Finster die Rache, dunkler die Schuld - Andrea Schorn - E-Book

Finster die Rache, dunkler die Schuld E-Book

Andrea Schorn

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Beschreibung

Sieh dich vor. Ich bin dein persönlicher Alptraum. Du bist nirgendwo sicher. 
Ava scheint ein idyllisches Leben mit ihrer Tochter Cosima zu führen – wären da nicht die Panikattacken und wiederkehrenden Alpträume, die die alleinerziehende Mutter quälen. Doch während Ava versucht, ihr Innenleben in den Griff zu bekommen, wächst die Bedrohung von Außen: Jemand beobachtet sie und will, dass sie es weiß. 
Bedrohliche Briefe, nächtliche Geräusche in ihrem Haus und unerwünschte Geschenke häufen sich. Ihr Stalker schreckt auch vor Gewalt nicht zurück und verfolgt Ava, wohin sie auch flüchtet. Die Polizei will sie auf keinen Fall einschalten, als der Stalker jedoch seine Aufmerksamkeit auf ihre Tochter richtet, bleibt Ava keine Wahl: Sie muss ihr düsteres Geheimnis offenbaren, um Cosimas Leben zu retten.
Finster die Rache, dunkler die Schuld” ist ein nervenzerreißender Thriller, der die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verschwimmen lässt.

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FINSTER DIE RACHE, DUNKLER DIE SCHULD

Thriller

ANDREA SCHORN

Verlag:

Zeilenfluss

Werinherstr. 3

81541 München

Deutschland

__________________________

Texte: Andrea Schorn

Cover: Zeilenfluss Verlag

Korrektorat: Dr. Andreas Fischer

Satz: Zeilenfluss Verlag

__________________________

ISBN: 978-3-96714-415-4

__________________________

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Für meine geliebten Kinder

Lydia, Samira und Alex

PROLOG

Es wehte ein eisiger Windhauch über die fast menschenleere Straße, auf welcher die junge Frau, nur mit einem dünnen weißen Nachthemd bekleidet, entlangwankte. Ihr bleiches Gesicht, beinahe noch das eines Kindes, war vom Schmerz gezeichnet und tränennass. Ihr dunkles Haar klebte ihr wie ein zerzauster Vorhang auf den feuchten Wangen.

Alles, was sie hervorzubringen vermochte, war ein leises Wimmern.

Unkoordiniert fanden ihre Füße den Weg über den eiskalten Asphalt, ohne dass sie ihre Umgebung wahrgenommen hätte. Blut benetzte den weißen Stoff ihres Hemdes. Der schwarzrote Fleck fraß sich erbarmungslos durch das Leinen und wuchs zu einer verstörenden Größe heran. Es rann ihr an den Beinen herab, färbte ihre Fersen rot ein und ließ sie Spuren hinterlassen. Die eisige Kälte unter ihren nackten Fußsohlen schien sie gar nicht wahrzunehmen.

Die Frau erweckte den Anschein, kein bestimmtes Ziel zu haben. Ihr Blick ging ins Leere; zu verstörend waren die Erlebnisse der letzten Stunden, um noch bei klarem Verstand zu sein.

Zwei Männer und eine Frau verließen das behagliche Café, in welchem sie sich soeben über einen Verkaufsabschluss einig geworden waren. Einer der Männer entdeckte das offensichtlich schwer verletzte Mädchen und eilte ihm zusammen mit seinem Geschäftspartner zu Hilfe. Die verbliebene Frau zog hektisch ihr Handy aus der Tasche und wählte mit zitternden Fingern den Notruf. In knappen Worten versuchte sie ihrem unsichtbaren Gegenüber in der zentralen Leitstelle ihren Standort durchzugeben und den erbarmungswürdigen Anblick der jungen Frau zu schildern, ohne dabei in Tränen auszubrechen.

Einer der Männer zog seinen warmen Mantel aus und legte ihn der ausgekühlten jungen Frau um die Schultern. Der andere stützte sie. Sie suchten den Blick des Mädchens, welches offensichtlich unter Schock stand und seine Umgebung nicht wahrzunehmen vermochte. Dann verdrehte es plötzlich die Augen, und seine Beine konnten es nicht länger tragen. Es sackte zusammen. Noch bevor es auf den harten Boden aufschlagen konnte, fing es einer der Männer auf und nahm es auf den Arm. Der andere zog ihm den Mantel enger um den blutenden Leib.

Das Letzte, was die junge Frau aus der Ferne vernahm, waren leise Sirenen; dann schwanden ihr endgültig die Sinne, und eine gnädige Schwärze umfing sie.

KAPITELEINS

»Das riecht so lecker, ich bin am Verhungern«, rief Ava und rückte erneut ihre Lesebrille zurecht.

Immer wieder war sie den letzten geschriebenen Abschnitt durchgegangen. Die Sätze kamen ihr nicht ganz rund vor, aber sie konnte die Ursache hierfür einfach nicht finden. Die Buchstaben schienen ihr vor der Nase herumzutanzen. Ava beschloss, so schnell wie möglich einen erneuten Sehtest zu absolvieren. Mit dieser Lesestärke kam sie nicht mehr zurecht. Dann setzte sie die Brille ab und rieb sich müde die Augen. Eines ihrer Lider pochte unangenehm in rhythmischem Stakkato.

Komm runter, mach mal einen Cut. Du bist nur unterzuckert, das ist alles.

»Du brauchst eine Pause, Mama. Die gebratenen Eier mit Speck sind fertig«, verkündete Cosima. In beiden Händen hielt sie jeweils einen türkisfarbenen Teller. Beide deponierte sie auf den gelben Platzdeckchen, auf welchen sie schon zwei Gläser kalten Mineralwassers bereitgestellt hatte. In der Mitte des Tischs brannte eine einzelne Kerze.

»Kind, du bist unbezahlbar«, sagte Ava. Sie speicherte ihre Arbeit ab, fuhr alle Programme herunter und streckte sich kurz. Dann begab sie sich zur Küchenanrichte und konnte nur wieder staunen, wie viel Arbeit Cosima ihr bereits abgenommen hatte. Im Vorbeigehen hauchte sie ihrer vierzehnjährigen Tochter einen Kuss auf die Wange.

»Das sieht richtig lecker aus, mein Schatz. Wo hast du nur so gut kochen gelernt?«, fragte sie mit einem liebevollen Blick auf ihr Mädchen.

»Jetzt übertreib mal nicht, das sind doch nur Eier mit Speck.« Cosima lachte. Dennoch sah Ava ihr an, dass sie sich über das Kompliment freute. Während ihre Tochter einen Kopf Eisbergsalat aus dem Kühlschrank holte, die äußeren Blätter mit den verwelkten Rändern entfernte und den Salat mit einem großen Messer in zwei Hälften teilte, bereitete Ava ein rasches Dressing zu.

»Schreib bitte noch Olivenöl auf die Liste für morgen, es ist fast alle. Ehrlich, Schatz, ich bin so froh, dass ich dich habe. Wenn du dich nicht so um mich kümmern würdest, dann würde ich das Essen so lange ausfallen lassen, bis ich verhungert wäre.« Sie verteilte den fertigen Salat in zwei Glasschälchen und setzte sich ihrer Tochter gegenüber. Dann beugte sie sich über ihren Teller und sog den Duft des Essens ein. »Das riecht so gut. Ist da Thymian dran? Du bist eine Feinschmeckerin.«

Cosima lachte abermals. »Du lobst mich so lange, bis das Essen kalt ist. Jetzt hau rein. Gehen wir nachher noch raus spazieren? Es ist so schönes Wetter, und Jaro muss auch dringend Gassi gehen.«

Ava schaute ihren Dalmatiner Jaro an, der ungeduldig an der Tür kratzte.

»Ich sehe es. Ich würde gerne, aber …« Ava warf einen verächtlichen Blick auf ihr immer noch aufgeklapptes Notebook.

»Ich verstehe, der Halsabschneider hat dir wieder mal eine Todesfrist gesetzt. Das ist nichts Neues«, meinte Cosima und spießte ein Stück Speck auf ihre Gabel. »Was bist du denn gerade am Schreiben?«

»Einen todlangweiligen Ratgeber über Gicht. Nach dem letzten Prospekt für Diabetiker könnte ich vermutlich selbst glatt Ärztin werden, so gut wie ich recherchiert habe.«

»Vermutlich.« Cosima stopfte sich eine weitere Gabel Salat in den Mund. »Wie viel ist es denn noch?«, fragte sie kauend.

»Zwei, drei Stunden und wie immer wäre es am besten schon vorgestern fertig geworden«, sagte Ava, der Verzweiflung nahe. Hinter ihren Schläfen spürte sie ein leises Pochen.

»Und wenn du das heute Abend erledigst? Ich kann auch allein mit Jaro gehen, kein Thema«, bot Cosima an.

Ava lächelte ihr Mädchen liebevoll an. Was hatte sie da für einen Goldschatz herangezogen?

»Nein, du hast recht. Ich brauche eine Pause«, sagte sie entschieden. »Die Zeilen verschwimmen mir schon wieder vor den Augen. Dann muss ›Jakotz‹ eben eine Stunde länger auf seinen Text warten, das wird er sicher überleben«, meinte Ava leichthin.

Das war ein Witz zwischen ihr und ihrer Tochter. Erwin Jakob war der Inhaber der Schreibagentur, bei welcher Ava seit vielen Jahren angestellt war. Kein angenehmer Zeitgenosse, aber die Bezahlung war okay, und der Job ermöglichte es der alleinerziehenden Frau, von zu Hause aus zu arbeiten und somit jederzeit für ihre Tochter da sein zu können. Als Ava sich eines Tages wieder einmal wegen einer verpassten Abgabefrist Ärger mit ihrem Chef eingehandelt hatte, weil sie mit ihrem fiebernden Kind ohne Termin zum Arzt hatte gehen und dort stundenlang im Wartezimmer verweilen müssen, hatte ihre beste Freundin Mona ihn kurzerhand von Herrn Jakob zu ›Jakotz‹ umbenannt. So war der Chef zu seinem ganz und gar nicht schmeichelhaften Spitznamen gekommen. Wohlverdient, wie Ava fand. Dennoch war sie dankbar, von zu Hause aus arbeiten zu können, und wollte es sich daher nicht mit ihm verscherzen.

»Du musst es wissen. Wenn du es dann noch rechtzeitig mit deinem Text hinbekommst, nehme ich dich gerne mit. Draußen ist es heute so schön«, sagte Cosima lächelnd.

Ava wusste nicht, wie sie ihre Deadline dann noch würde einhalten können, aber das war ihr ihre Tochter allemal wert. Außerdem vermisste sie nach dem langen Winter die Sonne. Ein milder Hauch von Frühling und Blumenduft wehte durch die offene Wohnzimmertür herein und bauschte sanft die feingewebten Gardinen auf. Ava kratzte die letzten Eireste von ihrem Teller und schob sich die Gabel in den Mund.

»Das war lecker. Lass uns abräumen.« Eilig stand sie auf. In der Hektik stieß sie mit der Hand gegen ihr Glas und hätte es um ein Haar umgeworfen. Cosima griff ein.

»Du erleidest irgendwann noch einen Herzinfarkt, wenn du dich so verhetzt, Mama. Auf die drei Sekunden kommt es jetzt auch nicht an. Stell das Glas in die Spüle, und ich wasch das später ab, wenn du wieder schreibst.«

»Danke, mein Schatz.« Ava drückte ihre Tochter kurz an sich.

Sie nahm die Leine von der Kommode. Jaro erkannte diese Schublade schon am Geräusch des Aufschiebens und sprang Ava aufgeregt entgegen. Er ließ sich abwechselnd von ihr und Cosima den Kopf tätscheln und seinen Hals kraulen.

»Dir ist es auch eilig, mein Großer, nicht wahr? Endlich wird es wieder warm.«

Ava legte ihm die Leine um. Cosima schnappte sich den Wohnungsschlüssel auf der kleinen Kommode, dann verließen sie das Haus.

Draußen wärmten die ersten zaghaften Sonnenstrahlen des nahenden Frühlings ihre Gesichter. Ava schob die Gedanken an die Arbeit beiseite und hakte sich bei Cosima unter, welche ihr ein vertrautes Lächeln zuwarf. Schweigend gingen die beiden in den nahen Wald. Dort ließen sie Jaro von der Leine. Der Dalmatiner holte sich seinen so dringend benötigten Auslauf und sprang hakenschlagend über die Wiesen und aufkeimenden Felder. Er rannte wild umher und machte einen ausgelassenen und glücklichen Eindruck.

»Sieh nur, wie er sich freut. Er ist so ein Lieber.«

Ava sog tief den erdigen Waldgeruch durch die Nase ein, was sie augenblicklich entspannte und von ihrem Zeitdruck ablenkte. Hier konnte sie ihre Sorgen und Ängste einen Moment lang vergessen; wenigstens zum großen Teil. Eine sanfte Brise umspielte ihr rotbraunes, langes Haar. Die Sonne tauchte die Landschaft in ein warmes, goldenes Licht, welches die sprießenden Knospen an den Bäumen zum Leuchten brachte. Ihr Blick glitt über die weiten Felder, während die frische Frühlingsluft ihre Sinne belebte. Gräser wiegten sich im Rhythmus des Windes; einige Vögel zwitscherten in den hohen Zweigen. Die Natur erwachte zu neuem Leben. Ava konnte die Energie des Frühlings förmlich spüren. Erneut nahm sie einen tiefen Atemzug und genoss diesen einzigartigen Moment, dabei umschmeichelte ein sanftes Lächeln ihre Lippen.

Cosimas entspannter Gesichtsausdruck verriet ihr, dass auch sie sich hier in der Natur sehr wohlfühlte. Trotz der Freude, welche diese Tatsache in Ava auslöste, zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Nur den Bruchteil einer Sekunde lang; aber lange genug, dass Ava es spürte. Damit musste sie allein zurechtkommen.

»Fang mich, wenn du kannst«, lenkte Cosima sie von ihren trüben Gedanken ab. Sie schlug ihrer Mutter spielerisch auf den Arm und rannte los in Richtung ihres Hundes.

»Na warte, du freche Rotzgöre«, erwiderte Ava lachend, und schon jagten sie mit Jaro zusammen ausgelassen über die Felder.

Bis spät abends arbeitete Ava noch an dem Text, bis er endlich so war, wie die junge Frau ihn gerne haben wollte. Gegen zwanzig Uhr rief ihr Chef an.

»Jakob hier. Ava, wie weit sind Sie? Ich warte auf den verdammten Ratgeber. Der muss dringend für den Kunden formatiert werden, das wollte ich heute noch machen.« Seine rauchige Stimme kratzte unangenehm in ihrem Ohr. Auch wollte sie nicht von ihm angerufen werden, erst recht nicht um diese Uhrzeit. Dennoch blieb sie höflich und riss sich zusammen.

»Ich bin bald fertig, Chef. Aber die Deadline habe ich eingehalten. Sie sagten morgen früh«, widersprach Ava.

»Genau genommen sagte ich, der Text solle ›am besten gestern‹ fertig sein«, verbesserte er sie.

»Das sagen Sie immer. Ich bin dran. Geben Sie mir noch eine Stunde zum Korrigieren, dann haben Sie ihn. Er war sehr umfangreich, wie Sie wissen. Eine Stunde, Chef. In Ordnung?«, fragte sie bittend. Sie dachte trotzig, dass sie kein schlechtes Gewissen zu haben brauchte, denn die Deadline war tatsächlich sowieso am Folgemorgen. Aber warum fühlte sie sich dann so schuldig? Sie hasste›Jakotz‹, jetzt erst recht. Angespannt wartete sie auf seine Antwort.

»Gut, Lubitsch. Noch eine Stunde. Ich warte, beeilen Sie sich«, ordnete er an und legte ohne weiteren Gruß auf. Ava konnte es nicht ausstehen, wenn er sie nur mit dem Nachnamen ansprach. Sie arbeitete schließlich bei einer Schreibagentur und nicht beim Militär.

Mit einem leidvollen Seufzen setzte sie sich erneut ihre Lesebrille auf die Nase und vertiefte sich wieder in ihren Text. Unter solchem Zeitdruck fiel es ihr wahnsinnig schwer, sich auf ihre Zeilen zu konzentrieren. Es war mehr als fraglich, ob sie die Korrektur wirklich in einer Stunde schaffen würde. Das Thema ›Gicht‹ ging ihr mittlerweile dermaßen auf die Nerven; sie vermutete, dass sie nach ihrer gründlichen Recherche fast eine Doktorarbeit über diese Krankheit schreiben könnte, so umfassend war sie informiert. Ava ging noch einmal Wort für Wort durch, so schnell sie irgendwie konnte.

Eine Stunde und siebenunddreißig Minuten später hatte sie endlich die Mail mit dem fertig korrigierten Text an ihren Chef rausgeschickt. Müde klappte sie ihr Arbeitsgerät zu, legte die Brille ab und rieb sich die schmerzenden Augen. Sie ging zum Zimmer ihrer Tochter und sah das eisblaue Licht ihrer LED-Beleuchtung unter dem Türspalt hindurchschimmern. Sie klopfte leise an.

»Komm rein«, rief Cosima.

Ava öffnete die Tür und bemerkte zu spät, dass ihre Tochter am Telefonieren war.

»Ich bin endlich fertig, Maus«, verkündete sie.

»Freut mich, Mama.« Cosima schien kurz angebunden zu sein, aber lächelte dennoch freundlich und wies auf ihr Handy.

»Wer ist dran?«, flüsterte Ava.

»Celine«, informierte Cosima sie knapp. »Morgen schreiben wir Englisch«, fügte sie erklärend hinzu. Das war für Ava das Stichwort, zu gehen.

»Ich wollte dich nicht stören, Maus. Wollte dir nur sagen, dass ich endlich fertig bin«, meinte sie entschuldigend. »Um zweiundzwanzig Uhr gibst du das Handy ab, denk daran, Süße.«

»Ja, wie immer unter der Woche – leider …« Cosima grinste frech und warf ein Kissen nach ihrer Mutter. Diese lachte und schaffte es noch rechtzeitig, die Tür zu schließen, ohne davon getroffen zu werden. Cosima brauchte ihre Freunde, das verstand Ava und gönnte sie ihr von Herzen. Dennoch hätte sie jetzt lieber den Rest des Abends mit ihrer Tochter verbracht.

Seufzend ging sie zum Kühlschrank und schenkte sich ein Glas Weißwein aus der angebrochenen Flasche ein. Sie nippte an dem kalten Getränk und fragte sich zum wiederholten Mal, wie es wohl sein würde, wenn Cosima eines Tages erwachsen wäre und auszöge. Wie lange würde sie ihr Kind zu Hause behalten dürfen? Bis sie achtzehn war? Zwanzig? Dreißig vielleicht? Ava musste angesichts dieser utopischen Hoffnung über sich selbst lachen. Sie wünschte Cosima ein wundervolles Leben mit einer großartigen Familie und später eigenen Kindern, aber es fiel ihr wahnsinnig schwer, ihr Mädchen Stück für Stück loszulassen und hilflos dabei zuzusehen, wie die Jahre ihrer Kindheit dahinrasten und aus ihrem süßen kleinen Baby eine wunderschöne junge Frau heranwuchs. Cosima hatte sich von klein auf prächtig entwickelt.

Während Ava ihren Gedanken nachhing, schnappte sie sich eines von mittlerweile fünf mit Kinderbildern vollgeklebten Alben. Mit ihrem Glas Wein setzte sie sich gemütlich im Schneidersitz auf die Couch und blätterte die Seiten um, wie sie es schon so viele Male zuvor getan hatte.

Gleich auf der zweiten strahlte ihr ein kleiner Wonneproppen in einem pinken Tutu entgegen. In ihrer Hand hielt Cosima stolz einen knallgelben Ballon, der etwas größer als ihr eigener Kopf war. Auf ihren Fingern und in ihrem Gesicht waren noch kunterbunte Überreste der Fingerfarben zu sehen, mit welchen sie zuvor gemeinsam ihre Fensterscheiben verschönert hatten. Ava konnte sich an diesen besonderen Moment so lebhaft erinnern, als wäre es erst gestern gewesen. Sie selbst hatte Fingerfarbe an den Händen gehabt, während sie diesen niedlichen Schnappschuss gemacht hatte.

Sie wollte jede Sekunde ihres Lebens mit ihrer Tochter genießen, jedoch ohne sie dabei einzuengen und ihr ihre Nähe aufzuzwingen. Sie wünschte sich für Cosima alles, was jede gute Mutter ihrem Kind wünschte – es sollte glücklich sein und seinen eigenen Weg finden.

Schenke deinem Kind Wurzeln, wenn es klein ist, und Flügel, wenn es groß ist. Mit dem Wurzeln-Schenken hatte Ava niemals Probleme gehabt, doch mit den Flügeln … da tat sie sich schwer. Aber auch das würde sie Cosima zuliebe hinbekommen.

KAPITELZWEI

Einige Tage später kam Cosima von der Schule nach Hause.

»Ich habe eine Drei in Englisch«, meinte sie mit genervtem Blick und warf ihren Rucksack lustlos in die Küchenecke.

»Ist doch gut, was beschwerst du dich?«, wollte Ava wissen. Sie hatte noch niemals dazu geneigt, Cosima zu Bestleistungen anzutreiben. Ihre Tochter war sehr selbstständig. Sie kümmerte sich allein um ihren Schulkram. Eine Drei war befriedigend, und genau das war Ava – zufrieden damit.

»Na ja, das wäre noch etwas besser gegangen. Infinitiv und Gerundium, ich kapier es einfach nicht richtig«, meinte Cosima und stibitzte sich eine der dampfenden Ofenkartoffeln aus der steinernen Auflaufform, welche Ava gerade auf die Korkplatte in der Tischmitte gestellt hatte; pünktlich für die Heimkehr ihrer Tochter.

»Finger weg, geh dir erst mal die Hände waschen«, wies Ava sie an und schlug ihr lachend auf die Hand.

»Du willst wohl, dass ich verhungere. Ich geh schon.« Damit trottete Cosima ins Badezimmer. Gefolgt von Jaro, der wild um ihre Beine sprang und nach der stundenlangen Trennung seinen Teil der Aufmerksamkeit einforderte.

»Na du kleiner Racker.« Cosima ließ sich vor dem Dalmatiner auf die Knie fallen. Sie drückte ihn fest an sich. Der Hund quittierte es, indem er dem Mädchen das Gesicht von oben bis unten ableckte.

»Komm essen, Maus. Der Lachsquark ist fertig«, unterbrach Ava die beiden. Cosima wischte sich mit dem Ärmel ihres dünnen Shirts die vom Hundesabber feucht gewordene Wange ab, was ihr einen gespielt strengen Blick ihrer Mutter einbrachte. Dann aßen die beiden.

»Was steht heute an?«, wollte Cosima kauend wissen.

»Ich bin schon fast durch mit meinem Schreibpensum; habe mich für dich beeilt. Den Rest kann ich auch heute Abend erledigen. Ich dachte, wir könnten später mit Jaro in den Park. Was meinst du?«, fragte Ava.

»Total gerne, aber ich habe meinen Zirkel geschrottet. Meinst du, wir könnten vorher noch einen neuen kaufen gehen?«

»Können wir, ist nicht zu ändern. Dann fahren wir mit dem Auto in die Stadt und lassen Jaro zu Hause. Nachdem wir den Zirkel gekauft haben, tauschen wir das Auto gegen Jaro und gehen in den Park, einverstanden?«

Cosima nickte kauend.

»Hast du heute nicht so viele Hausaufgaben auf?«, wollte Ava wissen.

»Nein, es hält sich in Grenzen. Die mach ich heute Abend, wenn du schreibst«, erwiderte Cosima.

Kurz darauf brachen sie auf und kauften im Schreibwarenladen nicht nur einen neuen Zirkel, sondern auch einen Vorrat an Zeichenpapier und Kohlenstifte für die Schule.

Später im Park gingen die beiden gemütlich nebeneinanderher. Jaro trottete an der Leine den schmalen Weg entlang und beschnupperte hier und da interessiert das Gebüsch, als gäbe es dort etwas Spannendes zu entdecken.

»Morgen treffe ich mich mit der Clique«, verkündete das Mädchen.

»Gut, dann gebe ich dir etwas Geld mit. Ihr wollt euch sicher unterwegs was zu trinken kaufen oder was Süßes«, sagte Ava lächelnd. Sie war glücklich darüber, dass Cosima so gute Freunde hatte. Sie kannte sie alle. Keiner von ihnen nahm Drogen oder schwänzte die Schule. Ab und an rauchten sie heimlich, das hatte ihr Cosima selbst anvertraut. Ava hieß das nicht gut, war aber so dankbar für das Vertrauen, welches ihr ihre Tochter entgegenbrachte, dass sie sich nicht allzu sehr darüber beschweren wollte.

»Mama?«

»Hm?«

»Du hast dich gestern Abend gar nicht nach dem Treffen erkundigt. Soll ich dir erzählen, wie es bei Oma war?«, fragte Cosima zögerlich und blickte ihre Mutter prüfend von der Seite an. Ava versteifte sich unwillkürlich.

»Klar, wie war es denn?«, murmelte sie leichthin, dabei bemühte sie sich, Cosima nicht spüren zu lassen, dass sie es eigentlich gar nicht wissen wollte. Sie ahnte, dass sie die Antwort zu sehr aufwühlen würde.

»Es geht ihr nicht so gut. Ihr Rücken ist steif, und sie wirkte etwas verwirrt«, meinte Cosima.

Jetzt blieb Ava stehen und sah ihr besorgt ins Gesicht.

»Sie war verwirrt? Inwiefern?«, forschte sie nach.

»Na ja, sie wollte mehrfach wissen, welchen Tag wir haben. Und sie hat mich auch ansonsten immer wieder die gleichen Dinge gefragt. Ein Lieferant aus dem Supermarkt hat ihr gerade einige Mineralwasserkästen nach Hause geschleppt. Wenigstens weiß sie sich noch allein zu helfen«, meinte Cosima.

»Oh, das klingt nicht so gut – also, dass sie verwirrt ist. Und … hat sie auch nach mir gefragt?«, wollte Ava zögerlich wissen.

»Mensch, Mama, sie fragt immer nach dir, das weißt du doch. Ständig tut sie das, und du weißt auch, dass du sie viel zu lange nicht mehr besucht hast. Du rufst sie nicht mal an. Sie vermisst dich. Ich weiß, du willst nicht drüber reden, was damals zwischen euch vorgefallen ist, aber das muss im letzten Jahrhundert gewesen sein. Gib dir einen Ruck und geh mal wieder mit mir hin«, redete Cosima ihrer Mutter ins Gewissen. Warum musste das Mädchen nur immer so verdammt vernünftig sein?

»Ich weiß, dass du recht hast, aber ich mag das Haus nicht … ich fühle mich da einfach nicht wohl«, widersprach Ava.

»Das weiß ich. Obwohl es dein Elternhaus ist, wenn ich das anmerken darf. Aber du lädst sie auch nie zu uns nach Hause ein. Nicht mal an Weihnachten. Ich weiß, dass du alle sozialen Kontakte so gut wie möglich vermeidest und introvertiert bist. Das haben wir so oft durch, aber sie ist deine Mutter, meine Oma. Du kannst sie doch nicht allein dasitzen und verkommen lassen. Sie ist alt, sie braucht dich jetzt«, insistierte Cosima energisch.

»Das stimmt, aber du weißt auch nicht, was sie alles falsch gemacht hat …«, setzte Ava hilflos an.

»Nein, das weiß ich nicht, weil du es mir nicht erzählst und auch Oma darüber schweigt wie ein Grab.«

»Du hast jetzt nicht Oma danach gefragt, oder?«, wollte Ava entsetzt wissen und bedachte ihre Tochter mit einem durchdringenden Blick, doch die schüttelte beruhigend den Kopf.

»Quatsch, aber früher mal.«

Ava war über diese Information nicht besonders glücklich.

»Wir werden sie bald mal zusammen besuchen«, tat sie das Gespräch ungeduldig ab.

»Versprichst du es mir?«, bohrte Cosima nach.

Ava nickte unwillig. »Ich weiß, dass du es nur gut meinst, mein Schatz. Aber ich brauche Zeit. Ich kann da nicht von heute auf morgen über meinen Schatten springen. So einfach geht das nicht.«

»Du bist sechsunddreißig, Mama. Wenn Oma tot ist, ist es zu spät, um sich zu versöhnen«, konterte Cosima.

Ava dachte einen Moment über das Gesagte nach und nickte es dann fast schon trotzig ab. Cosima verstand, dass sie nun besser das Thema wechseln sollte.

Sie spazierten eine ganze Weile schweigend nebeneinanderher. Gedankenversunken lauschten sie ihren knirschenden Schritten auf dem Kiesboden. Ava fühlte sich plötzlich nicht mehr wohl in ihrer Haut. Der Gedanke an ihre Mutter hatte wieder einmal unschöne und eiternde Wunden aufgerissen. Sie fröstelte und rieb sich über die Unterarme.

»Alles okay, Mama?«

Ava nickte und drehte sich unbehaglich um. Sie hätte schwören können, dass sie stechende Blicke in ihrem Rücken gespürt hatte. Sie sah viele Menschen, doch keinen, welcher sie beobachtet hätte.

Cosima verwickelte sie in ein Gespräch über die Schule und ihre Freunde, doch Ava war nicht mehr ganz bei der Sache und konnte sich nur schlecht auf die Worte ihrer Tochter konzentrieren. Sie hatte ein mulmiges Gefühl. Als wenn ihr Unterbewusstsein ein drohendes Unheil unterschwellig wahrnehmen könnte und Alarm schlug.

Wieder drehte sich Ava abrupt um, doch ihr stach nichts Ungewöhnliches ins Auge. Da waren Mütter mit ihren spielenden Kleinen oder welche, die ihre Babys im Kinderwagen umherschoben, Jogger und natürlich zahlreiche Hundebesitzer. Doch niemand davon schien Ava besondere Beachtung zu schenken.

»… Da habe ich gesagt, er solle die Mappe gefälligst wieder rausrücken … Mama? Warum drehst du dich dauernd um? Was ist denn los mit dir?«

Ava schüttelte kurz den Kopf, um ihre surrealen Gedanken wieder loszuwerden. Dann blickte sie Cosima irritiert an. »Ich weiß nicht … ich dachte, da wäre jemand, der uns anstarrt.« Sie lächelte entschuldigend. »Es tut mir leid, jetzt habe ich dir gar nicht richtig zugehört.«

Cosima drehte sich nun ebenfalls um.

»Mama, da ist keiner. Wer sollte uns denn anstarren? Du hast dich nur wegen deiner Mutter aufgeregt, das bringt dich immer ganz aus dem Konzept. Das wollte ich nicht, sorry.«

Ava nickte geistesabwesend und versuchte nun, sich auf das Gespräch mit ihrer Tochter zu konzentrieren und gleichzeitig zu verhindern, dass der an der Leine ziehende Jaro sein Geschäft in einem der angelegten Blumenbeete des Parks verrichtete. Die brennenden Blicke in ihrem Rücken konnte sie jedoch immer noch spüren, auch wenn sie dies nun geschickter vor Cosima verbarg. Es stellten sich ihr die Nackenhaare auf, etwas war ganz und gar nicht in Ordnung.

Am Abend telefonierte Ava mit ihrer besten Freundin Mona.

»Musst du heute nicht mehr arbeiten, Süße?«, wollte die wissen.

»Nein, glücklicherweise bin ich mit allem durch. Ich war heute Mittag lange mit Cosima und Jaro im Park. Die Kleine braucht mich; ich muss mir mehr Zeit für sie nehmen. In den letzten Wochen habe ich einfach zu viel gearbeitet. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie plötzlich erwachsen wird, ohne dass ich es bemerkt hätte.«

Mona lachte laut auf.

»Du bist einfach unverbesserlich. Die ›Kleine‹ ist vierzehn und vermutlich ganz froh, wenn sie mal ein paar Stunden Ruhe vor dir hat. Aber was anderes – wenn wir jetzt zum Quatschen hier am Telefon hängen … Soll ich nicht auf ein Glas Wein rüberkommen?«, schlug Mona vor.

Ava überlegte einen Moment lang, gab sich dann einen Ruck und stimmte freudig zu. »Allzu spät wollte ich heute nicht zu Bett gehen, aber für ein Stündchen gerne.«

»Gib mir fünfzehn Minuten. Ich muss mich rasch umziehen, bin schon im Schlafanzug.«

Kurz darauf klingelte es. Ohne wie sonst einen prüfenden Blick durch das kleine integrierte Zierfenster zu werfen, öffnete Ava die Haustüre.

»Das ging aber schnell …«, setzte sie an und verstummte erschrocken, als sie ihren Chef vor sich stehen sah. Verwirrt schaute sie ihn an, dann wurde ihr Blick misstrauisch.

»Ich weiß, ich sollte nicht zu so später Stunde ungefragt bei Ihnen vorbeischauen.«

Sie sollten niemals ungefragt vor meiner Tür stehen, dachte Ava bei sich und schluckte schwer ihren aufkeimenden Ärger hinunter. Fragend musterte sie ihren Chef.

»Aber ich habe noch Unterlagen für Sie«, fuhr dieser unbeirrt fort. »Und da ich sowieso gerade in der Nähe war, dachte ich, ich könnte sie Ihnen auch eben persönlich vorbeibringen. Komme ich ungelegen?«, wollte er wissen und spähte an Ava vorbei in deren Wohnung. Die junge Frau rieb sich unbehaglich über die Unterarme.

»Also, um ehrlich zu sein …«, setzte sie an.

»Kein Problem, ich störe auch nicht lange. Wollen wir diese Papiere gerade durchgehen? Mit diesem Auftrag müssen Sie unbedingt morgen früh anfangen, am besten noch heute Abend. Der Kunde sitzt uns im Nacken; es ist besonders dringlich. Wollen wir eben kurz hineingehen?« Der Mann wies mit dem Kinn in Richtung der offenen Eingangstür. »Wir können das doch schlecht hier draußen vor den Nachbarn besprechen. Sie wissen schon, Geheimhaltung und Datenschutz und so.«

Ava blieb einen Moment lang der Mund offen stehen. Das kann doch nicht sein Ernst sein.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Jakob, aber das passt leider gerade gar nicht. Bitte geben Sie mir die Unterlagen, ich werde sie mir morgen früh durchlesen und Sie bei Rückfragen gerne anrufen«, sagte Ava verunsichert und fürchtete sich im nächsten Moment vor einem Donnerwetter von ihrem allseits als Choleriker bekannten Chef. Unentschlossen, was sie nun tun sollte, zupfte sie sich unsichtbare Fusseln von ihrem Westenärmel.

»Guten Abend, meine Liebe. Herzlichen Dank für die Einladung. Die anderen vier sind auch schon auf dem Weg. Ich freue mich schon sehr auf den leckeren Braten. Guten Abend, der Herr«, wandte sich nun Mona an Herrn Jakob. Sie hatte die für Ava so unangenehme Unterhaltung offenbar mit angehört und beschlossen, einzugreifen.

Ava schickte dankbar ein Stoßgebet gen Himmel.

»Es tut mir leid, Herr Jakob. Aber wie Sie sehen, erwarte ich Gäste zum Essen. Wir können das gerne morgen früh besprechen. Wenn dies von Angesicht zu Angesicht geschehen muss, dann komme ich eben im Büro vorbei«, wies Ava den lästigen Mann ab.

Mit hochrotem Kopf und einem wütenden Gesichtsausdruck drückte er Ava die Papiere in die Hand und dampfte ohne weiteren Gruß ab.

»Danke, Mona, du hast mich gerettet«, sagte Ava erleichtert und zog ihre Freundin am Ärmel mit sich in die Wohnung. Dort schenkte sie zwei Gläser Wein ein. Dann entzündete sie ein paar Kerzen und verteilte diese auf dem Tisch.

»Was will der Jakotz denn abends bei dir? Das geht mal gar nicht; ich glaube, der spinnt. Das darfst du nicht einreißen lassen, sonst steht der nachher ständig bei dir auf der Matte. Du musst dich da einfach mehr durchsetzen, Süße. Solche Typen verstehen es nur auf die harte Tour, da darfst du nicht so ängstlich sein.«

Mona und stieß klirrend mit Ava an.

»Ich weiß, aber ich bin nicht aus deinem Holz geschnitzt. Du kannst dich da viel besser ausdrücken, aber ich leider nicht. Mir fehlt der Mumm, diesem unverschämten Kerl die Meinung zu geigen, wenn ich ehrlich sein soll. Und dann ist er ja auch mein Chef. Ich will ihn nicht so verärgern, dass er mich am Ende noch rausschmeißt. Du weißt doch, nur so kann ich bei Cosima zu Hause bleiben«, erklärte Ava sanft.

»Versteh ich wirklich alles, Süße. Gar kein Ding.« Mona hob beschwichtigend die Hände in die Höhe und sah ihre Freundin maßregelnd an. »Dennoch hat er gefälligst deine Privatsphäre zu achten. Was nimmt er sich raus, hier abends einfach bei dir vor der Tür aufzutauchen? Ungefragt und ohne Vorwarnung. Lernt der denn nie, dass du kein Interesse an einem solchen Vollpfosten hast? Arrogantes Arschloch«, schimpfte sie weiter.

»Wer ist ein arrogantes Arschloch?«, wollte Cosima wissen. Die Frauen hatten sie gar nicht kommen hören. Das Mädchen trug einen gemütlichen Frotteepyjama mit Karomuster und dicke, weiche Kuschelsocken an den Füßen. Im Vorbeigehen hauchte sie Mona einen Kuss auf die Wange. Dann nahm sie ohne Vorwarnung das Glas ihrer Mutter und trank schnell einen Schluck Wein daraus.

»Was fällt dir ein, du freche Rotzgöre?«, empörte sich diese sogleich lachend.

»Nimm dir lieber eine Milch aus dem Kühlschrank«, riet ihr Mona. Doch dann wurde ihr Gesicht ernst. »Jakotz ist das arrogante Arschloch«, klärte sie Cosima auf. Sie kannte das Mädchen seit seinem vierten Lebensjahr. Seit Ava damals mit der Kleinen in Monas Straße gezogen war. Die beiden Frauen hatten von Anfang an einen guten Draht zueinander gehabt, und obwohl Ava sehr zurückgezogen lebte und alle Sozialkontakte auf ein Minimum beschränkte, galt dies niemals für Mona. Sie waren eng befreundet und erzählten einander fast alles.

Zusammen berichteten sie Cosima, was sich zugetragen hatte.

»Mensch, das kann er doch nicht machen? Ich hatte die Klingel gar nicht bemerkt« Cosima wies erklärend auf ihren Kopfhörer, welcher ihr noch immer um den Hals hing. »Spinnt der? Der kann doch nicht einfach so hier auflaufen und abends bei dir klingeln, Mama«, empörte sich das Mädchen.

»Das habe ich deiner Mutter auch gesagt und dass sie dem einen Riegel vorschieben muss, bevor es an der Tagesordnung ist, dass er sie hier behelligt«, meinte Mona stirnrunzelnd.

»Der will immer noch was von dir. Vielleicht erklärt das auch dein komisches Gefühl im Park«, platzte es aus Cosima heraus, während sie sich ein Glas Milch einschenkte und sich zu den Frauen an den Tisch setzte.

»Was für ein komisches Gefühl?«, wollte Mona alarmiert wissen.

»Das wollte ich dir noch erzählen, eigentlich war nichts. Ich fühlte mich nur heute Mittag im Park beobachtet. Aber dafür gab es gar keinen Grund. Es war niemand da, den ich gekannt hätte – erst recht nicht Jakotz«, schwächte Ava ab.

»Du hättest sie sehen müssen. Sie war plötzlich total paranoid und hat sich andauernd umgedreht. Das war gruselig«, berichtete Cosima und fing sich mit dieser Bemerkung einen verärgerten Blick ihrer Mutter ein.

»Komm schon, jetzt übertreibst du aber«, verteidigte sich Ava.

»Tu das nicht so ab. Du hast feine Antennen für so was. Wenn du was gespürt hast, dann war da auch etwas. Also pass gut auf dich auf. Bist du sicher, dass dir der Jakotz nicht im Park nachgeschlichen ist?«, hakte Mona nach. Doch das tat Ava mit einem Abwinken ab.

Cosima verzog sich wieder in ihr Zimmer, und die Frauen unterhielten sich noch eine Weile angeregt bei einem weiteren Glas Wein. In Monas Gesellschaft fühlte sich Ava wohl.

»… jedenfalls ist dieser Karim wirklich sehr süß. Er wollte gestern die Mittagspause mit mir verbringen«, berichtete Mona und ließ ihren Zeigefinger verträumt über den Rand ihres Glases gleiten.

»Jetzt wird es spannend, wie sieht er aus?« Ava musterte ihre Freundin grinsend.

»Na groß ist er und schlank, aber mit breiten Schultern. Obwohl ich selbst nicht klein bin, überragt er mich noch um einen ganzen Kopf. Er hat so dunkelbraune Augen, dass seine Iris schon fast schwarz zu sein scheint. Und natürlich tiefschwarze Haare und gebräunte Haut. Es ist schon ein Mann zum Verlieben …«, schwärmte Mona.

»Aber …?«

»Aber ich will jetzt einfach keine Beziehung. In der Arbeit läuft alles gerade echt gut und dann ein Techtelmechtel mit dem neuen Kollegen? Das geht doch immer schief, denkst du nicht auch? Außerdem genieße ich meine Freiheit und bin nach Bernd recht dankbar, keinem Mann mehr Rechenschaft ablegen zu müssen. Verstehst du das?« Mona trank noch einen Schluck Wein.

»Klar verstehe ich das, mir geht es doch selbst so. Wenn man lange allein ist, ist man gar nicht mehr zu Kompromissen bereit, finde ich.«

Mona nickte zustimmend. »Genau. Und darum wird aus dem hübschen Karim und mir auch nichts werden.«

Die beiden plauderten noch eine Zeitlang angeregt über dies und das und genossen den Abend. In Monas Gesellschaft konnte sich Ava richtig entspannen. Doch kaum war ihre beste Freundin aus dem Haus, kamen ihre Zweifel wieder zurück. Konnte es vielleicht doch sein, dass ihr Chef im Park gewesen war und sie beobachtet hatte? Immerhin hatte sie schon oft deutlich gespürt, dass er mehr von ihr wollte als nur ihre Arbeitskraft. Und wenn sie dann nicht auf seine Avancen einging, bekam er Wutanfälle und beschimpfte sie bei nächster Gelegenheit wegen nichtig kleiner Fehler. Aber wäre es wirklich möglich, dass er ihr aufgelauert hatte? Nein, ganz sicher nicht, entschied Ava für sich.

Und dennoch … Sie hatte die Blicke wie Messerstiche gespürt, und das hatte sie sich ganz sicher nicht eingebildet.

KAPITELDREI

»Lubitsch«, meldete sich eine gebrechliche Stimme am Telefon.

»Mama, ich bin es, Ava«, sagte sie und versuchte, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bringen.

»… Ava.« Cäcilia Lubitsch klang überrascht, geradezu geschockt, ihre Tochter am Telefon zu haben. Sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Dann räusperte sie sich. »Geht es dir gut, Kind? Ist was passiert?«

Ihre Stimme klang dünn und brüchig. Alt. Ava versuchte sich das Gesicht ihrer Mutter vor ihrem geistigen Auge vorzustellen. Wie viele Jahre war das her, dass sie sie zuletzt gesehen hatte?

»Nein, Mama, ich wollte … ich wollte mich einfach nur mal wieder bei dir melden und dich fragen, wie es dir geht.« Ava atmete tief durch. Der Anfang war geschafft. Sie war stolz auf sich, sich überwunden zu haben.

»Ich freue mich wirklich so sehr, von dir zu hören, mein Liebling. Es ist lange her. Wann kommst du mich denn wieder mal besuchen? Du fehlst mir, Kind.«

»Ich weiß, Mama. Ich komme bald. Ich … Es ist nicht so einfach.«

»Das verstehe ich. Aber lass uns die letzte Zeit noch nutzen, welche uns bleibt. So schnell geht das Leben vorüber.« Ein tiefes Seufzen, dann Stille.

»Die letzte Zeit? Mama, bist du etwa krank?«, wollte Ava besorgt wissen.

»Nein, nicht dass ich wüsste. Aber eine alte Schachtel bin ich, die ihre Familie vermisst. Ava, ich weiß, dass ich viel falsch gemacht habe. Ich habe mich an dir versündigt, und das ist nicht wiedergutzumachen. Und an –«

»Mama, bitte nicht. Ich kann nicht. Ich bin noch nicht so weit.« Ava widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. Aber innerlich betete sie, ihre Mutter möge nicht weitersprechen. Sie wollte es nicht hören. Sie wollte nicht daran denken. Der Schmerz pulsierte wie flüssige heiße Lava dicht unter einer hauchdünnen Erdkruste. Ein weiteres Wort und er hätte sich seinen zerstörerischen Weg an die Oberfläche gebahnt.

»Ist gut, Kind, dann lass uns über was anderes sprechen. Wie geht es euch?«, wollte die alte Frau wissen.

»Es geht uns gut. Ich arbeite viel, aber wer tut das nicht? Cosima hat mir erzählt, dass du Probleme mit dem Rücken hast. Ist es wieder schlimmer geworden?«, erkundigte sich Ava.

»Cosima? Meine kleine Cosima …« Cäcilia seufzte mit einem Hauch Nostalgie in der Stimme. »Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen. Sie ist sicher wieder sehr gewachsen.«

»Mama, Cosima war erst vor wenigen Tagen bei dir zu Besuch«, erinnerte Ava ihre Mutter. Der Gedächtnisverlust war offensichtlich noch schlimmer, als ihre Tochter ihn bei deren Besuch wahrgenommen hatte.

»Ach ja richtig, sie hat mir noch geholfen, die Getränkekisten in den Keller zu tragen, das gute Kind. Sie ist ein feines Mädchen. Sie soll mich bald wieder besuchen kommen. Ich habe hier noch einige Goldketten herumliegen. Die möchte ich ihr schenken, oder hättest du sie lieber?«

»Mama, du machst mir Angst. Du brauchst uns nicht deinen wertvollen Goldschmuck zu schenken, behalte ihn bitte für dich«, widersprach Ava. Ein unangenehmes Pochen setzte hinter ihren Schläfen ein. Gedankenverloren rieb sie mit der Hand darüber und massierte dann sanft ihren Hinterkopf, welcher plötzlich ebenfalls zu schmerzen schien.

»Ich bin eine alte Frau, ich brauche mich nicht mehr zu behängen wie einen Weihnachtsbaum.«

»Cosima trägt nicht mal Goldschmuck.« In Gedanken sah Ava ihre Tochter, wie sie ihr lautstark erklärte, wie uncool Goldschmuck sei. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Cosima hatte sich ihr langes Haar blauschwarz gefärbt und trug am liebsten Silberschmuck, der entfernt an rockigen Punkschmuck erinnerte, nur etwas unauffälliger. Cosima, die mit löchrigen Jeanshosen ihre Individualität zum Ausdruck brachte.

»Wir werden sehen. Wann kommst du mich mit der Kleinen besuchen?«, hakte ihre Mutter erneut nach.

»Bald, Mama. Ich verspreche es dir.«

»Dann verlasse ich mich auf dein Wort, mein Schatz. Pass gut auf dich und die Kleine auf. Ich habe dich lieb.«

»Ich habe dich auch lieb, Mama«, brachte Ava gepresst hervor und legte schnell auf, bevor die aufsteigenden Tränen sie übermannen konnten.

Kaum war die Verbindung unterbrochen, schluchzte sie laut. Sie rieb sich mit einem Taschentuch über das Gesicht, sobald sie sich beruhigt hatte. Dann ging sie ins Bad und schminkte sich dezent nach. So verheult würde sie unmöglich das Haus verlassen können.

Das Telefonat mit ihrer Mutter beschäftigte sie noch den ganzen Tag über.

Sie konnte ihr nicht vergeben, aber würde sie es schaffen, die schrecklichen Ereignisse aus der Vergangenheit ruhen zu lassen? Würde sie es schaffen, ihr verhasstes Elternhaus zu betreten und an dem Ort ihres persönlichen Verderbens mit einer Frau Kaffee zu trinken, welche an ihrem emotionalen Dilemma schuld war?

Mitschuldig, erinnerte sich Ava. Nicht daran denken. Krieg es endlich aus dem Kopf, es ist so lange her.

Nun stand die junge Frau in ihrem Badezimmer und hielt sich doch die Ohren zu, als ob sie damit die innere Stimme zum Schweigen brächte. Die Augenlider presste sie fest zusammen; nur nicht daran denken. Nicht daran denken.

KAPITELVIER

Es war eine Zufallsbegegnung gewesen. Er hatte sie gesehen, und die Erkenntnis hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Der Schock fuhr ihm durch alle Glieder, nur mühsam konnte er seinen Atem kontrollieren. Er ballte seine Hände zu Fäusten, um sein Zittern zu verstecken.

Er hatte sie sofort erkannt. Sie war wunderschön. Still hatte er dagestanden und nicht aufhören können, sie anzustarren, während sein Herz weiterhin in einem harten Staccato gegen seine Rippen hämmerte. Es gab keinen Zweifel. Das wusste er von der ersten Sekunde an, als er sie gesehen hatte.

Wie lange hatte er auf diesen Moment gewartet? Und nun überrollten ihn seine Gefühle gnadenlos. Er durfte sie nicht mehr aus den Augen lassen – nie mehr.

Er war sich sicher, dass sie ihn nicht bemerkt hatte. Der Moment war zu rasch vorübergegangen. Also war es ihm ein Leichtes gewesen, ihre Adresse herauszufinden. Er hatte sie nur unauffällig verfolgen müssen. Dies tat er von der ersten Begegnung an. Er durfte sie nicht mehr verlieren, diesmal nicht.

Diese Augen.

Dieses Lachen.

Er würde sie auf Schritt und Tritt beobachten; ihre Lebensgewohnheiten herausfinden und sie in- und auswendig kennenlernen. Jetzt wusste er, wo sie wohnte.

Er würde mit ihr zusammen sein bis ans Ende seiner Tage. Das stand ihm zu. Sie war sein Engel, welcher von Gott zu ihm gesandt worden war. Er heftete sich an ihre Fersen. Jeden verdammten Tag.