Festspielfieber - Tim Frühling - E-Book

Festspielfieber E-Book

Tim Frühling

4,6

Beschreibung

Schauspielerin und Diva Natascha Gessler, die Hersfeld nicht von Helmstedt unterscheiden kann, liegt tot in ihrer Garderobe der Stiftsruine. Kommissar Daniel Rohde und sein Team ermitteln mit Witz und Geschick – und stellen bald fest, dass die Spur zum Mörder weit in die Vergangenheit zurückreicht . . .

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Seit Tim Frühling arbeitet, arbeitet er beim Radio. Nach Praktikum und Volontariat beim Lokalfunk in Baden-Württemberg kam er mit zweiundzwanzig Jahren zum Hessischen Rundfunk nach Frankfurt. Dort hat er über acht Jahre beim Jugendsender YOUFM moderiert, bevor er 2006 zu hr3 gewechselt ist. Seit 2008 präsentiert er im hr-Fernsehen und in der ARD außerdem das Wetter.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.  

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©Bad Hersfelder Festspiele/Steffen Sennewald Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-986-8 Originalausgabe

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Ein guter Abgang ziert die Übung.

Friedrich Schiller

Je preiser gekrönt, desto durcher gefallen.

Prolog

»Bad Hersfeld?«

Michael Vieregge hatte sich im Laufe seines Lebens als Künstleragent daran gewöhnt, dass seine Bühnenstars auf Gastspiele in der Provinz mit Skepsis oder Ablehnung reagierten. Den Namen einer unschuldigen Stadt mit derartig viel Entsetzen und Ekel in den Telefonhörer zu rotzen, das gelang allerdings nur Natascha Gessler.

Kein Wunder, dass diese Frau zu den Bestsellern von Vieregges Agentur zählte. Aufbrausend, unberechenbar, ganzheitlich von der Theatralik besessen. Diese Charaktereigenschaften machten »die Gessler« nicht nur zu einer begehrten Rollenspielerin, sondern auch zu einem gern gesehenen Gast in Klatschspalten und Talkshows.

Kein Rückblick war im vergangenen Jahr ohne die Szene gesendet worden, in der sie einem Spitzenpolitiker im Eifer des Gefechts ein Glas Prosecco in den Schritt kippte. Sie fand, dass im Zoo von Bremerhaven die Robbenbabys unglaublich traurig aussahen– und machte dafür den regierenden Bürgermeister persönlich verantwortlich.

Wer die Gessler einlud oder engagierte, konnte sich fest auf Skandale und Schlagzeilen verlassen. Vieregge wusste, dass seine Protagonistin in heiklen Situationen nur mit zwei Utensilien zu beruhigen war: Samthandschuh und Engelszunge. Und an milden Tagen vielleicht noch mit guten Argumenten. Die hatte er sich extra aufbewahrt, weil er ahnte, dass das Rollenangebot aus einer osthessischen Kleinstadt bei Natascha nicht gerade für ein großes Hallo sorgen würde.

»Hör dir erst mal an, worum es geht. Das Ganze ist wirklich interessanter, als es zunächst klingt.«

Verächtliches Schnauben am anderen Ende der Leitung.

»Die Hersfelder Festspiele sagen dir ja bestimmt was. Open Air, in einer berühmten Ruine, uralte Tradition. Aber jetzt halt dich fest, du kennst die Regisseurin noch nicht.«

Die Gessler schickte ein gelangweiltes Ausatmen durch den Hörer, aber Vieregge wusste, dass er ab jetzt ein wahres Füllhorn an Trümpfen in der Hand hatte. Einen davon zog er jetzt.

»Valerie Prohaszka!« Der Agent machte eine kleine Pause. Er fand, dass der Name einer echten Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin einen Moment der Ruhe rechtfertigte. Weil von Natascha nichts zu hören war– immerhin auch keine Geräusche, die Ablehnung signalisieren würden–, legte Vieregge nach.

»Die Österreicherin bringt für zehn Abende ihr erstes selbst geschriebenes Stück auf die Bühne. Es heißt ›Gezeiten‹ und wurde, warte mal kurz…« Hektisches Blättern im Büro des Künstler-Agenten. »Ah, ja hier. Das Manuskript zu dem Stück wurde im vergangenen Jahr in Weimar mit dem thüringischen Löwen und in Innsbruck mit der Goldenen Dachschindel ausgezeichnet. In Bad Hersfeld soll die deutsche Uraufführung stattfinden.«

An dieser Stelle hätte sich Vieregge schon ein klein bisschen Begeisterung von seiner Mimin gewünscht. Stattdessen ließ sie nur ein unwirsches »Mhm« vernehmen, was bei einer Frau wie der Gessler so allerhand bedeuten konnte. Deswegen blieb Vieregge nichts anderes übrig, als an dieser Stelle des Gesprächs seinen vorletzten Trumpf auszuspielen.

»›Gezeiten‹ ist ein Stück für nur drei Darsteller. Ein Mann, zwei Frauen. Vielleicht kurz zum Inhalt: Der Mann setzt sich über gängige Konventionen hinweg und lebt mit beiden Frauen zusammen. Klingt aus meiner Sicht schon mal traumhaft.« Für diesen müden Herrenwitz konnte man von der Gessler keinen Applaus erwarten, deswegen sprach Vieregge schnell weiter. »Jedenfalls, der Mann hat ein Problem: Die eine Dame liegt ihm charakterlich eher, die andere entspricht seinen sexuellen Phantasien, was das Aussehen angeht. Er versucht nun, einen Transformationsprozess einzuleiten und beide Frauen nach seinem Gusto zu formen. Ich lese dir das mal kurz aus der Zusammenfassung des Stücks vor: ›Prohaszka führt ihre Zuschauer in eine bizarre Welt menschlicher Abgründe, chauvinistischer Triebsteuerung, rasanter Paradigmenwechsel und der bedingungslosen Hingabe, zu der nur Liebende fähig sind.‹«

Die Gessler räusperte sich genervt. »Sind die beiden anderen Rollen schon besetzt?«

Michael Vieregge ballte die Faust. Die passende Frage, um endlich seinen Haupttrumpf zu platzieren. Nun war es an ihm, seine Protagonistin mit ein wenig Theatralik auf die Folter zu spannen.

»Ja, warte mal, ich habe mir das irgendwo notiert.« Künstliches Geraschel. »Für den Mann konnten sie Hans Hofstede gewinnen. Der hat ja letztes Jahr schon Erfahrungen bei den Festspielen in Worms gesammelt, davor war er lange in Bochum–«

Ungeduldig unterbrach Natascha ihn. »Jaja, Hofstede, kenne ich. Wer ist die andere Frau?«

Michael fuhrwerkte noch ein bisschen mit dem Papier herum und tat, als könnte er seine Notizen nur mit Schwierigkeiten entziffern. Er wusste, dass die Gessler kurz davor war, anzubeißen. Preisgekröntes Stück, Deutschland-Premiere, kaum Götter neben ihr auf der Bühne.

»Ja, die andere Rolle soll wohl an Juli Blum gehen.« Er hörte, wie am anderen Ende der Leitung affektiert Luft eingezogen wurde. Gut so, gut so.

1

Wolfgang »Wolli« Angerstein saß mit einem Dauergrinsen in der Pressekonferenz. Der Lokalreporter der »Osthessischen Landeszeitung« war von seinem Redaktionsleiter in diesem Jahr mit der kompletten Berichterstattung rund um die Hersfelder Festspiele beauftragt worden. Ein klarer Affront gegen die Damen aus der Kulturredaktion!

Aber Wollis Chef schwebte in der sechsundsechzigsten Spielzeit ein anderer Zugang vor: Ihn reizte die Kontroverse, die ein Reporter seines Blatts auslösen würde, der sonst eher mit Kommunalfinanzen, Bebauungsanträgen und dem regionalen Strukturwandel befasst war. Ironischerweise hatte ihn gerade sein Mangel an kultureller Kenntnis für diesen Job qualifiziert: Nachdem die Kultur-Kolleginnen erfahren hatten, dass Valerie Prohaszka in diesem Jahr die künstlerische Leitung der Festspiele und die Regie bei ihrem eigenen Stück übernehmen würde, entbrannte auf der Stelle ein unwürdiger Cat-Fight über die Frage, wer von den dreien die Haus- und Hofberichterstattung rund um den Shootingstar der österreichischen Theaterliteratur würde übernehmen dürfen. Das Gefauche musste sich bis zum Chefredakteur herumgesprochen haben, der jedenfalls baute sich noch am selben Tag in der Lokalredaktion vor Wolfgang Angerstein auf und wollte von ihm wissen, ob er jemals etwas von einer gewissen Frau Prohaszka aus Graz gehört habe.

Wolli glänzte durch Unwissen und war damit in den Augen seines Vorgesetzten der richtige Mann, um das Treiben dieser Österreicherin mit der gebotenen kritischen Distanz zu begleiten. Und dass diese Aufgabe derartig amüsant werden würde, hätte sich Wolli kaum träumen lassen. Denn diese Prohaszka schien ein Schätzchen mit ganz besonderen Ansprüchen zu sein.

Von seinem Kumpel aus dem Tourismusverband hatte er gesteckt bekommen, dass die Frau Festspielleiterin keine Hotelzimmer mit Ostfenstern beziehe, ausschließlich in leicht aufgerauter Biberbettwäsche zur Ruhe finden könne und ein Mineralwasser aus der nahen Rhön wegen seines Natriumgehalts für untrinkbar erklärt habe.

Vor diesem Hintergrund wunderte sich Wolli nicht darüber, dass auf dem Podium der Pressekonferenz neben Frau Prohaszkas Namensschild zwei Flaschen Mondwasser standen. Quellwasser ohne Kohlensäure, in einer Vollmondnacht abgefüllt.

Nicht nur diese kleine Schrulle brachte den Herrn von der Zeitung zum Grinsen, auch Valeries Ausführungen über ihren Stil der Inszenierung erheiterten ihn sehr. Die Darsteller ihres selbst geschriebenen Stücks bezeichnete Frau Prohaszka nur als »den Hans«, »die Juli« und »die Natascha«, obwohl sie auf Nachfrage eines Kollegen zugeben musste, dass sie mit diesen Schauspielern noch nie zusammengearbeitet oder sie je getroffen hatte. Auf jeden Fall wolle sie den Hans, die Juli und die Natascha an der ganz langen Leine spielen lassen.

»A jeda vun die draa soj das Stick in si aafsaugn und ohne Hemmungan aufspuin. Draa individuelle Inszenierungan, quasi parallel, Metamorphosen auf da offenan Bühne, sich entfernand und gleizeitig fusionierand. Be-fruch-tand im eigentlichen Sinn des Worts und des Stücks.«

Die Prohaszka fuchtelte dramatisch mit ihren dürren Händen in der Luft herum. Dabei klirrten ihre zwanzig Armreifen und versauten den Radiokollegen vom Hessischen Rundfunk die Aufnahme.

»Das ist ›Gezeitan‹ in Bad Hersfeld! Das ist ein neuer Meilanstein in der Geschichte der Spiele! Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.«

Selten hatte Wolfgang Angerstein auf einer Pressekonferenz mehr sinnloses Geschwafel gehört als hier. Allerdings hatte er auch selten Pressekonferenzen aus der Welt der Schönen Künste miterlebt. Fest stand für ihn schon jetzt, dass hier mindestens genauso viel gelogen wurde wie in der Politik, seinem eigentlichen Ressort. Denn in Vorbereitung auf seine neue Rolle als Festspielreporter hatte er sich aus den einschlägigen Klatschspalten angelesen, dass Natascha Gessler nichts von Juli Blum hielt und Hans Hofstede nichts von Natascha Gessler und Juli Blum.

Wolli wiederum hielt nichts von Valerie Prohaszka und begann sich zunehmend auf seine Aufgabe zu freuen.

* * *

Die Hersfelder »Kurkongress- und Tourismus-GmbH(KKT)« war von Anfang an ein umstrittenes Konstrukt. Kurz nachdem mit Stephan Goldhagen zum ersten Mal ein Politiker des Freien Bürgerbündnisses den Rathaussessel bezog, wurde auf sein Betreiben hin die windige Gesellschaft gegründet. Nach Darstellung des Bürgermeisters sollte die Institution den lahmenden Kurbetrieb auf Trab bringen, Kongresse nach Waldhessen locken und den Tourismusstandort Hersfeld professioneller vermarkten. Kritiker sahen in der KKT nichts anderes als ein Instrument, treue Parteifreunde mit lukrativen Posten zu versehen.

Das bezog sich vor allem auf Jürgen Hartmann. Er hatte 2011 den Wahlkampf von Goldhagen organisiert– und fand sich wenig später auf dem Posten des Geschäftsführers der neu installierten GmbH wieder. Auf diesen Titel legte Hartmann großen Wert. Er residierte in gediegenen Büroräumen, die die Stadt aus einer kurzerhand erhobenen Umlage finanzierte. Einen Euro zwanzig pro Besucher und Übernachtung mussten die Beherbergungsbetriebe für die Leistungen der KKT abführen.

Hartmann hatte sich durch sein bisweilen majestätisches Auftreten den Spitznamen »Attaché« erarbeitet. Ständig gab er seiner Umgebung das Gefühl, dass dieser Geschäftsführerposten in der Provinz eigentlich unter seinem Niveau lag. Nicht dass er diese Überheblichkeit bisher mit Zahlen untermauern konnte, aber bei vielen kamen seine glanzvollen Auftritte gut an. Irgendwie gelang es Hartmann, alle seit Jahren davon zu überzeugen, dass seine Bemühungen kurz vor dem Durchbruch standen und der osthessischen Kreisstadt demnächst ein wahrer Boom an Übernachtungen und Tagungen bevorstand.

Mittlerweile freute er sich sogar auch auf den alljährlichen Empfang der Festspieldelegation im Rathaus. Das war zu Beginn seiner Amtszeit noch ein wenig anders gewesen. Damals hatte er die Sorge, durch die Fragen der Journalisten als Kulturbanause entlarvt zu werden. In den vergangenen Jahren hatte er aber die Erfahrung gemacht, dass die Presse ein größeres Interesse an den Darstellern hatte als an ihm– und nutzte den Termin seither gern dafür, sich medienwirksam neben Schauspielern mit bundesweiter Reputation ablichten zu lassen.

Lokalreporter Wolli Angerstein hatte trotz anfänglicher Vorbehalte ein gutes Verhältnis zu Hartmann. Journalisten gegenüber verhielt sich der Attaché freundlich und jovial. In der Gründungsphase der Kur-Kongress- und Tourismus-GmbH hatte Wolli manch bösen Artikel dagegen verfasst. Mittlerweile musste er anerkennen, dass das Stadtmarketing tatsächlich professioneller arbeitete als früher– und dass Hartmann ein Mann mit Ideen und Visionen war, auch wenn sich diese bisher noch nicht in barer Münze auszahlten.

Allerdings kannte Wolli auch Hartmanns Vorliebe für das Licht der Kamera und wunderte sich daher ein wenig, dass er den diesjährigen Empfang der Festspieldelegation seinem Stellvertreter überließ. Hartmann verpasste dadurch nicht nur die Chance, sich mit einigen Bühnenstars aus der Bundeshauptstadt ablichten zu lassen, sondern auch ein paar denkwürdige Szenen während des kurzen Umtrunks.

Juli Blum, Natascha Gessler, Hans Hofstede und Valerie Prohaszka bekamen, wie es Tradition für die Festspieldarsteller war, von der Stadt den Lullus-Taler überreicht. Die kunstvolle Münze war nach einem Bischof benannt, der im 8.Jahrhundert ein Kloster in Bad Hersfeld gegründet hatte, und sollte die Akteure an ihre Auftritte in der Stiftsruine erinnern.

Juli Blum zerrte die Münze sofort aus der Schmuckverpackung heraus, steckte sie zwischen ihre Zähne und biss albern darauf herum, so wie mancher Olympiasieger auf seiner Medaille. Dabei kniff sie ein Auge zu und streckte den anwesenden Fotografen zwei Top-Daumen in die Kameras.

Natascha Gessler fragte, ob man mit dem Geldstück in den örtlichen Geschäften bezahlen könne, woraufhin Valerie Prohaszka etwas zu laut zischte: »Da kannst doch eh nichts kaufen, in dem Nest.«

Hans Hofstede schaute indigniert und versuchte, seine peinliche Berührung mit dem vierten Glas Sekt hinunterzuspülen.

Hartmanns Stellvertreter blieb tapfer und unterstrich in seiner kurzen Ansprache nach der verunglückten Münz-Übergabe, wie stolz die Stadt darauf sei, die diesjährigen Festspiele mit solch einer prominenten Besetzung adeln zu können. Zwar seien alle Stücke der Spielzeit sehenswert, doch würden die Namen Blum, Gessler, Hofstede und Prohaszka alles überstrahlen. Außerdem werde die deutsche Uraufführung von »Gezeiten« für nationalen Gesprächsstoff sorgen. Wahrscheinlich hatte er damit sogar recht.

Allerdings konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, dass es nie zu einer Aufführung in dieser Besetzung kommen würde.

2

Der Sommer 1992 war in den neuen Bundesländern eine unruhige Zeit. Immer mehr Menschen verloren ihre Jobs, die blühenden Landschaften, die der Kanzler noch zur Wiedervereinigung versprochen hatte, schienen in unerreichbarer Ferne. An vielen Orten war die Euphorie verflogen, das alte Regime ohne Blutvergießen in die Knie gezwungen zu haben. Stattdessen machte sich in weiten Teilen der Bevölkerung eine tief greifende Ernüchterung breit. Ältere Menschen sehnten sich zum Teil den Sozialismus mit seinen klar gegliederten Strukturen zurück, jüngere fingen zunehmend an, sich zu radikalisieren.

Zielscheibe ihrer Wut waren häufig Ausländer, aber auch Homosexuelle, Intellektuelle und Andersdenkende. In Hoyerswerda waren schon im Jahr zuvor Asylbewerber und Arbeiter mit Migrationshintergrund Opfer der rechten Hatz geworden, in Rostock-Lichtenhagen bekam die Polizei die Ausschreitungen am »Sonnenblumenhaus« tagelang nicht in den Griff. Natürlich waren diese Pogrome nur die Spitze des Eisbergs. Viele kleine Taten fanden nicht ans Licht einer breiten Öffentlichkeit oder wurden schlicht niemals aufgeklärt.

Auch die Vorgänge in der Nacht auf den 22.Juli 1992 im sächsischen Crimmitschau sind heute weitgehend vergessen. Eine Truppe junger Schauspieler aus West-Berlin hatte sich in den Süden der ehemaligen DDR aufgemacht, um den Brüdern und Schwestern in der Provinz großstädtische Inszenierungen zu präsentieren. Nachmittags gaben sie für die Kinder Stücke des linken Berliner GRIPS-Theaters, die Erwachsenen bekamen abends auf einer improvisierten Bühne Stücke von Bertolt Brecht oder Wolfgang Borchert zu sehen. Alle Mitwirkenden hatten eine gehörige Portion Idealismus in das Projekt gesteckt. Sie wollten mit ihrer Tour gegen die ersten Theaterschließungen ankämpfen, zu denen sich manch klamme Kommune im Osten schweren Herzens entschlossen hatte.

Im Anschluss an eine mittelmäßig besuchte Aufführung der »Mutter Courage« saßen die Darsteller am Lagerfeuer und philosophierten mal wieder über Weltanschauungen, Politik und die Entwicklung des Theaters in Deutschland. Nach dem Genuss einiger Flaschen Wein und einem Joint, der die Runde gemacht hatte, verzogen sie sich in die hölzernen Bauwagen, die sie am Ufer der Pleiße im Halbkreis um ihre notdürftige Bühne postiert hatten.

Um kurz nach Mitternacht verstummten das Geflüster und das leise Lachen in den bunt bemalten Wagen. Zu diesem Zeitpunkt mussten die Angreifer schon in den Büschen gelauert haben.

Nach etwa einer halben Stunde schlichen vier maskierte Männer aus dem Ufergebüsch auf die Wagengruppe zu. In einer großen Sporttasche klirrte es leise. Acht Flaschen hatten sie mit Benzin und Lappen zu Molotowcocktails umgerüstet. Zwei für jeden Wagen, das war ihr Plan. Ohne zu sprechen, teilte sich die Gruppe auf. Zwei Vermummte sollten die Brandsätze in die Wagen auf der rechten Seite werfen, zwei kümmerten sich um die Bauwagen weiter links.

Die nächtliche Ruhe in der Pleiße-Aue wurde durch einen leisen Pfiff zerschnitten. Das vereinbarte Zeichen, die Molotowcocktails zu zünden und durch die geöffneten Fenster in die Schlafwagen der Schauspieltruppe zu werfen.

Alles ging blitzschnell: In zwei Wagen gab es gewaltige Verpuffungen, eines der hölzernen Gefährte wurde von den Brandsätzen komplett zerstört. Über die zwei anderen Wagen muss ein Schutzengel seine Hand gehalten haben: Die Benzin-gefüllten Flaschen sorgten zwar für ein mächtiges Feuer, sie explodierten aber nicht. Offenbar waren sie beim Hineinschleudern auf eine Bettdecke oder einen weichen Teppich gefallen, jedenfalls brachen die Flaschen nicht auseinander und verhinderten damit die gefährliche Detonation.

Aus den zwei anderen Wagen aber schallten markerschütternde Schreie. Die Opfer des Anschlags rannten wild umher, einerseits wollte man den Verletzten helfen, andererseits vielleicht noch einen der Täter schnappen. Die hatten nämlich einen entscheidenden Fehler gemacht: Sie hatten sich nicht abgesprochen, wie ihre Flucht aussehen sollte.

Ein eher kurz geratener, drahtiger Maskierter rannte nicht auf dem kürzesten Weg aus dem kleinen Park heraus, sondern wählte die lange Strecke, an den drei anderen Bauwagen entlang. Als er gerade am hintersten vorbeirennen wollte, sprang ihm ein Mitglied der Schauspieltruppe in den Weg. Mit einem gezielten schnellen Griff wurde der Sehschlitz der Sturmhaube nach unten gezerrt. Für einen kurzen Moment war neben den Augen auch die Mund- und Nasenpartie des Angreifers zu sehen, verzogen zu einem kalten Lächeln, aber doch unverkennbar. Zwischen Nase und Oberlippe verlief eine senkrechte Narbe, die typischerweise entsteht, wenn im Säuglingsalter eine Hasenscharte geschlossen wird.

Ein Bild, das sich im Schatten zweier lodernd brennender Holzwagen für ein Leben lang einbrennt. Und der einzige Anhaltspunkt, der jahrelang als Phantombild in einem Fall verwendet wurde, der bis heute nicht aufgeklärt werden konnte.

* * *

Wolli Angerstein gefiel seine Aufgabe als Festspielreporter immer besser. Der Chefredakteur hatte sein ironisches Porträt über die launische Valerie Prohaszka ausdrücklich gelobt– und ihm vier Sonderseiten in der übernächsten Samstagsausgabe in Aussicht gestellt. Von allen sonstigen Aufträgen war er befreit worden und konnte sich so voll auf die Vorgänge in der Stiftsruine konzentrieren.

Normalerweise waren Reporter bei den Proben verboten oder zumindest nicht gern gesehen. Da die »Osthessische Landeszeitung« aber schon seit Jahrzehnten mit den Festspielen kooperierte– heutzutage nennt man in der Werbewelt so was »Premium-Medienpartner«–, genoss Wolli das Privileg, sich fast zu jeder Zeit an nahezu jedem Ort aufhalten zu dürfen.

Heute standen die ersten Szenen aus »Gezeiten« auf dem Probenplan, der Reporter der »OLZ« machte es sich dazu in der dritten Reihe mit Sitzkissen und Thermoskanne gemütlich. Aus journalistischer Sorgfalt hatte er das ganze Skript schon gelesen. Es war, wie erwartet, nicht sein Fall. Das ewige Hin und Her zwischen dem Mann und seinen beiden Gespielinnen langweilte ihn, der Transformationsprozess hin zu seinen zwei Traumfrauen erschien ihm nicht perfide genug. Außerdem hatte Wolli den Eindruck, dass ein Textbuch mit nur achtundvierzig Seiten reichlich dünn war für ein zweistündiges Bühnenstück.

Während der Proben wurde ihm klar, wie Valerie Prohaszka– nicht nur Autorin und Intendantin, sondern eben auch Regisseurin des eigenen Werkes– den Mangel an Text zu kompensieren gedachte: indem Hans Hofstede die beiden Frauen abwechselnd minutenlang schüttelte. Zuerst fasste er Juli Blum mit beiden Armen um die Hüfte, schüttelte sie nach vorn, nach hinten, nach rechts und dann nach links, während er finster dreinblickte und sie jämmerlich wimmerte. Dann wechselte er zu Natascha Gessler, griff sie unsanft an den Schultern und schüttelte sie ebenfalls in alle Himmelsrichtungen.

Der Unterschied zur Schüttelei mit der Blum bestand allein darin, dass nun Hofstede und Gessler eine gute Minute lang so laut schrien, dass feine Spucketröpfchen den Bühnenboden und die erste Reihe der Zuschauer benetzten.

Wolli war sich sicher, dass das Hersfelder Publikum an dieser Stelle gehen oder zumindest buhen würde. Auf jeden Fall bot die Nummer genügend Stoff für einen interessanten Artikel nach der Premiere.

Während Frau Prohaszka eine kleine Pause ausrief, um die »Intensität« und die »Affektivität« der soeben gespielten Szene zu loben, nutzte Wolli Angerstein die Ruhe, um sich ein paar Gedanken über die Mimen auf der Bühne zu machen.

Weswegen Juli Blum das Engagement in Bad Hersfeld angenommen hatte, lag auf der Hand: Für sie war es das Sprungbrett, um ins seriösere Fach zu wechseln. Bekannt geworden war sie durch eine Vorabendserie rund um eine Surfer-Clique, bei der es mehr um schöne Bilder und schöne Körper als um schöne Dialoge ging. Danach war sie für einige Jahre am Max-Reinhardt-Seminar in Wien gewesen, um die Schauspielerei noch mal von Grund auf zu lernen. Ihre Bemühungen trugen Früchte: Im Anschluss an ihre Ausbildung durfte sie in einem dreizehnteiligen DDR-Drama eine junge Frau spielen, die nach einem Fluchtversuch in die Fänge der Stasi geriet. Für diese Rolle hatte sie vor zwei Jahren sogar eine Goldene Kamera bekommen und fühlte sich seither bereit für die höheren Weihen des Bühnenspiels.

Wolli konnte nicht bestreiten, dass die schlanke, blonde Endzwanzigerin einen gewissen Reiz hatte, allerdings verspürte er in ihrer Nähe den ständigen Drang, ihren gerade abgeschnittenen und in die Stirn gekämmten Pony beiseitezuschieben. Er hatte diese Frisur schon bei manchen Models gesehen und fand sie urbanen Mist. Selbst nach den permanenten Schütteleien, die das Stück vorsah, schlossen die Haare wieder akkurat mit den Augenbrauen ab– und Frauen ganz ohne Stirn waren Wolli einfach suspekt.

Natascha Gessler trug ihre grau melierten Haare streng zu einem Knoten nach hinten gebunden. Das passte einerseits zu dem intellektuellen Frauenbild, das sie in »Gezeiten« zu verkörpern hatte, andererseits aber auch zu ihrem sehr schmalen Gesicht. Sie trug privat ausschließlich graue und schwarze Kleidung, auf der Bühne hatte die Prohaszka sie in einen gestrickten dunklen Einteiler ohne Ärmel, aber mit Rollkragen gesteckt. Rechts und links ragten zwei Ärmchen aus dem Wollberg heraus, die so dünn waren, dass die Adern millimeterdick hervorstanden. Der einzige Farbtupfer waren die knallroten Lippen unter Gesslers Adlernase.

Weil sie es mit der Kosmetik ein bisschen zu gut gemeint hatte, floss der Lippenstift in der wärmenden Junisonne in jede einzelne Falte, die den Mund der Fünfundfünfzigjährigen umgab.

Wolli musste an seine Mutter denken, die zu sagen pflegte: »Die eine Frau wird im Alter Kuh, die andere Ziege.« Sie meinte damit, dass manche Damen im Lauf des Lebens mächtig auseinandergingen, dafür aber faltenarm blieben, während die anderen dürr und knittrig seniorierten.

Die Gessler war auf jeden Fall Ziege.

Hans Hofstede wiederum, der Senior auf der Bühne, erschien nahezu alterslos. Man sah ihm nicht an, dass er auf die siebzig zuging. Sein Spiel war immer noch derartig von Dynamik und Impulsivität geprägt, dass Wolli eine kleine Bewunderung nicht verhehlen konnte. Seine Glatze und der Wohlstandsbauch schienen Frauen ab dem mittleren Alter nicht daran zu hindern, für Hofstede zu schwärmen.

Seine rauchige Stimme, die stechenden blauen Augen und sein charismatischer Habitus beeindruckten offenbar selbst Wollis Mutter: Zum ersten Mal in der Geschichte der Festspiele hatte Frau Angerstein Interesse an einem Besuch angemeldet.

Während ihr Sohn gerade darüber sinnierte, wie er es bewerkstelligen könnte, im Alter ebenfalls von der Damenwelt umschwärmt zu werden, brach auf der Bühne ein kleiner Tumult aus.

Laut Skript sollte an dieser Stelle des Stücks die Gessler ihre jüngere Widersacherin auf ein Sofa schubsen. Dummerweise befand sich das Sitzmöbel aber einen guten Meter hinter dem wohlgeformten Gesäß der jungen Frau Blum, weswegen diese ziemlich unelegant und schmerzhaft rücklings auf die Bretter krachte, die angeblich die Welt bedeuteten.

Sofort fing sie an zu zetern. »Bist du wahnsinnig? Ich hätte mir das Steißbein brechen können oder noch mehr! Du hast doch gesehen, dass die Couch zu weit weg war!«

Natascha Gessler verschränkte die Arme und blickte spöttisch auf ihre junge Kollegin am Boden herab. »Nicht das Sofa hat falsch gestanden, Du hast falsch gestanden. Und das ist ja wohl nicht meine Schuld. Wenn ich spiele, muss ich mich auch auf meine Kollegen verlassen können. Da kann ich mich nicht noch darum kümmern, wo ein Sofa steht.«

Als wäre der Zwischenfall für sie damit beendet, setzte sich die Gessler auf einen Stuhl, der zur Kulisse gehörte, und begann angelegentlich ihre Fingernägel zu inspizieren.

Ungelenk richtete Juli Blum sich auf und schimpfte dabei: »Du kannst dich wenigstens entschuldigen. Wir proben die Szene gerade zum ersten Mal, und ich habe hinten keine Augen. Da sehe ich doch nicht, wo dieses Scheißsofa steht.«

Betont langsam erhob sich die Gessler von ihrem Stuhl, jede Faser ihres Körpers signalisierte Genervtheit.

»Hör zu, Schätzchen, wenn die große Bühne nichts für dich ist, dann geh doch zurück zu deiner Surfbrett-Serie, da könnt ihr die Szene zwanzig Mal üben, bis sie im Kasten ist. Und am Strand fällt sich’s auch weicher.«

Juli Blum wollte gerade zum verbalen Gegenschlag ausholen, als eine tiefe Männerstimme aus dem Hintergrund die Keiferei abrupt beendete.

»Jetzt reicht es mir aber!«

Hofstedes Bass brachte die jahrhundertealten Steine der Stiftsruine zum Beben. »Was ist das denn hier für ein Kindergarten? Natascha, du entschuldigst dich jetzt bei Juli, und dann wird hier weitergeprobt!«

»Ach so, jetzt schlägst du dich natürlich auf die Seite der armen, kleinen Juli. Das musste ja so kommen!«

Die Gessler warf ihren Kopf in den Nacken und stürmte von der Bühne. Es herrschte Stille in der Ruine.

Blum und Hofstede schauten sich ratlos an, als plötzlich ein langsames Klatschen den Moment der Ruhe nach Natascha Gesslers Abgang unterbrach. Es kam aus dem Zuschauerraum von Valerie Prohaszka.

»Bravo, meine Lieban, so geht sich das aus! Das sind Emotionan! Das is, wos i von eich sehn wü! Ich hab eh gwusst, dass ihr die Richtigan für das Stück seids. Die Leit wern begeistert sein.«

Wolli war sich ziemlich sicher, dass seine Hersfelder keinen subventionierten Zickenkrieg miterleben wollten. Aber diese Meinung behielt er vorsichtshalber für sich.

3

Die Polizeidirektion Hersfeld-Rotenburg befand sich an einem idyllischen Fleckchen der Festspielstadt. Jedenfalls auf den zweiten Blick. Aus den Fenstern der Vorderseite ging der Blick auf ein Industriegebiet, die Rückseite des Gebäudes allerdings war der Geis zugewandt, einem Flüsschen, das nur wenige Meter weiter in die Fulda mündete.

Dort, in den Auenwiesen vor dem Revier, machten es sich die Beamten an schönen Tagen manchmal zur Mittagspause gemütlich. Brigitte Schilling hatte eigens eine Picknickdecke mitgebracht und für sich und ihren Kollegen Daniel Rohde geschnippeltes Gemüse samt Dips in Plastikdöschen verpackt.

Brigitte schwärmte für Daniel, seit sie in der Direktion angefangen hatte zu arbeiten. Ungefähr jeder außer ihm hatte das auch schon mitbekommen. Gerade war sie auf dem Trip, den attraktiven Kommissar durch ihre hausfraulichen Qualitäten für sich einzunehmen.

Daniel wunderte sich zwar, warum sie in letzter Zeit ständig selbst gebackenen Kuchen, frischen Obstsalat und handgepresste Säfte mit dabeihatte, bezog das aber keineswegs auf sich, weil Brigitte allerhand anderen Kollegen ja auch davon anbot.

Obwohl sie schon seit drei Jahren eng zusammenarbeiteten, hatte Daniel Brigitte noch nie als potenzielle Partnerin wahrgenommen. Um genau zu sein, nicht mal direkt als Frau. Unter Kollegen ging es ihm allein darum, gut zusammenzuarbeiten und gemeinsam Ermittlungserfolge zu erzielen.

Er war mit seinem Team, zu dem außer Brigitte noch zwei weitere Kriminalisten gehörten, zwar schon ein paarmal nach Feierabend ein Bierchen trinken gegangen, besonders viel Einblick in sein Privatleben ließ Daniel dabei aber nicht zu. Seine Kollegen wussten von ihm lediglich, dass er in seiner Freizeit in einem Volleyballverein aktiv war, weite Teile seiner Jugend in einer Techno-Disco in Kassel verbracht hatte und dass er zwar ein grundsätzliches Interesse an Frauen hatte, aber schon lange ohne Freundin lebte.

Viel mehr wollte Daniel von seinen Berufsgenossen auch gar nicht wissen. Na ja, gut, Brigittes Eltern hätte er gern mal gefragt, warum sie Anfang der achtziger Jahre noch so einen altbackenen Namen für ihre Tochter gewählt hatten. Aber das interessierte ihn auch nur so nebenbei.

Momentan machte er sich eher Gedanken darüber, ob demnächst ein Verhör anstehen könnte. Brigittes Knoblauch-Dip setzte geschmacklich zwar Maßstäbe, könnte in einem engen Raum von einem gewitzten Kriminellen aber als Verstoß gegen die Menschenrechte gewertet werden. Daniel beruhigte sich damit, dass in letzter Zeit kaum Verhöre stattgefunden hatten.

Eigentlich hatte in der letzten Zeit eh kaum etwas stattgefunden im Zuständigkeitsbereich seiner Polizeidirektion. Ein paar Einbrüche, Autoknackereien und Fahrraddiebstähle, das war’s, selbst ein möglicher Mord in Bebra hatte sich nach kurzen Ermittlungen als Suizid herausgestellt.

Streng genommen konnte er glücklich sein und die Ruhe nutzen, um liegen gebliebenen Papierkram abzuarbeiten. Aber ein wenig Action hätte er sich insgeheim schon gewünscht. Er blinzelte zu Brigitte hinüber, die gerade ein Stück Stangensellerie in ihre selbst gemachte Guacamole tunkte.

»Meinst du, der ganze Sommer bleibt so ruhig? Könnte ja fast ein bisschen langweilig werden…«

Brigitte grinste und schob ihre große Sonnenbrille von der Nasenwurzel in ihre lockigen Haare. »Ich dachte, nach den Erlebnissen auf Fuerteventura wäre deine Lust auf Abenteuer erst mal gestillt.«

Daniel zuckte mit den Schultern. »Ist ja auch schon wieder ein halbes Jahr her«, maulte er. Daniel hatte damals während seines Urlaubs einen Mord aufgeklärt, Brigitte und sein Kumpel Wolli Angerstein von der »Osthessischen Landeszeitung« hatten ihm maßgeblich dabei geholfen.

Während Daniel an die verrückten zwei Wochen auf den Kanaren im November zurückdachte, klingelte Brigittes Telefon. Am Klingelton erkannte er, dass es der Chef sein musste. Brigitte hatte ihm die Titelmelodie der Serie »The Simpsons« zugeordnet, weil er tatsächlich Burns hieß, wie der greise Besitzer des Atomkraftwerks in Springfield. Nur deutsch ausgesprochen.

Nach einem »Ja« und drei »Ahas« legte sie auf. »Pack zusammen, Kollege, es gibt Arbeit.«

Daniel riss theatralisch den Mund auf. »Arbeit! Was ist wohl der nächste Fall der Hersfeld-Cops? Geiselnahme, Kidnapping oder eine Flugzeugentführung? Spann mich nicht länger auf die Folter, Commander Bridget!«

Brigitte musste lachen und ihn enttäuschen. »In der Kiefernallee haben Unbekannte die Antennen an drei Autos umgeknickt. Hol deine Pistole, zieh die kugelsichere Weste an, wir fahren in die Bronx vom Johannesberg.«

* * *

Jürgen Hartmann war schwer genervt. Seit drei Tagen kam er zu nichts, weil sich eine Delegation aus der französischen Partnerstadt L’Haÿ-les-Roses in Bad Hersfeld aufhielt. Das Protokoll sah vor, dass der Geschäftsführer der Kur-Kongress- und Tourismus-GmbH seine Gäste überall mit hin begleitete: zu einem Theaterstück des Französisch-Leistungskurses am örtlichen Gymnasium, zum Besuch des Krankenhauses und zweier Seniorenheime, zur Werksbesichtigung eines Online-Buchhändlers, zur Pflanzung eines Freundschaftsbaumes und schließlich zu der Inaugenscheinnahme der Wasseraufbereitungsanlage des städtischen Freibads. L’Haÿ-les-Roses plante dahingehend offenbar eine größere Investition.

Der stellvertretende Bürgermeister aus Frankreich gefiel Hartmann ganz ausgezeichnet. Er war ein Freund deutscher Biere, filterloser Zigaretten und ein großer Bewunderer der hessischen Wurstfabrikation.

Das genaue Gegenteil davon war seine Chefin Xénia Sabatier, mehrfach wiedergewähltes Oberhaupt aus der Kleinstadt in der Nähe von Paris. Sie war Kommunistin, witterte immer und überall Ungerechtigkeiten, speziell gegenüber Frauen, und war darüber hinaus Enkelin eines nicht ganz unbedeutenden Kämpfers in der Résistance. Sie misstraute den Deutschen, weil diese Barbaren das kommunistische Modellprojekt im Ostteil des Landes nach nur vierzig Jahren niederdemonstriert hatten, obwohl diese Gesellschaftsform aus ihrer Sicht kurz vor dem Durchbruch gestanden hatte. Und sie misstraute Männern.

Keine allzu guten Voraussetzungen also, um einen herzlichen Draht zu Jürgen Hartmann aufzubauen. Beide Städte hatten die Partnerschaft der Kommunen von der Nachkriegsgeneration geerbt und versuchten nun aus gebotener Höflichkeit, das Beste daraus zu machen.