Frau Komachi empfiehlt ein Buch - Michiko Aoyama - E-Book
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Frau Komachi empfiehlt ein Buch E-Book

Michiko Aoyama

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Beschreibung

Der Bestseller aus Japan: eine Bibliothekarin, die verborgene Wünsche erkennt. Lektüre, die Leben verändert. Ein Buch, das großes Leseglück beschert. «Wonach suchen Sie?» Diese Frage stellt Sayuri Komachi allen Besuchern in ihrer kleinen Gemeindebibliothek in Tokio. Und sie meint die Frage durchaus im übertragenen Sinne. Denn die weise Bibliothekarin spürt genau, wonach die Menschen im Leben suchen: von der rastlosen Verkäuferin, die mit ihrem Job hadert, dem schüchternen Buchhalter, der davon träumt, ein Antiquitätengeschäft zu eröffnen, oder der frischgebackenen Mutter, die sich zwischen Beruf und Familie aufreibt … Sie alle befinden sich in einer Sackgasse. Und alle führt es früher oder später zu Frau Komachi in die Bibliothek. Ihre überraschenden Buchempfehlungen haben ungeahnte Folgen. Die Lektüre entpuppt sich als Katalysator für eine andere Denkweise und eröffnet neue Wege. Und letztlich hilft sie den Besuchern, ihre aktuelle Lebenskrise zu meistern. Denn Frau Komachi weiß: Bücher haben magische Kräfte und sind eine verlässliche Quelle der Inspiration. Fünf Geschichten, fünf Schicksale – von persönlichen Umwegen, mutigen Entscheidungen und der heilenden Kraft der Bücher. 

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Michiko Aoyama

Frau Komachi empfiehlt ein Buch

Roman

 

 

Aus dem Japanischen von Sabine Mangold

 

Über dieses Buch

Eine Bibliothekarin, die verborgene Wünsche erkennt.

Bücher, die Leben verändern.

Eine Lektüre, die inspiriert.

«Wonach suchen Sie?» Diese Frage stellt Sayuri Komachi allen Besuchern in ihrer kleinen Gemeindebibliothek in Tokio. Und sie meint die Frage durchaus im übertragenen Sinne. Denn die weise Bibliothekarin spürt genau, wonach die Menschen im Leben suchen: von der rastlosen Verkäuferin, die mit ihrem Job hadert, dem schüchternen Buchhalter, der davon träumt, ein Antiquitätengeschäft zu eröffnen, oder der frischgebackenen Mutter, die sich zwischen Beruf und Familie aufreibt … Sie alle befinden sich in einer Sackgasse. Und alle führt es früher oder später zu Frau Komachi in die Bibliothek. Ihre überraschenden Buchempfehlungen haben ungeahnte Folgen. Die Lektüre entpuppt sich als Katalysator für eine andere Denkweise und eröffnet neue Wege. Und letztlich hilft sie den Besuchern, ihre aktuelle Lebenskrise zu meistern. Denn Frau Komachi weiß: Bücher haben magische Kräfte und sind eine verlässliche Quelle der Inspiration.

Der Bestseller aus Japan: fünf Geschichten, fünf Schicksale – von persönlichen Umwegen, mutigen Entscheidungen und der heilenden Kraft der Bücher.

Vita

Michiko Aoyama, geboren 1970 in der Präfektur Aichi in Honshu (Japan), lebt heute in Yokohama. Nach ihrem Universitätsabschluss arbeitete sie für eine japanische Zeitung in Sydney. Nach ihrer Heimkehr war sie zunächst als Zeitschriftenredakteurin in einem Tokioter Verlag tätig, bevor sie sich ganz dem literarischen Schreiben widmete. «Frau Komachi empfiehlt ein Buch» ist in Japan ein Bestseller und erscheint in über zwanzig Ländern.

Sabine Mangold, geboren 1957, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Japanologie. Sie hat zahlreiche japanische Autorinnen und Autoren – darunter Haruki Murakami, Yoko Ogawa und Kazuaki Takano – ins Deutsche übertragen. Für ihre langjährige Arbeit wurde sie 2019 mit dem Übersetzerpreis der Japan Foundation ausgezeichnet.

Impressum

Die japanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel «Osagashimono wa toshoshitsu made» bei POPLAR Publishing Co., Ltd.

German language translation rights arranged with POPLAR Publishing Co., Ltd. 

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Osagashimono wa toshoshitsu made» Copyright © 2020 by Michiko Aoyama. All rights reserved

Redaktion Heike Brillmann-Ede

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg, nach dem Entwurf von Garzanti, IT, Design: Stefano Rossetti

ISBN 978-3-644-01473-2

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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www.rowohlt.de

Kapitel 1

Tomoka, 21 Jahre, Verkäuferin

«Ich habe einen Freund», lautete Sayas SMS.

«Was ist er denn für ’n Typ?», schrieb ich zurück.

«Arzt», antwortete sie lapidar.

Obwohl meine Frage eher auf seinen Charakter und sein Aussehen abzielte, war sie nicht darauf eingegangen, sondern hatte bloß seinen Beruf erwähnt. Dabei gibt es vielerlei Ärzte. Aber es ist eine fixe, leicht verständliche Art, einen Menschen zu beschreiben. Ein Beruf ist wie eine Rolle, wie ein Darsteller, der die Person repräsentiert. Zugegeben, auch ich meine jemanden bereits ein wenig zu kennen, wenn ich höre, er sei Arzt. Selbst wenn es ein Klischee ist.

Für mich stellt sich dann auch die Frage, inwieweit mein Beruf mich in den Augen der anderen charakterisiert. Wird jemand, der mich eigentlich nicht kennt, dadurch das Gefühl haben, über mich Bescheid zu wissen?

Auf dem Display meines Smartphones, vor einem himmelblauen Hintergrund, berichtete Saya mir nun doch noch haarklein, wie sie ihre neue Eroberung auf einer Party kennengelernt hat.

Saya ist eine gute Freundin aus meiner Heimatstadt, und sie wohnt immer noch dort. Wir kennen uns aus der Schule. Seitdem ich in Tokio arbeite, meldet sie sich ab und zu bei mir.

«Und wie steht’s bei dir, Tomoka?»

Ihre Frage ließ mich kurz innehalten. Hm, nun ja … Ich tippte los und schickte aus Versehen den erstbesten Vorschlag meines Handys ab: «Es geht mir gut.» In Wahrheit wollte ich antworten: «Es geht mir nicht besonders.»

 

Ich arbeitete im Eden, einem Kaufhaus, das nach dem Paradies benannt ist. In schwarzer Weste und engem Rock bediente ich Tag für Tag Kunden oder stand an der Kasse. Im Frühling und Sommer genauso wie in diesem Herbst und sicher auch im kommenden Winter. Die sechs Monate seit meinem Arbeitsbeginn nach dem College waren wie im Flug vergangen.

Jetzt im November, im überheizten Laden und in den engen Pumps, dazu noch in Strümpfen, kochten meine Füße. Ich spürte, wie die zusammengepressten, verschwitzten Zehen litten.

Im Prinzip sehen uniformierte Angestellte ja überall gleich aus, das Besondere an der Arbeitskluft im Eden ist die korallenrote Bluse. Oder sie ist pfirsichfarben, mit einem Stich ins Orange. Während meiner Einarbeitung wurde mir gesagt, dass diese Farbnuance von einem berühmten Farbberater ausgetüftelt wurde. Sie sei nicht nur freundlich und schmeichele, sondern «stehe Frauen jeden Alters», was mich zu Beginn meiner Arbeit vollends überzeugt hat.

«Fujiki-san, ich bin wieder da. Sie können jetzt zur Pause», sagte Frau Numauchi, eine Teilzeitkraft, als sie an die Kasse zurückkehrte. Ihre frisch geschminkten Lippen schimmerten.

Ich bin der Abteilung für Damenoberbekleidung zugeteilt worden. Frau Numauchi gilt als alter Hase im Geschäft, sie ist seit zwölf Jahren in diesem Haus beschäftigt und erzählte mir, dass sie letzten Monat einen «Schnapszahl-Geburtstag» gefeiert habe. Sie dürfte weder vierundvierzig noch sechsundsechzig sein, sondern vermutlich fünfundfünfzig. Also im gleichen Alter wie meine Mutter.

Tatsächlich stand die korallenrote Bluse auch Frau Numauchi ausgezeichnet. Das farbenfrohe Stück war wohl entworfen worden, weil die überwiegende Anzahl der in Teilzeit angestellten Frauen mittleren Alters war.

«Fujiki-san, in letzter Zeit kommen Sie immer reichlich knapp von der Pause. Achten Sie bitte darauf!»

«Äh … tut mir leid.»

Frau Numauchi hatte eine Art führende Rolle innerhalb der Teilzeit-Belegschaft und benahm sich gern wie eine Zuchtmeisterin.

Ganz schön pingelig, dachte ich, aber ich wollte ihr nicht widersprechen. «Also, dann gehe ich jetzt.» Mit einer knappen Verbeugung verließ ich meinen Platz an der Kasse. Unterwegs bemerkte ich ein paar schlampig hingeworfene Kleidungsstücke auf der Verkaufsfläche und wollte gerade danach greifen, als hinter mir eine Stimme ertönte.

«Hallo, kommen Sie doch mal!»

Ich drehte mich um und bemerkte eine Kundin, etwa im gleichen Alter wie Frau Numauchi. Sie war ungeschminkt und trug eine abgewetzte Daunenjacke und einen schäbigen Rucksack.

«Welchen soll ich nehmen?»

Sie hielt einen fuchsienroten Pulli mit V-Ausschnitt und einen braunen mit Rollkragen hoch.

Anders als in einem Fachgeschäft war ich nicht dazu verpflichtet, die Initiative zu ergreifen, aber wenn mich Kundinnen etwas fragten oder um Rat baten, musste ich natürlich reagieren.

Ich hätte dem Durcheinander einfach keine Beachtung schenken, sondern in meine Pause gehen sollen, dachte ich bei mir, während ich die beiden Teile miteinander verglich.

«Tjaaa …», sagte ich und zeigte dann auf den fuchsienroten Pullover. «Den da finde ich schicker.»

«Ist der nicht zu auffällig für mich?»

«Aber nein, ganz und gar nicht. Wenn Sie jedoch lieber etwas Dezenteres möchten, dann ist der braune auch nicht schlecht. Und der wärmt Sie schön am Hals.»

«Schon, aber darin sehe ich vielleicht zu unscheinbar aus.»

«Möchten Sie ihn anprobieren?», forderte ich sie auf.

Das sei ihr zu umständlich, erwiderte sie.

Dieses fruchtlose Frage-und-Antwort-Spiel setzte sich fort.

Einen Seufzer unterdrückend, legte ich schließlich meine Hand auf das fuchsienrote Teil. «Ich denke, dass Ihnen diese Farbe sehr gut stehen würde.»

Das schien den Knoten zu lösen.

«Meinen Sie?» Die Kundin starrte den Pulli noch eine Weile an, bevor sie mich anschaute. «Na gut, dann werde ich wohl den nehmen», sagte sie schließlich und stellte sich an der Kasse an.

Ich legte den braunen Rolli zusammen und sortierte ihn wieder ein. Von meiner dreiviertelstündigen Pause hatte ich nun bereits fünfzehn Minuten verplempert.

Als ich durch den Personaleingang nach hinten ging, kam mir eine Verkäuferin von der Young-Fashion-Abteilung entgegen. Ihr schicker Glockenrock – moosgrün und weiß kariert – schwang um ihre Beine. Wir arbeiteten zwar auf derselben Etage, aber die Frauen aus den Boutiquen waren immer superstylish gekleidet. Vermutlich trugen sie die Klamotten, die sie dort auch verkauften. Mit ihrer zu Haarschnecken gedrehten Frisur und der Bluse im Country Style vermochte eine jugendliche Verkäuferin wie sie sogar dem Kaufhaus Eden einen exquisiten Touch zu verleihen.

Ich ging in den Umkleideraum, um meinen Snack für die Pause aus dem Spind zu holen, und lief anschließend zur Cafeteria. Das Essensangebot fürs Personal besteht aus Soba-Nudeln, Udon und Curry, dazu gibt es wöchentlich wechselndes Frittiertes.

Ich hatte ein paarmal dort gegessen, doch seitdem mir eine der Kantinenangestellten einmal ein falsches Gericht vorgesetzt hatte, dann allerdings total barsch reagierte, als ich sie auf ihren Irrtum hinwies, ging ich höchst ungern dorthin. Stattdessen kaufte ich mir meistens auf dem Weg zur Arbeit ein Sandwich im Supermarkt, das ich in der Pause in der Kantine aß.

Korallenrot beherrschte die Szenerie. Zwischendurch blitzte hier und da das weiße Oberhemd eines männlichen Mitarbeiters auf oder ein fescher Dress aus einer der Boutiquen.

Ich suchte mir einen Platz und packte mein Sandwich und meine Erdbeermilch aus. Vom Tisch nebenan ertönte schallendes Gelächter. Vier Frauen, uniformierte Teilzeitbeschäftigte, saßen zusammen und ließen sich über ihre Ehemänner und Kinder aus. Sie amüsierten sich. Aus Sicht der Kunden gehörte ich wahrscheinlich ebenso zum «korallenroten Team», aber um ehrlich zu sein, grauste mir vor den anderen. Ich fühlte mich ihnen ständig unterlegen, weil ich ohnehin nicht mit ihnen mithalten konnte. Deshalb beobachtete ich sie lieber aus sicherer Entfernung. Ich war nun einmal anders als sie.

Es gab sowieso nur einen Grund, weshalb ich im Eden arbeitete. Es war das einzige Unternehmen, das mir eine Stelle zugesagt hatte. Sonst hatte es nirgendwo geklappt. Ich war zwar nicht gerade auf diese Stelle erpicht gewesen. Da ich aber sowieso keinen Einfluss darauf nehmen konnte, war es mir schließlich egal, wo ich einen Job bekam.

Nach etwa dreißig Fehlschlägen war ich total am Ende gewesen. Als dann die Zusage vom Eden kam, willigte ich sofort ein, ohne mich noch länger um einen anderen Arbeitsplatz zu bemühen. Für mich war eh nur entscheidend, in Tokio zu leben. Allerdings hatte ich auch gar nicht vor, hier Großartiges zu vollbringen. Mir ging es mehr darum, nicht aufs Land zurückzumüssen.

In meiner Heimat, fernab von hier, gibt es Reisfelder, Reisfelder und noch mal Reisfelder, so weit das Auge reicht. Der einzige Lebensmittelladen weit und breit liegt an der Hauptverkehrsstraße, eine Viertelstunde mit dem Auto von meinem Elternhaus entfernt. Zeitschriften landen erst mit einigen Tagen Verspätung in den Regalen, es gibt weder Kinos noch Modeboutiquen. So etwas wie ein Restaurant existiert auch nicht, das Höchste der Gefühle, wenn man außer Haus essen möchte, ist ein Imbiss.

Diese Tristesse ödete mich schon seit der Schulzeit an, und ich wollte so bald wie möglich weg von zu Hause.

Zu Hause können wir lediglich vier Fernsehkanäle empfangen, trotzdem beeinflussten die TV-Dramen mich stark. Wenn ich doch nur in Tokio wäre, so stellte ich mir vor, dann könnte ich wie die Stars leben – stilvoll, aufregend, an einem Ort, wo es alles in Hülle und Fülle gibt. Also büffelte ich eifrig, um die Aufnahmeprüfung an einem Tokioter College zu bestehen.

Nach meiner Ankunft wurde mir allerdings schnell klar, dass es sich um eine große Illusion gehandelt hatte. Trotzdem blieb Tokio zumindest in der Hinsicht ein traumhafter Ort, als dass man überall fußläufig in fünf Minuten einen Supermarkt finden konnte und alle drei Minuten eine Bahn kam. So waren Artikel für den täglichen Bedarf und Fertiggerichte jederzeit und überall erhältlich. Ich gewöhnte mich schnell an diesen Komfort.

Das Eden ist mit mehreren Filialen in der Kantō-Region vertreten und der mir zugewiesene Arbeitsplatz nur eine Bahnstation von meinem Domizil entfernt, sodass die Anfahrt sehr bequem für mich war.

Manchmal quälte mich allerdings die Frage, wie es weitergehen soll.

Denn die Begeisterung für Tokio und die Aufregung, die ich verspürte, als mein Traum wahr wurde, sind längst verflogen. Kaum jemanden aus meiner Heimatregion würde es hierher verschlagen, gleichwohl fanden alle mein Vorhaben cool. So bin ich voller Optimismus aufgebrochen, am Ende ist es hier aber ganz und gar nicht «cool». Weder gibt es etwas, für das ich hier brenne oder das ich wirklich genießen könnte, noch habe ich einen Partner. Es geht eigentlich nur darum, kein unbequemes Leben mehr zu führen. Ich wüsste auch gar nicht, was ich auf dem Land anstellen sollte.

Also werde ich wohl im Eden hängen bleiben und hier alt werden. Ohne Ziel, ohne Träume, einfach nur in Korallenrot alt werden. Und da ich auch an den Wochenenden arbeiten muss, kann ich so gut wie keine Kontakte knüpfen und lebe deshalb allein.

Sollte ich vielleicht doch den Arbeitsplatz wechseln?

Dieser Gedanke ist mir schon öfter durch den Kopf gegangen. Aber das wäre so ein wahnsinniger Aufwand, nein, dazu fehlt mir die nötige Kraft. Ich habe null Energie. Derzeit wäre ich sogar damit überfordert, meinen Lebenslauf zu verfassen. Und gäbe es überhaupt einen halbwegs akzeptablen Job für eine wie mich, die direkt nach dem College nur vom Eden eine Zusage erhalten hat?

«Hey, Tomoka-chan», rief eine männliche Stimme.

Es war Kiriyama, der ein Tablett in der Hand trug. Er ist fünfundzwanzig, also vier Jahre älter als ich, und arbeitet am Brillenstand von ZAZ. Kiriyama ist der Einzige im Betrieb, mit dem ich offen reden kann. Er hat vor vier Monaten hier angefangen. Da er bei ZAZ und nicht beim Eden angestellt ist, wird er hin und wieder auch an anderen Standorten eingesetzt, sodass wir schon längere Zeit nicht mehr miteinander gesprochen haben.

Auf seinem Tablett befand sich das Tagesgericht: frittierte Makrelen und Nudelsuppe mit Fleischeinlage. Für seinen großen Appetit ist er ziemlich schlank.

«Darf ich?»

«Klar.»

Er nahm mir gegenüber Platz. Die runde Brille mit der schmalen Fassung stand ihm gut, betonte seinen warmen Blick. Sein Job passt wirklich perfekt zu ihm. Ich hatte aber irgendwann zufällig mitbekommen, dass er früher woanders gearbeitet hat.

«Kiriyama-kun, was hast du eigentlich vorher gemacht?», fragte ich.

«Was, ich? Ich war im Verlagswesen. Habe Beiträge für Zeitschriften redigiert und selbst Artikel geschrieben.»

«Echt?»

Ich staunte. Er hatte also als Redakteur gearbeitet? Ich hätte ihn mir gar nicht in einem Verlagshaus vorstellen können, aber nun entpuppte sich dieser sanftmütige, sympathische Mann als gebildet und intellektuell. Seltsam, wie sehr der Beruf, auch wenn er in der Vergangenheit ausgeübt wurde, das Image eines Menschen ausmacht.

«Wieso überrascht dich das?»

«Na, das ist doch bestimmt ein cooler Job gewesen.»

Kiriyama kicherte, während er seine Nudeln schlürfte. «Nun, Optiker zu sein ist auch ein ‹cooler› Beruf, oder?»

«Stimmt.» Ich musste ebenfalls kichern und biss in mein Sandwich.

«Tomoka-chan, du benutzt das Wort ‹cool› sehr oft.»

«Ach, wirklich?», sagte ich.

Das mag schon sein. Mir fällt ein, dass ich, als Saya mir von ihrem neuen Freund berichtet hat, mehrmals das Wort «cool» benutzt habe. Ich weiß selbst nicht so genau, was ich so alles für cool halte. Ein spezielles Talent oder eine Fülle an Wissen? Oder besondere Fähigkeiten, die nicht jedermann hat?

«Ob ich im Eden enden werde?», murmelte ich, während ich an meiner Erdbeermilch nippte.

Kiriyama hob eine Augenbraue. «Was ist denn los? Willst du umsatteln und dir eine neue Arbeit suchen?»

Ich zögerte kurz. «Na ja, in letzter Zeit denke ich manchmal darüber nach», erwiderte ich leise.

«Wieder als Verkäuferin?»

«Hm-hm, ich möchte lieber in einem Büro arbeiten. Ohne Uniform, an meinem eigenen Arbeitsplatz, und sonntags hätte ich frei. Mit den Kollegen würde ich mittags in einem Imbiss um die Ecke lunchen und in der Teeküche über die Vorgesetzten herziehen.»

«Ich sehe nirgendwo konkrete Arbeitsszenen …» Kiriyama lachte trocken.

Zugegeben, es war mir selbst nicht so recht klar, was mir vorschwebte.

«Tomoka-chan, als Angestellte kannst du dich doch hocharbeiten. Wenn du ein paar Jährchen durchhältst, kommst du vielleicht in ein Büro in der Zentrale.»

«Da ist was dran.»

Bei Eden war es üblich, dass man nach Arbeitsantritt erst einmal drei Jahre im Verkauf arbeiten musste. Gewiss konnte man die Karriereleiter hochklettern und nach diesen drei Jahren einen Wechsel in die Zentrale beantragen. Mir war aber zu Ohren gekommen, dass solch ein Gesuch bisher nur selten bewilligt wurde. Das Wahrscheinlichste ist die Beförderung zur Abteilungsleiterin, wenn man sich im Kundenservice bewährt hat. Dies war bei Herrn Uemura, meinem höchst unmotiviert wirkenden Chef, der Fall. Er leitete seit fünf Jahren die Abteilung. Wenn ich ihn mir aber ansehe mit seinen fünfunddreißig Jahren, frage ich mich, ob es das bringt, selbst wenn alles wie am Schnürchen laufen sollte. Auch nach der Beförderung blieb seine Tätigkeit inhaltlich in etwa die Gleiche. Nur sein Verantwortungsbereich wurde größer, und er muss vor allem sämtliche Teilzeitkräfte organisieren. Allein bei dem Gedanken daran grauste es mir. Mir fehlt das Selbstvertrauen für eine Stelle, auf der ich mehr Verantwortung tragen muss.

«Wie hast du denn deine Stelle bei ZAZ bekommen?», fragte ich Kiriyama.

«Ich habe eine spezielle Website gefunden, die beim Berufswechsel hilft. Diese Websites gibt es haufenweise.»

Kiriyama zückte sein Smartphone, öffnete eine entsprechende Seite und zeigte sie mir. Auf einem Formular werden Berufswünsche und andere Parameter sowie eigene Erfahrungen und Fähigkeiten angegeben. Daraufhin erhält man eine E-Mail mit entsprechenden Stellenangeboten, die darauf zugeschnitten sind. Der Fragebogen ist ziemlich detailliert und fragt nach Qualifikationen, der Punktzahl beim englischen Sprachtest TOEFL, der Fahrerlaubnis und so weiter. Alle Angaben sind in entsprechenden Kästchen anzukreuzen.

«Ich weiß nicht, ob ich qualifiziert genug bin. Im Englisch-Leistungstest habe ich bloß eine Drei.»

Und ich hätte mal besser meinen Führerschein machen sollen, fügte ich in Gedanken hinzu. Die Leute in meinem Heimatstädtchen machen ihn in der Regel direkt nach dem Schulabschluss in den Frühjahrsferien, da sie ohne Auto nicht existieren können. In dem Glauben, ich bräuchte keinen, weil ich eh vorhatte, nach Tokio umzuziehen, habe ich die Gelegenheit versäumt. Und was meine Englischkenntnisse angeht, so war es auf der Mittelschule zwar Pflicht, einen Test abzulegen, aber mit der Note Drei habe ich keine guten Chancen.

Als ich das Formular nochmals durchsah, stellte ich fest, dass EDV-Kenntnisse besonders detailliert abgefragt werden: das ganze Programm – Word, Excel, PowerPoint. Damit hatte ich noch nie gearbeitet. Okay, ich besitze einen Laptop. In meiner Collegezeit habe ich darauf Berichte und meine Diplomarbeit geschrieben. Aber seit meiner Anstellung bei Eden habe ich nicht mehr am Computer gearbeitet. Irgendwann ist dann der Router kaputtgegangen, woraufhin ich mir zwar einen neuen gekauft, es aber nicht allein geschafft habe, ihn WLAN-tauglich zu machen. Eigentlich benutze ich derzeit gar keinen Computer, mir reicht mein Smartphone. Mit dem kann ich alles erledigen.

«Also, Word beherrsche ich so weit, dass ich Texte tippen kann, aber mit Excel kenne ich mich nicht aus.»

«Wenn du im Büro arbeiten willst, solltest du schon mit Excel umgehen können. Und dafür brauchst du gar keine spezielle Schule. Auch in Gemeindehäusern oder Bürgerzentren werden solche Kurse angeboten. Das sind kostengünstige Computerlehrgänge für Anwohner.»

«Wirklich?»

Ich knüllte die Brötchentüte zusammen und warf einen Blick auf meine Uhr. Nur noch knapp zehn Minuten. Eigentlich wollte ich noch auf Toilette gehen, wenn ich aber nicht rechtzeitig drei Minuten vor Schichtbeginn an der Kasse erschiene, würde Frau Numauchi wieder sauer auf mich sein.

Ich bedankte mich bei Kiriyama, trank die Erdbeermilch aus und stand auf.

 

Am Abend gab ich bei der Stichwortsuche auf dem Smartphone Hatori-ku, den Namen des Bezirks, in dem ich wohnte, sowie die Begriffe Anwohner und Computerlehrgang ein. Zu meiner Überraschung erschienen zahlreiche Einträge. Das Hatori-Gemeindezentrum sprang mir sofort ins Auge. Der Adresse nach befand es sich ganz in der Nähe. Die Einrichtung gehörte zu einem Grundschulkomplex, knapp zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt. Auf der entsprechenden Website wurden verschiedene Kurse angeboten: japanisches Schach, Haiku, Hula-Tanz, Gymnastik. Auch Ikebana und andere Workshops fanden sich relativ häufig im Programm. Die Teilnahme an diesen Veranstaltungen stand allen Anwohnern aus Hatori offen.

Komisch, dass es solch ein reichhaltiges Angebot in einer einzigen Grundschule geben sollte. Ich wohnte bereits seit drei Jahren hier im Viertel und hatte keine Ahnung davon.

Der Computerlehrgang fand mittwochs von 14:00 bis 16:00 Uhr statt. Ein Laptop sei mitzubringen oder auszuleihen. Die Kursgebühr für eine Unterrichtseinheit betrug zweitausend Yen. Es handele sich um eine Privatstunde, man könne jederzeit einsteigen. Ich war nur froh, dass sie nicht am Wochenende stattfand. Und in dieser Woche lag meine Schicht glücklicherweise so, dass ich am Mittwoch freihatte.

Weiter hieß es: «Anfänger sind herzlich willkommen. Der Unterricht wird dem eigenen Tempo angepasst. Der Dozent wird Sie dabei individuell anleiten. Sie lernen, einen Laptop zu bedienen, Word, Excel sowie das Erstellen einer eigenen Homepage bis hin zum Programmieren. Kursleiter: Gonno.»

Das könnte durchaus was für mich sein …

Ich öffnete das Onlineformular und füllte es aus. Allein bei der Vorstellung, Excel zu beherrschen, war ich aufgeregt wie schon lange nicht mehr.

 

Zwei Tage später, am Mittwoch, suchte ich die Grundschule auf, meinen Laptop im Gepäck. Laut Wegbeschreibung im Internet musste man den ganzen Komplex umrunden, um über einen schmalen Zugang in das Gemeindehaus zu gelangen. Es war ein einstöckiges helles Gebäude. Der überdachte Eingang trug die Aufschrift Hatori-Gemeindezentrum.

Ich öffnete die Glastür und stand sogleich an der Rezeption, wo mich ein älterer Herr mit einem vollen weißen Haarschopf empfing. Im Zimmer hinter ihm saß eine ältere Frau, die ein Hachimaki-Stirnband trug, am Schreibtisch und erledigte offenbar Büroarbeiten.

Ich wandte mich an den Mann. «Ich komme wegen des Computerlehrgangs.»

«Guten Tag. Ja, bitte tragen Sie sich hier ein.»

Er verwies auf eine Liste in dem aufgeschlagenen Ordner vor ihm, in der die Namen der Besucher sowie Zweck und Dauer ihres Aufenthalts vermerkt wurden.

Saal A befand sich im Erdgeschoss. Gleich hinter der Rezeption war eine Art Lobby, wo ich rechts abbiegen musste. Und da lag er schon, der Kursraum. Die Schiebetür war offen, und ich konnte hineinsehen. Eine Frau mit Wuschelmähne, etwas älter als ich, und ein Typ mit kantigem Gesicht saßen sich an einem langen Tisch gegenüber, die Laptops aufgeklappt vor ihnen. Während ich einen männlichen Kursleiter erwartet hatte, entpuppte sich Dozent Gonno als eine Frau um die fünfzig.

«Fujiki», stellte ich mich vor.

Mit einem herzlichen Lächeln sagte sie: «Bitte nehmen Sie Platz, wo es Ihnen gefällt.»

Ich setzte mich auf die Seite, an der die Frau saß, aber ans äußerste Ende. Sie und der männliche Teilnehmer waren so in ihre Tätigkeit vertieft, dass sie mich gar nicht beachteten.

Ich öffnete meinen Laptop und schaltete ihn ein. Es dauerte ein Weilchen, bis er hochgefahren war. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr benutzt, vermutlich war der Akku nicht richtig aufgeladen. Trotzdem schien er zu funktionieren. Allerdings fiel es mir schwer, auf einer echten Tastatur zu tippen, da ich ständig mein Smartphone benutzte. Vielleicht sollte ich mich auch noch einmal mit Word befassen?

«Sie möchten Excel lernen, nicht wahr, Fujiki-san?»

«Ja, genau.» Das hatte ich bei meiner Anmeldung angekreuzt. «Aber ich habe das Programm nicht.»

Frau Gonno starrte auf das Display meines Laptops und bewegte minimal die Maus. «Doch, Sie haben Excel. Ich mache einen Shortcut.»

Am Rand des Bildschirms erschien das grüne quadratische Symbol mit dem X für Excel.

Ich staunte. Demnach war das Programm auf meinem Computer versteckt gewesen.

Sie lächelte. «Word war geöffnet. Deshalb dachte ich mir, dass Sie das ganze Office-Paket haben müssten.»

Office? Ein Büro? Ich wusste nicht, was sie meinte, aber ich war erst mal erleichtert. Auf dem College hatte ich einem Kommilitonen das Einrichten von Word überlassen. Das hatte ich nun davon.

 

In den nächsten beiden Stunden gab mir die Dozentin eine Einführung in Excel. Ab und zu ging sie auch zu den anderen beiden Schülern, schenkte mir als Neuling jedoch besondere Aufmerksamkeit. Am meisten überraschte mich, dass man die Summe einer eingerahmten Zahlenkolonne mit einem einzigen Tastendruck ermitteln konnte.

«Cool!», rief ich laut, worauf die Dozentin lachte.

Während ich nach ihrer Anleitung übte, kümmerte sich Frau Gonno um die beiden anderen. Sie waren schon einige Male im Kurs gewesen. Soweit ich das verstanden hatte, bastelte der Mann an einer Homepage für Wildblumen, und die Frau war dabei, einen Onlineshop auf die Beine zu stellen.

Das beschämte mich noch mehr. Während ich meine Zeit vertrödelt hatte, eigneten sich diese Menschen ein viel komplexeres Wissen an.

Gegen Ende des Unterrichts wandte sich die Dozentin an mich. «Ich habe keine schriftliche Anleitung vorbereitet, aber ich kann Ihnen diesen Ratgeber empfehlen.» Freundlich lächelnd hielt sie mir ein Computer-Handbuch hin. «Sie können es sich in der Bibliothek ausleihen oder im Buchhandel kaufen, falls sie ein eigenes Exemplar benutzen wollen.» Dann fügte sie noch hinzu: «Hier im Gemeindehaus gibt es übrigens auch eine Bücherei.»

Eine Bücherei – wie nostalgisch das klang. Ich fühlte mich in meine Schulzeit zurückversetzt.

«Jeder, der hier im Bezirk seinen Wohnsitz hat, kann Bücher ausleihen. Bis zu sechs Titel, für einen Zeitraum von vierzehn Tagen, glaube ich.»

Der Mann bat die Dozentin zu sich, und sie wechselte an die andere Tischseite. Ich notierte mir den Titel des Handbuchs, klappte meinen Laptop zu und verabschiedete mich.

 

Die Bücherei befand sich im Erdgeschoss, neben einer Teeküche und hinter zwei Versammlungsräumen und einem mit Matten ausgelegten Zimmer im japanischen Stil – ein Tatami-Raum. An der Wand über dem Eingang hing ein Schild mit den drei Zeichen To-sho-shitsu für Bibliothek. Die Schiebetür stand weit offen.

Ich spähte hinein. Der Raum hatte die Größe eines Klassenzimmers und war mit Bücherregalen ausgestattet.

Gleich links befand sich eine Art Tresen mit einem Hinweisschild Ausleihe und Rückgabe.

Ein zierliches Mädchen in einer dunkelblauen Schürze war gerade dabei, Bücher in die Regale einzusortieren. Ich sprach sie direkt an.

«Verzeihen Sie bitte, wo finde ich hier Computer-Handbücher?»

Ihr Kopf zuckte hoch, und sie schaute mich erstaunt an. Sie wirkte so jung wie ein Teenager. Ihr Pferdeschwanz wippte, und am Brustlatz ihrer Schürze steckte ein Namensschild: Nozomi Morinaga.

«Den Computer-Bereich finden Sie hier.» Sie führte mich, einige Bände nach wie vor in der Hand haltend, an einem Leseplatz vorbei zu einem geräumigen Regal. PC. Sprachen. Qualifikation – die drei Bereiche waren übersichtlich unterteilt.

«Vielen Dank.»

Als ich die Buchrücken überflog, sagte Nozomi-chan freundlich lächelnd: «Falls Sie im Katalog nachschauen wollen, wenden Sie sich bitte an die Bibliothekarin dahinten.» Sie deutete auf einen abgetrennten Bereich am Ende des Raums.

«Im Katalog?»

«Ja, wenn Sie ein bestimmtes Buch suchen, kann die Bibliothekarin darin nachschauen.»

Ich bedankte mich mit einer knappen Verbeugung. Sie deutete ein Nicken an und kehrte zu den vorderen Regalen zurück.

Zuerst durchforstete ich das PC-Regal, das von Frau Gonno empfohlene Buch war leider nicht dabei. Da ich keine Ahnung hatte, welches Buch ich stattdessen nehmen sollte, beschloss ich, die Bibliothekarin zu fragen.

Das von der Decke hängende Schild mit der Aufschrift Auskunft führte mich in den hinteren Teil des Raums. Eingezwängt zwischen der Trennwand und dem L-förmigen Tresen, thronte eine mächtige Frauengestalt. Nicht unbedingt füllig, aber ungemein groß. Eine seltsame Faszination ging von ihr aus. Sie war sehr blass, und ihr Kinn schien übergangslos in den Hals überzugehen. Zudem trug sie eine cremefarbene Strickjacke aus grober Wolle über einer beigen Schürze. Ihr Anblick erinnerte mich irgendwie an einen Eisbären, der in einer Höhle Winterschlaf hält. Ihr Haar war zu einem kleinen Dutt hochgebunden, mit einer Haarnadel darin, an deren Spitze ich drei schmucke weiße Blumen entdeckte.

Sie hatte den Kopf gesenkt und war mit etwas beschäftigt, aber ich konnte nicht erkennen, womit. Auf ihrem Namensschild stand: Sayuri Komachi.

«Entschuldigung …», sprach ich sie an und trat näher, woraufhin sie nur flüchtig aufschaute. Ich zuckte zusammen, so intensiv war ihr Blick.

Über den Tresen hinweg schielte ich auf ihre Hände, die auf einer Unterlage im DIN-A6-Format mit einer Nadel eine tischtennisballgroße Kugel malträtierten. Was trieb sie da? Voodoo?

«Äh … nichts … ist schon gut.» Ich wollte gerade einen Rückzieher machen, als sie mich ansprach.

«Wonach suchen Sie?»

Ich hielt inne. Ihre Stimme fesselte mich. Ein etwas leiernder Tonfall, aber zugleich umschmeichelnd warm. Ihre Worte, selbst ohne ein freundliches Lächeln, vermittelten mir auf wundersame Weise ein Gefühl der Sicherheit.

Wonach suchen Sie?

Tja, wonach suchte ich eigentlich? Nach dem Sinn und Zweck meiner Arbeit … Nach einer geeigneten Beschäftigung für mich … Nach einem Ziel in meinem Leben … So was in der Art.

Aber darauf würde mir die Bibliothekarin sicher keine Antwort geben können. Mir war klar, dass ihre Frage auch nicht darauf abzielte.

«Äh-m, ich suche nach einem PC-Handbuch.»

Sie zog eine kleine dunkelorangefarbene Dose zu sich heran. Es war eine Verpackung mit einem sechseckigen Zierrahmen und aufgedruckten weißen Blüten für eine Kekssorte namens Honey Dome. Die kuppelförmigen Soft-Cookies, die ich auch mag, sind ein Verkaufsschlager des Süßwarenherstellers Kuremiyadō, der sich auf Gebäck nach westlichem Rezept spezialisiert hat. Es ist zwar kein besonders kostspieliges Naschwerk, aber man kann es auch nicht im nächstbesten Supermarkt bekommen, weshalb es doch einen Hauch von Luxus verströmt.

Als sie die Keksdose öffnete, entdeckte ich darin eine kleine Schere und Nadeln. Sie benutzte die Dose offenbar als Nähkästchen.

Frau Komachi legte ihre Handarbeit beiseite und sah mich an. «Was wollen Sie denn am PC machen?»

«Zuerst will ich Excel lernen. Damit ich meine Kenntnisse bei Bewerbungen als ‹Fertigkeit› angeben kann.»

«Fertigkeit», echote Frau Komachi. «Soso.»

«Ich will mich bei einer Online-Jobbörse registrieren. Meine jetzige Arbeit befriedigt mich nicht, sie erscheint mir sinnlos.»

«Was machen Sie denn derzeit?»

«Ach, nichts Tolles. Ich verkaufe Damenoberbekleidung in einem Kaufhaus.»

Frau Komachi legte den Kopf schräg. Die Blumen auf der Haarnadel, die in ihrem Dutt steckte, glitzerten. «Finden Sie wirklich, dass Ihr Job als Verkäuferin keine sinnvolle Tätigkeit ist?»

Ich verkniff mir eine Antwort.

Frau Komachi schwieg. Sie schien ruhig abzuwarten, was ich darauf sagen würde.

«Ich meine, das kann doch jeder», erklärte ich schließlich. «Das war jedenfalls nicht der Job, der mir eigentlich vorschwebte, auf den ich Lust hatte. Ich bin da einfach reingerutscht. Aber ich muss eben Geld verdienen, ich lebe allein, und niemand unterstützt mich.»

«Aber Sie haben sich um eine Stelle beworben, sind eingestellt worden und können sich allein ernähren, nicht wahr? Darauf können Sie doch stolz sein.»

Ich musste schlucken, weil mich jemand darin bestätigte, dass ich zu etwas taugte.

«Ernähren ist gut. Ich kaufe gerade mal Sandwiches im Supermarkt.» Um zu überspielen, dass ich innerlich gerührt war, redete ich unsinniges Zeug. Auch wenn sie das sicher nicht gemeint hatte, als sie von «allein ernähren» sprach.

Diesmal kippte ihr Kopf auf die andere Seite. «Na ja, unabhängig von Ihren Motiven – ich finde es allemal gut, dass Sie etwas Neues lernen wollen.» Damit drehte sie sich zu ihrem Computer, legte die Finger auf die Tastatur und ratterte los. Mit einer Affengeschwindigkeit hämmerte sie auf die Buchstaben. Ich staunte nicht schlecht.

Als sie mit dem Tippen fertig war, hob sie leicht die Hände. Kurz darauf fing der Drucker an zu rumoren.

«Excel für Einsteiger finden Sie am besten unter diesen Signaturen.» Frau Komachi reichte mir den Ausdruck.

Auf dem Blatt stand eine Liste von Werken und Autoren. Daneben waren die jeweiligen Signaturen und Regalnummern aufgeführt. Ich las die ersten vier Titel: Einführung in Word und Excel für absolute Anfänger, Basiswissen Excel und Schnell und einfach Excel lernen – ein Praxisbuch sowie Office – leicht gemacht. Eine Einführung.

Ganz unten auf der Seite sprang mir jedoch eine seltsame Zeile entgegen: Guri und Gura.

Verblüfft starrte ich auf die fünf Silben. Guri und Gura – war damit etwa das Kinderbuch gemeint, das mit den beiden Feldmäusen?

«Ach, und das hier …» Mit diesen Worten schwang sich Frau Komachi leicht auf dem Drehstuhl herum und griff unter die Tischplatte.

Ich beugte mich erneut etwas über den Tresen und sah einen Unterschrank mit fünf Schubladen, von denen die Bibliothekarin die oberste aufgezogen hatte. Ohne Details erkennen zu können, erblickte ich einen Haufen bunter, flauschiger Objekte.

Frau Komachi fischte eins heraus und gab es mir. «Bitte sehr, das ist für Sie.»

Sie ließ etwas Leichtes auf meine reflexartig geöffnete Handfläche fallen. Ein schwarzes rundes Etwas in der Größe einer Fünfhundert-Yen-Münze.

War das etwa eine … Bratpfanne? Eine Bratpfanne aus Filz! An dem Griff war ein Metallbeschlag mit einem kleinen Ring angebracht.

«Äh … was ist das?»

«Eine Zugabe.»

«Eine … Zugabe?»

«Ja. Ist doch nett – eine Zugabe zum Buch.»

Ich starrte die kleine Pfanne an. Eine Zugabe also. Na ja, sie war tatsächlich ganz niedlich.

Frau Komachi öffnete die Honey-Dome-Dose und holte die kleine Schere und eine Nadel heraus. «Haben Sie das schon mal gemacht, Figuren zu filzen?»

«Nein, aber auf Instagram oder so habe ich das mal gesehen.»

Sie hielt mir die Nadel direkt vors Gesicht. Die Griffseite war rechtwinklig abgebogen, und an der Spitze befand sich ein winziger Widerhaken.

«Aus Schafwolle zu filzen, gleicht einem Wunderwerk. Man sticht und sticht und sticht – und irgendwann kommt ein plastisches Objekt dabei heraus. Obwohl man immer nur in die Wolle pikst, werden durch die Beschaffenheit der Nadelspitze die feinen Fasern verhakt und so modelliert, dass sie die gewünschte Form annehmen», erklärte Frau Komachi, während sie erneut die Wollkugel mit der Nadel bearbeitete.

Die Bratpfanne stammte wohl aus ihrer Bastelstube. Und in der Schublade hortete sie gewiss unzählige solcher Filzobjekte. Zum Verschenken als Beilage?

Sie war bereits wieder eifrig in ihre Handarbeit vertieft, als wollte sie mir zu verstehen geben, dass sie ihre Schuldigkeit als Bibliothekarin getan hätte. Ich hätte ihr zwar gern noch einige Fragen gestellt, aber ich wollte sie auch nicht länger belästigen und verließ den Tresen, nachdem ich mich mit einem schlichten «Danke vielmals» von ihr verabschiedet hatte.

Als Nozomi mich zu den PC-Regalen führte, wo die empfohlenen Handbücher standen, nahm ich die einzelnen Bände in die Hand, um sie zu vergleichen. Ich wählte zwei Bücher, die mir leicht verständlich erschienen.

Guri und Gura, das ebenfalls auf der Liste stand, trug eine ganz andere Signatur. Ich kannte es noch aus dem Kindergarten. Meine Mutter hatte es mir bestimmt auch mal vorgelesen. Aber wieso sollte mich heute noch ein Bilderbuch interessieren? Hatte sich Frau Komachi vielleicht vertippt?

Für die Aufbewahrung der Bilder- und Kinderbücher waren die niedrigen Regale am Fenster vorgesehen. Der Boden war mit Schaumstoffplatten ausgelegt, man musste davor die Schuhe ausziehen.

Umgeben von all den drolligen Kinderbüchern, fühlte ich mich pudelwohl.

Es gab drei Exemplare von Guri und Gura. Der beliebte Kinderbuch-Klassiker wurde sicher oft ausgeliehen … Sollte ich es tatsächlich mitnehmen? Na, für umsonst.

Ich trug die beiden PC-Ratgeber und das Bilderbuch zu dem Ausleihtresen, an dem Nozomi saß. Anhand meiner Krankenversicherungskarte stellte sie mir einen Büchereiausweis aus, so konnte ich die drei Titel ausleihen.

 

Auf dem Heimweg ging ich beim Supermarkt vorbei und kaufte mir Zimtschnecken und eine Dose eisgekühlten Café au Lait.

Als ich das Zeug beim Fernsehen vertilgt hatte, bekam ich Lust auf etwas Pikantes und holte mir einen Becher Instantnudelsuppe aus dem Vorrat. Die Uhr zeigte sechs. Das würde mir als Abendessen reichen.

Nachdem ich einen Kessel Wasser aufgesetzt hatte, nahm ich die Leihbücher aus der Tasche. PC-Anleitungen … Ich malte mir aus, wie ich die Programme beherrschte und im Büro am Computer anwendete.

Ach ja, da war auch noch das andere Buch, die Geschichte der beiden Mäuse.

Es war eine Hardcover-Ausgabe mit stabilem weißgrundigem Einband. Als Kind war mir das Buch viel größer erschienen. Als ich es nun in die Hand nahm, hatte es nur das Format eines gewöhnlichen Notizblocks. Unter dem Titel in Schreibschrift spazierten zwei Feldmäuse, die gemeinsam einen großen Korb zwischen sich trugen und sich dabei anschauten. Die linke Maus trug einen blauen Hut und ein blaues Trikot, die rechte besaß das gleiche Outfit in Rot.

Aber wer von beiden war wer? In meiner Erinnerung waren es Zwillinge.

Mir fiel auf, dass im Titel Guri in blauer und Gura in roter Schrift gedruckt war. Aha, so war das also. Ich war gespannt auf die Geschichte!

Während ich das Bilderbuch durchblätterte, folgte ich dem Fluss der Handlung: Guri und Gura gehen in den Wald. Dort finden sie ein überdimensionales Ei. Am Ende sieht man die beiden mit einer riesigen Pfanne in ihrer Mitte, aus der sich ein aufgegangener Pfannkuchen herauswölbt.

Plötzlich fiel mir die kleine Filz-Pfanne ein, die mir Frau Komachi geschenkt hatte. Neugierig geworden, las ich den Text neben der letzten Illustration: «Der gelbe Castella zeigt sein fluffiges Gesicht.»

Der Satz überraschte mich. Castella? Der japanische Kuchen? Ich hatte immer geglaubt, es handele sich um einen Pfannkuchen.

Als ich zur vorigen Seite zurückblätterte, sah ich die beiden beim «Zubereiten»: Sie mischten den Teig aus Eiern und Zucker, Milch und Mehl und brieten ihn in der Pfanne. So einfach geht der Biskuitkuchen.

Der Teekessel pfiff. Ich stellte das Gas ab und löste den Deckel vom Becher mit der Nudelsuppe.

Obwohl ich das Buch damals zigmal gelesen hatte, war nichts davon hängen geblieben. Oder besser gesagt, ich erinnerte mich nur lückenhaft. Dennoch war es interessant, ein Bilderbuch, das mich als Kind begeistert hatte, mir nun als Erwachsene noch einmal anzuschauen.

Ich hatte gerade heißes Wasser auf die Instantsuppe gegossen und den Becher zugedeckt, als das Handy klingelte. Auf dem Display las ich Sayas Namen. Sie rief mich nicht oft an. Meistens war sie dann entweder total happy oder zu Tode betrübt.

Ich schielte zu meiner frisch aufgebrühten Nudelsuppe und zögerte einige Sekunden, bevor ich ranging.

«Ach, Tomoka, verzeih den Überfall. Du hast doch heute frei, oder?»

«Hm.»

Sie klang schuldbewusst. «Entschuldige bitte die Störung, aber ich müsste kurz mit dir reden. Passt es dir gerade?»

«Ja, schon, was gibt’s denn?»