich anhebendes, fliegendes Ding. Da oben, auf dem Bergrücken: Fanni schreit. Ist dem Gleitschirmpiloten vor die Brust geschnallt, läuft mit ihm mit, läuft einstudiert, im Einklang, Eintakt, Einschritt den Hang hinab, der sich steingrau in den Abgrund verkantet, bevor er stürzt.

Im nächsten Moment baumelt Fanni unter dem Mann, streckt still die Arme zur Seite, der Wind hat ihr das Schreien genommen. Streckt die Arme, als müsse sie fliegen, als übernähmen das nicht der Schirm und der Fremde, den man ihr vorgestellt hatte vorhin. Leopold heißt er. Poldi.

Weiß keiner, dass Fanni weint. Wenn, würde es heißen, die Rührung. Über die Erfüllung dieses letzten Wunsches. Ein Abenteuer, per Gutschein.

Waltraud filmt alles mit. Hinter dem Display ihrer kleinen Kamera zieht die Realität vorbei: Ein Gleitschirm, nicht mehr als ein Kreuzpunkt, mal hierhin, mal dorthin.

Von oben sieht Fanni kaum die Frauengruppe, die am Landepunkt wartet. Auch, weil die Augen tränen, und ihr das hier unangenehm ist. Fast unanständig, wie sie aneinanderhängen, sein Becken an ihrem Hintern, braucht man das?

Ob man den Gurt nun lösen kann und sich hinunterstürzen? Tastet herum, doppelt gesicherter Scheißdreck. Der Pilot müsst’ ja nicht sterben, aber selbst, das wär’ schon was. Großes Begräbnis. Bernhard und die Kinder in Trauer. Im Supermarkt gibt es nächste Woche schwarze Hosen für Buben. Ginge sich aus. Und Ines könnte den Rock anziehen. Obwohl, der ist ihr zu klein geworden. Wohl eher zu eng. Die wird mal wie ich, denkt Fanni.

„ICH MAG NICHT MEHR!“

„WAS?“ Der Pilot schreit zurück. „WILLST RUNTER?“ Weil sie nicht antwortet, fliegt er weiter. Bezahlt ist für eine halbe Stund’. Schlechte Nachred’ braucht er nicht. Zum Schluss behauptet die dann, er hätt’ sich verhört. Das ist keine Gazelle, denkt er und schiebt das Becken ein wenig nach links. Muss sie ja nicht begatten. Gut, dass der Aufwind stark ist. Hopp, Mädel, hopp. Ruhig bist.

„ALLES OK?“

Fanni nickt. Dreht den Kopf zur Seite, schreit ein „JA“ hinter sich, ein „PASST“, das sich in Poldis Gesicht verspuckt. Der wischt sich die Wange ab, verfehlt dabei den Auftrieb, oder fällt in den Abwind, gibt es Turbulenzen in der Gleitschirmfliegerei?

Jedenfalls warten die Frauen am Boden – Hilda vom Gemeindeamt, Waltraud, sie führt mit ihrem Ex-Mann eine Werbeagentur im Ort, und Gerfriede, die deutsche Ordinationshilfe vom Augenarzt – jedenfalls warten die Frauen nicht bis zur Landung. Sie schreien gleich jetzt. Waltraud filmt und schreit. Filmt den Absturz und hört nicht auf damit.

Tage später werden sie erzählen: „So viel Angst hatten wir, so ein Unglück.“ Tage später, von der Journaille belagert, die ganz Laurinz in Aufruhr versetzt. Schlagzeilen, News, Livebericht. Ticker, Ticker. Das exklusive Interview. „Es torkelte der Gleitschirm, dieses grün-gelbe Rechteck am blauen Himmel, wie ein Falter, fiel, fing sich, überschlug sich, trudelte wild …“, werden sie erzählen, und Waltraud wird hinweisen auf die braunen Punkte, die plötzlich auftauchen im Film: „Das ist das G’spiebene.“ Und: „Schauen S’, da, der Schirm verschwindet.“ Klappt dann das Kameradisplay zu und lotet Angebote aus, man zahlt gut für Live-Material.

Aber noch schläft der Ort. Noch filmt Waltraud, wie sich der Kreuzpunkt ein paar Kilometer weiter drüben verliert. „Weg ist er“, sagt sie. Gebannt starrt alles auf den Bergrücken, der ihn verschluckt hat. Torkelt nichts mehr hoch, zieht nichts mehr grün-gelb sich hinauf in den Himmel, gibt nichts Anlass sich zu entspannen, aufzuatmen, erleichtert zu lachen, von wegen: „Puh, ich dachte schon …“ Oder: „Der Pilot ist ein Hund, der hat ihr Angst machen wollen, der Fanni.“

Aber hinter den Hügeln, die sich hindrängen zu den Bergen in immer engeren Reihen. Flattern Vögel auf, kreischen empört. Bricht Rotwild hektisch durch eine Schonung. Zertrampelt eine Wildschweinrotte versehentlich einen Frischling, er quietscht noch ein wenig. Senken sich Geräusche, ungewohnter Lärm, im Nadelgeriesel zu Boden. Kleine Äste brechen, heftig wogen ausgedünnte Wipfel und schnalzen sich gerade.

Es hängt der Gleitschirm in einer großen Tanne. Weit oben. Man kennt ja diese zackigen Felsstücke im Vorgebirge. Wie zerborstene, überwucherte Hochhäuser, bemoost, spitzschartig umgeben. Dort, wo obenauf ein paar Bäume trotzen. Dort.

 

Im Wald

Poldis Mund an Fannis Hals. Sie spürt seinen Atem im Nacken. Sein Erbrochenes rinnt in ihren Kragen, auf ihre schweißige Haut. Riecht fast wie früher. Ines hat nichts behalten können als Baby. Jedes Bäuerchen ein neues T-Shirt.

Das Poldi-Erbrochene ist im Moment das kleinste Problem. Fanni krallt sich an den Stamm, man weiß nicht, wie stark der Schirm sich verkeilt hat. Oder ob der Stoff reißt. Ist der reißfest, der Stoff?

„He. Du. Poldi.“

Rührt sich nicht, hängt schlaff und zieht hinunter. Ich kann nicht einmal sterben. Denkt Fanni. Statt die Gelegenheit zu nutzen. Klammere mich an die Tanne wie, wie. Eine Verrückte.

Harzduft. Grüner Nadelduft. Ein abgebrochener Ast, ein Stummel, so lang wie eine Hand breit, knapp vor Fannis Brust. Tupft sie an. Wenn sie sicheren Stand fände. Sie erinnert sich an ein früheres Leben, als sie jung war und klettern mit einem, der ihr gezeigt hat, wie das geht.

Sie steht im Baum, die Turnschuhspitzen in Astgabeln geklemmt. „Poldi.“ Dem wächst eine Erektion.

„Poldi.“

„Poldi.“

„AU!“ Poldi greift plötzlich nach oben, hält sich, zieht, panikt. „AU!“ Rüttelt herum, schreit in Fannis Ohr einen so hohen, hellen Ton, das ist ja kein Menschenlaut. Drückt sich heftig – wie macht er das – zum Stamm, will auch klammern, rammt dabei Fanni auf den Stummel-Ast und der sich tief hinein in ihre Brust. Der Schmerz wirft sich in Form von Fannis Hinterkopf zurück auf Poldi, bricht diesem mit dem Halbschalenhelm nicht nur die Nase, sondern schlägt ihn gleich K.O., tobt wieder nach vor, in den Ast, der Ast reißt das Busengewebe nach oben auf, weil Poldi schwer ist und wieder ohnmächtig noch schwerer.

Fanni schnauft. Scheißescheißescheiße. Sag nicht Scheiße. Der Bub der Bub der Bub, wie heißt mein Bub, Friedl heißt mein Bub, Friedl würde sagen, das sagt man nicht, Mama. Sag Mist, Mama. Oder Scheibe. Aber nicht, weißt eh.

Fest hält sie sich.

Dass es Ameisen gibt so hoch heroben.

„Scheibe.“

8. März, Mittwoch: Pizzeria

Ist es der letzte Akt? Wann hat er begonnen? Viel früher. Fünf Wochen zuvor. Das war so.

Fanni, damals: „Ich kann nicht mitfahren.“ Waltraud tippte mit der Kugelschreiberspitze auf ihren Namen und wollte ihn abhaken. „Was?“ Hielt inne beim halben Häkchen, am Tiefpunkt, vor dem Schwung nach oben. „Fanni?“

„Ich kann heuer nicht mitfahren nach Grado.“ „Aber Fanni, was redest da?“ „Sicher fährst mit.“ „Lässt dich Bernhard nicht weg?“ Waltraud, Hilda, Gerfriede und Fanni, in der Pizzeria, Frauenstammtisch. Jeden Mittwoch um acht, auf eine kleine Pizza oder einen Blattsalat mit Zanderstreifen in Cornflakespanier.

„Aber Fanni, Mensch. Seit Dezember planen wir das schon. Jetzt, wenn du kneifst, dann ist das nicht fair, du.“ Gerfriede mit den langen Fingern. Ein Rubin-Ringfinger. Ein Turmalin-Mittelfinger. „Wir haben …“

Fanni unterbrach: „Ich hab’ Krebs.“ Das ist ihr einfach so aus dem Mund gefallen und kam im Grunde aus dem Nichts.

„Hat schon gestreut.“

Ich bin Fannis erfundener Tumor. Wir sind Fannis erfundene Metastasen.

Hatte sofort einen Arm um die Schultern und ein warmes Gesicht an dem ihren. Hilda musste Trost loswerden. Ist gut im Trösten, ist bekannt dafür. Je größer das Chaos, desto Hilda. „Seit wann weißt du?“

„Seit gestern.“

„Und Bernhard?“

„Weiß nichts.“

Gerfriedes Lippen zitterten, die Augen glänzten. Hilda löste sich von Fanni. Griff, Tasche, Taschentücher. Öffnete die Packung, zog ein Taschentuch halb heraus. Wie man Zigaretten anbietet. Legte sie vor Gerfriede, die nickte, dankte, sich schnäuzte, ins Tuch schnaubte, Tränen tupfte. Hilda klebte wieder an Fannis Gesicht und flüsterte: „Weißt ja, ihr Großvater ist gestorben am Krebs. Ist nicht so leicht für sie.“

Hier hätte Fanni die Lüge noch aufklären können. Abschwächen. Sich rausreden, sagen: „Ich war beim Frauenarzt, beim Abstrich ist was aufgefallen, PAP III.“ Und die anderen dann antworten lassen: „Dummerchen, PAP III ist ja nichts, das ist sicher nichts, das kann man, wenn es was ist, rausschneiden und so, und bis Grado ist alles gut, wirst sehen.“ Fanni könnte zulassen, dass die Tanten, Mütter, Schwestern, dass alle entfernten weiblichen Verwandten und Bekannten, die jemals in ihrem Leben einen auffälligen Abstrich vorweisen konnten, aufgezählt werden, dass sich das Gastzimmer füllt mit Frauen, die allesamt leben, auch wenn man den einen oder anderen Gebärmutterhals kürzen musste ein wenig vielleicht. Weil, PAP IV, von mir aus, aber III, Dummerchen. Da ist doch noch gar nichts erwiesen.

Hätte noch raus können aus der Lüge, immerhin. Fanni sah an Hilda vorbei, sah Gerfriede sich die Tränen tupfen. Dachte: Ich sollte die sein, die weint. Laut sagte sie: „Glaubst, für mich ist das lustig?“ Schob Hilda von sich.

Schweigen. Waltraud legte den Kugelschreiber neben die Liste.

Der Stammtisch war verdorben. Oder in eine neue Dimension gehoben. Hilda wurde initiativ. „Was ist das für ein Krebs? Wann sagst du es Bernhard?“ Fanni wusste beides nicht. Dachte an den völlig gesunden Gebärmutterhals. An die unauffällige Mammografie. Schüttelte also nur den Kopf. Zeigte unbestimmt auf den Oberkörper. Tat so, als versage ihr die Stimme bei diesem Thema. Zu frisch, zu wundig sei ihr das wohl, übersetzte Hilda Fannis Zögern den anderen, und, zu Fanni: „Lass dir Zeit.“ Für alles nämlich gäbe es eine Zeit.

 

Im Wald

Fanni am Baum, am Baum, am Baum. „Aua“, sagt sie leise. Es tropft ein wenig. Nein, es rinnt. Dünne rote Fäden, kleine Bäche, rubinfarben. „Pscht“, sagt sie zu den Ameisen, die sich vorwagen bis zum Blutrand vom Ast. Interessant, wie die trinken. „Mhmm“, flüstert Fanni, „schmeckt’s? Müsst ihr jetzt hinuntersteigen den langen Weg zu eurem Haufen und Bescheid geben?“ Eine Ameise verkeilt sich in einer anderen. „Nicht streiten. Wär’ ja blöd. Reicht doch, wenn eine geht.“

So sanft streicht der Wind durch die Zweige, spielt mit dem Schirm, dort, wo er zerrissen ist. Hebt den fransigen Seidenstoff, wellt ihn, lässt ihn sinken, Schatten wechseln mit Licht. Fanni braucht nur den Kopf leicht zu drehen, um Sonne auf ihrem Gesicht zu spüren, wenn der Wind es so will.

9. März, Donnerstag: Küche

Am Morgen nach jenem Stammtisch. Wo man noch versprochen hatte, Ruhe zu bewahren. Wo man bei einem Glas Grappa – vom Haus spendiert, wie immer beim Zahlen – diskutierte über eine zweite Meinung. Gute Krebsärzte sind selten. Spezialisten, käme halt auf den Krebs an. Fanni schwieg dazu, hatte die andern reden lassen. Sich selbst Zeit genommen für die Lüge. „Was machst du da?“, hatte sie die Lüge gefragt. „Lügen“, sagte die Lüge. „Aber, Krebs?“ „Fällt dir was Besseres ein?“

Am nächsten Morgen also. Fanni am Küchentisch. Noch das Frühstück von den Kindern. Halbausgetrunkener Früchtetee. Angebissenes Brot. Flüchtige Küsserei nachhallig auf der Wange. „Bist heut daheim?“, hatte Bernhard gefragt, schon fast zur Tür hinaus. Das Kalenderblatt auf der Kühlschranktür, Magnete in Obstform, Banane, Apfel, Kirschen. Jeder Dienst gelb, jeder freie Tag grün markiert. „Nein, Nachmittagsschicht.“ Nie schaut er drauf.

Draußen startete das Auto, trug Bernhard fort und die Kinder. Fanni am Küchentisch, allein mit der Lüge. Schob die Zeitung weg, hatte keine Lust mehr auf sie, rührte sie seit Wochen nicht an. Die Schlagzeile verkehrt, fett, fett, doppelfett, mit Rufzeichen, wollte rein ins Hirn. Fanni nahm die Zeitung, drehte sie um. Die Rückseite, das Fernsehprogramm, tat ihr nicht weh. Sie stand auf, war noch ganz schlapfig, würde nie ein Morgenmensch werden, da könnten noch so viele Kinderlein kommen in der Nacht. Und trinken wollen, oder schreien wollen ohne Grund, oder die Windeln. Ist auch schon wieder lange her. Sie ging ins Wohnzimmer, dort hingen die Jeans von gestern über der Couch. Eine Handvoll Zettel in der hinteren Hosentasche. Lauter Arschkarten, dachte Fanni. Zurück in die Küche. Legte es vor sich hin, das Zettelgeknülle.

Gerfriedes schräge Schrift auf einer Fleischhackerrechnung. Vorne: Lungenbraten, Bauernpresswurst, einmal Leberkäse plus Semmel. Auf der Rückseite: eine Telefonnummer, ein Frauenname, ein in Klammer gesetztes Schamanin. Dahinter: ein Herz. Eine Internetadresse, ein Dr. phil., ein in Klammer gesetztes Familienaufstellung. Dahinter: ein Rufzeichen.

Hilda in Großbuchstaben auf einem abgelaufenen Drogeriemarkt-Gutschein über Handcreme um fünfzig Prozent billiger: Dr. Frank Hacke, Gastroenterologe, Traun, Tel.? Eine Ärztin, Onkologin. Eine Psychotherapeutin, Krisenintervention.

Ein Notizblockzettel, schräg abgerissen. Waltrauds Schrift. Der Satz: Wenn du allein reden willst, ruf an.

Fanni seufzte. Klappte den Deckel vom Notebook hoch. Die Lüge braucht einen Namen, dachte sie.

 

Im Wald

Die Vögel singen wieder, haben sich erholt vom Schreck und der Empörung. Wenn der Ast nachgibt, dann. Die Ameisen werden immer mehr. Zecken wären sinnvoller. Ein Zeckenfest. Bräuchten nicht stechen, könnten gleich saufen. Vom Blutbuffet.

„HA!“ Fanni lacht.

„Fanni?“

„HA!“

„Fanni!“

Poldi wacht vorsichtiger auf diesmal. Mit dumpfem Nasengefühl und Kopfgedröhn. Weil Fanni lacht und generell die Situation eher unsicher ist. Zu viele Meter weiter unten, zwischen Felswänden und Böschungen, der weiche, weiche Waldboden, sonnengefleckt. Einen Meter über sich das grün-gelbe Rechteck, zerfetzt, in den Bäumen verkeilt. „Fanni, alles ok?“ „Ich verblute.“ Das kam gleichzeitig.

„Was heißt …“ „Ich verblute.“ Pause. „Du hast mir die Nase gebrochen.“ „Ja. Du hast mir einen Ast in die Brust gerammt.“ „Oh. Das wollte ich nicht.“ „Ich weiß.“

„Wir müssen hier runter, Fanni. Erschrick nicht.“ Poldi tastet nach vor. Greift ins Blut. Tastet blind um den Stummel-Ast herum, streift dabei Ameisen in die Wunde. Fanni schaut zu. „Oje“, sagt Poldi. „Wie tief sitzt der drinnen?“ Man könnt’ die Ameisen fragen, denkt Fanni, die müssten es jetzt wissen. „Tief“, sagt sie. „Schätz“, will Poldi.

Sieben ist eine schöne Zahl. „Fanni?“ „Sieben Zentimeter.“ „Oh.“ Fanni nickt. „Ja. Die Jacke ist hin. Das T-Shirt auch. Und der BH.“ Poldi sagt: „Wir müssen die Blutung stoppen. Und dann Hilfe holen.“ „Willst du mir den Busen abbinden?“ Keine Antwort. Stattdessen Poldis linke Hand Fannis linke Brust umfassend, soweit es geht. Presst die Finger zusammen. Und sich selbst dichter an Fanni heran. Quetscht die Füße neben ihre, was noch weniger Platz lässt für die Zehen, die taub werden. Mit der rechten Hand klammert sich Poldi an einen Ast, dicht am Stamm. Nimmt, so gut er kann, die Last von Fanni, die sie gemeinsam mit den Wipfeln getragen hat, die den Schirm halten und das Geseile. „Jetzt müssen wir so bleiben. Den Druck nicht verändern, sonst.“

„Sonst was?“

„Rausziehen geht nicht, dann verblutest gleich.“

„Und?“

Poldi will, dass Fanni telefoniert. Seine Hose hat Taschen auf den Oberschenkeln. „Hol das Handy raus, rechts.“ „Nein“, sagt Fanni. Jetzt sieht er erst: Die Knöchel ihrer Finger sind ganz weiß. So fest hält sie sich.

9. März, Donnerstag: Vorzimmer

Am Abend des Nachstammtischtages. Ines im Judo-Kurs, Friedl bei einem Freund. Fanni kam heim von der Arbeit, öffnete die Tür. Bernhard saß im dunklen Vorzimmer, auf dem Schemel, stand auf wie ertappt. „Was machst du hier?“, fragte Fanni. Das Vorzimmer ist ein Raum zum Durchgehen, zum Sachen-ausziehen und -auf-den-Boden-schmeißen, zum dauernd Aufwischen-müssen bei Regen oder Schnee. Ein Raum, um sich im Garderobenspiegel anzustarren, bevor man in die Arbeit geht. Nachdem man sich Krebs angelogen hat.

Bernhard. Auf der Ablage seine Autoschlüssel, Kaugummis, ein geschnitzter Igel, ein Anhänger für Einkaufswagenmünzen ohne Einkaufswagenmünze. Sonnenbrillen. Ein Rezept für Augentropfen.

Es reichte, dass Bernhard einen Termin beim Augenarzt hatte. Dass er dort Gerfriede die E-Card gab, bei der Anmeldung. Dass Gerfriede mit sich gerungen hatte. So wird sie sich später erklären: Niemand soll das allein tragen müssen. Und wie der arme Bernhard gekommen sei und sie angesehen habe, gutmütig und ahnungslos. Da habe sie innerlich den toten Großvater gefragt, was sie tun solle.

Zu tun sei das gewesen: Bernhard die E-Card zurückzugeben. Aufzustehen und sich den Rock glattzustreichen. Den Rosenquarz am Platinanhänger im Dekolleté zu berühren. „Der gibt mir Kraft.“ Sagte Gerfriede zu Bernhard. Und dann: „Bernhard, gehe bitte in den Untersuchungsraum 2, tu mir den Gefallen, ja?“

Ganz still war es im Wartezimmer geworden. Wenn die Deutsche spricht mit ihrem deutschen Akzent, mit ihrem deutschen Satzgefüge. Dann hört man schon hin, das eignet sich nicht als Hintergrund.

Danach, am Abend, im Vorzimmer: Bernhard mit glänzenden Augen. Er hatte die Hand in der Tasche, drehte dort einen runden Stein. „Das ist ein Tigerauge“, sagte er. „Soll helfen gegen, gegen. Bei. Ich weiß nicht. Ist für dich, von Gerfriede.“ „Von Gerfriede?“ „Ja. Ich hab’ auch einen. Einen anderen. Im Auto.“ Hielt den Stein Fanni hin. „Nimm.“

Bernhard stand knapp vor ihr. Er hob die Hand, hob sie hoch bis zu Fannis Gesicht. Strich ihr – zögerte – dann doch eine Strähne hinters Ohr. Strich zurück über die Wange. „Fanni. Was sagst denn nichts.“

 

Im Wald

Der Gleitschirm macht ein schönes Licht. Die Welt ist grün-gelb. „Fanni!“ „Ja.“ „Ich hab’ dich, spürst du es?“ „Wenn ich mich nicht festhalte, dann.“ „Passiert nichts. Ich bin hinter dir.“ „Wenn ich da loslasse, dann.“ „Halt ich dich, komm. Eine Hand nur. Wir müssen Hilfe holen.“

Schwarzes Ameisengewusle, ein krabbelnder, wogender Ring. Fannis Ameisenringast.

Sie lässt also los mit einer Hand, verkrampft dabei die Finger der anderen noch mehr in die Rinde, sind selbst schon fast Holz, diese Finger, so hart. Sinkt beim Loslassen eine Spur nach hinten, eine Bewegung, die Poldi sofort ausgleicht, mit dem Becken. „Ich spür’ dich“, sagt Fanni. „Macht nichts.“ „Ja, nein. Schon. Da nämlich. Am Hintern.“ Fanni lächelt. Nicht, dass der Mann das sehen könnte. „Da hat mich kein anderer als Bernhard berührt seit, ich weiß nicht. Achtzehn Jahren?“ „So lang seid ihr schon zusammen?“ „Ja.“ „Wenigstens spürst was. Wir hätten auch sterben können.“

Fanni greift hinunter zu Poldis Oberschenkel, ertastet mit den Fingerspitzen den Reißverschluss der Tasche, in der die Rettung sein soll, ein Anruf, eine Position, ein Hubschrauber. Ihr ist, als hielten die Ameisen den Atem an.

9. März, Donnerstag: Küche

Das Vorzimmer, ein Unentschieden, kein Draußen, kein Drinnen. Eine Neutralität, die sich nutzen ließe, um Lügen abzulegen wie Mäntel und Jacken.

Aber, zu spät: Fanni stand in der Küche. War ihrem Mann gefolgt, der schon am Tisch saß, aus Gewohnheit die Zeitung zu sich zog und umdrehte, blind las, was ihm das Titelblatt entgegenschrie, hochblickte und Fanni ins Gesicht. „Wieso hast du nie was gesagt?“

Das Tigerauge glänzte braungelb in ihrer Hand. Die Lüge stand hinter Fanni und stärkte ihr den Rücken. „Ich wollte euch nicht belasten, und weil doch der Opa von Gerfriede am Krebs …“ „Was geht mich die Deutsche an? Fanni! Das kannst doch nicht machen, wir sind, bis ans Ende unserer …“ „Hör auf.“

Schweigen. Verdichtete sich, verwolkte in der Küche. Soll man den Dunstabzug anstellen, vielleicht hilft’s, dachte Fanni. Sagte: „Ich wollte vorher noch ein paar Untersuchungen machen, dann hätte ich geredet mit dir.“ Keine Reaktion. „Bernhard, bist jetzt bös?“

Bernhard starrte auf seine Hände, Fanni legte ihre daneben, auf die braun-weiß gestreiften Platzdecken, er hätte seine Hände mit Leichtigkeit auf ihre legen können, hätte er gewollt.

„Wo?“

Wahrscheinlich, weil ihr diese Frage kalt und glatt ins Herz hineinrutschte. Weil ihr Mann nachstoßen musste: „Was ist das für ein Krebs, den du haben sollst?“

Wahrscheinlich, weil sich in diesem Nachstoßen nichts fand von dem, was sich Fanni erwartet haben könnte, stand sie auf, ging hinüber zur Anrichte, wo sich hinter dem schwarzen Standby-Display des Notebooks eine Webseite verbarg: Seltene Krebsarten. Fanni klappte das Notebook zu.

Legte dann die rechte Hand leicht mittig unter die linke Brust. „Es ist ein Tumor am Herzen“, sagte sie. „Ein Herz tumor.“

Es hätte auch Eierstockkrebs oder ein Weichgewebesarkom sein können. „Man nimmt, was man kriegen kann“, flüsterte die Lüge.

 

Im Wald

Es fällt und fällt und fällt. „Pfumpf“ macht es. Weicher Boden, so weich, denkt Fanni. Tannennadelboden, Ameisenhaufenboden. „Apportl!“, befiehlt sie den Ameisen. „Hol’s schön“, sagt sie einer. „Los.“ Stellt sich vor, wie sie das Ding schultern in einer Hundertschaft und den Stamm hochtragen.

Poldi starrt dem Handy hinterher.

„Mach dir keine Sorgen“, sagt Fanni. „Dem ist nichts passiert. Hast gehört, wie weich es gefallen ist?“

Poldi ringt um etwas, um den Verstand, um Geduld, um eine Idee. Die Frau verblutet ihm unter der von Insekten überlaufenen Hand.

Vor einer Stunde war alles noch intakt. Die Brust heil. Keine Ameisen im Körper. Fanni flüstert: „Wenn sie Winterruhe halten, entleeren sie davor Kropf und Darm. Wusstest du das?“ „Wer?“, fragt Poldi, spürt das Herz der Frau langsam pochen und weiß nicht, was tun. „Die Ameisen“, antwortet sie. Stellt sich vor, wie der einen oder anderen ein Beinchen zuckt im Schlaf, ein Fühler. Hebt sich ein Köpfchen zu früh, muss es dann sterben?

„Brangelina, verstehst?“ „Was?“ Poldi entlastet vorsichtig den linken Fuß, nur eine Spur, klebt an der Frau und die steckt fest am Ast. „Brad Pitt und Angelina Jolie. Wären wir berühmt, weißt, wie wir heißen würden?“ „Wie?“ Unter ihnen vibriert das Handy zwischen den Baumwurzeln, tanzt zu Molltönen, was hilft’s.

„Fannipold“, sagt Fanni.

7. Februar, Dienstag: Küche, Wohnzimmer, Pizzeria, Heimweg

Vier Wochen vor der Lüge. Auf den Zeitungsbildern war Mohanned noch heil. Er trug keine Schuhe. Sobald Fanni die Hand wegnehmen würde, erreichten die Flammen zuerst die nackten Füße. Jagten dann den orangen Overall hoch. Um sich in die Haut zu fressen, die Haare zu schmelzen. Fanni hielt das Bild bedeckt. Nur der Käfig war zu sehen. Darin der Mann. Grobkörnige Pixel, in Farbe. Das erste von drei Bildern. Zwei und drei verborgen unter der Werbebeilage. Apotheker-Gruß. Das Wohlbefinden Ihrer Familie liegt uns am Herzen. Fanni rührte sich nicht.

Nur, um die unmenschliche, bestialische Grausamkeit der Terroristen zu demonstrieren, zeige man diese Bilder. Sagte die Bildunterschrift. Aus keinem anderen Grund, als dem, der Informationspflicht nachzukommen, werte Leserinnen und Leser.

Man erkannte nicht viel von Mohanneds Gesicht. Eine Verzerrung. Den Blick gerichtet auf den Boden vor dem Gitter. Achtundzwanzig, Kampfpilot, abgestürzt. Dem IS in die Hände gefallen. Stand im Käfig, mit Benzin getränkt, würde sterben. Starb.

Hinter Fanni zertickte die Küchenuhr den Tag.

Die Hand verbarg die Flamme, die auf den Käfig zulief. Am anderen Ende ein hockender, vermummter Mann mit einer Fackel. Hielt die Fackel zu Boden, schon lief sie, die brennende Spur. Schon jagte sie, musste nicht suchen, der Weg war vorbereitet. Musste nur das Benzin auflecken, sich hineindrängen in den Käfig und dort teilen und verteilen. Ihn dann überfallen, den Mann, den Fremden. Der stand, atmete, Blut pumpte durch seine Adern und alles funktionierte. Getrennt von seinem Tod nur durch Fannis Hand.

Auf dem Kaffee hatte sich eine Haut gebildet. Kalt war er seit Stunden. Langsam war es dunkel geworden. Ines hatte an Dienstagen Schule bis fünf. Mittags war sie daheim gewesen, Friedl nicht, der hatte Schule bis eins und dann angerufen: „Mama, darf ich zum Leo, bitte?“ Leos Mutter hatte ihn eingeladen. Hilda ist Leos Mutter. Sie würde Friedl am Abend rüberbringen und „… ich soll dir ausrichten, sie hätt’ dann gern einen Tee als Dankeschön.“ Wofür? Für den freien Nachmittag. „Weil du hast mich nicht am Hals, Mama.“

Beim Mittagessen hatte Ines kaum gesprochen. Nur gegessen. Dann doch erzählt. Den Blutkreislauf lernten sie gerade und das wäre grauslich. Und ob man bitte keine Blutwurst mehr essen müsse in diesem Haus, ginge das? Trotzige Geste, das Mädel war ein einziges Schnauben und Wehren. Um halb zwei war sie weg. Ihr schwerer Schritt in der Einfahrt, Doc-Martens-Stiefel, schwarz mit rotem Blumendruck. Mein Mädchen. Fanni hatte sich an den Küchentisch gesetzt, nach der Zeitung gegriffen. Da war es noch hell und warm gewesen in der Küche. Fanni hatte am Vormittag den Kachelofen befeuert, um vier hätte sie in den Keller gehen sollen, die Pelletsheizung einschalten. Um vier konnte sie sich nicht mehr bewegen, um vier war der Kaffee schon lange kalt, wie Fannis Hand und ihr ganzer Körper und die Luft rundherum. Leer war sie. Kein Widerstand gegen Grausamkeit, keine Abwehr, das Innerste ungeschützt. Wie lässt sich das ertragen?

Der Mann auf dem Bild, Mohanned hieß er, war fast nicht mehr zu erkennen, lebte in dem Moment noch und im nächsten war er zu einer Fackel geworden, die zwischen den Gitterstäben taumelte, und ein Feuerball sein Kopf und dann war er tot.

Fanni saß im Dunkel der Küche. Saß, und nichts fiel in den Raum als der sehr schwache Schein der Straßenlaterne schräg gegenüber, im Sommer weinverwachsen und insektenumtobt, im Winter kahles Betongrau. Kein Vorhang hielt den Schein zurück, obwohl ihre Mutter immer anbot, Fanni einen schönen Store zu schenken, man sehe ja ins Innerste des Hauses bei Nacht. „Kind“, man wisse nie, wer einen beobachte und ausforsche, diese Banden, „liest du keine Zeitung?“

„Doch, Mutter“, dachte Fanni. Und wölbte versuchsweise den Handrücken, presste die Hand wieder flach auf das Papier. Der brennende Mann, die Verzerrung, der Käfig, die Schlagzeilen darüber, alles lag im Schatten.

Die Zeiger tickten sich in die volle Stunde. Sechs Uhr. Abend. Autoscheinwerfer schnitten schräg durch die Fenster, Bernhard kam. Pünktlich, und nichts war vorbereitet, kein Einkauf gemacht, die Heizkörper kalt. Was ihn fragen lassen würde und wieder erklären, ausführlich, die fast neue Heizung, der erste Winter, wo man sparen kann, sie solle sich rechnen. „Fanni, um vier, ist nur der eine Schalter, wenn du daheim bist …“

Schnell schlug Fanni die Zeitung zu. Stand auf und schlüpfte, ohne Licht zu machen, ins Wohnzimmer, schloss die Tür hinter sich, ignorierte die Steifheit ihrer Glieder, ignorierte das plötzlich sehr dringende Bedürfnis, auf die Toilette zu gehen, sich die Hände zu waschen und in den Spiegel zu starren. Legte sich stattdessen auf die Couch, rollte sich in eine Decke, hatte sogar die Geistesgegenwart, nach einem Buch zu greifen, es sich aufgeschlagen auf den Bauch zu legen. Als wäre sie über der Lektüre eingeschlafen.

Bernhard im Vorzimmer, Bernhard in der Küche, Lichtschein unter der Tür. Die Zeitung am Tisch raschelte, Wasser lief in die Abwasch. Er prüft, ob es warm wird, dachte Fanni, dann wird er die Heizkörper berühren. „Zu blöd, um …“, verstand sie, den Rest nicht mehr. Bernhard im Vorzimmer, Bernhard auf der Treppe zum Keller. Ein leises Surren, die Pelletsanlage sprang an. So einfach war das.

An Fannis freien Tagen und wenn sie Frühdienst hatte, sollte sie mit dem Kachelofen heizen und erst um sechzehn Uhr die Pelletsanlage einschalten. Wenn Fanni am Nachmittag in der Arbeit war, oder den ganzen Tag arbeitete, aber zu Mittag war sie ja eh immer daheim, dann schaltete sie die Pelletsanlage ein, bevor sie nach dem Essen das Haus verließ. Bernhards Eltern waren Bauern, sie bewirtschafteten einen kleinen Forst, das Holz für den Kachelofen bekamen sie von ihnen.

Man muss schon dankbar sein, dachte Fanni, für den Festmeter Holz und alles und sparsam muss man sein, das gefällt den Schwiegereltern und Bernhard gefällt es auch. Sie schloss die Augen, gerade rechtzeitig. Das Licht kreischte ihr hinter die geschlossenen Lider, die volle Besetzung, Luster, Spots. Fanni zog die Decke über den Kopf.

„Du bist daheim? Die Heizung war nicht eingeschaltet.“ Bernhard setzte sich zu ihr und zog ihre Beine auf seinen Schoß. Dann griff er nach dem Buch. „Bist eingeschlafen? Bist krank?“ Ihm hätten Details auffallen können, hätte er Augen dafür gehabt. Dass kein Glas auf dem Couchtisch stand; nie las Fanni, ohne Wasser griffbereit zu haben. Dass ihre Beine, dass ihr ganzer Körper eiskalt war, nicht schlafwarm. „Seit wann interessierst du dich für Physik?“, fragte er weiter. Blinzelnd tauchte Fanni unter der Decke auf. Bernhard blätterte. Das Buch war von Ines.

Der nächste Griff galt der Fernbedienung. Eine Vorabendserie, Menschen lachten. Bernhard war hungrig. „Was gibt’s denn heute?“, fragte er, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, und wo Friedl sei, aha, bei Leo, und Ines? Aha, Schule, müsste aber schon da sein, gell, und eigentlich könnten sie ja zu Mario fahren auf eine Pizza, und ob sie nicht Hilda anrufen möchte, damit sie Leo später heim oder gleich zu Mario bringe?

„Gut“, sagte Fanni. Bis sie nach Hause kämen, wäre es wieder warm. Man müsste nicht diskutieren, wieso sie den ganzen Nachmittag vertrödelt hatte, keine Fragen stellen, nichts beantworten. Als sie Ines’ Schlüssel in der Haustür hörte, grub sich Fanni aus der Decke, ungern und steif die beginnende Behaglichkeit verlassend. „Los“, sagte sie, küsste Bernhard auf die Wange. Flüchtig. Wie: die Flüchtende.

„Wir könnten auch gehen“, schlug sie vor, wollte sich bewegen nach diesem stillen Nachmittag, nach der Hand auf der Zeitung. Fühlte sich eigenartig, ein wenig lächerlich, fremd. Fanni fiel in alte Routinen, tausend Dinge gleichzeitig, wanderte mit dem Telefon am Ohr durch die Räume, sprach mit Hilda, während sie auf Schalter drückte, die elektrischen Sicherheitsrollos vor Fenster und Terrassentür herunterließ, die Heizkörper prüfte, ob sie warm wurden, die Kellertür öffnete, hat Bernhard das Licht ausgeschaltet, ja, er hatte. Apfelduft stieg die Treppe hoch, Winteräpfel, schön ausgelegt auf den Holzregalen, neben der Marmelade und den wenigen Weinflaschen. „Hilda, wir haben noch genug Äpfel, brauchst welche?“ Hilda brauchte keine, auch keine Nüsse, im Garten der Nussbaum, der letztes Jahr unglaublich viele … man konnte nicht alle verbacken und Dosen mit Weihnachtskeksen wären auch noch da, zwei.

Ines saß im Vorzimmer auf der Ablage, das sollte sie nicht. Die Ablage war nicht stabil genug. Bernhard bückte sich zu den Schuhen, ächzte, zog sie an. „Was ist mit Mama?“, fragte Ines. „Nichts, hat geschlafen.“ „Das möcht’ ich auch mal“, murrte Ines, „an einem Wochentag schlafen, scheiß Schule.“

Sie fuhren doch mit dem Auto. „Con Mario“, stand auf dem Schild, in Großbuchstaben, eine Weinrebe daneben, einfach und grün. Die Pizzeria lag mitten im Ort, am Hauptplatz, zwischen Fleischhacker und Bestatter. Links ein tönernes, lachendes Schwein im Schaufenster, Rauchwurst und Salami, ein Plastikschinken auf einem Teller mit karierten Servietten. Rechts der kleine beleuchtete Kasten mit den aktuellen Partezetteln, daneben die Bestatterauslage, Seidenblumen in schweren Vasen, eine goldene Urne auf einem kleinen, mit weißem Stoff drapierten Sockel.

Mario war tatsächlich Italiener, ohne Meer, ohne Italien. Gestrandet in diesem Nest vor 15 Jahren, als der Dorfwirt in Konkurs gehen musste und das Wirtshaus zum Verkauf stand. Eine Nische füllte er damals und füllt sie noch heute, mit seinem original italienischen Pizzaofen, dem Indianerschnitzel für die Kleinen, den Fitnesssalaten für die Damen, mit Pinienkernen und Olivenöl aus der Toskana, mit der Pizza Diavolo für richtige Männer, wie er sagte. „Willkommen, amico!“ Man spielte Fußball im gleichen Verein.

„Bernardo, mein Freund, meine Damen, bitte sehr.“ Mario führte die Familie an einen Tisch neben der Schank, ein guter Platz. „Wo ist der kleine Siegfried?“ Nur der Italiener nannte Friedl so, er hatte ein Faible für die Nibelungensage, besonders für den Drachentöter, und daraus war diese Tradition entstanden: Friedls Eis. Zwei Kugeln Pistazieneis, ein mit Mandeln gespickter Drachenrücken, die Augen zwei Schokobohnen, Waffeln als Schnauze und Himbeersauce als rote Glut.

„Friedl kommt später“, sagte Fanni. „Per la santa ragazza!“ Mit einer Verbeugung stellte der Italiener einen Teller Nudeln vor Ines, die dankte, mit unbewegtem Gesicht. Santa ragazza, dachte Fanni, ausgerechnet. Ines komme von Agnes, italienisch Agnese, die Heilige, die Geweihte, die Schutzheilige in seiner umbrischen Heimatstadt. „Mia città!“, sagte Mario und griff sich ans Herz.

An diesem Tag hatte er keine Zeit für sein Herz oder Geschichten, das Restaurant war gut besetzt. Bald stürmten Friedl und Leo durch die Tür, Hilda setzte sich im Mantel zu ihnen, bis die bestellte Pizza zum Mitnehmen fertig war, plauderte, sprach, redete, lachte, schwieg nie, atmete nie, flüsterte, lehnte sich zurück, schaute, deutete, lachte wieder, nestelte am Tischtuch, kramte in der Tasche, trank einen Espresso. Fanni hielt sie kaum aus. Seit wann, fragte sie sich, seit wann? Das ist doch nur Hilda. Zurück blieb die Espressotasse, ein Euro fünfzig Trinkgeld und Leos leeres Glas. Kinderfingerabdrücke.

Sattheit legte sich über sie, über Bernhard, der ein abgehacktes Gespräch mit Mario führte, wenn der hinter der Schank zu tun hatte. Über Ines und Friedl, die sich ignorierten und doch nicht. Über Fanni, die so müde wurde, so müde. Sie gähnte. Als Mario im Vorbeigehen „Un momento, Bernardo!“ rief, mit vollen Tellern beladen bis unters Kinn, verzog Ines ihr Gesicht. Heim wollte sie. Gleich. Aufgabe und so. Morgen. Test.

Häppchenweise Informationen, Bruchstücke ihres Alltags. Mehr gab es nicht von Ines. Wo Friedl zu durchschauen war wie ein frisch geputztes Fenster, war Ines Milchglas, Sicherheitsglas. Mit Dunst beschlagen. Verschlagen, fiel Fanni ein. Schnell verwarf sie den Gedanken. Heut bist nicht normal. „Fahrt heim, ich geh’ zu Fuß“, schlug sie vor. Doch ja, sie möchte, und zahlen würde sie auch, also, Abmarsch. Blieb zurück in der warmen Gaststube, saß still, die Hände im Schoß, nickte Bekannten zu, die sie grüßten. Früher kannte hier jeder ihren Großvater. Als das noch ein Wirtshaus war. Als er noch lebte. Der Stammtisch dort, wo nun der Pizzaofen stand. „Weißt du noch, Mario?“, fragte Fanni den Italiener, der sich mit der Rechnung und zwei Gläsern Grappa zu ihr setzte. „Was soll ich wissen?“ Kein Italienern, keine großen Gesten, sprach er allein mit Fanni. „Der alte Stammtisch, von damals, als du das hier gekauft hast.“ Mario lächelte, erinnerte sich. „Das waren Zeiten“, sagte er schlicht. „Prost!“ Sie stießen an. Fanni zahlte.

Draußen schlug ihr kalte Luft entgegen. Vor dem Schaukasten mit den Partezetteln richtete sich Fanni Haube und Schal, während sie die Sterbeanzeigen las und die Gesichter auf den Totenbildern musterte. Der Fritz, dachte sie, der Fritz. Ein Schulkamerad von Bernhard, versoffen und verloren. „Schau an, jetzt ist der Fritz tatsächlich gestorben.“ Sie trat zur Seite, dem Pärchen, das hinter ihr stehengeblieben war, freien Blick auf die schlichte Parte lassend. Ein Spieler, erzählte der Mann, die Leber, was man so redet halt. Hepatitis C oder was Schlimmeres. Im Weggehen hörte Fanni von der Mutter, bei der Fritz zuletzt gelebt hatte, ganz allein mit der Alten, in der Einschicht, weißt eh, wo der Hof …

Die Mutter vom Fritz. Die Mutter vom Mohanned. Die Mutter vom Friedl. „Mein Sohn ist ein Drachentöter“, murmelte sie hinauf zu den Dächern, „dem kann euer Feuer nix anhaben.“ „Und deine Tochter?“, wisperten die Dächer zurück. „Meine Tochter ist eine Heilige“, gab Fanni an und es knirschte und lachte von zehntausend Ziegeln und mehr. „Eine Heilige, eine Eilige …“, schepperte es in der Luft und Fanni lachte mit. Ein Grappa macht noch keinen Schwips, aber die kalte Luft machte ihn, das Blut, das sich frei in den Adern bewegte, die Häuserreihen, die sie aus leeren Auslagen angähnten, das metallische Klirren der Kunstinstallation in der Mitte des Platzes. „Mit Kunst kann man keine Orte füllen“, sagte Fanni zu dem Drahtgeflecht, das einen Hahn darstellen sollte, der sich nach dem Winde richtet. „Mit Kunst nicht, aber mit Gunst“, krähte der Hahn und drehte ihr die Schwanzfedern zu, aus buntem Spiegelglas und zwei Tage nach dem Aufstellen schon zersprungen, der aufstellende Künstler meinte, das gehöre so. „Und du gehörst auf den Kirchturm oder auf den Schrott“, stellte Fanni fest. „Im Sturm zu Gott, zu Gott …“, sangen die Dächer und jagten Fanni aus der Absperrung, die ein Witz war, weil sogar von einem dreijährigen Kind problemlos zu überwinden.

Etwas Unbändiges wollte sich einen Weg bahnen aus tiefer Brust. Aber in dieser Ödnis war kein Platz dafür. Fanni bog vom Hauptplatz ab, die Straße hinunter zum Gemeindezentrum, auch hier fast jedes Geschäft leer, die Scheiben verklebt oder mit Vorhängen zugehängt. „Damit man nicht ins Innerste sieht“, dachte Fanni und blieb stehen, wo es nichts zu sehen gab außer einer vertrockneten Fliege in den Falten eines grauen Stoffes. Den ganzen Winter schon ging sie an dieser Fliege vorbei, früher war hier eine Bäckerei gewesen, um diese Zeit gab es Faschingskrapfen mit Gesichtern, man könnte eine Parte mit einem Faschingskrapfengesicht in die Auslage hängen, das wäre doch ein Kunstprojekt.

Sehr kalt war es geworden. Der Ort sparte am Licht, nur jede zweite Laterne leuchtete, wie im Gemeinderat beschlossen. „Fahr nicht fort, spar im Ort“ stand auf dem Schild bei der Ortsausfahrt. Zweiundfünfzig Meter danach mündete der Gehsteig in einen Radweg, den man auch als Gehweg benutzen durfte. Vorher an der Kirche vorbei, die – ohne Hahn, dafür mit Kreuz – dunkel in den Himmel stach. Am Friedhof vorbei, „Vor der Friedhofsmauer“ hieß der Platz, wo früher die Selbstmörder und Ungetauften verscharrt wurden und wo tatsächlich Menschen wohnten. In Häusern, die stumm waren, deren Dächer sich nobel abwandten vom Ungemach, das zu ihren Füßen lag. Die sich nicht äußern wollten, auch Fannis Schritte ignorierten, die durch die Nacht hallten, weil kein anderes Geräusch sie kleiner machte.

Fenster waren beleuchtet und ohne Store, ganze Fronten aus Glas. Waltraud lehnte in kurzärmeligem T-Shirt und Jogginghose in der modern offenen Küche, betrachtete vielleicht ihre Spiegelung und sah die Frau draußen nicht vorbeigehen, gegenüber, entlang der Friedhofsmauer. Schicke Einrichtung, sicher teuer, sicher Fußbodenheizung, sicher viel Geld, sagte das Bild, das sich da dem geneigten Zuseher, der geneigten Zuseherin präsentierte. Die Welt ist eine Bühne, meinte Waltraud immer, sprach man sie auf ihr Haus an. Ihre „Hütte“, wie sie es nannte, von einem Stararchitekten entworfen und von einem ansässigen Baumeister unter vielen Flüchen umgesetzt. Waltraud lehnte an der edlen Verkleidung der Küchenfront, Walnuss, geölt, leger ein Glas Rotwein in der Hand. Man war sich nicht einig, wie weit der ehemalige Totengrund reichte, stritt darüber im Gemeinderat, bevor man die Baubewilligungen hier durchsetzte. Beim Fundamentaushub sei man jedenfalls nicht auf Skelette gestoßen, weder von Selbstmördern noch von ungetauften Kindern. Antwortete Waltraud nach wie vor auf den Spruch, dass sie Leichen im Keller haben müsse. Lustig sei das nicht mehr, mittlerweile.

Bei einem der Bäume, von denen die Straße alleeartig gesäumt wurde und unter denen sich die Dunkelheit noch weiter verdichtete, blieb Fanni stehen und schaute zurück. Sogar von hier, wo der Platz „Vor der Friedhofsmauer“ in die Friedhofsstraße auslief, sogar aus diesem schrägen Winkel war Waltraud noch zu sehen, in die Küche drapiert, groß, schlank, die lockigen Haare kurz geschnitten, rotbraun, mehr rot als braun, sie hatte da so einen Friseur in Ried. Waltraud unterhielt sich mit jemandem, das war zu erkennen, aber wer war es? Fanni stellte sich näher zum Stamm, wartete ein wenig, bis Gerfriede die Bühne betrat, ebenfalls mit einem Glas Rotwein in der Hand, ebenfalls ihr Spiegelbild prüfend und lachend und sich wieder zurückziehend in den nicht einsehbaren Raum.

Die zwei Kinderlosen, dachte Fanni, die haben sich gut treffen unter der Woche, wann immer sie wollen. Und sie? Könnte anläuten auf ein Glas, muss ja kein Rotwein sein, Waltraud schwor auf Biosäfte vom Hofladen. Fanni könnte sich dazustellen und ihr Spiegelbild ignorieren. Ihr Bild eignete sich nicht zum Gespiegeltwerden in einer Umgebung wie dieser. Was hatte sie an? Alte Jeans, die Strickjacke über einem etwas zu engen T-Shirt, einen ausgeleierten BH, der ihren viel zu großen Busen grad noch in Form hielt. Sollte sie?

Aber dann müsste sie Bernhard anrufen und Bescheid geben. Zögerte. Trat aus dem Nachtschatten und ging weiter, auf ein Dunkel zu, das nun gar nicht mehr unterbrochen wurde vom schwankenden Licht der Straßenlaternen. Das Auge gewöhnt sich, sagte Mutter immer, warte ein wenig, Fanni, das Auge gewöhnt sich an tiefste Finsternis.

Gewöhnt sich so sehr, dass man keine Taschenlampe brauchte auf dem Heimweg. Und obwohl sie eine in der Tasche hatte, eine kleine, griff Fanni nicht danach. Hier, auf dem Radweg, der auch das Gehen erlaubte, der den Ort mit der Siedlung verband, in der sie wohnten. Drohte keine Gefahr von den Autos. Radfahrer waren nicht unterwegs um diese Zeit. Wenn, dann Leute, die den Hund ausführten. Niemand begegnete Fanni, bis sie daheim war.

 

Im Wald

„Fannipold“, wiederholt Poldi. Sein Handy hört nicht auf mit der Tanzerei im Tannennadelbett, mit der Brummerei, mit dem molligen Trauermarsch als Klingelton. „Was bist, ein Totengräber?“ „Nein, nicht wirklich. Ich mach’ ein Praktikum bei einem Bestatter.“ Wie absurd, denkt Poldi, sollen wir uns jetzt austauschen über Alltäglichkeiten, vielleicht ein wenig Smalltalk führen.

Fanni verlagert das Gewicht, die Zehen links kribbeln, als wären die Ameisen in ihrem Körper mittlerweile dort angekommen und bauten sich ein Nest. „Ich glaub’, dein Handy spielt meinen Abgesang.“ „Mein Handy spielt gar nichts.“ Poldi passt sich der neuen Position an, so gut es geht. Sind nur Millimeter, die sie sich bewegen können, er presst Fannis Brust mit seiner linken Hand. Mag nicht mehr, muss aber. Muss er? „Greif nach hinten, Fanni, ich hab ein Tuch um den Hals, bitte, ich kann nicht loslassen.“

Sie antwortet nicht. Dafür spürt er kleine Erschütterungen, ein leises Beben, das näher kommt, woher? Aus Fanni, aus ihrem Bauch, aus ihrer Brust, die stillhalten soll, die nicht einmal tief atmen darf, weil sonst der Ast … „Fanni, halt still!“ Nur, es ist, wie es ist, ein Gelächter drückt sich hoch, krampfig, heftig, Poldi kann nicht mehr tun, als die Frau noch fester an sich zu pressen, sich zu versteifen und das Gesicht von ihrem Helm abzuwenden – denn irgendwohin muss diese Bewegung ja gehen, und tatsächlich wirft Fanni den Kopf zurück, lacht hell hinauf in den grün-gelben Himmel.

„Aua“, lacht sie, die Brust schmerzt ihr. Natürlich lässt sich nicht ganz vermeiden, dass der raue Ast die Wunde weiter aufreibt, dass wieder Blut fließt, es tropft durch Poldis Finger. „Aua“, lacht sie, weint fast, „aua, mein Busen, au, der ist hin …“ Tränen fließen ihr über die Wangen, als der Krampf nachlässt und sie sich langsam beruhigt, still atmet, ab und zu noch ein Zucken, dann ist es vorbei. „Geht’s wieder?“, fragt Poldi, bevor auch er sich entspannt. „Ja.“ Beide schweigen.

Vögel singen, die Sonne fingert sich zwischen die Zweige, über dem Dach aus Gleitschirmstoff muss eine Bläue sein, ein Sommertiefblau, ein Frieden ohnegleichen. Waldgerüche steigen hoch, Gezirpe und Gesumm, ein Rascheln, aber kein Mensch raschelt, keine Rettung, sind nur Tiere, die vorbeihuschen, Mäuse wahrscheinlich, Haselmäuse mit großen Ohren, für Größeres ist der Felssockel zu unwegsam, zu hoch.