Feuer ins Herz - Gerald Ehegartner - E-Book

Feuer ins Herz E-Book

Gerald Ehegartner

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Beschreibung

Noah ist im Lockdown gelandet – mutterseelenallein. Er fühlt sich isoliert. Da taucht überraschend sein alter Freund, der Trickster Old Man Coyote, auf. Während dieser literweise Kaffee trinkt, raucht, in Polizeikontrollen gerät und Videokonferenzen crasht, verkocht er nebenbei das fieseste Virus, an dem nicht nur Noah leidet: die Angst. Noah wird klar, dass sich die Menschheit an einem Scheideweg befindet – zwischen Liebe und Angst, freier Gesellschaft und Technokratie. Sein Mentor führt ihn mit Witz und Kreativität aus der inneren Isolation in eine Verbundenheit mit allem Lebendigen. Ein brisanter, hochaktuell gesellschaftskritischer Roman, der das Herz wie ein Lagerfeuer zu wärmen vermag. "Ich habe selten so gelacht. Das ist Unterhaltung mit Tiefgang, eine wahre Lesefreude. 'Feuer ins Herz' ist visionär und widerständig und macht ernste Themen mit viel Humor verständlich." Wolfgang Knöpfler, Filmemacher, Oscar® short listed für den Netflix Original Dokumentarfilm "The Ivory Game"; Sundance Publikumspreis Gewinner für den National Geographic Dokumentarfilm "Sea of Shadows" – beide Filme wurden von Terra Mater Factual Studios in Zusammenarbeit mit Leonardo DiCaprio produziert; "The Arctic: Our Last Great Wilderness", "Beyond boundaries", "Watson" uvm.; Musikvideos mit Queen und Falco; Produktionsteam Kommissar Rex; Ehrenbotschafter des Jane Goodall Institutes und Global Family.

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Meinem Papa gewidmet, der mit den Störchen südwärts zog –seine Liebe zur Natur und den Kindern lebt hier weiter.

Und für Irene, Sara und Florian –sowie für alle, die auf ihre individuelle Art und Weise zueinem neuen Leben erwachen

Anmerkung des Autors:

Sollten Sie sich in einer der Personen wiedererkennen, muss ich Sie enttäuschen. Alle Personen sind quicklebendige Individuen, geboren aus meiner Fantasie (außer natürlich Old Man Coyote und seine Kumpels).

Aber melden Sie sich gern bei mir.

Ich verarbeite Sie dann in einem meiner nächsten Romane.

Sollten Sie Informationen in der Geschichte verwirren oder besonders interessieren, schlagen Sie am besten im Quellenverzeichnis am Ende des Buches nach. Alles ist redlich zitiert, vielleicht laden die Informationen zum Weiterrecherchieren ein. Sollten Sie ein Wort eventuell nicht verstehen, dann könnte ausnahmsweise eine österreichische Formulierungsspezialität dahinterstecken.

Auch dafür finden Sie im letzten Teil des Buches hilfreiche und vielleicht auch unterhaltsame Erklärungen.

Gerald Ehegartner

FEUER INS HERZ

WIE ICH LERNTE,MIT DER ANGST ZU TANZEN

Gerald Ehegartner

Feuer ins Herz

Gestaltung Umschlag: Kerstin Fiebig, ad department

Satz: Pagina GmbH, Tübingen

© Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2021

[email protected] | www.kamphausen.media

ISBN Print: 978-3-95883-518-4

ISBN eBook: 978-3-95883-519-1

1. Auflage 2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Dieses Buch wurde auf 100% Altpapier gedruckt und ist alterungsbeständig. Weitere Informationen hierzu finden Sie unter www.kamphausen.media

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

INHALT

Indian Spirit und Lockdown

Eine Schnauze voller Liebe

Wilde Fahrt, Foxnews und die Milchstraße

Untersberg, freie Maurer und Craic

Silicon Valley und St. Corona

Die Rückkehr und der Tanz mit dem Coyoten

Wuhan, Gasthäuser und Goldhauben

Hafen, Häfn, Passgang und Impfpass

Schulkonferenz, Quantenphysik und Topfpflanzen

Fliegende Kondome und die WHO

Scherze, Schüler und Videokonferenz

Die Almhütte und die Krone der Schöpfung

Pablo, der Katzenzustand und der Tanz der Sterne

Tanz versus Dis-Tanz

Eine konkrete Vision von Schule

Schlafschafe und ein Ziegenfisch am Lieblingsberg

Die Digitalisierung des Herzens und der Tadel des Narren

Aufbruch zum Bärenwirt

Poetry Slam, Buchstabensuppe und der Wörtersee

Weinhaus und Zen

Pan, der Teufel und Bio-Wein

Blockchain, Paprikachips, Pablo Neruda und Mikis

Mit den Freunden bei Bert – die Visionssuche

Das Basecamp

Wetiko, die indianische Sicht

Schwellenzeit – Aufbruch in eine neue Welt

Die Rückkehr und der tanzende Stern

Epilog

Bonusmaterial

Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzendenStern gebären zu können.

Friedrich Nietzsche

Alles ist so unglaublich miteinander verbunden.

Wir dürfen kein Virus sein, das hier ist, um seinen Wirt zu töten.Das ist inakzeptabel.

Jack Hutton (21), Umweltaktivist,Steuermann und Drone-Operatorfür Sea shepherd in der preisgekröntenDoku »Sea of shadows«

INDIAN SPIRIT UND LOCKDOWN

Hastig schlüpfte ich in meine Schuhe und steppte die Stiege nach unten. Franziska korrigierte Schülerarbeiten. Draußen war es ruhig, auf dem Gehsteig verirrten sich nur vereinzelt Spaziergänger. Hatte ich jemals den Gesang der Vögel so deutlich gehört? Ich legte den Kopf in den Nacken. Keine Gefahr, mit jemandem zusammenzustoßen. Der Himmel, sonst dunstig und mit Kondensstreifen durchzogen, hatte sein blaues Kleid gewaschen und strahlte klarer als je zuvor.

Die Schule lag verwaist vor mir. Die Fenster waren geschlossen, Fahrräder und Autos verschwunden. Das bunte Treiben war einer Stille gewichen. Katja, unsere Direktorin, hatte mich gerufen. Ich sollte ihr beim Verfassen einer E-Mail helfen.

»Noah, was machst du hier? Freut mich, dich zu sehen.« Dietmar, der kreative Zyniker des Lehrerteams, hatte drei Packungen Klopapier auf seiner Arbeitsfläche im Lehrerzimmer gestapelt. »Willst du was davon? Im Supermarkt ist das Klopapier vergriffen, Noah. Gibt wahnsinnig viele Scheißer da draußen, wenn’s ausverkauft ist.«

Katja stakste herein, traurig, ein wenig erschöpft, und gähnte herzhaft. Sicher war sie froh, dass ihre Zeit hier bald zu Ende war. Schade, ihre Abschlussfeier könnte ausfallen.

Dietmar schimpfte weiter vor sich hin, dass wir uns auf einen Polizeistaat einstellen müssten. Die Reichen würden wieder das Geld den Ärmeren aus der Tasche ziehen. Wie bei der letzten Wirtschaftskrise.

»Der finanzielle Mittelstand ist verloren. Der intellektuelle schon längst. Ich setze nun auf vier Anlageformen: Gold, Bitcoin, Immobilien und Klopapier. Klopapier hat das größte Potenzial und mit den vielen Ärschen in dieser Welt ist es ein absolut sicheres Investment. Gott sei Dank fallen die Osterfeierlichkeiten mit meiner buckligen Verwandtschaft diesmal aus. Endlich Friede auf Erden.«

Er klemmte sich seine drei Pakete unter den Arm. »Bis dann, ich mach mich aus dem Staub in Richtung Shutdown.«

Nachdem ich Katja geholfen hatte, brauchte ich einen Cappuccino. Ich schlenderte zum Kaffeeautomaten. Tim, der Hausmeister, grüßte mich von Weitem. »Du bist mit Abstand der beste Lehrer!«

»Danke, Tim. Du bist mit Abstand das beste Team, äh, der beste Tim! Abstand scheint derzeit die Form der Wertschätzung.«

Ich besuchte meinen Klassenraum. Traurig sah ich mich um. Stühle, Tische, eine blank geputzte Tafel. Sofort stieg mir der vertraute Geruch von Kreide in die Nase. Ja, wir waren immer noch in der Kreidezeit. Bald würde das Zeitalter der Digitalisierung ihr ein Ende setzen. Seit vier Jahren arbeitete ich hier mit meinen Schülern. Wir hatten das Zimmer selbst ausgemalt, es mit unseren Ideen und unserem Lachen gefüllt. Einsam und verlassen starrte nun der Raum aus den Fenstern, um nach den Kindern zu sehen. Die Luft war stickig.

Am Lehrertisch lagen Klassenlektüren für den Englischunterricht. Einige Schüler hatten diese noch nicht abgeholt. Es war still. Die Uhr zeigte auf zwölf Uhr Mittag. Die Topfpflanzen, von den Schülern nach den Lehrern benannt, betrieben still ihre Fotosynthese. Ich stellte mich vor die Bänke und sah jeden Schüler vor mir. Wunderbare Jugendliche, jeder von ihnen etwas Besonders. Ich konnte beinahe sehen, wie sie zurücklächelten.

Melina scherzte und die Klasse lachte. Benjamin war kurz davor einzuschlafen und Valentina fragte sich, warum man lernt, wenn man sowieso sterben würde.

Die Schule würde sich ändern. Etwas Neues lag in der Luft. Der Vogel der Freiheit wollte schlüpfen, die Schale des dreidimensionalen Eies aufbrechen. Die Kraft des Herzens würde wieder Leben in die Schulen pumpen.

Ich jedenfalls schlüpfte durch den Hintereingang, um eine Zigarette zu genießen. Eine Indian Spirit konnte nicht schaden. Hier standen wir immer, Franziska, Martin, Patrizia und ich.

Was Patrizia wohl machte? Sie wohnte allein in einem Wohnhaus, wunderschön an einem Bach gelegen. War sie einsam? Vom Balkon angelte sie Fische. Unerlaubt. Sie hatte Selfies davon verschickt. Ein Rotkehlchen, das Nahrung aufpickte, beruhigte meinen Verstand. Ich liebte diese Vögel, die wie lichtvolle Edelsteine durch die Lüfte schwirrten. Jedes Mal, wenn ich sie sah, explodierte eine unbändige Freude in mir.

Auf dem Heimweg fühlte ich mich beschattet. War jemand hinter mir? Ich drehte mich um. Niemand. Kein Mensch zu sehen. Woher kamen meine Ängste und Sorgen? War es die Unsicherheit, die derzeit in der Luft lag? Oder meine Besorgnis um die Zukunft des Planeten?

DER RESET-KNOPF

Die Vorbereitungen für unsere Schüler waren abgeschickt und der Laptop zugeklappt. Die Nacht steckte mir noch in den Knochen. Der tägliche Kontakt mit den Jugendlichen war Franziska und mir eine heilige Pflicht in dieser Corona-Ausnahmezeit. Ich erhob mich, streckte mich und rauchte eine Indian Spirit auf dem Balkon.

Wie viele Jahre waren vergangen, seit ich mit Coyote die verrücktesten Dinge erlebt hatte? War das wirklich alles passiert? Tief in mir wusste ich die Antwort. Damals war ich ein völlig neuer Mensch geworden.

Erinnerungen stiegen wie Kohlensäurebläschen in mir auf. Wie sehr ich ihn vermisste. Nachdem Coyote sich verabschiedet hatte, war es schwer für mich gewesen. Monatelang.

Wie aus dem Nichts war dieser verrückte Alte in meiner Wohnung gestanden und hatte mein Leben auf den Kopf gestellt.

Jetzt, wie aus dem scheinbaren Nichts, hatte ein Virus das Leben der Menschen rund um den Planeten durcheinandergewirbelt.

Diesen Frühling herrschte Ausnahmezustand. Nicht nur mein Zigarettenrauch, auch eine Menge Angst lag in der Luft. Laut und unbarmherzig marschierte sie mit schweren Stiefeln durch die Seelen und Hirne der Menschen. Wie nachhaltig würde diese Zeit die Gesellschaft prägen?

Der Reset-Knopf war gedrückt. Der erste weltweite Shutdown der Menschheitsgeschichte war auch in unserem Alpendorf spürbar. Ich blickte vom Balkon. Keine Motorengeräusche, denn das Leben, wie wir es kannten, stand still. Der Himmel strahlte in einem klaren Blau, das ich so seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Alle sollten zu Hause bleiben. Nur für äußerst wichtige Erledigungen durfte man das Haus verlassen. Franziska und ich wollten trotzdem Bert und seine Familie in den Bergen besuchen. Wir brauchten Luft zum Durchatmen. Die pausenlose Erreichbarkeit über Smartphone und Laptop nahm uns den Atem. Nachrichten konsumierten wir kaum noch; wenn überhaupt, dann nur per Teletext. Wir wollten uns nicht den Bildern aussetzen.

Dem Sog des Mainstreams hatten wir uns schon länger entzogen. Auch die vielen angstbesetzten, auf Klicks schielenden Infos verschiedener Plattformen vermieden wir. Sogar den Kontakt zu investigativen Journalisten und Informationsquellen hinter den Kulissen hatte ich fast auf null reduziert. Was ich wissen musste, das wusste ich. Mir war schon länger klar, dass eine Krise kommen würde. Nur einen Virus als Auslöser hatte ich doch nicht vermutet.

»Beeil dich, Noah. Und vergiss nicht wieder dein Ladegerät«, mahnte Franziska.

Wir klopften noch an der Tür unseres Nachbarn. Josef öffnete vorsichtig. Ich überreichte ihm den Einkauf, den wir für ihn besorgt hatten.

»Kann ich später zahlen? Ich mag jetzt nicht mit Bargeld hantieren.«

»Passt schon.«

»Wahrscheinlich schaffen sie bald das Bargeld auch noch ab.«

»Hoffentlich nicht«, sagte ich. »Ich möchte noch Geschäfte ohne die Banken machen dürfen.«

»Wenn ihr mir den Einkauf vorbeibringt, komme ich mir vor wie beim betreuten Wohnen.«

»Und wenn ich so manche Medien konsumiere, komme ich mir vor wie beim betreuten Denken, Josef. Wir flüchten jetzt in die Berge. Dort können wir abschalten.«

»Vielleicht sollte ich auch den Fernseher abschalten. Die Nachrichten richten mich noch zugrunde vor Angst.«

Ich lenkte meinen klapprigen Toyota an der Schule vorbei. Prachtwetter, blühende Sträucher und zwitschernde Vögel passten nicht so recht zur allgemeinen Atmosphäre der Angst und Unsicherheit. Wohin würden wir uns in den nächsten Jahren bewegen? Löste das Virus neue Entwicklungen aus?

Ich parkte vor dem Bioladen. Franziska sprang raus und holte den Einkauf für Bert, unseren wunderbaren Freund in den Bergen.

»Soll ich die Bestellung hinten in deine Kiste reinstellen, Noah?«, rief sie mir zu.

»Ja, bitte. Und nenn meinen Wagen keine Kiste. Immerhin ist er noch zugelassen.«

»Jakob sagt, er sei eine fahrende Hundehütte. Da bin ich ja noch nett.«

Franziska desinfizierte sich und reichte auch mir das Fläschchen. Am Ende des Ortes winkte uns eine Polizeistreife an den Straßenrand.

»Ihren Führerschein bitte. Warum sind Sie unterwegs?«

»Wir bringen Essensnachschub zu einem Freund in den Bergen.«

»Unser Gebiet ist noch nicht unter Quarantäne gestellt. Das kann aber jederzeit geschehen. Passen Sie gut auf. Und halten Sie Abstand, wenn Sie kommunizieren, junger Mann«, erklärte der Polizeibeamte und runzelte die Stirn.

»Er kommuniziert mit Abstand am besten«, rief Franziska. Der Polizist schmunzelte.

Weiter ging es, hoch in die Berge. Die Landschaft flog an uns vorbei, kaum jemand war unterwegs. Dieses eigenartig sprunghafte Virus hatte die menschliche Welt fast lahmgelegt. Oftmals hatte ich darüber nachgedacht, ob wir Menschen tatsächlich die Krone der Schöpfung waren oder doch nur ein brandgefährliches Virus. Der Mensch hatte eine riskante und beeindruckende Bandbreite. Vom Folterknecht bis zum Heiligen war alles möglich. Jetzt setzte uns ein Virus, das so viel wie Krone bedeutete, tatsächlich die Krone auf. Nur welche? Ein Rettungswagen zischte mit Blaulicht und eingeschaltetem Folgetonhorn an uns vorbei. Ich bremste sanft ab und bog in eine schmale Landstraße ein, die schon zur Forststraße führte, die sich zu Berts Hütte hochschlängelte.

BEI BERT IN DEN BERGEN

Ich parkte das Auto. Mein Herz hüpfte wie wild, als ich Bert aus dem Haus laufen sah. So sehr wollte ich ihn umarmen. Bert verbeugte sich und grinste schelmisch.

»Namaste«, flüsterte er.

»Jammerst eh?«, gab ich zurück.

»Ein wenig.« Bert kickte mich mit seinem rechten Fuß, sodass ich etwas das Gleichgewicht verlor. »Wenn man bedenkt, was gerade abgeht. Denk nur an die scheibchenweise Aushöhlung der Grundrechte.«

Miriam, Berts Frau, eilte aus dem Holzhaus, gefolgt von den Kindern Ben und Jana, die sofort auf Franziska zustürmten.

Miriam und Bert waren in den letzten Jahren richtig dicke Freunde von uns geworden. Franziska liebte es, mit Ben und Jana zu spielen. Wenn ich sie mit den Kindern sah, war mir klar, dass sie eine wunderbare Mutter sein würde.

»Ich weiß, ihr hattet noch Kontakt zu Schülern. Aber was meinst du, Noah? Wir könnten uns ja trotzdem umarmen. Das Virus, auch wenn es etwas giftig wirkt, wird uns als junge Familie nichts anhaben können.«

»Ich würde euch gern knuddeln«, erwiderte Franziska. Sie hatte kaum ausgeredet, da rannte Miriam zu ihr, drückte und küsste sie.

»Wir sind derzeit nur mit euch in Kontakt«, erklärte Bert nochmals. »Und wir nehmen das Virus nur ein klein wenig ernst.«

»Ach, der Ernst!« Ich schnappte mir Bert und tanzte mit ihm rund um seinen Lagerfeuerplatz. Tat das gut, hier oben in den Bergen unbemerkt und unbeschadet einander zu herzen. Eine Oase der Seligen inmitten einer erstarrten Welt.

»Holt eure Sachen und kommt rein«, befahl Miriam.

Wir huschten in die warme Stube und setzten uns um den großen Esstisch. Miriam servierte eine Gemüsesuppe und ihr frisch gebackenes Brot. Wie sehr hatte mir das Zusammensein mit Freunden gefehlt.

»Wie läuft’s unten im Tal? Wie geht’s euren Schülern?«, wollte Miriam wissen.

»Es ist gespenstisch ruhig im Ort«, erklärte ich. »Kaum jemand ist auf der Straße. Am ehesten noch alte Leute, die einkaufen gehen. Unsere Schüler machen sich großartig. Die Arbeiten gehen gut voran. Irgendwie ist es aber stressig. Ich habe das Gefühl, dauernd erreichbar sein zu müssen.«

»Ja, ich bin ständig am Handy und am Laptop wegen der Mails und der Ergebnisse auf den Online-Plattformen. Ich brauche echt mal richtig Zeit zum Durchatmen.« Franziska biss herzhaft in die Brotscheibe und verdrehte verzückt die Augen.

Miriam setzte Kaffee auf und wies uns das Gästezimmer zu, in dem ein Spruch von Lame Deer jun. an der Wand zu lesen war.

Man brachte euch bei, euren Verstand bis zum Perfektionismus zu gebrauchen. Wir bringen unseren Kindern bei, mit dem Herzen zu denken. So musst du dich nicht schämen, einem Menschen unter die Augen zu treten, seine Hand zu schütteln und ihn offen anzuschauen und mit ihm zu sprechen. Das ist ein gutes Gefühl.

Bert liebte inspirierende Zitate und verteilte sie überall im Haus.

»Wie geht es Jana und Ben in der Schule?«, fragte ich ihn.

»Miriam und ich überlegen, sie rauszunehmen.«

Er zeigte auf ein weiteres Zitat. Es war wieder von einem Sioux-Indianer. Leonhard Crow Dog.

Meine Eltern sorgten sich um meine Erziehung, daher ließen sie mich nicht zur Schule gehen.

»Noah, es ist der indigene Weg, dem ich noch intensiver folgen möchte. Er erscheint mir zurzeit der wesentlichste. Kommst du mit raus? Ich will dir was zeigen«, fragte mich Bert.

»Ja, ein wenig Vitamin D tanken kann dem Immunsystem nicht schaden.«

Wir spazierten in Richtung einer Anhöhe. Der Weg führte durch einen prachtvollen Nadelwald. Fichten, Tannen und sogar Lärchen streckten sich gegen den Himmel.

»Was würdest du den Menschen sagen, die jetzt allein sind?«

»Liebe Mitbürger und -innen«, begann ich und zündete mir eine Zigarette an. »Hier spricht euer Präsident. Wisst, dass wir auch das schaffen werden. Ich danke euch, dass ihr mir mein Laster verzeiht. Mittlerweile raucht ja auch mein griechischer Straßenköter, den ich adoptiert habe. Es soll der Rauch des Friedens sein, der uns verbindet.«

»Ach, Noah!« Bert steckte seine Hände in die Hosentaschen. »Kannst du etwas präziser sein?«

»Ich möchte euch eines mitteilen, euch allen, die ihr nun getrennt und in Isolation sein müsst, um euch und andere zu schützen: Es gibt keine Trennung. Wir sind in Wahrheit nicht getrennt. Der Gedanke der Trennung ist die erste große Illusion, die zu allen weiteren führt. Gerade jetzt ist dies elementar zu verstehen. Wir kriegen das schon hin, auch wenn Corona wie ein Frisör in den nächsten Monaten Dauerwellen produziert. Das wird schon.«

Bert applaudierte. »Du hast mir gefehlt, Noah. Jetzt zieht wieder Humor ein in mein Leben.« Schweigend gingen wir weiter, bis er stehen blieb und fragte: »Warum sind die meisten Kabarettisten Männer? Und warum lachen Frauen mehr als Männer? Was meinst du, Noah?«

»Ganz klar, das ist das liebevoll-geistige Eindringen des Männlichen. Das Weibliche antwortet mit ekstatischem Lachen.«

Bert schmunzelte und strahlte so viel Wärme aus, als wäre er voller Licht.

»Sag einmal, ich spüre bei dir was Neues. Als wärest du an eine frische Energie angeschlossen. Ist da was?«

Bert grinste wieder. »Vor dir lässt sich aber auch nichts verbergen. Wenn die Zeit reif ist, weihe ich dich in ein Geheimnis ein. Du wirst staunen.«

»Ich freu mich drauf. Bin schon gespannt wie ein Regenschirm.«

»Zurück zur Verbindung, Noah. Du weißt ja, dass die Wale der Meere und die des Festlandes, die Elefanten, miteinander Kontakt aufnehmen können. Sogar über weite Strecken. Sicher sind sie auch telepathisch verbunden und wir sind dazu ebenso in der Lage.«

»Hoffentlich können wir die Elefanten vor dem Aussterben bewahren wie vor vielen Jahren die Blauwale. Aber seit China global so kräftig mitspielt, ist die Situation verheerend.«

»Und jetzt kommt dieses Virus wieder aus China.« Bert runzelte die Stirn.

»Ob das Virus in den Tiermärkten Wuhans mutierte oder vom einzigen chinesischen Biolabor der Schutzstufe 4, dem Institut für Virologie Wuhan, seine weltweite Reise antrat: China und viele fernöstliche Länder haben ein Problem im Umgang mit Tieren. Tiere sind dort einfach nur eine Ware, die man konsumiert. Diese Tiermärkte sind ein Skandal. Das Wort Tierkörperverwertung bekommt eine ganz andere Bedeutung. Sogar die traditionelle chinesische Medizin ist gekippt und hat das Aussterben vieler Arten weltweit zu verantworten.«

In diesem Moment huschte ein Eichkätzchen vorbei und kletterte eine Eiche hoch. Kurz hielt es am ersten Ast inne und schimpfte mit uns. Wir hatten es wohl gestört. Was für ein hübscher, kleiner Räuber. Bald würde er die Nester vieler Vögel bedrohen.

»Weißt du was, Bert? Mir fällt gerade das Schuppentier vom Kopf, also die Schuppen von den Augen. Ja, das ist es: Das Virus ist doch Medizin. Starke Medizin mit starken Nebenwirkungen. Die Quarantäne wird vielen Menschen Leiden zufügen. Aber dieses Anhalten wird auch ein Innehalten auslösen. Wenn du nicht raus kannst, was machst du dann im besten Fall? Du gehst nach innen. Ich will es nicht schönreden. Viele wissen jetzt nicht, wie es weitergeht. Künstler, Kleinunternehmer, alte und kranke Menschen. Ich weiß. Und dann die Gefahr großer Überwachung. Internetgiganten profitieren, kleine Geschäfte sterben. Aber die Stopptaste ist auch die Chance der Einkehr und Umkehr, die Chance für eine neue Erde.«

»Amen, Noah.«

»Bitte, gerne geschehen. Frag nur, wenn du etwas wissen willst.«

Wir schlenderten die Anhöhe hinauf und genossen den Ausblick. Unzählige Dohlen zeigten uns ihre Flugkünste am tiefblauen Himmel. Das Tal lag still vor uns, kein Auto war zu hören und zu sehen. Eine Zäsur des Lärms legte einen Teppich der Stille über die Welt. Der Lärm hatte sich in die digitale Welt geflüchtet. Die Natur schien sich jene Plätze zurückzuholen, die der Mensch in seinem Expansionsdrang vor Kurzem noch besetzt hatte.

Wir mussten uns wieder daran erinnern, dass wir Teil der Natur waren und auch Teil des Geistes. Beides hatten wir zu lange vergessen. Würden wir nach dieser Pandemie neue Wege gehen? Liebevolle Wege der Freiheit oder ängstliche Wege der Sicherheit?

RILKE UND DAS VERGESSEN

Franziska winkte aufgeregt. »Noah, du sollst sofort deine Mutter zurückrufen. Irgendetwas ist passiert.«

Bert und ich liefen zur Hütte, ich kramte nach meinem Smartphone im Rucksack und wählte die Nummer meiner Mutter.

»Noah, bist du es? Oma ist gestürzt und Opa kann sie nicht mehr heben.«

Opa hatte am Telefon geweint, erklärte meine Mutter. Er wäre völlig überfordert. Oma war an Demenz erkrankt und wurde in letzter Zeit zunehmend aggressiv und unruhig. Opa konnte kaum noch schlafen.

»Ich bin ja selbst im Haus eingeschlossen. Da sind mir die Hände gebunden und da vermisse ich deinen Papa so. Der würde Oma sofort wieder auf die Beine stellen. Ich hab geträumt, dass ich ihn bald besuchen komme.«

»Okay, ich fahr zu Oma und Opa. Ich hab Einweghandschuhe und Desinfektionsmittel dabei. Du aber hältst noch Stellung in deinem Haus, okay?«

Ich verabschiedete mich schweren Herzens von Franziska, Miriam, Bert und den Kindern.

Franziska blieb auf der Hütte, um sich ein wenig zu erholen. Sie hatte viel gearbeitet und wirkte gestresst. Außerdem wollte sie Ben und Jana bei ihren Online-Übungen für die Schule helfen.

Es war schon dunkel geworden, als ich mein Auto das Tal abwärts lenkte. Nur der Lichtkegel meines Toyotas erhellte die Gegend. Nachdem ich die Hauptstraße erreicht hatte, leuchteten mir auch Laternen den Weg. Wie gut, dass unsere Orte nicht unter Quarantäne gestellt worden waren. Noch nicht.

Ich parkte vor dem Haus meiner Großeltern, zog die Handschuhe über und steckte das Desinfektionsfläschchen ein. Opa blickte beim Fenster raus und deutete mir, dass er die Haustüre schon geöffnet hatte. Der Anblick meines hilflosen Großvaters und meiner verwirrten Großmutter, die mit leicht geöffnetem Mund am Boden lag, rührte mich zu Tränen.

Als ich Oma berühren wollte, schrie sie laut auf. Ihr Blick war mir fremd. So kannte ich sie nicht. Wie ein wildes Tier, das in die Enge getrieben worden war. Opa drohte in seiner Verzweiflung mit dem Krankenhaus. Da gab Oma nach. Ich zog sie auf und führte sie zu ihrem Bett. Danach telefonierte ich mit Gerhard, meinem Cousin, der mittlerweile als Hausarzt arbeitete. Er riet mir, die Medikation der Tabletten zu erhöhen.

Ich versprach meinem Opa, ihm jederzeit zu helfen, wenn die Situation akut werden sollte, und verabschiedete mich von ihm. Danach verständigte ich meine Mutter.

Aufgewühlt fuhr ich in Richtung meiner Wohnung, um für Franziska einen Stick mit wichtigen Dateien für ihren Unterricht zu holen. Bei der Ortseinfahrt winkten mich die Polizisten, die mich schon bei der Hinfahrt kontrolliert hatten, an die Seite.

»Junger Mann, haben Sie vergessen, dass nur absolut notwendige Fahrten erlaubt sind?«

Ich wollte dem Polizisten meine missliche Lage erklären, aber er ermahnte mich und machte mir klar, dass er mich in nächster Zeit nicht mehr auf der Straße sehen wollte.

Ich war gefangen. Wütend fuhr ich am Schulgebäude vorbei und hoch zu meiner Wohnung. Verdammt! Ich stieg aus und spazierte zurück zur Schule.

Frische Luft würde mir guttun. Straßenlampen leuchteten mir den Weg. Ich zitterte und spürte, wie die Angst sich langsam ausbreitete.

Im Wäldchen nebenan knackste es. Ich beschleunigte meine Schritte. Gerade noch befand ich mich nicht nur stimmungsmäßig am Berg, nun war ich im Tal gelandet. Als ich die Schule sah, hüpfte mein Herz vor Freude. Mir fehlten die Schüler. Hinter mir vernahm ich einen Atem. Ich drehte mich um. Niemand.

Ich wurde verrückt, musste eine Stimme hören und wählte die Nummer von Martin.

»Noah, wie geht’s?«

Ich erzählte ihm, was vorgefallen war.

»Ja, ist schon eine eigenartige Zeit. Aber wir werden da stärker rauskommen. Sieh dir doch die Fotos von unserem gemeinsam Hausboot-Urlaub letzten Sommer am Shannon an. Das wird dich aufheitern.«

Dann erzählte er mir, wie viel er nun als Ausgleich Sport betreibe und täglich auch Online-Kung-Fu-Stunden gebe. »Nur, ich sag’s dir. Ich habe Kontakte zu ganz spannenden Leuten und einige meinen, hier läuft was ganz anderes ab. Schau auf die neue Seidenstraße Chinas. Ich sag nur Geopolitik.«

Nach dem Telefonat schlenderte ich weiter Richtung Shannon Inn. Keine Menschenseele, nur das Heulen eines Hundes war zu hören. Ich stand vor dem Eingang des Pubs und zündete mir eine Zigarette an. Mein Zigarettenkonsum hatte einen Beinahe-Shutdown erlebt, doch seit dem Shutdown rauchte ich öfter, als mir lieb war. Das Shannon wirkte gealtert, wenn es unbeleuchtet und verlassen an der Straße herumlungerte. Erinnerungen stiegen hoch wie bunte Luftballons in den Himmel des Bewusstseins. Ich kehrte um und schlurfte den Weg zu meiner Wohnung. An der Kuppe angelangt, blickte ich hoch und staunte. Was für ein Sternenhimmel!

Waren nicht mehr Sterne als sonst zu sehen? Beteigeuze vom Sternbild des Orion flackerte auffällig, Sirius strahlte kraftvoll vom Firmament. Als ich wieder nach vorn blickte, huschte im Schein der Straßenlampe ein Fuchs über den Weg. Nicht irgendein Fuchs, sondern mein langjähriger Freund Rilke. Franziska und ich hatten ihm den Namen gegeben.

»Er ist ein Gedicht, ein rätselhaftes«, hatte ich Franziska erklärt, als er wieder das Trottoir entlang getrottet war.

»Nenn ihn doch Rilke«, hatte Franziska vorgeschlagen. Rilke war ständiger Begleiter in meinem Leben, und es war erstaunlich, dass er so viele Jahre hindurch immer wieder auftauchte.

Leise öffnete ich die Wohnungstür, fiel auf das Sofa und klappte meinen Laptop auf. Nachrichten von meinen Schülern flatterten herein. Christian hatte als Schulsprecher eine WhatsApp-Gruppe mit allen Klassensprechern gegründet. So konnten die Schüler untereinander feststellen, in welchen Klassen und Gegenständen das home schooling funktionierte und in welchen nicht. Er hatte mir seine Rückmeldung gesendet. Bis auf ein paar kleine Schwierigkeiten schien alles gut zu laufen. Ich war überrascht, wie schnell sich ein schwer bewegliches System doch bewegen konnte. Vielleicht würden sich auch andere Systeme neu bewegen, einfach, weil sie sich bewegen mussten.

In meinem Spamordner war wieder eine E-Mail für Penisvergrößerung gelandet. Wollte man aus mir noch eine Zirkusattraktion machen?

Das Fernsehprogramm meines Nachbarn Josef lief in voller Lautstärke. Gefühlt jedes zweite Wort war Corona. Was wohl diese Flut an Berichterstattung mit den Menschen machte? Ich dachte an meine Mutter, an meine Großeltern, an Menschen, die einsam waren. Franziskas Bruder, der an Autismus litt, war jetzt zu Hause bei seinen Eltern. Seine Firma konnte ihn nicht länger halten. Ich merkte, wie mich ein wenig der Mut verließ. Müde schlief ich ein und tauchte ab in das Land der Träume.

EINE SCHNAUZE VOLLER LIEBE

»Aufstehen! Willst du den ganzen Tag verschlafen? Der Kaffee ist schon fertig.«

»Was? Moment, wo bin ich? Was ist los?« Ich saß aufrecht im Bett und versuchte mich zu orientieren.

»Schon sechs Uhr morgens und du schläfst immer noch. Ist das dein Ernst?«

Kannte ich die Stimme nicht? Ich schüttelte mich und blinzelte. Es war frühmorgens. Die ersten Lichtstrahlen hatten sich ihren Weg durch die Schlitze meiner Jalousien gebahnt.

Die Silhouette eines Mannes mit Cowboyhut und einem buschigen Schweif am Hinterteil. Ein breites Grinsen, der kleine Spalt zwischen den Vorderzähnen, der Geruch von Lagerfeuer, Salbei, Rosen und …

»Ko-ko-ko-Kojote? Old Man Coyote – du? Echt?« Ich klopfte mir auf den Kopf, zwickte und schüttelte mich.

»Wer denn sonst? Dein Freund und Helfer.«

»Ich fass es nicht, du bist es wirklich! Mein komischer, äh, kosmischer Freund?«

Ich sprang auf und rannte wie ein kleiner Junge in die offenen Armen des stattlichen Mannes, der über das ganze Gesicht strahlte. Ich konnte und wollte ihn nicht mehr loslassen.

»Ups, kannst du dich anstecken, Coyote?«

»Ja, mit dem Virus der Liebe.«

Er lachte, ein Lachen, das noch viel ansteckender war, als es das Virus sein konnte.

»Wenn ihr euch fürchtet, seid ihr schon geschlagen. Die Furcht macht Teufel aus Engeln, sie sieht nie richtig.

Sei gegrüßt, ich bin’s. Der alte und ewig junge Mann.«

Ich weinte und lachte vor Freude. Wir tanzten vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer. Kurz wurde mir schwummerig, ich musste mich setzen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mich wieder gefasst hatte.

»Coyote, was machst du hier? Außer Shakespeare zu zitieren?«

Tränen der Freude liefen über meine Wangen. So sehr hatte ich diesen verrückten Alten vermisst. Oft hatte ich an ihn gedacht, seinen Namen gerufen. Gespürt hatte ich ihn, manchmal intensiv, und ich wusste, er half mir in schwierigen Momenten. Aber dann war Coyote wieder wie vom Erdboden verschluckt gewesen.

»Noah, ich will dich ein wenig an das Leben erinnern. Die Zeiten sind ja nicht so einfach im Moment. Also, im eigentlichen Moment immer. Sie sind nur derzeit nicht so einfach, wenn man sich nicht auf den Moment einlässt.«

»Wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Was macht man als Kojote?«

»Ach, ich bin einfach. Und dabei nehme ich viele Rollen ein. Du weißt schon. In diesem Theater suche ich mir meist eine Rolle, die bester Zeitvertreib mir ist. Das wechselt oftmals überaus geschwind! Gern bin ich hier auf Erden bei einer meiner Herden.«

»Ich bin Teil einer Herde?«

»Ja. Und kein Fohlen mehr. Das ist schön.«

»Und auch kein Wallach. Das ist auch schön.«

»Übertreib mal nicht. Jetzt verwandeln wir dich wieder in ein Wildpferd, damit sie dich nicht reiten können.«

»Wen meinst du genau?«

»Egal, eigentlich ist es der Teil, der an die Trennung glaubt, der dich stetig reiten möchte. Dein kleines Ich. Seine Peitsche ist schrecklich, die Sporen auch. Und es will nur deine Kraft. Wirf es ab.«

»Meine Freunde haben dich als John Fox vermisst. Immer wieder fragen sie, wann du wiederkommst.«

»Nun bin ich da, in Quarantäne.«

»Nein, hier ist keine. Einige Nachbarorte sind in Quarantäne. Auch ein paar Täler. Und nebenan das Bundesland Tirol. Die Grenze zu Deutschland ist geschlossen. Hier ist alles streng, in Quarantäne sind wir aber noch nicht.«

»Ich bleibe jetzt bei dir. Mein Koffer steht ja noch im Raum. Ich hoffe, er ist keine olfaktorische Belastung.«

»Oh, das warst also du. Der Donner?«

Coyote lachte.

»Und wie komme ich zu dieser Ehre, dass du bei mir einziehst? Noch dazu mit so einem gewaltigen Koffer?«

»Du hast mir gefehlt, mein Steckenpferd. In dir steckt so viel. Aber du musst noch lockerer werden. Manchmal kommst du daher, als hättest du einen Stecken verschluckt. Sei nicht allzu steif.«

Coyote hüpfte auf einem imaginären Steckenpferd durch die Wohnung. Schlief ich noch und träumte ich, dass ich aufgestanden war?

Ich öffnete meine Augen ganz weit. Dann schloss ich sie, zählte bis drei und öffnete sie wieder. Immer noch sah ich diesen verrückten Coyoten. Ich schlich ins Bad, zählte bis zehn und kam zurück. Old Man Coyote war noch da. Im Pyjama schlurfte ich raus auf den Balkon, zündete mir eine Zigarette an und blickte in die Wohnung. Ich konnte es nicht fassen. Er war wirklich wieder bei mir.

Ich könnte die ganze Welt umarmen, dankte dem Universum, Gott, dem Leben.

Und Coyote? Er drehte Musik auf und tanzte wilder als erlaubt war. Was sollte ich Franziska erzählen? Würden meine Freunde von ihm erfahren? Bert? Welche Meinung hatte Kojote zum ersten weltweiten Shutdown der Menschheitsgeschichte? Was war von den nächsten Monaten und Jahren zu erwarten? Warum kam er gerade jetzt? Als Sterbebegleiter? Fragen über Fragen …

»Kaffee gefällig?« Coyote hatte bereits Kaffee aufgestellt und servierte in einem übergroßen Kaffeehäferl das pechschwarze Getränk. Zuerst dachte ich, er hätte schwarzen Pudding auf den Tisch gestellt.

»Wir Cowboys lieben starken Kaffee. Der Löffel soll Widerstand spüren.«

»Coyote, was hab ich nur ohne dich gemacht? Bist du per oder ohne Anhalter durchs Universum zu mir gereist?«

»Ich brauche weder Anhalter noch Zuhälter.«

Wieder verschmolzen Realität und Wahrnehmung zu einem eigenartig köstlichen Ereignis.

Ich blickte Coyote von der Seite an. Hatte er sich verändert? War er älter geworden? Oder jünger? Bei ihm wusste man ja nie. Er wirkte frisch und vital wie eh und je. Die Krise schien ihm nichts anzuhaben.

»Du siehst gut aus, Noah. Etwas gealtert. Aber so ist das nun mal unter der Sonne. Hast vieles gut gemeistert, so viel ich sehen konnte. Also, ein Gut von mir. Und von Gott würdest du ein Sehr gut erhalten, denn er kennt nur Sehr gut und Gut. Er ist nicht so streng wie ihr selbst es mit euch seid.« Coyote grinste.

»Oh, du hast mich beobachtet?«

»Ja, sicher, immer wieder. Solltest du nicht deinen Klasseneltern einen Fragebogen schicken, um zu erfahren, wie das Fernlernen diese Woche gelaufen ist?«

»Dir entgeht ja nichts.«

Ich schrieb eine kurze E-Mail an die Eltern. Danach sah ich nach, ob Coyote noch da war. Ja, er saß auf meinem Sofa. Anschließend telefonierte ich mit der Klassenelternvertreterin. Ich hatte Glück mit ihr und meiner Klasse, riesiges Glück. Die Gemeinschaft war großartig, die Leistungen der Schüler auch. Meine letzte Klasse hatte ich nur widerwillig abgegeben. Abschiede fielen mir schwer. Fast immer. Ich weinte, sodass Franziska sich schon sorgte, ob wir gleich per Boot in die Mongolei, unser Reiseziel, übersetzen könnten. Dann erschien die neue Klasse auf der Schulbühne und die Kinder eroberten wieder mein Herz. Jetzt waren wir in der vierten Mittelschulstufe, der achten Schulstufe insgesamt, gelandet und seit Kurzem hatte ich nur noch per Internet Kontakt zu den Schülern. Einige erhielten somit erstmals in ihrem Leben auch E-Mails. Irgendwie kurz nach Höhlenmalerei, Flaschenpost und Brief musste dieses langweilige Etwas erfunden worden sein. Generell konnten sich die Jugendlichen keine Welt ohne Internet vorstellen, waren sie doch zirka zehn Jahre nach Einführung des World Wide Webs auf die Welt gekommen. Mir ging’s ja ähnlich.

»Ich mag’s, dass du deinen Unterricht etwas mehr digitalisierst«, meinte Coyote. »Der Online-Rechtschreibtrainer ist wirklich gut. Du ersparst dir Arbeit beim Individualisieren.«

Ich war platt. »Du findest das gut? Echt, Coyote?«

»Klar. Adler und Kondor kommen wieder zusammen. Diese Lernformen haben Zukunft, sie werden vermehrt eingesetzt und können hilfreich sein. Aber nur eingebettet in etwas Größeres.«

Er sprach das Aber bedeutungsschwanger und langgezogen. »Deswegen bin ich hier bei dir. Die Zeit verlangt Großes, weil Großes vor sich geht. Etwas Neues wurde nun tatsächlich eingeläutet. Ich hab’s dir damals schon versprochen, nicht wahr?«

»Neues muss nicht immer Gutes heißen. Manche haben derzeit eher Angst vor einem tiefen Fall.«

»Ein tiefer Fall führt oft zu höherem Glück.«

»Woher kommt das Virus, Coyote? Ist es ein Kind der Naturzerstörung? Oder das Produkt einer Intrige? Der Unfall eines Zauberlehrlings? Oder eine natürliche Erscheinung?«

»Sein oder Schein, das ist hier die Frage. Genaueres später«, gab er sich kryptisch.

Mein Smartphone läutete, Franziska war am anderen Ende.

»Noahschatz, wie geht’s dir? Es ist so herrlich hier draußen. Das viele Sitzen vor dem Bildschirm war schon wie ein Eintauchen in die Matrix. Die verlässt gerade wieder mein Gehirn.«

Wir vereinbarten, dass Franziska bei Miriam und Bert blieb und ich frühestens am Sonntagabend zur Hütte hochfuhr.

»Danke Natur, Mutter Natur, du bist die Beste!«, hörte ich sie noch rufen, bevor ich das Handy weglegte.

»Coyote, erzähl. Ist dir das Lachen noch nicht vergangen?«

Coyote stand auf und servierte auch sich selbst einen Kaffee. Er hängte seine Lederjacke über die Sessellehne. Danach griff er nach seinem Hut und schmiss ihn auf die Kühlschrankoberfläche.

Wie vertraut war mir der perfekte Flug des beinahe freischwebenden Cowboyhutes. Coyotes weißes Haar fiel über seine breiten Schultern. Sein Holzfällerhemd stand ihm richtig gut. Und er roch beeindruckend angenehm.

»Wie ich dieses Gebräu liebe«, murmelte er. »Tja, mir vergeht das Lachen nie. Mir geht’s prächtig. Alles gut im großen Sinne. So wie dieser herrliche Kaffee.« Er schlürfte kräftig. »Übrigens, du trinkst in Kapseln eingesperrten Kaffee an deiner Schule. Nicht gut.«

»Aber das ist Biokaffee und in biologisch abbaubare Kapseln gepresst.«

»Genau, gepresst. Lass dich nirgendwo reinpressen, auch nicht biologisch abbaubar. Das reicht nach deinem Tod am Friedhof.«

»Aber ich werde gerade als biologisch abbaubares Opfer in eine Art Quarantäne gepresst. Und hab weder mit Immobilien noch mit Gold und Silber vorgesorgt. Okay, abgesehen von dem Regenwaldgrundstück in Costa Rica und dem einen Stern, der nach Franziska benannt wurde.«

Coyote lachte. »Aber mit Klopapier hast du vorgesorgt, du kleiner Scheißer.«

»Wenn’s zu wenig wird«, sagte ich und lachte, »die Gratiszeitungen liefern ja auch immer Gratisklopapier. Die sind wirklich für die Kehrseite des Lebens.«

»Bei dir scheint nicht die Globalisierung, sondern die Klopapierisierung durchzuschlagen. Der Run aufs Klopapier wäre ein spannendes Feld für eure Tiefenpsychologen. Die kramen doch gern in der Scheiße.«

»Was denkst du, warum die Menschen jetzt so viel Klopapier horten?«

»Angst vor dem Tod bei gleichzeitiger Todessehnsucht. Thanatos lässt grüßen.«

»Und die mit viel Eros besorgen sich also eher Kondome?«

»Tja. Irgendwann muss man sich schon die Frage stellen, ob man auf die Vitalität des Pferdes oder auf Pferdeäpfel setzt.«

»Aber wir sind eben auch sprachlich anal fixiert. Es ist vieles Scheiße und beschissen. In der englischen Sprache ist eine beschissene Situation dann fucking. Englisch ist anscheinend eher eine vaginale Sprache. Was denkst du, Coyote. Gibt es eine Schutzpatronin des Klopapiers?«

»Cosy, glaub ich.«

»Oder Tempo, Softis. Vielleicht auch Hakle?«

Coyote verbeugte sich mit gefalteten Händen und sprach: »Hakle ist tatsächlich die Schutzpatronin des Klopapiers, mein Sohn. Sie gilt als Anwärterin auf den Heiligen Stuhl.«

»Ja, mein Stuhl ist mir auch heilig, Coyote.«

»Wenn Hakle den Stuhl besteigt, dann wird die Lage für die Kirche richtig beschissen«, fuhr Coyote fort. »Nur derzeit bete zu Corona, mein Sohn.«

»Wieso?«

»Sie ist die offizielle Schutzpatronin gegen Seuchengefahr. Nebenbei ist sie auch für gelungene Geldangelegenheiten zuständig. Du kannst das gern recherchieren.«

»Sie scheint die Frau der Stunde zu sein. Ich liebe Corona.«

»Aber wisse, Noah: Mit Hakle feucht ist die Toilette sicher nicht verseucht!«

»So, mir reicht das Gespräch, Coyote. Ich muss nun auf die Toilette. Wir haben zu viel darüber geredet. Außerdem hatte ich noch keine Zeit fürs Bad und Zähneputzen.«

»Also, dann – toi, toi, toilet. Hast du eigentlich einen Globus?«

»Nein, ich schaffe es auch zu Fuß aufs Klo.«

Coyote lachte. »Nein, ich meinte dieses kugelförmige, verkleinerte Modell dieses wunderbaren Planeten. Ich will dir was zeigen.«

»Ich habe eine Erdkugel als Wasserball, den ich aufblasen kann. Wie lange bleibst du, Coyote?«

»Bis das Schlimmste vorüber ist. Es ist gerade eine magische Zeit. Eine Schwelle. Eine große Visionssuche der Menschheit. Die neue Welt befindet sich im Geburtskanal. Darum wirkt es noch etwas finster. Und ich garantiere dir: Es wird vorübergehend noch dunkler werden.«

»Ja, richtig beschissen.«

»Ich sagte Geburtskanal und der ist vaginal.«

»Du bist derb. Aber du riechst fein.«

»Du auch, nach Eau de toilette!«

»Ach komm, Coyote. Und dann zitierst du wieder Shakespeare. Ich geh jetzt pinkeln.«

»Oh, the toilet! To pee or not to pee – that is the question.«

Wir lachten und dazwischen kullerte mir wieder eine heiße Träne die Wange runter. Ich schlug mit dem alten Mann ein und verschwand in der Toilette.

»Coyote, worauf soll ich jetzt achten?«

Er blickte in das stillste Örtchen der Welt und trug dabei meinen Mundschutz.

»Ah, ich soll mich vor Viren schützen?«

»Nein, vor dem Gestank des Todes. Ist ja furchtbar. Du musst an deiner Verdauung arbeiten.«

»Mach ich, danke. Ich verwende ab jetzt den Mundschutz als Schutz vor zu viel Nahrungsaufnahme. Seit ich so viel zu Hause bin, futtere ich viel mehr.«

»Man riecht’s, Noah.«

»Nur, worauf soll ich wirklich aufpassen, Coyote?«

»Auf das Leben, Noah, den Humor und das Lachen. Es werden noch herausfordernde Monate. Gott liebt dich.«

»Ich ihn auch.«

»Bleib verrückt, tanze und scheiß auf die Panik. Sei ein Poet des Lebens. Gott ist übrigens eine dicke, lesbische Indianerin. Hab ich dir das schon verraten? Das Geheimnis ist gelüftet. Du solltest auch lüften und dir weniger scheißen.«

»Scheiß der Hund aufs Feuerzeug, herzenszentrierte Verrücktheit und Fischottereffekt. Ich hab’s nicht vergessen, Coyote!«

Mit seinem genialen Moonwalk glitt er wie auf Rädern bei der Tür wieder raus. »Der Heilige Geist wird dich führen, Noah. Aber dafür musst du auch mal ein bisschen verrückt sein.«

»Bin ich, danke.«

»Es hat keinen großen Geist ohne eine Beigabe von Verrücktheit gegeben. Das wusste schon Seneca. Bis später. Übrigens: Das Schulsystem wird sich grundlegend ändern.«

»Denk ich mir. Nur wie?«

»Erzähl ich dir später. Können wir uns dabei nicht auf das Dach des Wohnhauses setzen? Und ein Bierchen trinken? Und dabei in den Sonnenuntergang blicken? Wäre sehr romantisch, finde ich, während wir den Abgesang auf das alte System anstimmen.«

Vanessa, meine Volksschulkollegin, meldete sich per WhatsApp-Video-telefonat, während ich mich noch in der Toilette befand.

»Noah, was sagst du zu dieser unheilvollen Stimmung, die in der Luft liegt?«

»Ja, es liegt Unheilvolles in der Luft.«

»Du hast anscheinend eine sehr gute Stimmung.«

»Ja, Stimmung schon.«

»Warum schaust du so eigenartig? Läuft deine Kamera an oder brauchst du etwa eine Brille?«

»Oh, auf der sitze ich.«

»Was?«

»Auf der Klobrille.«

»Ach, Noah. Wirst du denn gar nicht mehr klüger? Du bringst mich ja noch zum Lachen.«

»Epochales Lachen, Vanessa. Das ist die Antwort auf epochale Krisen.«

»Derzeit ist das nicht immer leicht. Manchmal erheitern mich die Eltern der Schüler. Ich bekomme mittlerweile Anrufe, wie denn die Mathematik-Beispiele des Schulbuches zu lösen seien. Noah, wir sind in der dritten Klasse Volksschule!«

»Nein, ich nicht.«

»Du weißt schon, wie ich das meine. Warum verstehen manche Eltern nicht einmal mehr die Aufgaben von Neunjährigen?«

»Warum sind so wenige mit ihrem Hirn unzufrieden, so viele aber unzufrieden mit ihrem Körper? Es sollte ein Umdenken stattfinden, nur dafür braucht es Hirn.«

»Noah, man hört, seit der Ausgangssperre habe ein Schock die Kinderseelen erfasst.«

»Welcher?«

»Der Schock über den Wissensstand der eigenen Eltern.«

»Ja, manche Eltern werden tatsächlich noch einen Impfstoff vor der Pharmaindustrie gegen Corona entwickelt haben. Vielleicht ist dieser auch unbedenklicher.«

Vanessa hatte zu einigen Schülern den Kontakt verloren. Sie hatte Lernpakete vorbereitet, die die Kinder in der ersten Woche der Ausgangssperre in ihrer Klasse abholen sollten. In der Volksschule funktionierte vieles noch analog. Da ich meine Deutschbücher fast nicht gebraucht hatte, war der Übungsteil nun der analoge Part meines Homeschooling-Unterrichts. Die ersten Texte, die meine Schüler zu Hause am Computer eingetippt hatten, waren per E-Mail eingetrudelt. Ich korrigierte sie mit dem Word-Korrekturprogramm. Die Schüler sollten einen Text verfassen, der eine positive Zukunft nach Corona beschrieb.

Ein kurzer Blick auf die Website einer Tageszeitung und Berichte über Neuinfektionen, angedachte Maßnahmen und Tote fanden sich im Übermaß.

Wie gefährlich war das Virus? Hatte die Virenexplosion im Norden Italiens etwas mit der größten chinesischen Community Europas zu tun? Moderne Sklaven im Dienst von Mode und Gier?

Ich verließ die Toilette und schlug Coyote vor, Vollkorn-Spaghetti zu kochen. Als wir später an unseren Kaffees schlürften, meldete sich meine Mutter. Ich schlenderte mit meinem Handy auf den Balkon.

Aufgeregt erzählte sie mir, dass der Heimatort der Großeltern wahrscheinlich in Quarantäne gestellt werden würde. Der komplette Ort abgesperrt? Eine Katastrophe für meine Großeltern. Ich konnte es nicht fassen! Sofort war ich zurückkatapultiert in die tragischen Schicksale vieler Menschen heute. Einsamkeit und Überforderung hatten sich bei manchen breitgemacht.

Für andere war diese Zeit offensichtlich ein Segen. Die Introvertierten hatten sich ein Leben lang auf diesen Moment vorbereitet. Ich liebte Buddha und hielt ihn für einen der wahren Giganten der Menschheitsgeschichte. Aber ich hatte auch das Gefühl, er hätte gern aus der Welt ein Kloster geformt. Was er nicht geschafft hatte, Corona schaffte es. Die Menschen waren in ihren Zellen auf sich selbst zurückgeworfen.

Für meine Großeltern war dies eine der größten Herausforderungen ihres Lebens. Ich rief sofort meinen Cousin Gerhard an. Er hatte sicher eine Lösung. Gerhard winkte ab.

»Noah, ich kann nicht zu ihnen fahren. Wahrscheinlich bin ich selbst schon erkrankt. Holst du das Medikament bei mir ab? Wir müssen testen, was bei deiner Oma greift.«

»Wie sollen wir Medikamente testen, wenn sie unter Quarantäne sind?«

»Kreativität ist gefragt. Ich rufe einen befreundeten Neurologen an und rede mit deinem Opa. Gib mir mal die Nummer.«

Wir vereinbarten, dass ich gegen Abend bei ihm vorbeikommen und das Medikament meinen Großeltern bringen würde.

Ich betete am Balkon stehend zu Gott. Wenn er mich liebte, wie Coyote meinte, und ich ihn, dann könnte er meinen Großeltern helfen. Nicht wie ein Bettler sollte ich an die Türe klopfen, damit geöffnet werden konnte. Sondern wie jemand, der erwartet und geliebt wurde, hatte mir Coyote erklärt. Natürlich war für mich die Quelle allen Lebens weder männlich noch weiblich.

WILDE FAHRT, FOXNEWS UND DIE MILCHSTRAßE

»Ich bin dabei.«

»Wobei, Coyote?«

»Ich fahre mit deinem alten Schlitten. Naja, etwas älter ist sie schon, deine Kiste. Aber wir schaffen das.«

»Du meinst meinen Toyota? Also, göttlicher Hund. Der Wagen passt wunderbar zu dir, Jakob nennt ihn eine fahrende Hundehütte. Ich bin auf den Hund gekommen. Weiß der Geier, ob ich bei meinen Großeltern ohne Probleme ankomme.«

»Ja, Gaia weiß es. Sie liebt dich auch. Sie liebt alle. Ihr werdet immens geliebt vom Leben. Sie hilft uns beiden.«

»Danke. Du … Wenn dich die Leute sehen: Bleibst du bei deinem Namen John Fox, alter Fuchs?«

»Ja, mein Rollenname für den äußeren Kreis. Aber, weiß der Kuckuck, was noch alles passiert. Ich lass mich überraschen. Jeden Augenblick entfaltet sich das Leben neu. Willst du es kontrollieren, dann surfst du nicht mehr auf der Energie des Lebens. Jetzt ist es wichtig, am Brett zu stehen.«

»Binden wir den anderen mit John Fox einen Bären auf?«

»Nein, wir hängen ihnen einen Coyoten um. Meine Medizin wirkt auch, wenn man nicht alles weiß.«

Schnell las ich noch einige Aufgaben meiner Schüler. Die digitale Rechtschreibprüfung fiel verdammt gut aus, was mich riesig freute. Nur die individuelle Freischaltung der einzelnen Programme für jeden Schüler war etwas aufwändiger, als ich erwartet hatte.

»Die Situation wird noch verschärft, das kannst du mir glauben.«

»Ja, ich merk’s gerade.«

»Es wird eine kurze Zeit noch intensiver werden. Dann wieder leichter, bevor es sich erneut verschärft. Diese Wellenbewegungen dauern an.«

»Danke, sehr beruhigend.«

»Mach dir keine Sorgen, deinen Großeltern geht es bald besser.«

»Dein Wort in Gottes Ohr.«

Waren Old Man Coyotes Ohren plötzlich nach unten gebogen und setzte er einen Dackelblick auf? Wir spielten noch eine Runde Karten. Er wies mich darauf hin, dass ich meine Musikbox einschalten sollte.

»Nein, deine innere!«, brüllte er, als ich die Stereoanlage aufdrehen wollte.

»Noah, auf manchen spirituellen Wegen kühlt die innere Temperatur ab. Ist in Ordnung. Die Gefahr ist nur, dass man in Verstand und Kontrolle stecken bleibt und das Leben einfriert. Also, entscheide dich zwischen dem Weg des Kühlschranks und des Lagerfeuers.«

»Ich wähle die rote Pille, nicht die kühle blaue. Also, Lagerfeuer.«

»Gut gewählt, Noah. Folge dem weißen Kojoten. Es ist ein wegloser Weg. Das Thermometer geht dabei nach oben. Im Zentrum ist die Liebe. Ekstase erwartet dich. Ein Mix aus Tanzen, Singen, Lachen, Absurdität und Öffnung für den großen Raum.«

»Ein Thermo-Mix also.«

»Ja, aber ohne genaue Anleitung. Nichts ist programmiert. Einfach nur Kreativität. Es ist der Weg der Kreativität, Noah. Der Weg des freien Spiels der Spiritualität. Du bewegst dich weg von der Religion hin zur freien Spiritualität. Weg vom kühlen Norden, hin zum Sonnenaufgang des Ostens. Raus aus der Matrix, mitten hinein in die Freiheit des Lebens. Komm, wir ändern deine spirituelle Temperatur.«

Coyote schnipste mit seinen Fingern über meinem Scheitel. Energie brandete herein, ich nahm kurz alles verschwommen wahr. Mein Körper zitterte von innen und Glückseligkeit gluckste aus der Tiefe hinein bis in die letzte Zelle meines Körpers. Erst wurde mir warm. Dann heiß. Mein Herz loderte. Mein Gehirn glühte und meine Hände brannten wie Herdplatten. Ich tanzte und es tanzte mich. Coyote brüllte und sang, als gebe es kein Danach – und keine Nachbarn.

»So, und jetzt ab in deine Hundehütte.«

»Ich hab mir den Schleichweg über die Landstraßen noch gar nicht überlegt, Coyote.«

»Egal, wir brechen auf. Die Straßen werden sich schon unter deine Autoreifen rollen.«

Ich zog die Jacke über und wir sprangen die Stufen nach unten. Nachbar Josef entsorgte gerade Müll.

»Ah, der amerikanische Pädagoge. Lange ist es her … Wo waren Sie all die Jahre?«

»Ach, die Geschichte würden Sie mir nicht glauben. Aber duzen wir uns doch. Sonst fühl ich mich wie ein alter Mann.«

»Das sind Sie nicht, pardon, bist du nicht. Schau mich an, ich bin älter als du.«

Coyote lachte. »Das Alter ist nicht so wichtig. Ich bin John.«

»John Fox«, ergänzte ich.

»Und ich bin der Josef. Man wird einsam in diesen Zeiten.«

»Josef, genieß noch das Alleinsein. Ehrlich. Ich sag’s dir: Viele sehnen sich gerade nach den Älteren, den Großeltern. Besonders die kleinen Kinder. Menschen, die an den Rand gedrängt wurden, werden in Zukunft einen neuen Platz erhalten. Wart nur ab, Corona macht vieles sichtbar. Und das langfristig.«

Hatte Josef Tränen in den Augen?

»Josef, du warst übrigens ein fantastischer Lehrer!«

»Echt? Wieso weißt du das, John?«

»Ähm, ich hab meine Kanäle.« Coyote zwinkerte mir zu. Ich musste was Unverfängliches sagen.

»Also, ich hab viel, viel Gutes von dir gehört, Josef. Die Kinder liebten die Iglus, die du mit ihnen gebaut hast.«

»Danke, ihr habt meinen Tag gerettet.«

Wir stiegen in meine alte Karre und sausten los. Coyote saß hinten, damit niemand denken sollte, wir würden alle Regeln brechen.

Die Nacht hatte die Dämmerung als Boten vorausgeschickt, um zu testen, ob die Luft für die Dunkelheit schon rein war.

Ich fuhr nach Norden auf einer Feldstraße, die über eine Kuppe führte. Von dort konnte ich das Tal sehen, in dem mein Cousin wohnte. Ich parkte und wir stiegen aus, um den nächtlichen Blick ins Tal zu genießen.

Coyote wollte eine Zigarette paffen. Viel zu lange habe er nicht mehr geraucht, erklärte er mir. Das Inhalieren von verbranntem Salbei würde ihm schon gehörig auf die Nerven gehen. Mehr wollte er aber nicht preisgeben.

Ein Jogger mit Stirnlampe kam uns entgegen. Er fragte, warum ich meinen Opa um diese Uhrzeit quer durch die Geografie transportierte.

»Ich bin gefahren«, erklärte Coyote, »und wenn du noch mal Opa sagst, dann lauf ich mit dir. Pass übrigens auf deinen Opa auf, ruf ihn mal an. Er ist sehr einsam.«

Unter der Stirnlampe veränderte sich die Gesichtsfarbe. Der Mann machte kehrt und lief zurück. Hatte er Angst vor uns? Oder machte er sich auf den Weg zu seinem Großvater?

Coyote blies Ringe in die Luft und zeigte mir Beteigeuze am Firmament. »Er wird wieder heller. Schön für Orion. Aber das sind alles nur Erscheinungen der Zeit. Er wird sich wieder verdunkeln.«

Rehe galoppierten an uns vorbei. Ein Bock bellte. Weiter weg sahen wir einen Lichtkegel. Er kam von einem Geländewagen.

»Coyote, könnten wir bitte weiterfahren? Ich will keine Probleme bekommen.«

Zu spät. Ein Jäger stieg aus. »Was macht ihr hier?«

»Wir sind Naturliebhaber und genießen den wunderbaren Abend. Sehen Sie das Sternenzelt, die schweigenden Silhouetten der Bäume und Berge?«

»Ja, aber ihr verscheucht mir das Wild.«

»Da irren Sie, mein Lieber«, fuhr Coyote fort. »Es kam uns gerade entgegen auf der Flucht vor Ihrem Geländewagen. Sagen Sie: Lieben Sie Tiere? Sind Sie ein Heger und Pfleger oder wittere ich den Geruch des Todes mit meiner feinen Nase?«

»Was heißt lieben? Meine Tiere hier muss ich kontrollieren. Ohne uns Jäger wäre das Gleichgewicht gestört.«

»Nur, das sind nicht Ihre Tiere. Es sind auch nicht Ihre Bäume und auch nicht Ihre Sterne. Letzteres sollte sogar Ihnen klar sein.«

»Hör mal, alter Mann. Entweder du verschwindest jetzt mit dem Knaben oder ich zeige euch an. Tiere sind Tiere. Ich steh auf der Leiter der Evolution ganz oben. Deswegen bestimme ich auch. Macht euch die Erde untertan, steht schon in der Bibel. Vielleicht blättert ihr da mal nach, ihr Anarchisten. Außerdem, was treibt ihr euch während der Ausgangssperre hier draußen herum?«

Der Mann nahm sein Handy, aber der Akku war leer.

»Zu wenig Energie. Muss anstrengend sein, so isoliert zu sein«, meinte Coyote.

»Ich bin nicht isoliert!«

»Nur eine kleine Empfehlung. Ohne Verbindung wird der Akku leer. Sie sind ein Fremder hier in der Natur. Kein Einheimischer. Sie haben sich ausgeschlossen und sind nicht angeschlossen.«

»So, jetzt aber Schluss. Verschwindet. Auf der Stelle! Ich hab keine Zeit für diesen Quatsch.«

Wir stiegen ein. Coyote saß am Steuer, kurbelte das Fenster runter und rief dem Mann zu: »Schade, dass Ihr Vater für Sie nie Zeit hatte. Er hat alles, woran Sie glaubten, lächerlich gemacht. Sie hatten so schöne und hochfliegende Träume. Manches können Sie noch verwirklichen. Glauben Sie an sich.«

Dann gab Coyote Gas und wir rauschten davon. Im Rückspiegel sah ich den Mann stehen. Er blickte zum Himmel. Seine Umrisse verschwammen in der nächtlichen Landschaft. Die Kurven ins Tal nahm Coyote zu schnell. Viel zu schnell.

»Die Tiere sind sicher, Noah. Sie wissen von mir. Keine Angst. Wir sind in Kontakt. Auch du kannst sie in Zukunft innerlich warnen, wenn du auf der Strecke bist.«

Ich saß am Beifahrersitz, denn Coyote meinte, er würde mich hegen und pflegen, somit lebten wir in einem gemeinsamen Haushalt.

Der alte Trickster fuhr, so wie ich es ihm gesagt hatte, den nächsten Berg hoch. Bei Gerhards Haus bremste er scharf ab. Gerhard gab mir ein Päckchen und erklärte mir, wie Oma die Tabletten einnehmen sollte.

»Gut, dass du als Hausarzt onanierst, Gerhard. Pardon, ordinierst.«

Gerhard lächelte und verschwand in seinem Anwesen. Ich eilte zurück zum Auto. Coyote wendete und fuhr talwärts. Dann bremste er und wurde langsam.

»Polizei«, meinte er. »Sie suchen uns. Der Jäger macht Jagd auf uns.«

»Verräter«, rief ich. »Der ist echt mies.«

»Noah, horch. In Wahrheit werden die Verräter verraten. Die Zeit der geschmiedeten Ränke, der Intrigen und der Kabale, sie geht dem Ende zu. Auch wenn sie aus bestem Stahl geschmiedet sind. Das Schwert der Wahrheit wird das Rankengewirr durchschneiden, hinter der List und Tücke wohl gediehen. Das Tageslicht scheint hell und heller und das gemeine Volk wird taumelnd staunen.«

Coyote fuhr rechts ran, drehte das Licht meines Autos ab und schob dann bergauf im Dunklen zurück. Er wurde dabei immer schneller. Ich protestierte, aber er sagte nur: »Ich bin einer der besten Rückwärtsfahrer der Welt, ja, auf der gesamten Milchstraße.«

FÜCHSE, AUFERSTEHUNG, GROßVATER UND EINGEBORENE

Er bog scharf in einen Waldweg ein. Coyote stellte den Motor ab, der Wagen knisterte ein wenig. Die Bremsen stanken nach angebranntem Gummi. Die brauchten dringend ein Service.

»Noah, wir fahren nicht denselben Weg zurück. So vermeiden wir Probleme.«

Als wir im Dunklen vor dem Auto standen, knackste es im Wald. Eine Füchsin näherte sich. Ein Waldkauz rief. Ein Ruf, der immer etwas tief in mir berührte. Die Füchsin kam noch näher. Ob sie Tollwut hatte? Coyote stand ruhig. Eigentlich war die Tollwut in Österreich ausgerottet. Coyote blickte die Füchsin an. Sie hob ihren Kopf und drehte um.

»Wir sollen ihr folgen«, flüsterte der alte Trickster.

Wir schlichen durchs Unterholz, bis zu einem Fuchsbau.