Festa mortale - Astrid Plötner - E-Book

Festa mortale E-Book

Astrid Plötner

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Beschreibung

Das italienische Fest - in Unna freut man sich auf fünf Tage voller mediterranen Flairs mit Musik, Essen und fröhlichen Menschen in der kunstvoll beleuchteten Innenstadt. Der kleine Torben will sich zusammen mit seiner Mutter alles von oben ansehen. Als ihre Gondel hoch über dem Festplatz schwebt, glaubt er unten seinen Vater zu sehen, der von der Mutter getrennt lebt. Ungeduldig wartet er, bis er aussteigen kann, und rennt davon, um zu ihm zu eilen. Die Mutter verliert ihn aus den Augen und Torben bleibt verschwunden, trotz intensiver Suche, auch durch die Polizei. Dann findet das Team um Maike Graf und Max Teubner einen Toten. Es wird nicht der einzige bleiben. Nach und nach kristallisiert sich heraus, dass Torben das Verbindungsglied zwischen den Mordopfern ist. Was verschweigt seine Mutter?

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Inhalte

Titelangaben

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Danksagung

Info

Astrid Plötner
Festa mortale
Hellweg-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind das italienische Fest sowie Institutionen, Straßen und Schauplätze in Unna und den anderen Ruhrgebietsstädten, die in diesem Roman vorkommen.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2020
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelbild: © Bodo Küster, Holzwickede
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-230-0
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-220-1
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Astrid Plötner wuchs am Rande des Ruhrpotts im westfälischen Unna auf, wo sie heute mit ihrer Familie lebt. Sie arbeitet seit einigen Jahren als freie Autorin, hat zahlreiche Kurzkrimis in Anthologien und einige Romane veröffentlicht. Zwei Mal, in den Jahren 2013 und 2014, wurde sie für den Agatha-Christie-Preis nominiert.
„Festa mortale“ ist der dritte Kriminalroman der Autorin mit dem Kommissaren-Team Maike Graf und Max Teubner, die im westfälischen Unna ermitteln. Astrid Plötner ist Mitglied der
Autorenvereinigung „Syndikat e.V.“
Weitere Informationen unter: www.astrid-ploetner.de
Für Jörg
Prolog
Der Regen klatschte gegen die Windschutzscheibe und ließ die Wischerblätter vergeblich gegen die Wassermassen kämpfen. Jens stierte durch die Scheibe, alles verschwamm vor seinem Auge. Durch die Wasserflut funkelten ihn die Rückleuchten eines LKW an wie die Augen des Teufels, der ihn in die Hölle locken wollte. Jens fummelte hektisch am Kragen seines Hemdes. Während er seine linke Hand ums Lenkrad krampfte, versuchten die klobigen Finger seiner Rechten, den winzigen Knopf durch das kleine Loch zu schieben. Schweiß trat auf seine Stirn, sein Herz raste. Die Bremslichter des LKW kamen näher. Jens nahm die zweite Hand wieder ans Lenkrad und donnerte seinen Fuß auf die Bremse, bis der Wagen endlich stand.
Verdammt! Wollte diese Fahrt denn niemals enden?
Seit der Auffahrt auf die A1 in Hagen fuhr er von einem Stau in den nächsten, folgte eine Baustelle der anderen. Er nahm beide Hände vom Lenkrad, riss am Kragen, obwohl der LKW vor ihm gerade wieder anfuhr. Endlich gab der Knopf nach und flog mit Schwung gegen das Seitenfenster. Der PKW hinter ihm hupte.
»Ja! Ich fahr ja schon, du Vollidiot!«, brüllte er in den Rückspiegel. Als er zum Anfahren in den ersten Gang schaltete, kreischte das Getriebe. Der Wagen ruckelte, Jens drückte seinen Fuß aufs Gaspedal. Der Ford Fokus jaulte empört. Er kam sich vor wie ein Fahranfänger, zwang sich zur Ruhe, schaltete hoch und schloss mit seinem Wagen wieder zum LKW auf. Im Rückspiegel sah er, wie der BMW hinter ihm sich in die Blechlawine auf der Mittelspur zwängte. Er drehte das Radio lauter, die 17-Uhr-Nachrichten von Antenne Unna brachten gerade die Verkehrsmeldungen.
»Es ist voll auf den Straßen«, hörte er den Moderator sagen. »495 Kilometer Stau in NRW. Hier nur die längsten: A1 Richtung Münster Osnabrück, zwischen Schwerte und Unna 15 Kilometer, hier braucht ihr eine halbe Stunde länger, 13 Kilometer am Kamener Kreuz, auch hier mindestens 30 Minuten mehr …«
Jens schlug verzweifelt aufs Lenkrad. »So ein Mist! Verdammt!« Er hatte längst zu Hause sein wollen. Mittwochs unterrichtete er nur bis 14 Uhr. Heute hatte ihn allerdings noch ein Elterngespräch in dem Hagener Gymnasium zurückgehalten. Ein Ehepaar befürchtete, der Sohnemann könnte das Klassenziel nicht erreichen. Seine letzten Klassenarbeiten waren mangelhaft gewesen. Mündlich arbeitete der Junge genauso wenig mit, wie er seine Hausaufgaben erledigte. Das Gespräch mit den Eltern war ätzend gewesen und hatte sich über eine Stunde hingezogen. Der Vater kannte seine Grenzen nicht, hatte beim Verlassen des Klassenzimmers sogar gebrüllt: »Sie alter Fettsack sollten lieber Sport treiben, als Ihren Frust an der Benotung Ihrer Schüler auszulassen!«
Noch jetzt musste Jens verärgert darüber den Kopf schütteln. Klar war es leichter, das Unvermögen des Kindes auf die Schuld des Lehrers abzuwälzen. Das rechtfertigte aber keine Beleidigung! Dass er dick war, wusste er selbst. Bei einer Größe von 1,95 Metern brachte er 159 Kilogramm auf die Waage. Er aß nun mal gerne und hatte eine Vorliebe für Burger, Pizza und Lasagne. Obwohl ihm sein Arzt empfohlen hatte, das Gewicht zu reduzieren. Mit 48 Jahren, dem massigen Übergewicht und dem oft besorgniserregenden Bluthochdruck sei er im Feld der Gefährdeten auf Herzinfarkt und Schlaganfall angelangt.
Der LKW rollte wieder an. Der Regen hatte etwas nachgelassen. Jens gab Gas, schaute in den Außenspiegel und setzte den Blinker. Dann schob er sich frech vor den BMW, der es noch nicht geschafft hatte, an ihm vorbeizukommen, und nun wiederum hupte.
»Leck mich!«, brummte Jens nur und überholte den LKW langsam. Auf der rechten Spur reihten sich die Lastwagen wie an einer Perlenkette. In der Mitte ging es jetzt etwas schneller voran. In einiger Entfernung konnte man bereits das Schild erkennen, das die Ausfahrt Unna anzeigte.
Er schwitzte immer noch. Zudem machte sich vom Nacken her unangenehmer Kopfschmerz bemerkbar. Sein Arzt hatte ihm gesagt, das könne ein Anzeichen für den hohen Blutdruck sein. Zu Hause würde er den Wert also zunächst überprüfen müssen. Jens wischte sich mit dem Hemdsärmel durchs Gesicht. Nach Einnahme der blutdrucksenkenden Tabletten würde er sich besser fühlen. Dann stünde seinem Vorhaben, nach Dortmund zu fahren, nichts mehr im Wege. Die Gelegenheit, das Etablissement in der Linienstraße aufzusuchen, bot sich ihm nur am Mittwoch. Da besuchte seine Frau stets ihren gemeinsamen Sohn Manuel.
»Eigentlich müsste ich ein schlechtes Gewissen haben!«, murmelte Jens und wischte sich abermals den Schweiß von der Stirn. Ein Jahr nach Manuels Geburt hatte er zum ersten Mal den Puff in Dortmund besucht. Er fand das weniger anstößig, als sich eine Geliebte zuzulegen. Schließlich ging es ihm ausschließlich um Sex und nicht um irgendwelche anderen Gefühle.
Endlich näherte er sich der Ausfahrt. Jens lenkte den Wagen zwischen zwei LKW zurück auf die rechte Spur und konnte kurz darauf die Autobahn verlassen. Zehn Minuten später erreichte er sein Haus in Unna-Massen. Als er den Ford Fokus verließ, hörte er die Kirchturmglocke der Friedenskirche schlagen. Es musste halb fünf sein. Jens eilte ins Haus. Die Vorfreude auf sein Schäferstündchen in Dortmund trieb ihn voran.
»Annabelle?«, rief er laut ins Haus. Es bestand ja immerhin die Möglichkeit, dass sie zu Hause war. Allerdings kehrte sie von den Besuchen bei Manuel selten vor acht zurück. Meist wurde es zehn. Jens hechtete die Treppe hoch.
Zunächst würde er seinen Blutdruck messen. Das Gerät befand sich in der Nachttischschublade. Er band die Manschette straff um den Oberarm und startete das Gerät, so wie man es ihm nach Erkennen der Krankheit gezeigt hatte. Verdammt! 220 zu 117. So hoch war der Wert lange nicht gewesen. Er sollte dringend anfangen, etwas Sport zu treiben und die Ernährung umzustellen. Vorsichtshalber würde er heute zwei Tabletten nehmen. Er griff erneut in die Schublade, nahm das Tablettendöschen heraus und fischte zwei Kapseln hervor. Gott, was konnte er in der Nähe schlecht sehen! Auch das sei eine Folge des Bluthochdrucks hatte ihm sein Arzt gesagt. Jens nahm die Kapseln mit ins Bad, füllte den Zahnputzbecher und spülte das Medikament mit viel Wasser herunter. Danach wollte er duschen und die verschwitzten Sachen wechseln. Aber ein paar Minuten blieb er auf dem Badewannenrand sitzen.
Kurz darauf ließ er heißes Wasser über seinen Körper rauschen und schloss einen Moment die Augen. Als er die Dusche verließ, rauschte es immer noch in seinem Kopf. Leichter Schwindel erfasste ihn. Er musste wirklich dringend etwas gegen den Bluthochdruck unternehmen.
Mit unsicheren Schritten wankte er zum Waschbecken, hielt sich daran fest und starrte in den beschlagenen Spiegel. Nur langsam wich der Dunstschwaden und gab sein rundes, leicht gerötetes Gesicht preis. Ein Tropfen Blut rann aus seiner Nase. Verdammt! Allmählich müssten die Tabletten doch wirken. Ob er die Konturen seines Bartes noch trimmen sollte? Nein! Er war spät genug dran. Rasch trocknete er sich ab.
Als er sich nach seiner Jeans bückte, die vom Toilettendeckel auf den Boden gerutscht war, wurde ihm einen Moment schwarz vor Augen. Schweiß brach aus all seinen Poren. Warum gab es in diesem Bad nur kein Fenster? Er öffnete die Tür zum Flur und zog sich an. Danach ging er die Treppe hinab und griff nach seiner Jacke. Als er in der Tasche den Autoschlüssel nicht fühlte, fiel ihm ein, dass er den auf dem Bett liegen gelassen hatte.
Er musste noch einmal die Treppe hinauf. Jens keuchte, als er nach dem Schlüssel griff. Langsam ging er zur Treppe zurück. Ihm wurde speiübel. Alles drehte sich. Er hielt sich krampfhaft am Geländer fest und nahm die erste Stufe. Bei der dritten zuckte ein heftiger Schmerz durch seinen Brustkorb. Instinktiv ließ er das Geländer los und presste beide Hände auf sein Herz. Dabei übersah er die nächste Stufe und trat ins Leere. Er wollte sich noch ans Geländer klammern, doch er griff daneben. Sein massiger Körper fiel nach vorne. Er prallte mit der Schulter auf die Stufen, überschlug sich und donnerte die Treppe hinab ins Erdgeschoss, wo er reglos liegen blieb.
Eine Woche später
Die Zeitung in meiner Hand raschelt, als ich ein Blatt umschlage. Ich sehe die Todesanzeigen im Hellweger Anzeiger. Die Traueranzeige von ihm ist die größte. Da steht sein Name neben einem Kreuz. Gerade einmal 48 Jahre alt ist er geworden. Darunter ein Spruch, der nach Hohn und Lüge schreit.
»Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt. Sprüche Salomos 16,9.«
Hohn und Lüge! Denn gestorben ist der Mann durch mich.
Ich habe besorgt, womit sein Medikament manipuliert worden ist. Während er glaubte, seinen Blutdruck zu senken, hat der Inhalt der Kapseln ihn noch mehr in die Höhe gejagt, sodass er einen Herzinfarkt erlitten hat und die Treppe hinabgestürzt ist. Zum Glück hat der Notarzt keinen Verdacht geschöpft. Jens war ja ein Risikopatient.
Was fühle ich beim Anblick seiner Todesanzeige? Mein Mund ist staubtrocken. Meine Hände zittern. Dennoch fühle ich mich nicht als Mörder. Auch nicht als Henker. Es war nicht meine Absicht. Ich konnte ja nicht wissen, dass …
»Man wird dich dafür verantwortlich machen!« Kalte Worte. Leise gezischt und doch deutlich.
Ich schüttele den Kopf. Das kann nicht sein. Das wird nicht sein.
Außerdem ist niemand ohne Schuld, erst recht nicht Jens. Dennoch … wenn irgendjemand herauskriegt, dass dieses Zeug von mir ... Ich schließe verzweifelt die Augen.
Es darf niemals jemand erfahren.
Ich starre eine Weile auf die Todesanzeige. Irgendwann habe ich endlich die Kraft, die Zeitung zu schließen. Das Papier knistert laut.
Dann ist es wieder ruhig um mich herum.
Drei Monate später
Mittwoch, Eröffnungstag der Festa Italiana
1. Kapitel
Ob die südländischen Klänge von den Bühnen des italienischen Festes bis zu ihr in die Lortzingstraße hallten, konnte Kriminalhauptkommissarin Maike Graf nicht hören. Aus der Nachbarwohnung drang das Kreischen der Flex, die Nick Nigge nun seit Stunden nur mit kurzen Unterbrechungen aufheulen ließ. Dabei störte es Nigge weder, dass es mittlerweile auf 22 Uhr zuging, noch, dass sein Hund ununterbrochen bellte. Nigge war Alleinunternehmer und arbeitete daher nur in seiner Freizeit an der Renovierung. Seit Monaten stand Baumaterial im Flur und Maike musste sich den Weg zu ihrer eigenen Wohnung über Fliesenkartons und Zementsäcke bahnen. Dazu kam, dass Nigge seinen Hund viel zu oft allein ließ.
»Armer Bolt«, murmelte Maike und meinte damit den Labrador ihres Nachbarn. Sie trank das Glas Mineralwasser leer und griff nach ihrer Lederjacke. Den heutigen Abend würde sie sich nicht verderben lassen. Sollte der Typ ruhig weiterlärmen! Irgendwann würde die alte Döring aus dem Erdgeschoss für Ruhe sorgen.
Bevor Maike die Wohnung verließ, warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. Ihr welliges braunes Haar, das sie während der Arbeitszeit meist hochsteckte oder zu einem Pferdeschwanz zusammenband, umspielte sanft ihre Schultern. Zur Jeans trug sie eine weiße Leinenbluse und ebenfalls weiße Sneakers. Als Maike den Hausflur betrat und die Treppe hinabstieg, vermied sie es, den Handlauf zu berühren, über den sich eine weiße Schicht Zementstaub gelegt hatte. Als endlich die Haustür hinter ihr zufiel, atmete sie auf.
Maike schlug den Fußweg Richtung Innenstadt ein. Sie war um zehn mit den Kollegen Teubner und Reinders am Rathausplatz verabredet. Überall sah sie Menschenmassen in die Innenstadt strömen. Heute am Eröffnungstag des italienischen Festes schien ganz Unna auf den Beinen zu sein. Allmählich sah sie die ersten Lichter leuchten und hörte laute Musik, die von der Bühne am Rathaus herüberschallte. Sie erkannte den Song Lasciatemi cantare von Toto Cotugno. Eine Gruppe Frauen mittleren Alters grölte den Text mit. Sie hatten sich eingehakt, hüpften wie kleine Schulmädchen und lachten albern.
Endlich erreichte Maike die Fußgängerzone und blieb überwältigt stehen. Dicht gedrängt schob sich eine Lawine aus Menschen über die Bahnhofstraße, unter den hohen Lichterbögen aus filigranem, weiß lackiertem Holz hindurch, an denen Tausende bunter Glühlampen leuchteten. Laut eines Berichts im Hellweger Anzeiger waren an die 500.000 installiert worden. Links von Maike erhob sich zwischen Post und Rathaus eine prachtvolle Bühne, die wie ein bunt illuminierter Tempel wirkte. Davor eine Menschentraube, die gerade nach Zugabe schrie und applaudierte, als der Sänger der italienischen Band nach seiner Gitarre griff. Als der Italiener die ersten Klänge des Songs Se bastasse una canzone von seinem berühmten Kollegen Eros Ramazzotti anschlug, jubelten die Fans.
Rechts neben der Bühne, auf dem Rathausplatz, erhob sich ein Riesenrad, das die dahinter gelegene Kirche Sankt Katharina an Größe übertraf. Darunter duckten sich Buden, die italienische Spezialitäten anboten. Die davorstehenden Bierzeltgarnituren waren allesamt besetzt. Maike bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen und hielt Ausschau nach ihren Kollegen. Endlich erkannte sie auf einer der Sitzbänke Sören Reinders. Erleichtert ging sie auf ihn zu.
»Hey, Sören, ist Max noch nicht da?«
»Setz dich«, erwiderte Reinders und zog seine Jacke beiseite, um ihr Platz zu machen. »Teubner sorgt für Getränke.«
Maike rutschte neben ihn auf die Bank. Ihr Blick fiel auf die Bühne, wo sich der Italiener gerade unter Applaus verabschiedete.
»Hallo, Maike. Zum Wohl!«, grüßte Teubner. Er balancierte drei Gläser Rotwein auf einem Tablett und schob sich neben ein Ehepaar gegenüber von Maike auf die Bank. Er hatte sich für den Abend in Schale geschmissen. Zur Jeans trug er ein kurzärmeliges weißes Oberhemd. Seine sonst so wirr stehenden braunen Haare, durch die sich blonde Strähnen zogen, hatte er mit Gel in Form gebracht.
»Prost!«, sagte Maike, hob ihr Glas und stieß mit den Kollegen an.
»Hast du es doch noch geschafft, dich aus dem Büro loszueisen?«, fragte Teubner. Für den Moment konnte man sich in normaler Lautstärke unterhalten.
Maike nickte nachdenklich. Max Teubner hatte ihr gemeinsames Büro in der Polizeidienststelle Unna verlassen, als sie eine ältere Dame befragt hatte, die einen Kupferdiebstahl anzeigen wollte. Unbekannte Täter hatten von ihrem Haus die Dachabflussrinne abmontiert. Maike kannte solche Fälle zuhauf. Meist waren reisende Banden dafür verantwortlich, die nur selten gefasst werden konnten.
»Ja«, sagte sie. »Leider konnte die Bürgerin, die den Diebstahl anzeigen wollte, keine Täterbeschreibung abgeben. Sie hat den Verlust der Dachrinne erst bemerkt, als sie morgens mit ihrem Hund vom Brötchenholen kam. Der oder die Täter müssen …«
»Hallo!«, meckerte Reinders, verdrehte seine sonst immer lebhaft blickenden braunen Augen und raufte sich die blonden Haare. »Wir haben FEIERABEND! Soll ich Nachschub holen oder wollen wir uns von der Menge zum Marktplatz treiben lassen?«
Maike antwortete nicht und blickte interessiert zu einem Einsatzwagen der Kollegen, der mit blickendem Blaulicht in einer nahen Seitenstraße hielt. Zwei Uniformierte bahnten sich den Weg durch die Menge und steuerten auf das Riesenrad zu.
»Sie kann nicht abschalten«, jammerte Reinders und brachte seinen schlaksigen Körper in die Senkrechte. »Ich hol also erst einmal Nachschub.«
Da auf der Bühne nun ein Paar den Hit Felicità von Al Bano und Romina Power coverte, fing die Menschentraube davor wieder an, mitzusingen, was eine Konversation unmöglich machte. Nach einer Weile zwängte sich Reinders durch die dicht stehenden Tische mit den Weingläsern auf einem Tablett zurück. Er bewegte die Lippen. Sang er etwa mit? Maike musste grinsen. Sie nahm ihm ein Glas ab und hob es in Richtung ihrer Kollegen. »Die nächste Runde geht auf mich!«, rief sie und trank. Im nächsten Moment erkannte sie Polizeioberkommissar Gerold Schmidtke von der Bereitschaft, der die Gäste an den Bierzeltgarnituren befragte. Einige Minuten später trat er zu ihnen.
»Hey, Gerold!«, grüßte Reinders. »Heute Bereitschaft zu haben, ist kein Vergnügen, was?« Er grinste und knuffte den Kollegen in die Seite.
»Nee. Bestimmt nicht. Erst recht nicht, wenn hier auf dem Fest ein Kind verschwindet und wir total unterbesetzt sind. Die Mutter macht sich kirre und behauptet, ihr Torben wäre entführt worden.«
»Felicitá«, grölte die Menschentraube.
»Und?«, rief Reinders gegen den Lärm an. »Was steckt dahinter?«
Der Uniformierte hob ratlos die Schultern. »Ich kenne die Familienverhältnisse nicht. Der Kindsvater soll seiner Ex-Frau heute Morgen gedroht haben, sich den Jungen zurückzuholen. Nun glaubt sie, er hat ihn in seine Gewalt gebracht und er könnte ihm etwas antun. Die Frau hat sich mir gegenüber ziemlich hysterisch verhalten und ihre Behauptungen klangen reichlich übertrieben. Wir müssen der Sache jedenfalls nachgehen.«
»Wann ist das Kind denn verschwunden?«, fragte Maike.
»So gegen 21 Uhr heute Abend«, erwiderte Schmidtke.
Maike blickte auf die Uhr. »Das sind nicht einmal zwei Stunden. Könnte sich der Junge nicht allein auf dem Fest amüsieren?«
»Die Mutter behauptet, dann hätte er Bescheid gegeben. Alessia Sobek, arbeitet hier an dem Stand ihrer Eltern, die ein italienisches Restaurant betreiben«, erklärte er laut. »Vielleicht habt ihr ja Lust, bei der Suche zu helfen?«
Maike und Teubner schwiegen wenig begeistert.
»Klar helfen wir«, erklärte Reinders jedoch spontan. Vermutlich, weil er selbst eine Tochter im Alter des verschwundenen Jungen hatte und die Sorgen der Mutter gut verstehen konnte. »Hast du ein Foto?«
Polizeioberkommissar Schmidtke nickte und zückte sein Handy. Er rief die Datei auf und hielt sie den Kollegen entgegen. Das Bild zeigte das blasse Gesicht eines etwa 10-jährigen Jungen mit kurzen, dunkelbraunen Haaren und braunen Augen. Seine schmalen Lippen lächelten zaghaft. Er wirkte wie ein zerbrechliches Kerlchen.
»Schick uns die Datei rüber«, bat Reinders.
Schmidtke nickte und schickte das Foto auf Reinders Handy, der es an Maike und Teubner weiterleitete.
»Wie können wir helfen?«, fragte Maike.
Schmidtke rieb nachdenklich über seinen Dreitagebart. »Den Wagen des Vaters haben wir auf keinem der näheren Parkplätze finden können, die Festa-Besucher gewöhnlich benutzen. Er scheint also nicht oder nicht mehr hier zu sein. Natürlich könnte er auch zu Fuß in die Innenstadt gekommen sein. Die Frage ist, ob der Junge wirklich bei ihm ist. Aber in diesem Tumult wird es schwer, eine Spur von ihm zu finden. Ihr könntet die Leute Richtung Marktplatz befragen.«
»Habt ihr versucht, den Vater zu erreichen?«, mischte sich Teubner ins Gespräch, das nun relativ normal verlaufen konnte, da die Musiker eine Pause eingelegt hatten. »Vielleicht ist ja alles ganz harmlos und der Mann amüsiert sich nur ein wenig mit seinem Sohn auf dem Fest. Wer weiß, wie oft er den Jungen sehen darf.«
Schmidtke nickte und hob gleichzeitig ratlos die Schultern. »Der Vater ist weder über Handy, noch in seinem Büro oder bei sich zu Hause erreichbar. Seine Lebensgefährtin hat keine Ahnung, wo er sich aufhält. Davon, dass er sich mit Torben treffen wollte, weiß sie nichts.«
Reinders leerte sein Weinglas und zündete sich eine Zigarette an, deren Rauch er tief in die Lungen sog. »Man kann Kindesentzug nicht ausschließen. Außerdem wissen wir nicht, was in der Familie los ist. Torben könnte sich also tatsächlich in Gefahr befinden. Warum sollte die Mutter so eine Drohung erfinden?«
»Okay«, seufzte Maike. »Wir wollten sowieso Richtung Marktplatz aufbrechen. Wir befragen die Händler und Gastronomen in der Fußgängerzone. Denen fällt wahrscheinlich am ehesten etwas auf.«
2. Kapitel
Auch kurz vor Mitternacht schallten die italienischen Klänge weiterhin aus den Lautsprechern der beiden Bühnentempel durch die Innenstadt. Maike zwängte sich zwischen den immer noch dicht gedrängt stehenden Menschen. Ihr Ziel war der Sammelpunkt am Nordring, einer Seitenstraße nahe der Fußgängerzone. Leider hatte die Befragung der Festa-Besucher und Händler bislang nichts gebracht. Max Teubner und Sören Reinders beteiligten sich weiterhin an der Suche nach Torben. Man hatte Verwandte, Freunde, Mitschüler und seine Vereinskollegen vom Fußballclub kontaktiert. Niemand hatte ihn gesehen. Der Junge galt nun seit drei Stunden als vermisst und man musste sein Verschwinden ernst nehmen.
Inzwischen war eine Ermittlungsgruppe aus Dortmund hinzugezogen worden, unter der Leitung von Jochen Hübner. Als Maike ihrem langjährigen Lebensgefährten, den sie vor einigen Jahren verlassen hatte, jetzt gegenübertrat, bemerkte sie ein Kribbeln in der Magengegend. Wie oft hatte sie bereut, ihm den Laufpass gegeben zu haben? Er hatte sich kaum verändert. Die dunklen kurzen Haare lagen korrekt nach hinten frisiert, vielleicht war der Bart etwas grauer geworden. Ein freudiges Flackern glitzerte in seinen graugrünen Augen, als er sie jetzt erkannte.
»Hallo, Maike! Schön, dich zu sehen.«
»Hallo, Jochen!« Sie lächelte, hätte ihn am liebsten gefragt, ob sie nicht wieder einmal zusammen essen gehen könnten.
Er räusperte sich und klärte sie dann über den aktuellen Ermittlungsstand auf. »Es ist stets ein Drama, wenn ein Kind verschwindet. Würdest du die Mutter des Jungen noch einmal befragen? Sie sitzt drüben im Mannschaftswagen.« Er deutete auf ein Polizeifahrzeug, das am Straßenrand abgestellt war.
Maike nickte. »Klar, mache ich.« Kurz darauf stieg sie in den Transporter, wo sie sich Alessia Sobek gegenübersetzte und sich als Hauptkommissarin vorstellte.
»Man muss doch irgendwas tun können!« Die Italienerin wirkte nervös und verzweifelt. Sie schien etwas kleiner als Maike zu sein und etwa im gleichen Alter, also Ende 30. Zur engen schwarzen Hose trug sie gleichfarbige Pumps, eine weiße Bluse, die über der Brust etwas spannte, und unter dem Blusenkragen ein rotes Tuch, das auf einheitliche Berufskleidung im Service auf dem italienischen Fest deutete. Ihr kräftiger Körper rutschte unruhig auf dem Autositz hin und her.
»Haben Sie das Telefon von Thomas schon geortet?«, fragte sie aufgeregt. »Mein Ex-Mann hat Torben entführt. Ich bin mir sicher!« Sie trommelte mit den Fingern auf ihre Oberschenkel.
»Beruhigen Sie sich bitte«, bat Maike. »Verschwundene Kinder tauchen in der Regel sehr schnell wieder auf.« Sie verschwieg der Frau, dass das Telefon ihres Ex-Mannes ausgeschaltet war und sich somit nicht orten ließ.
»Sie verstehen das nicht!«, begehrte die Italienerin nun auf. »Wenn Torben bei Thomas ist, sehe ich ihn vielleicht nie wieder. Mein Gott, hätte ich doch nur besser aufgepasst!«
Maike kamen die Worte von POK Schmidtke in den Sinn, der Alessia Sobek unterstellt hatte, sie würde maßlos übertreiben. Vielleicht fühlte sich Torben bei seinem Vater wohler? »Haben Sie eine Idee, was Ihr Ex-Mann mit dem Jungen vorhaben oder wo er sich mit ihm aufhalten könnte?«
»Was weiß ich?«, murrte Alessia Sobek. »Vermutlich hat er ihm irgendwas versprochen und ihn unter einem Vorwand in seinen tollen Mercedes gelockt. Um ihn dann mit sich nach Hause zu nehmen. Haben Sie da nach ihm gesucht?«
Maike hatte das Licht im Mannschaftswagen eingeschaltet, einen Laptop auf ihrem Schoß abgestellt und tippte die Aussage der Frau mit. Nun blickte sie auf. »Den Mercedes Ihres Mannes haben die Kollegen inzwischen im Parkhaus an der Massener Straße gefunden. Laut seiner Lebensgefährtin Birte Winkler stellt er das Auto dort stets ab, wenn er in seiner Kanzlei zu tun hat. Dort hat niemand geöffnet. Frau Winkler hat übrigens sofort eingewilligt, als wir uns im Haus Ihres Ex-Mannes umsehen wollten. Dort gibt es leider weder eine Spur von Torben noch von Ihrem Ex-Mann. Frau Winkler ist selbst in Sorge.«
Alessia Sobek wischte diese Information mit einer fahrigen Handbewegung beiseite. »Was heißt das schon! Thomas kann mit dem Jungen überall sein. Das muss er der Tussi ja nicht gesagt haben.«
»Vielleicht beginnen wir ganz von vorn«, bat Maike geduldig. »Dann kann ich mir ein besseres Bild machen. Sie haben Torben heute mit aufs italienische Fest genommen, obwohl Sie wussten, dass Sie kaum Zeit für ihn haben würden?«
Alessia Sobek seufzte tief. »Mein Gott, ja. Er ist ja kein Kleinkind mehr. Und die Mutter seiner Freundin Fiona wollte später nach ihm sehen. Aber da war Torben schon weg.« Sie schlug die Beine übereinander, revidierte ihre Haltung, da sie ihr wohl unbequem war und schob die Füße vor den Sitz. »Meinen Eltern gehört das Ristorante Riccardo Rossi in Unna-Königsborn. Zum Fest übernimmt dort meine Mutter, ich helfe Vater am Stand vor der Kirche Sankt Katharina. Torben wollte zur Eröffnung unbedingt mit, also hat er uns heute so gegen 15 Uhr in die City begleitet.« Sie schob eine Strähne ihrer dunklen, welligen Haare, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte und ihr ständig ins Gesicht fiel, hinter die Ohren. »Natürlich wurde ihm bald langweilig. Irgendwann half auch das Smartphone nicht mehr.«
»Und da fanden Sie Zeit, mit ihm ins Riesenrad zu gehen?« Maike dachte an die Menschenmassen auf dem Fest, die möglichst schnell bewirtet werden wollten.
»Ich hatte es Torben am Nachmittag versprochen. Das Columbia-Rad steht ja in der Nähe unseres Stands. Meine Mutter konnte das Rossi vorzeitig schließen, da keine Gäste gekommen sind. Als sie hier eingetroffen ist, bin ich mit meinem Sohn zum Riesenrad gegangen.«
»Was passierte als Nächstes?«, fragte Maike und beobachtete aus den Augenwinkeln zwei Kollegen der Streife, die keine zwanzig Meter entfernt einige alkoholisierte Jugendliche ansprachen. Sie saßen auf den Stufen vor der Volksbank, jeder mit einer Flasche Wodka in der Hand.
Alessia Sobek trommelte erneut mit den Fingern auf ihre Oberschenkel. »Als das Riesenrad anhielt, um die Ersten wieder aussteigen zu lassen, und wir aus einer der oberen Gondeln nach unten schauten, glaubte Torben seinen Vater zu sehen und wurde unruhig. Er wollte unbedingt zu ihm. Als die Fahrt zu Ende war, rannte er sofort los.«
»Aber Sie sind ihm doch sicher gefolgt? Wohin ist er gelaufen?«
Die Italienerin seufzte. »Das habe ich doch alles schon Ihrem Kollegen erzählt. Ich bin beim Aussteigen mit dem Fuß umgeknickt. Da brauchte es einige Schritte, bis ich wieder auftreten konnte. Torben ist auf den Durchgang neben der Apotheke zugelaufen.«
»Haben Sie Ihren Ex-Mann auch gesehen?«
Alessia Sobek schüttelte langsam den Kopf. Dann blickte sie sich zu den Jugendlichen um, die jetzt laut krakeelten. Eine Flasche ging klirrend zu Bruch, der Alkohol ergoss sich über die Treppe.
»Was macht Sie so sicher, dass Ihr Ex-Mann Torben entführt haben könnte? Vielleicht ist Ihr Sohn freiwillig mit seinem Vater gegangen. Oder könnte Torben sich nach dem langweiligen Nachmittag nicht einfach allein auf dem Fest umgesehen haben? Vielleicht hat er einen Freund getroffen?«
Alessia Sobek drehte sich wieder zu Maike und blickte sie an. »Nein! Er hätte mir in jedem Fall Bescheid gegeben!« Sie seufzte und fuhr fort: »Wenn er mit seinem Vater gegangen ist, hat der ihm vielleicht gesagt, ich wüsste schon Bescheid.«
»Hat er Ihnen Torben zuvor schon einmal entzogen?«
Alessia Sobek schüttelte langsam den Kopf. »Nein, das nicht. Aber ich traue es ihm auf jeden Fall zu.« Sie lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, dann erzählte sie von ihrer Ehe mit dem Rechtsanwalt, die vor fünf Jahren in die Brüche gegangen sei und zuvor nur aus Streit bestanden habe. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das klarmachen soll, aber Thomas ist ein Mann, der sich nimmt, was er will. Er hatte in den sieben Jahren, die wir verheiratet waren, unzählige Affären. Dennoch ist es ihm gelungen, mich während der Scheidung so ins schlechte Licht zu rücken, dass man ihm das Sorgerecht zugesprochen hat.«
Maike blickte verwundert auf. »Ich dachte, Torben lebt bei Ihnen?«
Alessia Sobek lächelte müde. »Inzwischen tut er das wieder. Aber nur, weil er Thomas lästig geworden war. Als mein Ex seine jetzige Lebensgefährtin kennenlernte, brauchte er eine sturmfreie Bude und gab Torben zu mir, obwohl er das Sorgerecht offiziell immer noch hat. Er begnügt sich seitdem mit 14-tägigen Treffen an den Wochenenden.«
Die Jugendlichen zogen endlich weiter. Die Kollegen hatten die Personalien überprüft, scheinbar waren alle volljährig. Maike atmete auf, da jetzt nur noch die Musik vom Fest gedämpft herüberschallte und man sich wieder besser konzentrieren konnte.
»Warum glauben Sie, dass Ihr Ex-Mann Ihren Sohn entführt hat? Ihre Verhältnisse scheinen sich doch geklärt zu haben.«
Die Italienerin senkte den Kopf, vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte leise. »Sie kennen Thomas nicht. Mal ist er verständnisvoll, dann wieder äußerst aggressiv, ungeduldig und cholerisch.« Sie zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte sich die Tränen fort. »Er muss seinen Willen durchsetzen. Egal wie.«
Maike blickte auf. »War Ihr Ex-Mann jemals gewalttätig gegenüber dem Jungen? Hat er ihn geschlagen?«
Aus Alessia Sobeks dunklen Augen sprach Verzweiflung. »Das nicht«, flüsterte sie kaum hörbar. Dann schwoll ihre Stimme wieder an. »Aber er handelt manchmal völlig irrational. Ein Erlebnis werde ich nie vergessen. Als ich vor fünf Jahren die Scheidung eingereicht habe, hat er Torben und mich am Wochenende danach eingeladen, auf den Turm der Stadtkirche zu steigen. Wir könnten ja trotz Trennung noch Unternehmungen als Familie machen. Als wir zu dritt da oben waren, hob er Torben plötzlich auf die Brüstung und zischte mir zu, er würde ihn hinunterstoßen, wenn ich die Scheidung nicht zurückziehe.« In Erinnerung an das Erlebnis begann Alessia Sobek zu zittern. »Leider hat das damals niemand mitbekommen.« Sie schluchzte und schnäuzte sich.
»Gab es weitere Erlebnisse dieser Art?«, fragte Maike.
»Nicht direkt, aber heute Vormittag …«, brachte sie mühsam hervor, »… rief er mich an … und erklärte mir, er wolle mit Torben ins Disneyland Paris fahren.« Sie rieb sich mit dem Taschentuch über die Augen, womit sie ihre Wimperntusche völlig verschmierte. »Warum muss er solche Unternehmungen immer so kurzfristig ankündigen?«, rief sie verzweifelt. »Ich habe natürlich protestiert.«
Maike wartete geduldig, bis Alessia Sobek sich ein wenig beruhigt hatte. »Und deshalb glauben Sie nun, er hat den Jungen heimlich mitgenommen?«
Die Italienerin hob vage ihre Schultern. »Wir haben heftig gestritten. Dabei hat er tatsächlich behauptet, er wolle Torben wieder zu sich holen. Seine Lebensgefährtin könne keine Kinder bekommen und bei ihm wäre Torben sowieso besser aufgehoben. Als ich ablehnte, brüllte er, das würde ich bereuen. Wenn der Junge nicht bei ihm leben dürfte, dann bei mir erst recht nicht. Da ist bestimmt was Schlimmes passiert und mein Ex ist dafür verantwortlich.«
Maike schwieg und tippte die Aussage der Frau zu Ende. Auch Namen und Adresse von der Freundin Fiona, die sie vielleicht noch einmal selbst befragen wollte. Nach momentaner Faktenlage glaubte sie nicht, dass Torben sich in Gefahr befand. Vermutlich hatte Alessia Sobek nur Angst davor, Torben an seinen Vater zu verlieren, der ja offiziell das Sorgerecht besaß. Rätselhaft blieb lediglich, warum der Vater nicht erreichbar war und warum er nicht einmal seiner Lebensgefährtin Bescheid gesagt hatte. Dass Torben sich allein auf dem Fest amüsierte, daran glaubte Maike inzwischen nicht mehr. Könnte er mit einem Fremden mitgegangen sein? Wurde er bedroht? Wo steckte der Junge?
Die Tür des Mannschaftswagens wurde aufgezogen. Max Teubner blickte herein. Er machte einen verschwitzten und müden Eindruck. »Hast du einen Moment?«, fragte er.
»Gibt es etwas Neues von Torben?«, platzte Alessia Sobek heraus.
Teubner schüttelte den Kopf. »Leider nein. Wenn Sie hier fertig sind, sollten Sie mit Ihren Eltern nach Hause fahren. Wir informieren Sie, sobald es Neuigkeiten gibt.«
Alessia Sobek blickte Maike fragend an. »Darf ich?«
Maike nickte sofort. »Natürlich. Wenn ich noch Fragen habe, melde ich mich.« Sie klappte den Laptop zu und stieg hinter der Italienerin aus dem Auto. Von der Bühne am Rathaus hörte sie die Musik nun wieder lauter. Eine Band coverte gerade den Song Amada mia amore mio.
Teubner wartete, bis Alessia Sobek außer Hörweite war. »Es gibt doch Neuigkeiten«, sagte er ernst. »Reinders und ich haben die obere Innenstadt durchsucht und dort die Leute befragt.«
»Und?«, fragte Maike gespannt.
»Wir waren gerade in der Nähe des Kastanienbrunnens, da kam von der Leitstelle eine Durchsage, dass ein Ehepaar im Parkhaus an der Flügelstraße ein Handy gefunden hat«, erklärte Teubner. »Ein Smartphone der Marke Samsung. Die beiden hatten eine Durchsage von Antenne Unna über Torbens Verschwinden gehört, einen Zusammenhang befürchtet und deshalb die Polizei informiert. Das Handy ist das gleiche Modell, wie Torben eines besitzt.«
Maike stöhnte leise. Sollte es sich um Torbens Smartphone handeln, war das sicher kein gutes Zeichen. »Bringt Reinders das Smartphone in die Kriminaltechnik?«
Teubner schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben in der Parkbucht noch eine Injektionsspritze gefunden. Ist möglich, dass der Junge damit betäubt und dann in einem Auto verschleppt wurde. Die Kollegen aus Dortmund haben im Parkhaus übernommen. Sie werden jetzt das ganze Parkhaus auf den Kopf stellen, Überwachungskameras checken und auch das Handy auslesen. Beten wir, dass es nicht Torbens Smartphone war und dass die Spritze von einem Junkie stammt, der sich in Ruhe seinen Schuss setzen wollte.«
Donnerstag, 2. Festtag
3. Kapitel
Max Teubner lag im Bett und wartete auf das Klingeln des Weckers um 7 Uhr. Seine Gedanken drehten sich um das Verschwinden des Jungen und seines Vaters. Trotz des heutigen Feiertages war für 8:30 Uhr eine Durchsuchung des Hauses von Thomas Sobek angesetzt. Man erhoffte sich Hinweise auf seinen Verbleib und den aktuellen Aufenthaltsort von Torben.
Plötzlich wurde das morgendliche Vogelkonzert übertönt von einem Rumpeln, das ihn hochschrecken ließ. Mit einem Satz war er am Fenster und blickte in den Vorgarten des alten Landhauses seiner Tante, bei der er seit einigen Jahren das Obergeschoss bewohnte. Er erkannte seinen Sohn Raffael, der sich bemühte, eine umgefallene Mülltonne wieder aufzustellen. Er schien Mühe zu haben, sein Gleichgewicht zu halten. Teubner runzelte die Stirn. So kannte er Raffael nicht. Er hatte zwar erst vor etwa zwei Jahren von der Existenz seines Sohnes erfahren, aber nach anfänglichen Diskrepanzen war Raffael nach dem Krebstod seiner Mutter zu ihm gezogen. Teubner würde ihr Verhältnis nun als freundschaftlich bezeichnen.
Endlich stand die Mülltonne. Raffael hielt sich daran fest, dann beugte er sich zur Seite und übergab sich auf den Rasen. Teubner wandte sich vom Fenster ab, schlüpfte in Jeans, T-Shirt und Turnschuh, dann lief er die Treppe hinab und öffnete die Haustür. Die Sonne warf ihre ersten Strahlen über die angrenzenden Hausdächer und traf Raffael wie ein Scheinwerfer.
»Seltsame Bühnenshow«, murmelte Teubner und trat auf seinen Sohn zu, der keuchend über der Tonne hing. »Guten Morgen, Junior. Hast wohl zu tief ins Glas geschaut, wie?«
Raffael drehte den Kopf zur Seite. Im grellen Sonnenlicht wirkte er wie ein Gespenst. Kalkweiß im Gesicht, die Pupillen geweitet. Was von seinen Locken noch übrig geblieben war, nachdem er sich vor zwei Wochen beim Friseur seine Haare seitlich hatte abrasieren lassen, stank nach Bier. Das schwarze T-Shirt mit dem weiß gedruckten Label von Calvin Klein hing halb aus der Jeans, deren Reißverschluss offen stand. »Hab gar nicht viel getrunken«, lallte er und versuchte, sich aufzurichten.
Teubner hielt ihn an den Oberarmen. Dabei nahm er den süßlichen Geruch von Marihuana wahr. Er runzelte die Stirn, sah Raffaels stumpfen Blick aus seinen sonst so aufgeweckten grünen Augen und seufzte. Ihn jetzt über mögliche Konsequenzen von Drogenkonsum zu ermahnen, erschien ihm sinnlos. Sein benebelter Zustand war damit allerdings erklärt. Er würde am Abend ein ernstes Wort mit Raffael reden müssen. »Sieh zu, dass du deinen Rausch ausschläfst«, sagte er daher nur eindringlich, half ihm die Treppe hinauf und schaffte ihn in sein Zimmer, wo sein Sohn ins Bett fiel und sofort einschlief.
Als Teubner kurz danach in seinem schwarzen Scirocco den Weg von Fröndenberg-Langschede nach Unna zur Dienststelle fuhr, beschäftigten sich seine Gedanken mit dem Verhalten seines Sohnes. Warum kiffte der Junge? Machte er das schon länger oder hatte er es nur einmal ausprobieren wollen? Teubner hatte schon seit einiger Zeit Veränderungen im Verhalten Raffaels bemerkt. Bislang hatte er an eine Mädchenbekanntschaft gedacht, die Raffael noch geheim halten wollte. Vielleicht brachte ihn aber auch der Umgang mit den falschen Freunden vom rechten Weg ab.
Er fuhr aus dem Ringtunnel in Unnas Stadtmitte. Wegen der Baustelle für das geplante Einkaufscenter auf dem Gelände der alten Mühle Bremme war hier nur Tempo 30 erlaubt. Reinders stand bereits an der Straße und zog an einer Zigarette, in der anderen Hand hielt er ein Papier. Teubner sammelte den Kollegen ein.
»Hat die Haunhorst gefaxt.« Er wedelte mit der Durchsuchungsanordnung für das Haus von Thomas Sobek. »Die Staatsanwältin schafft es nicht pünktlich.«
»Wie? Sie kommt persönlich? Warum das?«, wunderte sich Teubner, da er wusste, dass Staatsanwälte aus Zeitmangel sehr selten bei einer Hausdurchsuchung dabei waren. In deren Büros stapelten sich die Akten bis zur Decke.
Reinders hob vage die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht geht ihr der Fall einer Kindesentführung besonders nah.«
Gut zehn Minuten später erreichten sie Sobeks Haus in der Wohnsiedlung Kastanienhof. Das Gebäude lag etwas abseits, nur begrenzt von einer dichten Baumbepflanzung, die als Lärmschutz hin zu der alten B1 diente. Ein buntes Verblendmauerwerk unter schwarzem Krüppelwalmdach, aus dem mehrere Gauben wuchsen, weiße Sprossenfenster, die bis zum Boden reichten und eine Eingangstür mit kunstvoll eingearbeiteten Intarsien machten das Haus zum Schmuckstück der Straße. Reinders betätigte die Klingel. Sekunden später öffnete eine langhaarige Blondine mit breitem dunklem Haaransatz. Teubner schätzte die Frau auf Anfang 30. Sie stellte sich als Birte Winkler und Sobeks Lebensgefährtin vor. Ihr hübsches Gesicht, war leider aufwendig geschminkt, mit Betonung auf ihre rehbraunen Augen und die vollen Lippen.
»Haben Sie Torben gefunden? Thomas hat sich noch nicht bei mir gemeldet, wissen Sie ja. Ich habe die ganze Nacht versucht, ihn zu erreichen. Manchmal vergräbt er sich in seine Arbeit, will nicht gestört werden, wenn er einen verzwickten Fall übernimmt. Aber in Kombination mit dem Verschwinden von Torben … So langsam mache ich mir Sorgen!« Ihre Stimme wirkte hektisch. Sie strich fahrig ihre rechte Hand an ihrer Jeans ab, hielt sie den Beamten jedoch nicht zum Gruß entgegen, sondern schob sie in die Hosentasche.
Reinders hielt ihr die Anordnung entgegen. »Wir müssten uns bei Ihnen umschauen. Möglicherweise ergibt sich ein Hinweis, wo sich Ihr Lebensgefährte mit seinem Sohn aufhält.«
Birte Winkler griff nach dem Papier, überflog es und trat einen Schritt zur Seite. »Ich verstehe das nicht. Was erwarten Sie hier zu finden? Thomas ist gestern in die Kanzlei gefahren, rief mir noch zu, es könne später werden. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Aber eines kann ich Ihnen sagen: Wenn Torben bei ihm ist, dann steckt da irgendjemand dahinter, keine Ahnung, wer, aber ganz sicher hat er ihn nicht einfach mitgenommen. Das war nicht mit Alessia abgesprochen, Thomas hält sich immer an Absprachen.« Ihre Stimme klang gestresst.
Teubner betrat hinter Reinders das Haus. »Das ist reine Routine, Frau Winkler. Der Sohn Ihres Lebensgefährten ist seit über elf Stunden verschwunden, vielleicht macht Herr Sobek einen spontanen Ausflug mit ihm und wir finden hier einen Anhaltspunkt.«
Birte Winkler schüttelte nur stumm den Kopf, wollte die Haustür zuschieben, hielt aber inne, als ein Polizeitransporter die Einfahrt hinauffuhr und vor dem Eingang hielt. »Gehören die zu Ihnen?«
Teubner nickte, begrüßte die eintreffenden Kollegen und teilte sie ein. Da das Haus nicht unterkellert war, musste man nur das Erdgeschoss, den ersten Stock und den Spitzboden durchsuchen. Teubner wandte sich erneut an Birte Winkler. »Würden Sie mir kurz das Garagentor öffnen?« Er deutete auf die Garage, die baulich nicht mit dem Haus verbunden war und am Ende der Einfahrt stand.
Sobeks Lebensgefährtin nickte abwesend, griff an ein Schlüsselbrett und zog kurz danach das Tor auf. Sie deutete auf einen roten Smart. »Das ist mein Auto. Thomas stellt seinen Mercedes meist vor der Garage ab, da er das Haus morgens immer vor mir verlässt.«
Teubner nickte, warf einen Blick in das Fahrzeug und griff automatisch an den Kofferraumdeckel, der jedoch verschlossen war. Er hörte Birte Winkler seufzen, dann betätigte sie die Zentralverriegelung mit dem Autoschlüssel, der auch an ihrem Bund hing.
»Glauben Sie wirklich, wir würden Torben hier einsperren? Thomas liebt den Jungen! Sie sind auf der völlig falschen Fährte!«
Teubner zuckte nur die Schultern, fand den Kofferraum jedoch leer vor. Kein gefesseltes Kind, keine Decke oder Plane, nicht einmal ein Einkaufskorb oder gesammeltes Leergut. Auch der Rest der Garage nährte keine Verdachtsmomente: Zwei Benzinkanister, ein Satz Winterreifen, sowie eine Kiste mit Werkzeug. Zudem ein Rasenmäher und einige Gartengeräte. »Vielen Dank, Sie können das Tor wieder schließen. Gibt es auf dem Grundstück ein Gartenhaus, eine Laube, Geräteschuppen oder Ähnliches?«
Birte Winkler schüttelte den Kopf, blickte dabei für den Bruchteil einer Sekunde jedoch auffallend nervös in Richtung des Gartens.
»Ich sehe mich kurz hinter dem Haus um. Sie dürfen gerne wieder hineingehen«, erklärte Teubner, wartete die Reaktion der Frau gar nicht ab und betrat zwischen Wohnhaus und Garage einen Gehweg seitlich des Hauses. Durch eine Rasenfläche, die mit drei blühenden Obstbäumen bepflanzt war, konnte man das Grundstück hinter dem Haus erreichen. Mit einem kurzen Seitenblick erkannte er im Erdgeschoss zwei kleine Fenster, im Obergeschoss zwei größere, zum Dach hin ein dreieckiges. Der rückwärtige Garten umfasste etwa 150 Quadratmeter. Den Rand zierte ein Beet von gut einem Meter Breite, bepflanzt mit Hortensien, Rhododendren, Buchsbäumen und anderen Ziergewächsen. In der Mitte des englischen Rasens wuchs eine mittelgroße Eiche. Einen Schuppen oder Ähnliches, das man als Versteck nutzen konnte, gab es nicht. Teubner wandte sich ab, um zum Eingang des Hauses zurückzugehen. Als er die Hausseite erreichte, öffnete sich dort eine Stahltür, die er zuvor nicht bemerkt hatte. Eine kräftige Gestalt mit dunklen kurzen Haaren schob sich heraus und drückte die Tür leise zu.
»Herr Sobek?«, rief Teubner. »Ich müsste kurz mit Ihnen reden!«
Der Mann blickte sich erschreckt um, drehte sich sofort ab und rannte über die Einfahrt zur Straße.
»Scheiße«, murmelte Teubner und nahm die Verfolgung auf. »Stehen bleiben!«, rief er laut und folgte dem Mann, der sich erstaunlich schnell einen großen Vorsprung erlief. Für einen Anwalt war er äußerst salopp gekleidet mit löchrigen Jeans, Hoodie und Sportschuhen. Sobek schlug mehrere Haken, rannte durch kleinere Straßen, vorbei an einem Kindergarten mit Spielplatz, der am heutigen Feiertag jedoch verwaist war. Am Ende der Straße übersprang er eine kleine Hecke und rannte über ein Privatgrundstück. Teubner keuchte. Der Anwalt war verdammt gut in Form. Mit einem Satz flog er über einen niedrigen Zaun, rannte über den folgenden Parkplatz, den sich die Supermärkte Edeka und Norma teilten. Hier konnte Teubner den Abstand zu Thomas Sobek verringern. Seine Kondition schien doch die bessere zu sein. Nur noch etwa fünf Meter lagen zwischen ihnen.
»Nun bleiben Sie endlich stehen, Herr Sobek. Wir erwischen Sie früher oder später sowieso«, brüllte Teubner außer Atem.
Der Mann verlangsamte tatsächlich sein Tempo. Mit einem Sprint erreichte Teubner ihn, riss ihn an der Schulter zurück und drehte ihm sofort den rechten Arm auf den Rücken. »Sie werden mich jetzt brav zurück zum Haus begleiten. Und dort dürfen Sie mir einige Fragen beantworten.« Er löste die Handschellen von seinem Gürtel, verschloss sie um das Handgelenk des Mannes sowie um sein eigenes Gelenk. Allmählich kam er wieder zu Atem. »Haben Sie etwas mit dem Verschwinden Ihres Sohnes Torben zu tun?«
Der Kerl blieb abrupt stehen. Sie hatten inzwischen fast die Ausfahrt des Parkplatzes erreicht. »Wovon reden Se da, Mann?«
»Ihr Sohn ist seit gestern Abend verschwunden. Davon wird Ihre Lebensgefährtin Ihnen ja berichtet haben. Wo haben Sie …«
»Jetzt halten Se mal den Ball flach, Herr Kommissar. Ich heiß nich Thomas Sobek, sondern Matthias Winkler und bin der Bruder vonne Birte. Mit dem Verschwinden vonnem Torben hab ich nix zu tun. Den kenn ich ja kaum.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, dabei blieb er mit seiner Armbanduhr an der Brille hängen, die zu Boden fiel. Fluchend bückte er sich, rieb sie am Hoodie sauber und setzte sie wieder auf.
Jetzt war es an Teubner, überrascht zu sein. »Sie sind nicht Thomas Sobek? Können Sie sich ausweisen?«
Winkler zog ein Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche, was sich wegen der Handschellen schwierig gestaltete, Teubner musste seiner Hand mit dem Arm folgen, auch als Winkler seinen Personalausweis herausfischte. »Bitte schön!«
Teubner überprüfte das Dokument. Matthias Winkler war 36 Jahre alt, 1,82 Meter groß und wohnhaft in Dortmund-Hörde. »Was wollten Sie von Ihrer Schwester und warum sind Sie geflüchtet?«
Der Mann stieß einen Lacher aus. »Wenn ich einen vonne Trachtengruppe auftauchen seh, mach ich mich lieber dünne. Weiße, was ich meine? Hab nich so dolle Erfahrungen mit eurem Verein gemacht.«
»Heißt?«
Winkler versuchte, mit der rechten Hand etwas aus seiner linken Hosentasche zu fischen. »Können Se mir das Scheißding nich runtermachen? Ich lauf schon nich wech.« Er zerrte an den Handschellen.
Teubner ignorierte seinen Wunsch. »Wir können unser Gespräch gerne auf der Dienststelle fortführen. Sie begleiten mich jetzt zurück zum Haus und dabei beantworten Sie gefälligst meine Fragen.«
»Is ja gut«, murrte Winkler, während er neben Teubner herging. »Ich hab im Knast gesessen. Urkundenfälschung. Da war ich ’n Job los und die Wohnung konnt ich mir schon gar nich mehr leisten, ne. Jetzt wohn ich inner Plattensiedlung in Hörde. Echt ätzend da.«
»Was wollten Sie von Ihrer Schwester?«
Winkler hob die Schultern, den Blick hielt er auf den Bürgersteig gerichtet. »Seit ’m Knast krich ich Hartz IV. Damit kannze keine großen Sprünge machen, ne. Ich wollte Birte nach ’nem bissken Kohle fragen. Sie hat ja genuch und ihr Macker sowieso. Sie müssen sich die Hütte von denen mal ankucken. Alles vom Feinsten.«
»Wo befanden Sie sich, als wir das Haus betraten?«
»Können Se mir ma eben die Kippen ausse Tasche ziehen? Ich brauch gezz eine«, bat Winkler.
Teubner blieb stehen und schloss ihm stattdessen die Handschellen auf. »Keine Dummheiten«, mahnte er.
Winkler steckte sich sogleich eine Zigarette an, sog den Rauch tief in die Lungen ein und ließ ihn durch die Nase entweichen. »Ich war innem Wirtschaftsraum von denen. Der is gleich hinterm Eingang und hattn Ausgang innen Garten. Als Se geklingelt haben, dacht ich ers, es wär der Sobek. Dem wollt ich nich inne Quere kommen, ne. Ich hab ’ne Weile anne Tür gelauscht und als ich kapiert hab, dass Ihr Verein wohl länger brauchen tut, wollt ich lieber die Biege machen.«
»Ihr Verhältnis zum Lebensgefährten Ihrer Schwester ist also nicht sonderlich gut?«
Winkler nahm einen weiteren Zug. »Nee, überhaupt nich. Der hat mich vor Gericht inne Scheiße geritten, obwohl er mich doch raushaun sollte, kapierste das? Dafür braucht ich ihn dann nich bezahlen. Und verlangt hat er, dass ich ’n Kontakt zur Birte abbreche. Ich hab Hausverbot bei denen.«
»Und deshalb treffen Sie Ihre Schwester nun heimlich?«
»So isses«, sagte Winkler und trat die Zigarette kurz vor der Einfahrt des Hauses von Thomas Sobek auf dem Bürgersteig aus.
»Wo waren Sie gestern Abend gegen 22 Uhr?«
Winkler seufzte. »In meine Wohnung vor der Flimmerkiste. Allein. Trotzdem die Wahrheit. Ehrlich.«
Teubner schob den Mann durch die Haustür, die weit aufgesperrt war. Dann trat er zur Seite, um einem uniformierten Kollegen Platz zu machen, der eine Kiste mit Ordnern aus dem Haus schaffte. Aus dem oberen Stockwerk hörte er die Stimme von Staatsanwältin von Haunhorst, die inzwischen eingetroffen sein musste, um sich einen eigenen Überblick zu verschaffen. Er übergab Matthias Winkler in die Obhut eines Streifenpolizisten, der ihn mit zur Dienststelle nehmen würde, damit seine Aussage dort aufgenommen werden konnte. Im selben Moment kam die Staatsanwältin die Treppe herunter. Die blonden Haare hatte sie hochgesteckt, allerdings trug sie heute, am Feiertag, keinen Anzug und Pumps, sondern Jeans, T-Shirt und Blazer. Sie nickte Teubner zu, ließ sich von ihm die Sachlage erklären und nickte.
»Herr Winkler hat also kein Alibi«, resümierte sie. »Einen Grund, Herrn Sobek eins auszuwischen, hätte er offensichtlich. Wir sollten vielleicht klären, ob er so weit gehen würde, dafür ein Kind zu entführen. Dringlicher ist jedoch, Herrn Sobek zu finden. Die Kollegen haben in seinem Büro hier im Haus Eintrittskarten fürs Disneyland Paris gefunden, die auf das kommende Wochenende ausgestellt sind. Es wäre also möglich, dass er mit seinem Sohn bereits dorthin unterwegs ist.«
»Ohne die Karten? Das kann ich mir nicht vorstellen. Und mit welchem Verkehrsmittel? Sein Auto steht ja hier in Unna«, erklärte Teubner. »Frau Winkler hat außerdem einen besorgten Eindruck gemacht, als ich sie befragt habe. Ich glaube nicht, dass Herr Sobek sich ohne ihr Wissen auf die Reise machen würde. Und er müsste doch Kleidung und Waschzeug mitgenommen haben. Ist Frau Winkler aufgefallen, dass etwas fehlt?«
Die Staatsanwältin schüttelte den Kopf. »Nein. Sie behauptet, Reisetaschen und Koffer seien komplett. Außerdem hätte Torben hier im Haus nur für den Notfall eine Hose zum Wechseln. Die sei noch vorhanden. Wenn er zum Übernachten herkomme, bringe er immer Sachen mit.«
»Haben Sie eigentlich zwei oder drei Karten für das Disneyland gefunden?«
»Drei Eintrittskarten und eine Buchung für zwei Übernachtungen im Familienzimmer eines der angegliederten Hotels.«
»Da dürfte doch klar sein, dass Birte Winkler mitfahren sollte«, befand Teubner.
Lina von Haunhorst strich eine Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus der Hochsteckfrisur gelöst hatte. »Sie behauptet, sie wisse nichts von den Karten. Möglicherweise habe ihr Lebensgefährte eine Überraschung geplant.«
»Aber wo ist er dann jetzt mit dem Jungen?«, rätselte Teubner. »Wir sollten in jedem Fall seine Kanzlei durchsuchen. Vielleicht finden sich dort Anhaltspunkte, wo er sich aufhalten könnte.«