Flußfahrt mit Huhn - Arend Agthe - E-Book

Flußfahrt mit Huhn E-Book

Arend Agthe

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Geheimgesellschaft unter der Fahne des BLAUEN PUNKTES, bestehend aus Robert, Ulf, Harald, Johanna, Peter, dem kleinen Alex und Gonzo, Opa Ewalds bestem Legehuhn, macht sich auf, um mit der ROSA NORD in völlig unerforschtes Gebiet vorzudringen. Ziel der Expedition ist die Entdeckung der Nordost-Passage, die Speele an der Fulda mit dem Weltmeer verbindet. Aber die Forschungsreisenden werden verfolgt … Eine spannende Abenteuergeschichte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 191

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Arend Agthe • Monika Seck-Agthe

Flußfahrt mit Huhn

Abenteuergeschichte

Ihr Verlagsname

Bilder von Klaus Fischer

Über dieses Buch

Die Geheimgesellschaft unter der Fahne des BLAUEN PUNKTES, bestehend aus Robert, Ulf, Harald, Johanna, Peter, dem kleinen Alex und Gonzo, Opa Ewalds bestem Legehuhn, macht sich auf, um mit der ROSA NORD in völlig unerforschtes Gebiet vorzudringen. Ziel der Expedition ist die Entdeckung der Nordost-Passage, die Speele an der Fulda mit dem Weltmeer verbindet. Aber die Forschungsreisenden werden verfolgt … Eine spannende Abenteuergeschichte.

Über Arend Agthe • Monika Seck-Agthe

Monika Seck-Agthe, geb. 1954, studierte in Frankfurt/M. Sonder- und Heilpädagogik und Kunsterziehung. Seit ihrem Examen 1979 arbeitet sie als freie Autorin und Journalistin für Zeitschriften, Buchverlage und für das deutsche Kinderfernsehen.

 

Arend Agthe, geb. 1949, studierte in Marburg und Frankfurt/M. Germanistik, Politik, Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie. Während des Studiums sammelte er Erfahrungen bei Theater und Film; seit 1970 ist er als Autor und Regisseur tätig und hat zahlreiche Kino- und Fernsehfilme produziert. Sein in Turkmenistan gedrehter spannender Abenteuerfilm «KARAKUM» bekam 1994 auf der Berlinale den internationalen UNICEF-Preis.

 

Klaus Fischer (1937-2001) studierte freie Graphik und Malerei. Er arbeitete an verschiedenen Theatern als Bühnen- und Kostümbildner sowie als Illustrator und Trickfilmer.

Inhaltsübersicht

Für Julia, Fedor, ...Erstes Kapitel, …Zweites Kapitel, …Drittes Kapitel, …Viertes Kapitel, …Fünftes Kapitel, …Sechstes Kapitel, …Siebtes Kapitel, …Achtes Kapitel, …Neuntes Kapitel, …Zehntes Kapitel, …Elftes Kapitel, …Zwölftes Kapitel, …Dreizehntes Kapitel, …Vierzehntes Kapitel, …Bildteil

 

Für Julia, Fedor, David und Uwe

Erstes Kapitel,

in dem Johanna an Robert denkt, in dem Robert vom Opa «wild gewordener Pavian» geschimpft wird und in dem Johanna sich aus einer misslichen Lage ganz allein befreien muss

Johanna schwitzt. Ihre nackten Arme und Beine kleben an den Kunstlederpolstern des Autos ihrer Eltern. Sie fahren schon so lange …

Von Berlin bis nach Speele, das sind über fünfhundert Kilometer. Es ist so unerträglich heiß, dass sogar Johannas Vater, der sonst immer redet, schweigt, und ihre Mutter, die sonst fast immer lächelt, mit ernster, müder Miene auf dem Beifahrersitz hockt.

Sehnsüchtig lässt Johanna ihren Blick über das in der Sonne glitzernde Wasser der Fulda gleiten. Da müsste man jetzt reinspringen können! Oder man müsste mit so einem kleinen Sportboot unterwegs sein, den Wind um die Nase haben. Der Fluss verläuft in sanften Biegungen. Unter den Bäumen am Ufer sitzen Angler. An manchen Stellen hat die Fulda hellsandige Uferstreifen. Dort haben die Leute ihre Handtücher ausgebreitet, Campingtische und Stühle aufgestellt. Sie sonnen sich, trinken Kaffee oder spielen Karten. Der Lärm der direkt am Fluss entlanglaufenden Landstraße scheint keinen zu stören. Johanna legt ihren Kopf zurück und schließt kurz die Augen.

Robert – zwei Jahre hat sie ihn nicht gesehen. So ganz genau kann sie sich nicht mehr an ihn erinnern. Er war kleiner als sie, das auf jeden Fall. Und er hatte sehr blaue Augen. Viel gespielt haben sie damals nicht zusammen, als Johanna mit ihrer Mutter für eine Woche in Speele war. Robert war seltsam … er war irgendwie unnahbar. Ob er sich inzwischen verändert hat?

«Kinder, kommt zu euch!», ruft Johannas Vater plötzlich und schlägt das Lenkrad ein. Mit einem knirschenden Geräusch fährt das Auto eine Kiesauffahrt hoch. «Wir sind da!» Johannas Vater bremst und stellt den Motor ab.

Neugierig sieht Johanna aus dem Fenster.

Tatsächlich: Es ist alles noch genau so, wie sie es in Erinnerung hatte.

Über und über mit Efeu bewachsen, still und verwunschen, liegt das Haus von Tante Else in der Sonne. In der rechten Haushälfte, da, wo die Gaststätte ist, sind alle Rollläden heruntergelassen. Das große gelbe Schild ZUM FÄHRKRUG, das quer über dem Eingang hängt, sieht aus, als wäre es gerade frisch poliert worden. Der Biergarten hinterm Haus, der sich mit seinen vielen Tischen und Stühlen bis hinunter ans Wasser der Fulda zieht, ist menschenleer. Aber auf der linken Seite des Hauses stehen die Fenster weit offen. Bunt karierte Gardinen flattern im Wind, und aus einem der unteren Fenster dringt Tango-Musik. Johannas Vater hupt: dreimal kurz, einmal lang. Wie auf Kommando erscheint im obersten Fenster des Hauses Tante Elses Gesicht mit der langen, bleichen Nase.

«Gottchen!», ruft Tante Else und stößt ein zwitscherndes Lachen aus. «Da seid ihr ja, ich komme!»

Was jetzt folgt, ist die übliche Begrüßungsszene, wie sie wohl jeder kennt. Opa Ewald kommt lachend aus seinem Bastelschuppen gerannt, Johanna und ihre Eltern steigen aus dem Auto, Tante Else kommt mit ausgebreiteten Armen und Tränen in den Augen angelaufen und schließt einen nach dem anderen in die Arme. Der Opa brüllt launig: «Mensch, Johanna, bist du aber gewachsen!» Johannas Mutter ruft: «Else! Du hast dich ja überhaupt nicht verändert!» Es wird heftig geküsst, und schließlich gehen sie alle ins Haus.

Es riecht nach Schweinebraten. Der Tisch ist liebevoll gedeckt, neben jedem Teller liegt sogar eine frische rote Rose. Alwine, die Haushälterin, bringt immer mehr Schüsseln mit Fleisch, Kartoffeln und Gemüse. Als endlich alle am Tisch sitzen, tut der Opa mit feierlich-eleganten Bewegungen das Essen auf. Tante Else schenkt Wein ein, auch für Johanna, und sie stoßen miteinander an.

«Lasst es euch schmecken!» Tante Else lacht und drückt ganz kurz Johannas Hand. Es wird gegessen. Der Schweinsbraten schmeckt himmlisch, die Butterkartoffeln zergehen Johanna auf der Zunge.

Plötzlich, der Opa hat seine Portion schon halb vertilgt, fällt sein Blick auf Roberts Platz. Sein Gesicht verfinstert sich.

«Sag mal, Else», fragt der Opa. «Wo ist überhaupt der Junge?»

Noch bevor Tante Else antworten kann, geht mit einem Knall die Esszimmertür auf, und Robert kommt ins Zimmer. Seine blonden Haare stehen wild in alle Himmelsrichtungen, sein Gesicht ist braun gebrannt. Johanna lächelt ihn schüchtern an.

«Tag», sagt Robert kurz und setzt sich auf seinen Platz. Alwine tut ihm Fleisch und Gemüse auf den Teller.

Robert schmatzt beim Essen, und er legt ein geradezu irrsinniges Tempo vor.

«Man führt die Gabel zum Mund und nicht den Mund zur Gabel!», sagt Opa Ewald.

Ohne auf die Ermahnung des Opas zu reagieren, lädt Robert sich noch ein paar Kartoffeln auf den Teller. Der Opa holt tief Luft.

Johanna beobachtet Robert. Er ist hübsch, denkt sie, er hat schöne blaue Augen. Und obwohl ja keiner wissen kann, was sie gedacht hat, wird sie flammend rot.

«Ist dir heiß, Liebes?» Tante Else streichelt Johanna übers Gesicht. «Wenn ihr dann fertig seid, Kinder, geht ruhig raus.»

Sie hat den Satz noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als Robert mit einem Knall sein Besteck auf den Teller wirft und vom Stuhl hochschießt.

«Was ist denn jetzt los!», fragt Opa Ewald wütend. «Hat dich was gestochen?»

«Meine Mutter hat gesagt, ich kann gehen, oder?», fragt Robert kühl. Dann macht er auf dem Absatz kehrt und rennt aus dem Zimmer.

«Moment mal!», brüllt Opa Ewald mit donnernder Stimme. «Robert!» Mit hochnäsiger Miene, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, erscheint Robert wieder im Türrahmen.

«Ist noch was?», fragt er ruhig.

«Deine Mutter sprach davon, dass ihr rausgeht. Du und deine Cousine. Und nicht davon, dass du wie ein wild gewordener Pavian aus dem Zimmer rennen sollst!»

Während Tante Else beschwichtigend ihre Hand auf die vom Opa legt, wirft Robert Johanna einen kalten Blick zu und verdreht die Augen.

Er mag mich nicht, denkt Johanna mutlos. Er mag mich nicht, und er wird mich nie mögen. Drei lange Wochen wird er mich nicht mögen, bevor ich wieder heimfahren kann nach Berlin.

Ihr wird ganz klamm.

Opa Ewald sitzt wie ein drohender Racheengel, kerzengerade, in seinem Stuhl. Die anderen Erwachsenen machen betretene Gesichter.

«Ewald!», murmelt Tante Else, und dann raunt sie Johanna zu: «Geh ruhig mit raus, Kind, du bist ja fertig mit essen.»

Eigentlich würde Johanna lieber sitzen bleiben. Aber dann gibt sie sich einen Ruck und folgt Robert in den Garten.

Auf der Wiese hinterm Haus setzt sich Robert auf einen Baumstumpf und starrt auf seine Stiefel. Er sagt nichts und rührt sich nicht, als wäre er zu Stein geworden.

«Deine Hasen …», fängt Johanna schüchtern an. «Hast du die noch?»

Robert schweigt. Johanna wartet.

Vielleicht sind die Hasen gestorben, überlegt sie. Vielleicht trauert Robert um seine Hasen. Vielleicht hätte ich gerade diese Frage nicht stellen dürfen.

«Und dein Fußballclub?», versucht sie es nochmal. «Ich meine … gehst du da noch hin?» Dass alle Mitglieder des Fußballclubs gestorben sind, ist ja schlecht möglich, denkt Johanna. Auf diese Frage könnte er also mal antworten.

Aber Robert schweigt weiter. Johanna will sich gerade neben ihn ins Gras setzen, als er plötzlich aufspringt und sie hart am Arm packt.

«Komm mit!», sagt er barsch, dreht sich um und rennt unvermittelt zum Fluss hinunter. Johanna hat Mühe, sein Tempo mitzuhalten. Als die beiden das Ufer erreichen, ist sie total außer Atem. Robert bleibt stehen und zeigt in die Baumkrone einer Weide, die so schräg gewachsen ist, dass sie weit über das Wasser ragt. Ziemlich hoch oben ist zwischen den Zweigen ein großes Baumhaus aus Holz zu erkennen.

Mit ein paar schnellen Schritten springt Robert den schrägen Stamm der Weide hinauf.

«Na komm schon!» Er macht eine auffordernde Kopfbewegung in Johannas Richtung. «Oder haste Schiss?» Johanna zögert. Unschlüssig betrachtet sie den schiefen Baumstamm, unter dem das dunkle Wasser des Flusses entlangzieht: Viel mehr als reinfallen kann ich ja nicht, denkt sie, streicht ihre Haare zurück und fängt an, mit vorsichtigen Bewegungen die ersten Meter des Stammes hochzuklettern. Robert beobachtet Johanna mit lauerndem Gesichtsausdruck. Als sie fast bei ihm angekommen ist, hält er ihr die Hand hin.

«Nimm die Griffel weg!», sagt Johanna. «Ich schaff’s auch allein.»

«Da ist ein Geländer!» Robert deutet auf ein längliches Stück Holz, das den letzten, gefährlichsten Teil des Stammes absichert. «Halt dich da fest.»

Kurz vor dem Eingang des Baumhauses hört das Geländer auf. Ein dickes Tau baumelt vor Roberts Kopf, er packt es und klettert daran hoch. Als er oben ist, klettert auch Johanna an dem Seil hoch.

Geschafft! Johanna sieht sich in Roberts Baumhaus um. Das Ding macht einen stabilen Eindruck. Der Boden besteht aus dicken, dunkel geschwärzten Holzbohlen, die Wände sind aus rohen Brettern zusammengenagelt, und das Dach ist aus Schilf und Teerpappe. Zur Wasserseite hin hat das Baumhaus ein richtiges Fenster, mit Rahmen und Glasscheibe.

«Na? Wie gefällt dir die Aussicht?», will Robert wissen. Von hier hat man einen weiten Blick über den Fluss, der an dieser Stelle gestaut ist, breit wie ein See. Rechts erkennt Johanna die alte Wehrmauer, die Schleuse mit ihren schwarzen Toren, dahinter den Kirchturm und einen Teil der alten Steinbrücke.

«Schön!» Johanna nickt. «Gibt’s hier denn gar keine Möbel?»

«Möbel!», presst Robert verächtlich hervor und spuckt auf den Fußboden. «Ist doch keine Wohnung hier! Ist eine Beobachtungsstation.» Er kauert sich auf den Boden und öffnet eine Luke zwischen den Holzbohlen. Johanna kniet sich neben ihn und guckt durch die Luke. Sie sieht das Wasser unterhalb des Baumhauses entlangfließen, sonst nichts.

«Ja und? Was ist damit?»

«Du musst tiefer!» Robert legt seine Hand in Johannas Nacken und drückt ihren Kopf nach unten. Das faserige Holz berührt Johannas Wangen, angestrengt starrt sie durch die Öffnung im Boden.

Sie guckt ganz genau hin. Das vorbeiziehende Wasser schimmert grünlich. Leuchtende Sonnensprenkel zittern über die Oberfläche. Ein saftig grünes Blatt schwimmt vorbei, und ein schillernder Käfer brummt behäbig über die Wellen. Einen Moment lang kommt es Johanna so vor, als würde sie in den Himmel gucken und nicht auf das Wasser – der Himmel wäre grün statt blau, die Lichtsprenkel wären die Sterne.

Plötzlich kracht es. Erschrocken fährt Johanna hoch und sieht gerade noch, wie sich Robert an dem langen Seil zu Boden schwingt. Mit einem hämischen Lachen verschwindet er hinter der Uferböschung.

«Robert!», brüllt Johanna. «Robert!»

Und dann macht sie eine schreckliche Entdeckung: Das Geländer am oberen Teil des Weidenstammes ist weg. Das heißt, weg ist es nicht, aber es ist zerbrochen und baumelt in der Luft. Robert hat es kaputtgemacht.

Jetzt wird Johanna alles klar. Er hat mich hergelockt, um mich hier oben festsetzen zu können, denkt sie. Und den Rückweg hat er mir abgeschnitten. Johannas Augen füllen sich mit Tränen.

Verdammter Blödsinn, denkt sie, Hornochse. Und dann sagt sie laut: «Affe! Sackgesicht! Vollidiot!» Und noch lauter: «Dorftrottel! Nasskämmer! Hundsgemeine Pfeife!»

Sie setzt sich auf den Stamm der Trauerweide wie auf den Rücken eines Pferdes und rutscht abwärts. Zentimeter für Zentimeter.

Dem zeig ich’s, denkt sie wütend, der wird sich noch wundern!

Zweites Kapitel,

in dem Schweine über eine Tapete fliegen, Johanna einige dicke Klöße in ihrem Hals herunterwürgen muss, Alwine dem Opa eine Standpauke hält und Robert sich mal wieder um all das einen feuchten Dreck schert

Als Johanna am nächsten Morgen in ihrem Zimmer aufwacht, hat sie zum Aufstehen überhaupt keine Lust. Missmutig betrachtet sie die rosafarbenen Schweinchen auf der Tapete in ihrem Zimmer. Die Schweine haben Regenschirme und Handtaschen in den Pfoten, manche halten auch bunte Blumensträuße hoch, als wären es Fallschirme. Heute werden Johannas Eltern abreisen, zusammen mit Tante Else. Johanna wird mit Robert, Opa Ewald und Alwine in Speele zurückbleiben. Mit dem Opa und Alwine würde sie ganz bestimmt auskommen. Sie könnte dem Opa am Tag im Garten helfen und abends zwischen ihm und Alwine auf dem Sofa sitzen, Krimis anschauen und eine Salzstange nach der anderen verputzen.

Aber Robert!

Vorsichtig befühlt Johanna unter der Bettdecke das große Pflaster auf ihrem Knie. Gestern, als sie den Baumstamm hinuntergeklettert ist, ist sie kurz vor dem Boden ausgerutscht und hingefallen. Dabei hat sie sich das linke Knie aufgeschlagen, sodass das Blut nur so am Bein herunterlief. «Wie hast du denn das gemacht?», hat der Opa ganz aufgeregt gefragt. Und Johanna hat bloß gesagt: «Och, bin halt gestolpert, so was passiert.»

Verpfiffen hab ich Robert nicht, denkt Johanna, aber büßen wird er mir das. Und wie! Sie ist gerade mittendrin im schönsten Racheplan, als plötzlich die Tür aufgeht und ihre Mutter im Zimmer steht. Die hat ihr blaues Reisekostüm an.

«Steh auf, Liebling, ist ja schon zehn, wir wollen dann fahren.» Die Mutter geht zum Fenster und zieht die Jalousie hoch. Wie ein Goldregen flutet das warme Sonnenlicht ins Zimmer. Durch das geöffnete Fenster kann Johanna ein Stück kornblumenblauen Himmel sehen. Sie könnte losheulen.

«Du guckst ja so komisch», sagt Johannas Mutter besorgt.

«Ist was nicht in Ordnung? Oder macht es dir jetzt doch etwas aus, dass wir wegfahren?»

«Nö, nö», nuschelt Johanna in ihr Kopfkissen. Aber am liebsten würde sie sagen: Doch, nehmt mich mit. Ich will nicht hier bleiben, bei dem blöden Robert. Der mag mich nicht. Und ich mag ihn bald auch nicht mehr.

«Mit dem Robert, das wird schon noch», sagt Johannas Mutter, als ob sie Gedanken lesen könnte. «Das ist im Grunde ein ganz lieber Junge. Und außerdem kannst du uns jederzeit anrufen, wenn was ist.»

Lieber Junge, denkt Johanna, hat die eine Ahnung. Und laut sagt sie: «Schon gut, Mama. Geh ruhig runter, ich komme auch gleich.»

Schließlich will sie ihrer Mutter die Ferien nicht verderben. Wo doch ihr Vater in Berlin dem Herrn Splettstößer aus dem Nebenhaus ganz stolz erzählt hat: Unsere Johanna, die ist schon so selbständig; die macht schon ganz allein Urlaub.

Als ihre Mutter aus dem Zimmer ist, steht Johanna auf, wäscht sich das Gesicht und zählt ihre Sommersprossen. Es sind drei mehr als gestern, im Ganzen also jetzt einundzwanzig. Sie zieht ihr rotes Blümchenkleid an und geht runter zum Frühstück.

Und dann ist es so weit. Das Auto ist fertig gepackt, Tante Else läuft mit rotem Gesicht hin und her, holt noch ihre Lesebrille von der Kommode, das Reisebügeleisen aus dem Schrank und ihre Beruhigungstropfen aus dem Badezimmer. Der Opa und Johannas Vater beugen sich über die Landkarte, die sie auf der Motorhaube des Autos ausgebreitet haben. Johanna steht daneben und würgt an dem großen Kloß in ihrem Hals. Dicht unter den Augen fühlt sie einige dicke Tränen, die mit Macht herauswollen. Aber da spürt sie auch schon die Arme ihrer Mutter, die sich von hinten um ihren Bauch legen:

«Mein Liebes, wir fahren jetzt.»

Johanna dreht sich zu ihr um und schmiegt ihr Gesicht an den Kragen des blauen Reisekostüms. Der Kloß im Hals wird dicker, die Tränen wollen jetzt ins Freie.

«Tschüs, Stinkerchen!» Johannas Vater lacht und setzt sich auf den Fahrersitz.

Tante Else rennt immer noch aufgeregt hin und her.

«Wo ist Robert?», ruft sie schrill. «Wo ist Robert?»

Lässig grinsend kommt Robert angeschlendert.

«Junge!» Tante Else presst ihren Sohn fest an sich. Als sie ihn mehrmals küsst, wischt er sich unwillig mit der Hand über den Mund.

«Schon gut, schon gut! Mach nicht immer so eine Hektik, Mama!» Er will sich abwenden, aber Tante Else hält ihn fest.

«Sei ja nett zu deiner Cousine!», schärft sie Robert ein und reißt dabei die Augen weit auf. «Und wasch dir vorm Essen die Hände, vergiss das Mittagessen nicht, und höchstens zwei Colas am Tag, hörst du, Robert: höchstens zwei Colas!»

«Ruf an, wenn du irgendwie unglücklich bist!», flüstert Johannas Mutter ihrer Tochter zu. «Wir sind ja nicht aus der Welt.»

Johanna schluckt den Kloß im Hals entschlossen hinunter, schaut ihrer Mutter fest in die Augen und sagt: «Tschüs, Mama.» Und dann geht alles ganz schnell. Tante Else klettert auf den Rücksitz, Johannas Mutter steigt auch ein, Türen klappen zu, der Motor wird angelassen, Johannas Vater drückt aufs Gaspedal, und der gelbe Volvo fährt vom Hof.

Opa Ewald, Alwine und Johanna winken, bis von dem Auto nichts mehr zu sehen ist. Robert ist schon wieder verschwunden.

 

Bis zum Mittagessen ist noch über eine Stunde Zeit. Während Alwine in der Küche auf einem mächtigen Hackklotz vier Schnitzel platt haut, nimmt Opa Ewald im Flur einen Korb vom Regal.

«Ich hol uns aus dem Garten einen leckeren Salat», sagt er zu Johanna, «und ein paar Kräuter! Kommst du mit?»

Johanna schüttelt den Kopf.

«Nee, Opa. Ich möchte lieber noch ein bisschen in mein Zimmer.»

Oben legt sich Johanna auf ihr Bett. Jetzt weint sie doch ein paar Tränen. Nicht viele, vielleicht fünf oder sechs. Danach ist ihr viel leichter zumute, und als Alwine von unten ruft: «Essen ist fertig!» – da fühlt Johanna sich schon wieder ganz normal.

«Ich komme!» Sie springt aus dem Bett und läuft runter ins Esszimmer.

Opa Ewald sitzt schon auf seinem Platz. Mit den wenigen Haaren, die er noch auf seinem Kopf hat, und der weißen Serviette vor der Brust sieht er aus wie ein rosiges Baby mit einem Lätzchen. Johanna muss lachen, und der Opa lacht mit.

Dann fällt sein Blick auf Roberts Teller. Das Lachen in seinem Gesicht gefriert: Der Teller ist bereits benutzt.

«Alwine!», ruft Opa Ewald aufgebracht. «Was ist mit dem Jungen!»

«Der hat schon gegessen.» Schnaufend bringt Alwine die Schnitzel herein.

«Was?» Wütend haut der Opa mit der flachen Hand auf den Tisch. «Was heißt das: ‹Der hat schon gegessen›?»

«Du sollst nicht immer den Tisch schlagen», ermahnt Alwine den Opa sanft. «Der kann schließlich nichts dafür.»

«Robert spinnt wohl!» Opa Ewald läuft vor Wut rot an.

«Der Junge hat zu essen, wenn alle essen! Dieser Rotzlümmel!»

«Ewald!» Alwine legt dem Opa seelenruhig ein Schnitzel auf den Teller. «Ich sag dir jetzt mal was. Wenn du weiterhin so wutpinselig bist, wirst du dir bald die Radieschen von unten begucken können. Deine Brüllerei ist schlecht für dein Herz und für deine Schilddrüse. Und außerdem: Robert hatte einen Grund. Er musste zum Fußball. Und drittens: Wo hast du eigentlich die sieben Gläser mit den eingemachten Senfgurken hingeschafft?»

«Senfgurken?» Opa Ewald guckt Alwine verblüfft an.

«Na, die Senfgurken! Das Eingemachte! Bis gestern standen sie noch in der Speisekammer, und heute sind sie weg. Das versteh ich nicht.» Alwine schüttelt den Kopf, und ihre weichen Hängebacken schlackern hin und her.

«Wirst sie wohl selbst aufgegessen haben», versetzt der Opa bissig.

«Ich?» Alwine, die sich gerade zum Essen hinsetzen wollte, fährt wie von der Tarantel gestochen vom Stuhl hoch. «Was fällt dir eigentlich ein, Ewald!», stößt sie empört hervor.

«Allmählich wird mir klar, woher dein Enkel seine Frechheit hat! Von seinem Großvater nämlich!»

Im Zeitlupentempo lässt Alwine sich wieder auf ihren Stuhl zurücksinken.

«Vielleicht hat Tante Else sie mitgenommen!», mischt sich Johanna vorsichtig ein. «Als Reiseproviant!»

«Senfgurken! Ins Hotel Splendid nach Sylt!» Alwine lacht.

«Nie und nimmer!»

«Und Robert?», fragt Johanna.

«Den kannst du mit Senfgurken jagen.» Alwine schneidet ein Stück vom Schnitzel ab und steckt es in den Mund.

«Eher werde ich selbst zur Senfgurke, bevor der so ein Ding isst.»

«Eine gewisse Ähnlichkeit ist da ja schon vorhanden.» Opa Ewald funkelt Alwine angriffslustig an.

«Ähnlichkeit? Was für eine Ähnlichkeit?», fragt Alwine misstrauisch.

«Na – zwischen einer Senfgurke und dir!», meint der Opa launig.

Johanna hält die Luft an. Alwine sieht aus, als ob sie vor Wut gleich platzt. Mit großen Spiegeleier-Augen guckt sie Opa Ewald an, und ihre Unterlippe zittert gefährlich.

«Alwinchen», sagt Opa Ewald schnell. Er scheint zu merken, dass er zu weit gegangen ist. «War doch nicht so gemeint.» Er greift nach Alwines Hand und tätschelt sie liebevoll.

Alwine wirft Johanna einen kurzen Seitenblick zu und lächelt säuerlich.

Das weitere Essen verläuft schweigend. Kaum sind die Teller leer, räumt Alwine geräuschvoll das Geschirr zusammen und geht damit in die Küche.

«Gibt es jetzt noch Kaffee und Kuchen?», ruft der Opa hinter ihr her.

«Kaffee und Kuchen gibt es um vier!», brüllt Alwine durch die angelehnte Tür. «Wenn du jetzt Kaffee willst, Ewald, dann mach ihn dir gefälligst selbst!»

Krachend fällt die Küchentür ins Schloss.

«Ist sie jetzt richtig sauer?», fragt Johanna ängstlich.

«Nee», flüstert Opa Ewald, «sie hat bloß ihren Rappel. Das geht vorbei. Und wir zwei, wir gehen jetzt in die Johannisbeeren.»

Drittes Kapitel,

in dem Johanna einige höchst merkwürdige Entdeckungen macht, Opa Ewald sich so aufregt und ärgert, dass es Scherben gibt, und in dem Robert einen Automaten ausräubert

Opa Ewalds Garten ist riesig, er reicht bis hinunter an das Ufer der Fulda.

«Siehst du, Johanna», Opa Ewald deutet in das verwilderte Grün, «das ist mein Dschungel.»

Und so sieht es hier auch wirklich aus. Hüfthohes Gras, Unmengen Unkraut, knorrige Bäume und eine verfallene Hütte. Auf einem wackeligen Holztisch steht eine Schüssel Himbeeren, über der ganze Heerscharen von Wespen kreisen.

«Und das hier», Opa Ewald führt Johanna zu einigen liebevoll angelegten Beeten, «das ist mein Gemüsegarten. Hier gibt es Kartoffeln, Salat und Tomaten.» Der Opa bückt sich, pflückt eine pralle Tomate und hält sie Johanna unter die Nase.

«Knackig wie ein Weiberar …» Der Opa hält erschrocken inne. «Äh … wie ein Babypopo sind meine Tomaten, haha!»

Johanna grinst und nimmt die Plastikschüssel, die der Opa ihr hinhält.

Kurz darauf sitzt sie auf einer alten Bierkiste zwischen den Johannisbeersträuchern und pflückt. Der Opa sitzt ein Stückchen weiter auf einem Campinghocker, pflückt auch und singt dabei vor sich hin: «Ich steh im Regen und warte auf dich …»