Fischgeruch - Harald Schillig - E-Book

Fischgeruch E-Book

Harald Schillig

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Beschreibung

Mit diesem, seinem vierten Buch beschreitet Harald Schillig - seine Freunde dürfen ihn »Harry« nennen - für sich Neuland. Erstmals hat er einen Roman verfasst, nachdem er zuvor in drei stilistisch sehr unterschiedlichen Büchern seine Erlebnisse aus der Kindheit, der Schulzeit und den Jugendjahren sowie seine - wie er sie nannte - »Streunerjahre« dokumentiert hat, während der er fast alle Schattenseiten des menschlichen Lebens kennengelernt hat. Mit dem vorliegenden Buch wagt er zusätzlich auch noch den Schritt in die Kriminalistik und führt die Leser in ein Milieu, das den meisten Menschen eher fremd ist. Mit markanten Redewendungen, bildhaften Formulierungen und einer Portion Humor gelingt es ihm, Spannung aufzubauen und diese bis zur letzten Seite aufrechtzuerhalten. Harald Schillig (Jahrgang 1950) engagiert sich seit ein paar Jahren in seiner Heimatstadt in sozialen Einrichtungen, er gab Interviews im Rundfunk (Okerwelle) und für die örtliche Presse (Neue Braunschweiger Zeitung) und hielt Lesungen aus seinen drei vorangegangenen Büchern. Der Autor lebt zusammen mit seiner Frau, die er aus guten Gründen seinen „Engel“ nennt, in Braunschweig.

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Seitenzahl: 219

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Ähnliche


Harald Schillig

FISCHGERUCH

Ein Kriminalroman der anderen Art

Engelsdorfer Verlag

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vom Manuskript übertragen in ein Schreibprogramm und in Teilbereichen ergänzt von Martin H., Hamburg. Das Buch einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Herausgebers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor

Titelbild unter Verwendung des Bildes »Eulenspiegel-Brunnen in Braunschweig« © Martina Berg (Fotolia) gestaltet durch Tino Hemmann

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)www.engelsdorfer-verlag.de

Für Petra

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Einführung

Hauptdarsteller

Begegnung

Lothars Märchenstunden

Der große Plan

Vorbereitung

Durchführung

Letzte (Zenti-) Meter

Ziel erreicht

Abmarsch

Petras Rückkehr

Erpressung

Ganovengericht

Baden-Baden

Böse Überraschung

Erfüllte Träume

Nachwort

Dank

Nichts bleibt für immer

Vorwort

Dieser Roman entstand aus einem Gedankenblitz. Genauso spontan entschloss ich mich niederzuschreiben, was mir so plötzlich durch den Kopf gegangen war.

Dabei ließ ich mich von der Illusion leiten, im Gegensatz zu den bisherigen autobiografischen Texten auch ein Buch »der anderen Art« schreiben zu können, womit für mich eine neue Etappe auf meiner »Reise durch die Zeit« begann.

Ihr Leser mögt bitte beurteilen, ob mir der Wechsel vom einen in den anderen Bereich der laienhaften Schriftstellerei gelungen ist.

Einführung

Heute ist der 31. Dezember 2015. Es ist genau 15.10 Uhr.

Draußen ist es – wie zu dieser Jahreszeit nicht eben ungewöhnlich – schon früh dunkel geworden. Der Dauerregen, der an das Fenster klopft, hebt nicht gerade meine Stimmung an diesem letzten Tag des Jahres. Im Fernsehen läuft auch nur Scheiße: Alles Wiederholungen – und für so einen Mist müssen wir auch noch bezahlen. Absolute Abzocke!

Unsere Katze hat es sich auf dem Sofa, gleich neben meiner Frau, gemütlich gemacht. Die beiden genießen ihr heute reichlich spätes »Mittagsschläfchen«. Um sie dabei nicht zu stören, habe ich mich in die Küche verzogen, sitze nun hier an dem viereckigen Tisch, von dem ich die mit Blümchen bestickte Decke heruntergenommen und mustergültig zusammengefaltet habe, und schreibe diese ersten Zeilen, aus denen mein inzwischen viertes Buch entstehen soll.

Es wird ein Zweijahresprojekt werden, denn diesmal habe ich mir vorgenommen, mich nicht wieder selbst unter Druck zu setzen, sondern mir ganz einfach Zeit zu lassen.

Meine bisherigen Bücher waren sehr stark auf meine Person, meine Erlebnisse und Erfahrungen ausgerichtet. Diesmal mache ich eine Drehung um hundertachtzig Grad. Ich will eine lockere, spannende, leicht kriminelle Geschichte schreiben, die in der Realität allerdings so nie stattgefunden hat, aber durchaus in dieser Form hätte stattgefunden haben können.

Liebe Leser und vom Alltag gestresste Mitmenschen, lasst euch durch mich ein wenig Spaß bereiten, überraschen und in eine andere Welt versetzen. Es ist an der Zeit, sich zu entspannen …

Euch erwartet eine nicht alltägliche Geschichte – packend, witzig, mit Herz und einer Portion Humor.

Die Kinder sind hoffentlich im Bett und das Büro ist abgeschlossen; alle sonstigen Arbeiten – ja auch das Beladen des Geschirrspülers – bleiben einfach mal bis morgen liegen.

Schnappt euch eine Flasche mit gutem Wein oder einen heißen Tee beziehungsweise Kaffee, lehnt euch zurück und genießt die folgenden Seiten. Zwei alten Typen – Gerd und Lothar – werden euch auf Trab halten; das verspreche ich!

Ich heiße übrigens Harald – meine Freunde nennen mich Harry – und bin mit den handelnden Personen in dieser Geschichte weder verwandt noch verschwägert, sondern nur der Autor.

Hauptdarsteller

Bevor ich diese schräge, schöne Lebenskomödie richtig beginne, müsst ihr unbedingt die drei Hauptdarsteller der folgenden Handlung etwas näher kennenlernen.

Da ist zuerst Petra …

Einzelkind. Strenge katholische Erziehung. In der Schulzeit von den Mitschülern gemobbt. Ihr einziger Freund war ein alter Delfin – ein in die Jahre gekommenes Stofftier, das sie noch mit fünfzehn küsste. Figürlich ist Petra etwas mollig – mehr der Mutti-Typ. Erster Sex mit knapp dreißig, mit einem Bäckerburschen aus demselben Dorf. Ihren Gerd heiratete sie später, da war sie vierzig. Die Ehe blieb leider kinderlos, verlief aber immer glücklich und bleibt es hoffentlich auch bis zum Ende ihrer Tage. Ihre bevorzugte Garderobe sind Brille, Kittelschürze und Hausschuhe, Letztere meist dick gefüttert, egal ob im Sommer oder Winter, Hauptsache warme Füße.

… dann Gerd

Gerd war in jungen Jahren das genaue Gegenteil von Petra. Von Jugend an stand er auf eigenen Füßen und boxte sich durchs Leben. Seine Kindheit war beschissen. Knallharte Eltern, die sich um seine Erziehung keinen Dreck kümmerten, weshalb er sehr früh lernen musste zu kämpfen. Er war ein lausiger Schüler, dafür aber der Anführer einer Bande von richtigen Lausbuben. Gerd wurde nie aufgeklärt, hatte aber seinen ersten Sex mit sechzehn, nämlich mit der hübschen, jedoch verheirateten Nachbarin, deren Mann fast nie zu Hause war – ein Seemann, ständig auf den Ozeanen der Welt unterwegs. Gerd war es egal; er hatte seinen Spaß mit der Frau. Als Jugendlicher genoss er sein Leben in vollen Zügen: Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll. Irgendwann lernte er Petra kennen. Sie hat ihn nach und nach irgendwie »umgekrempelt«. Wie ihr das gelungen ist, bleibt ihr Geheimnis. Die beiden sind ein tolles Paar. Sie, die Hausmutti und gute Seele; er, der Rebell und unverbesserliche Träumer.

So lebten und liebten sie sich bis ins Rentenalter. Alles war gut. Die Tagesabläufe waren geordnet. Sie waren zufrieden mit sich und ihrem Leben. Bis zu dem Tag, an dem Lothar auftauchte.

… und schließlich Lothar

Lothar, der Undurchschaubare. Er war immer wie die sprichwörtliche Fliege auf dem offenen Honigglas. Sein Leben verlief wie eine Achterbahnfahrt. Mal war er ganz weit oben, dann wieder ganz unten. Als er Gerd nach über vierzig Jahren wieder begegnet, steht er abermals nur einen kurzen Schritt vor dem sozialen Abgrund.

Was diese drei Personen miteinander verbindet? Lest selbst!

Begegnung

Angefangen hatte der Tag wie immer. Wie an jedem Morgen wurde pünktlich um acht Uhr gefrühstückt. Als Gerd aus dem Badezimmer kam, stand der dampfende Kaffee in der von Großmutter geerbten, mit einem dezenten Blumenmuster verzierten Tasse schon auf dem Tisch. Neben dem kleinen, aus Holzstreifen geflochtenen Korb mit den frischen, herrlich duftenden Brötchen vom Bäcker um die Ecke, die immer so schön knusprig waren und auf die er sich jeden Tag freute, lag – auch wie immer – die Tageszeitung. Sie strömte ebenfalls einen markanten Geruch aus … den der in der Nacht zu ihrer Herstellung verwendeten Druckerschwärze.

Pudeldame Susi wedelte fröhlich mit dem Schwanz, während Gerd sich an den liebevoll gedeckten Tisch setzte, und legte sich schließlich quer über seine Füße.

Petra, Gerds liebende Gattin, nahm ihm gegenüber an der Längsseite des Tisches Platz. Sie trug ihren ziemlich alten, schon etwas verschlissen wirkenden Morgenmantel, dessen ehemalige Grundfarben sich nur noch erahnen ließen, und sagte zu ihm – auch wie immer: »Guten Morgen, mein Schatz! Hast du gut geschlafen?«

Er lächelte sie an, beugte sich über den Tisch und gab ihr statt einer Antwort einen Kuss – auch wie immer.

Während des Frühstücks wurde wenig geredet. Gerd las die Zeitung, während Petra den munteren Klängen der Morgenmusik und dem nervigen Gebrabbel des Moderators aus dem Radio lauschte.

Nach einer guten halben Stunde war das allmorgendliche Ritual beendet. Petra räumte das Geschirr ab und stellte es auf die silbrig glänzende Abstellplatte neben dem Ausguss – ob sie die beiden Teller und Tassen und das Besteck später mit der Hand spülen oder in den Geschirrspüler einräumen wollte, mochte sie im Moment noch nicht entscheiden.

Währenddessen machte Gerd sich für den täglichen Spaziergang mit der quirligen Susi bereit, die es kaum erwarten konnte, ihr erstes Geschäft des Tages verrichten zu können – an ihrem Stammbaum, einer alten, knorrigen Kastanie, die ihre Äste direkt neben dem Haus, in dem Gerd und Petra seit vielen Jahren wohnten, in den Himmel reckte. Aus Susis Hundesicht war das mehr als praktisch.

Das Haus lag in einer bevorzugten Gegend Braunschweigs. In fußläufiger Nähe befand sich ein Park, dem eine alsbaldige Verschönerung gutgetan hätte. Inmitten dieser Anlage gab es einen See, auf dem sich zahlreiche Enten vergnügten, und in der Nähe des gegenüberliegenden Ausgangs stand auf einem in die Jahre gekommenen Sockel ein beeindruckendes Denkmal mit einem uniformierten Reiter aus der Husarenzeit: das Pferd ziemlich hoch aufgerichtet, nur auf den Hinterbeinen stehend. Der für Gerd wichtigste Anlaufpunkt im Park war allerdings eine kleine Kneipe in der Nähe des Denkmals, die köstliches Braunschweiger Bier im Ausschank hatte.

Nur einige weitere Schritte von ihrem Haus entfernt lagen die Straßenbahn- und Bushaltestellen, und um die Ecke befanden sich eine Bäckerei sowie ein Blumenladen.

Ihre am Haus angebaute Garage wurde lediglich als Geräteschuppen und zur Aufbewahrung der Gartenmöbel genutzt – ein Auto brauchten Petra und Gerd schon lange nicht mehr.

Draußen vor der Haustür empfing Gerd und Susi der neue Tag mit herrlichem Sonnenschein. Nur etwa fünf Minuten – also eine gute Zigarettenlänge – brauchten die beiden bis zum Park, obwohl sich die Pudeldame regelmäßig wie Petra bei einem ihrer berüchtigten Schaufensterbummel benahm. Sie blieb im wahrsten Sinne des Wortes alle naselang stehen und schnupperte an Gräsern und Sträuchern, eben wie Petra, die beim Stadtgang vor den Fenstern der Geschäfte stehen blieb und ausgiebig die jeweiligen Auslagen betrachtete, während er ungeduldig darauf wartete, dass sie endlich bis zu seinem heiß geliebten Baumarkt vordringen würden.

Gerd genoss die morgendliche Raucherei draußen im Park, denn zu Hause galt striktes Rauchverbot. Petra hatte Bronchialasthma und schon vor Jahren auf dringenden Rat ihrer Hausärztin das Rauchen aufgeben müssen – und schließlich auch selbst wollen. Aus Liebe zu seiner Petra hielt Gerd sich strikt an die Regel: »No smoking inside the house!« Seine durchaus zahlreichen kleinen Bierchen zwischendurch ließ Gerd sich jedoch nicht nehmen. Sein erstes kühles Helles gönnte er sich allerdings immer »erst« nach dem Gassigehen mit Susi – in der Regel in jener kleinen Kneipe am anderen Ende des Parks.

Dass heute der Vormittag anders verlaufen sollte als sonst, ahnte Gerd noch nicht, als Susi und er ihre morgendliche Runde begannen. Zunächst verlief zwar alles wie gewohnt, denn kaum betraten sie die Parkanlage, zerrte sein vierbeiniger Liebling an der Leine und wollte losgelassen werden, hatte sie doch soeben, wie jeden Tag um die gleiche Zeit, ihren vierbeinigen Freund, einen Schäferhundrüden, der mehr oder weniger gut auf den Namen Harry hörte, auf der anderen Seite des Parks entdeckt. Er wartete dort zusammen mit seinem Frauchen, einer stattlichen Dame namens Schlütter, spürbar ungeduldig auf seine Spielgefährtin.

Die Erwachsenen begrüßten sich höflich, und die Hunde tanzten voller Freude umeinander und jagten sich gegenseitig, nachdem beide von ihrer lästigen Leine ge- beziehungsweise erlöst worden waren.

Wie an jedem Morgen, den Gott werden ließ, erzählte Frau Schlütter auch heute wieder mit Vorliebe und reichlich ausführlich von ihren verschiedenen Krankheiten und den aktuellen Sonderangeboten im Supermarkt. Auch über ihre Nachbarn und Bekannten berichtete sie detailliert und erteilte ungefragt weiterführende und vor allem ziemlich weitschweifige Auskünfte über deren Schwächen und Unzulänglichkeiten.

Hätte Gerd nicht die Morgenzeitung abonniert, wäre diese ältere Dame mit ihrer schon reichlich ergrauten Haarpracht, die sie in einem von einem Netz umhüllten Nackenknoten bändigte, genau richtig, um ihm jeden Tag das Neueste mitzuteilen. Aber wie schon seit ein paar Jahren zur frühen Stunde ließ er den Redefluss geduldig und ohne mit einer Wimper zu zucken über sich ergehen, denn schließlich ging es ihm beim Gang in den Park in erster Linie um seine Susi.

Nach gut und (un)gerne dreißig Minuten war Frau Schlütters täglicher Parkmonolog beendet – »Gespräch« konnte man dieses einseitige Geplapper ja nun wirklich nicht nennen. Jeder nahm seinen Hund wieder an die Leine, man wünschte einander noch einen schönen Tag und ging getrennte Wege. Gerd atmete dann jedes Mal tief durch, so auch heute wieder.

Anschließend steuerte er ohne weiteren Umweg zielsicher die kleine Gaststätte an, setzte sich an seinen Stammplatz und genoss kurz darauf sein kühles Helles, während Susi entspannt unter dem Tisch lag und nur hin und wieder ein Auge riskierte, wenn sich irgendwo im Raum etwas regte – aber viel los war um diese Uhrzeit noch nicht.

Gerds Blick schweifte hinüber zu dem kleinen See, der etwas abseits im Park lag. Dort war es normalerweise um diese Tageszeit noch ruhig. Weil aber an diesem schon recht warmen Morgen die meisten Leute – ähnlich wie Gerd – bereits luftigleicht bekleidet herumliefen, fiel ihm etwas sofort ins Auge, das rein gar nicht zu den aktuellen klimatischen Bedingungen passte: Ein einzelner Mann saß auf einer Parkbank direkt am See, dick eingehüllt in einen groben, schweren und dunklen Wintermantel. Zu allem Überfluss trug er auch noch einen auffälligen großen Hut, der aus der Entfernung an den Borsalino erinnerte, den Humphrey Bogart in dem Schmachtfetzen »Casablanca« trug, während er Ingrid Bergman am Schluss zuflüsterte: „Uns bleibt immer noch Paris.“

Der Mann auf der Parkbank hatte den Hut tief in die Stirn gezogen, was ihm wiederum Ähnlichkeit mit Alain Delon in »Der eiskalte Engel« verlieh. Außerdem hatte er, ebenfalls film- beziehungsweise stilgerecht, seinen Mantelkragen hochgeschlagen.

Dieser Gesamteindruck machte Gerd neugierig!

Ich werde erst noch ein Bierchen trinken, sagte er zu sich selbst, und wenn der Typ dann immer noch dort sitzen sollte, gehe ich der Sache nach.

Der Gastwirt, den Gerd beiläufig fragte, konnte ihm über den Mann nichts wirklich Verwertbares sagen. Er meinte nur, dass der Fremde sich wohl seit knapp einer Woche dort aufhielte, meistens zu späterer Vormittagsstunde – aha, dachte Gerd, deshalb sehe ich ihn heute zum ersten Mal –, ihm, dem Wirt, jedoch nichts weiter aufgefallen sei.

Gerd zahlte seine beiden Biere, nahm die lebhaft schwanzwedelnde Susi wieder an die Leine, verließ das Lokal und visierte das Ziel seiner Neugierde an, machte aber einen kleinen Umweg über die vom Tau noch feuchte Wiese, um nicht direkt auf den Unbekannten zugehen zu müssen.

Als er, gedeckt durch ein paar Büsche, schließlich von der hinteren Seite kommend den Kiesweg betrat, tat er so, als ginge er rein zufällig hier mit seinem Hund spazieren, und setzte sich auf eine benachbarte Bank. Jetzt war er nur noch wenige Meter von dem Fremden entfernt, der ihn aber nicht beachtete, sondern seinen Blick weiter starr auf den See gerichtet hielt, wo ein paar Enten lustlos herumdümpelten und hin und wieder gründelten, um nach Futter zu suchen. Gerd ging bei dem Anblick die Melodie des alten Kinderliedes »Alle meine Entchen« durch den Kopf, und schließlich summte er sie sogar leise vor sich hin.

Ob ich ihn ansprechen soll?, überlegte er, verwarf den Gedanken aber rasch wieder, denn vielleicht war das, was er sich gerade zusammenreimte, nur eine fixe Idee. Schließlich fragte er sich: Was mache ich eigentlich hier, und was geht mich der fremde Mann überhaupt an? Er beschloss, seine von Wissbegierde getriebene Inspektion einfach abzubrechen.

Als Gerd nach Susis Leine griff und gerade dabei war aufzustehen, sprach ihn der Unbekannte mit tiefer und durchdringender Stimme an: »Hallo Gerd! So sieht man sich also wieder. Nach über vierzig Jahren. Du hast dich gut gehalten, alter Knabe. Ich habe dich sofort wiedererkannt!«

Erschrocken wandte sich Gerd dem Mann zu und schaute in ein Gesicht, das ihm zwar irgendwie bekannt vorkam, von dem er aber nicht wusste, wie und wo er es gedanklich einordnen sollte. Eine Weile verging. Gerd war sprachlos – kein Ton kam über seine Lippen.

Dann sprach der Mann erneut zu ihm: »Erkennst du mich nicht mehr, du alter Zausel? Ich bin es! Lothar! Wir sind im selben Dorf groß geworden und in der Schule in dieselbe Klasse gegangen!«

Als Gerd sich zögernd neben ihn auf die Bank setzte, war er immer noch reichlich durcheinander. Erst nach einer Weile fand er seine Sprache wieder, dann aber sprudelte es nur so aus ihm heraus: »Du bist Lothar – Lothar Sukowski? Das kann doch nicht wahr sein! Was machst du denn hier? Wie siehst du überhaupt aus? Und was hat dich nach Braunschweig verschlagen?«

Nachdem Gerd seinen Redefluss beendet hatte, kam Lothar wieder zu Wort. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er. »Hast du Zeit? Dann erkläre ich dir alles in Ruhe ‒ wenn du willst.«

Natürlich hatte Gerd Zeit, schließlich war seine Neugierde kaum zu bändigen, und er wollte wissen, was seinem Schulkameraden im Laufe der vergangenen Jahrzehnte widerfahren war. »Lass uns in die Kneipe da drüben gehen!«, schlug er vor und fügte hinzu: »Auf dieses ungewöhnliche Wiedersehen müssen wir anstoßen.«

Sie setzten sich auf die kleine Terrasse vor dem Lokal, wo weiße Sonnenschirme mit dem Firmenzeichen einer altbekannten Braunschweiger Brauerei für Schatten sorgten, und gaben beim Wirt, der, auf Gäste wartend, in der Tür gestanden hatte, ihre Bestellung auf. Während der ins Lokal ging, sagte Gerd zu Lothar: »Bevor du mir erzählst, was du alles gemacht hast, muss ich erst rasch noch Petra – meine Frau – anrufen und ihr sagen, dass ich später nach Hause komme. Wenn ich nicht pünktlich um zwölf zum Mittagessen erscheine, tanzt der Bär, weil sie sich dann Sorgen macht, und das muss wirklich nicht sein. Also, Lothar, lass dir das Bier schon mal schmecken. Ich bin gleich wieder da!«

Mit der trippelnden Susi an seiner Seite ging Gerd in den Gastraum und dort direkt an die Theke, auf der rechts an der Ecke zur Küchentür das schwarze Bakelit-Telefon mit der Wählscheibe und dem großen Hörer, der durch eine Kabelschnur mit dem Apparat verbunden war, stand.

∼·∼·∼

Es wurde ein sehr langer Vormittag. Gerd und Lothar hatten sich so viel zu erzählen, dass sie gar nicht merkten, wie die Zeit verging. Erst der Gastwirt machte sie darauf aufmerksam, als er sich im Näherkommen zuerst räusperte und dann vorsichtig sagte: »Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist? Ich würde jetzt gern Mittagspause machen!«

»Oje, das gibt Ärger mit meiner Frau!«, sagte Gerd nach einem Blick auf seine Armbanduhr, deren Zeiger drei Minuten vor eins signalisierten. »Nun macht sie sich doch noch Sorgen, wo Susi und ich abgeblieben sind. Ich habe ihr vorhin gesagt, dass ich gegen halb eins zu Hause bin. Lothar, lass uns das Wiedersehen für heute beenden!«

Der nickte und meinte: »Wir können uns ja morgen um dieselbe Zeit wieder treffen, falls du Lust hast.«

Gerd war einverstanden. Sie verabschiedeten sich mit einer männlich-intensiven Umarmung und filmreifem gegenseitigem Schulterklopfen. Anschließend gingen beide in verschiedene Richtungen davon.

∼·∼·∼

Auf dem Nachhauseweg machte Gerd noch einen kurzen Abstecher und trat in den nahe gelegenen Blumenladen, der glücklicherweise über Mittag geöffnet hatte, um einen sommerlichen Strauß für seine Frau zu besorgen. Einerseits um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, andererseits in der Hoffnung, dass Petra damit trotz seiner ungewohnt langen Abwesenheit besänftigt werden konnte und verbal nicht allzu grausam mit ihm umsprang, wenn er zur Tür hereinkäme. Außerdem, dachte Gerd, hilft ein liebevoll gebundener hübscher Blumenstrauß in gewissen Lebenslagen fast immer … Obwohl oder gerade weil Petra von ihm seit Jahren keinen solchen mehr bekommen hatte, hoffte er darauf, dass die Wunderwaffe im heutigen Fall helfen und bei ihr nicht etwa höchst unerwünschte, aber durchaus vorstellbare Verdachtsgedanken erregen würde.

∼·∼·∼

Als Gerd die Eingangstür aufschloss und kurz darauf das Wohnzimmer betrat, saß seine Frau – wie fast täglich um diese Zeit – auf ihrem Stammplatz, dem Sofa, und sah fern. Die Blumen hielt Gerd hinter seinem Rücken. Petra drehte ihren Kopf nur kurz in seine Richtung und sah ihn stillschweigend, aber überreichlich ausdrucksstark an. Diesen besonderen Gesichtsausdruck kannte er seit vielen Jahren, und er versprach so gar nichts Gutes. Bevor das große Donnerwetter losbrechen konnte, zauberte Gerd den Blumenstrauß hervor und sagte mit bewusst belegter Stimme: »Entschuldige bitte, mein Schatz, dass es so spät geworden ist. Ich bin auf einer Parkbank eingeschlafen. Wenn Susi mich nicht mit ihrem Gebell geweckt hätte, würde ich dort jetzt noch sitzen.« Von einem Moment zum nächsten hellte sich Petras Gesicht auf. Gerd atmete tief durch. Der Hausfrieden war gerettet!

»Setz dich schon mal hin, alter Mann«, sagte sie. »In ein paar Minuten beginnt im ZDF unsere (wenn man es genau nahm, ›ihre‹) Lieblingsserie. Ich mach dir rasch noch deine Portion Erbsensuppe warm. Du hast doch inzwischen bestimmt großen Hunger, oder?!«

Sprach’s, stand auf, nahm mit seligem Gesichtsausdruck die herrlichen Blumen – die Floristin hatte wirklich ihr Bestes gegeben –, gab Gerd lächelnd einen flüchtigen Kuss und verschwand in der Küche.

Von der Begegnung mit Lothar wollte Gerd ihr noch nichts erzählen. Dem gemütlichen Fernsehnachmittag stand jetzt nichts mehr im Weg.

Lothars Märchenstunden

Von nun an trafen sich Gerd und Lothar regelmäßig. Stets im Park, jeweils zur gleichen Zeit. Und Pudeldame Susi war jedes Mal dabei.

Länger als eine Stunde dauerten die Gespräche jetzt aber nicht mehr, sodass Gerd wieder zur üblichen Zeit zu Hause sein konnte, denn er hatte Petra auch nach weiteren Treffen mit Lothar noch immer nichts von dem Kumpel aus der Vergangenheit erzählt; und das sollte vorerst auch so bleiben.

Eines Tages trafen sich die Männer ausnahmsweise erst am Nachmittag; diesmal wieder auf der Terrasse der kleinen Kneipe am See. Petra und Gerd hatten den ganzen Vormittag mit Einkaufen und einem überfälligen Besuch beim Frisör zugebracht – beides nicht unbedingt Gerds Lieblingsbeschäftigungen, aber was sein musste, das musste eben sein.

Heute wollte Gerd endlich Genaueres über Lothars bisheriges Leben erfahren, denn dicke Freunde waren sie während der Schulzeit nicht gerade gewesen. Ein Grund mehr für Gerd, den Kontakt mit Lothar nur ganz langsam angehen zu lassen.

Zuerst war der es aber, der wissen wollte, wie es Gerd während der vergangenen Jahrzehnte ergangen war.

Gerds Lebensgeschichte war schnell erzählt: Hauptschulabschluss. Lehre als Zimmermann erfolgreich abgeschlossen. Bundeswehr – er hatte sich wegen des höheren Solds gleich für zwei Jahre verpflichtet, aber mehr als Obergefreiter war nicht drin gewesen. Später hatte er seine Petra geheiratet; die Ehe war leider kinderlos geblieben. Über vierzig Jahre bei einem bekannten großen Autohersteller am Band gearbeitet. Seit gut fünf Jahren in Rente. »Mehr gibt es nicht zu berichten«, sagte er schließlich, und damit war das Thema von seiner Seite aus ein für alle Mal erledigt. »Aber nun zu dir, Lothar. Wie ist es dir während all der Jahre ergangen?«

Bevor Lothar antwortete, nahm der einen kräftigen Schluck Bier, den er langsam die Kehle hinunterlaufen ließ. Dann legte er los. Als er sprach, hörte es sich an wie ein ununterbrochen rauschender Wasserfall. Er redete ohne Punkt und Komma, holte zwischen den kurzen Sätzen immer nur kurz Luft, um genau dort weiterzumachen, wo er eine Sekunde zuvor seinen Redefluss unterbrochen hatte:

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Mein ganzes Leben war wie ein Ritt auf der Achterbahn. Mal ging es hoch hinauf, mal tief herunter. Eine Bäckerlehre musste ich aufgeben. Mehlallergie vom Feinsten. Kam mir aber ganz gelegen, denn Lust hatte ich eh nicht. Außerdem war mein Lehrmeister ein Riesenarschloch. Nicht nur, weil er mich bei jeder Gelegenheit ohrfeigte, sondern vor allem, weil er meine Mutter gevögelt hat, während mein Vater ständig irgendwo auf Montage war. Mein Alter war Bauhelfer im Fertighausbau und kam nur zu den Wochenenden nach Hause. Gemerkt hat er aber nie was. Das lag wohl daran, dass er dann die meisten Stunden in der Dorfkneipe zugebracht hat. Tja, und ab Montagmorgen war er bereits »on the road again«. Meiner Mutter schien das egal zu sein, genauso wie mir. Wichtig war nur, dass er jede Woche das Geld rausrückte, damit wir über die Runden kamen. Irgendwann hatte ich die Schnauze voll von dem ganzen Theater und bin mit knapp sechzehn von zu Hause abgehauen. Weder mein Vater noch meine Mutter haben sich die Mühe gemacht, nach mir zu suchen. Vielleicht waren sie sogar froh, mich auf diese Art losgeworden zu sein. Geschwister hatte und habe ich leider nicht. Oma und Opa waren damals schon lange tot; ich kannte sie nur von alten, bereits vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos. Ich war also auf mich allein gestellt, nahm jede Arbeit an, die ich kriegen konnte. War zwei Mal verheiratet und bin beide Male echt auf die Fresse gefallen. Mein Schuldenberg wurde immer höher. Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Irgendwie bin ich dann an die falschen Leute geraten. Ohne zu überlegen, stieg ich in deren Geschäft ein, nämlich Autodiebstahl. Lange Zeit ging alles gut, bis ich eines Tages verpfiffen wurde. Festnahme, Untersuchungshaft und danach eine mehrjährige Freiheitsstrafe, die ich in Bochum bis zum letzten Tag abgesessen habe, waren die Folgen. Eine irre Erfahrung ist so ein Knast, das sag ich dir. Nach meiner Freilassung stand ich auf der Straße. Kraft für einen Neuanfang hatte ich nicht. So tingelte ich durch ganz Deutschland, lebte vom Betteln und von den Almosen der Leute, die Mitleid hatten oder aber ihre Seele streicheln wollten. Hilfe vom Amt lehnte ich ab, dazu war ich zu stolz. Tja, Gerd, das war mein bisheriges Leben. Und bevor du mich jetzt fragst, was mich hierher nach Braunschweig verschlagen hat, gebe ich dir auch darauf gleich eine Antwort: Zusammen mit einem Kumpel wollte ich nach Norddeutschland – Hamburg, Bremen oder Hannover –, aber wir sind hier ganz einfach hängen geblieben, und vor sechs Wochen ist mein Kumpel urplötzlich verreckt – einfach so in seinem Schlafsack gestorben. Ich war total geschockt. Als ich wieder klar denken konnte, nahm ich das Bargeld aus seiner Manteltasche – er brauchte es ja nun nicht mehr – und bin abgehauen. Ich hoffe, Gott wird mir verzeihen … und mein Kumpel auch. Natürlich habe ich noch anonym den Notdienst über 112 angerufen und gesagt, wo sie meinen Kumpel finden konnten. Seit dem grässlichen Vorfall schlage ich mich hier durch. Und dann habe ich dich getroffen. So war das, Gerd!«

Gerd musste schlucken und sah Lothar tief betroffen an. Als er sich wieder etwas gefangen hatte, klopfte er ihm auf die Schulter und sagte: »Eine bewegende Geschichte. Dass du so viel Schlimmes durchgemacht hast, habe ich nicht für möglich gehalten. Ich bin geschockt und muss das erst einmal verdauen. Komm, trinken wir noch ein Bier, bevor ich nach Hause gehe!«

Als sie sich nach einer Weile trennten, fragte Gerd: »Sag mal, Lothar, wo schläfst du eigentlich?«

»Mal hier, mal da«, entgegnete der. »Aber mach dir um mich keine Gedanken. Ich komm schon irgendwie durch. Sieh du lieber zu, dass du zu deiner Frau kommst. Also, dann bis morgen, mein Freund!« Nachdem er zum Abschied kurz genickt hatte, drehte er sich um und ging den Kiesweg hinunter zum See. Kurz darauf verschwand er in dem angrenzenden kleinen Waldstück.

∼·∼·∼