Fristlos verliebt - Anna Mandell - E-Book

Fristlos verliebt E-Book

Anna Mandell

4,4

Beschreibung

Motiviert bis in die bestöckelschuhten Zehenspitzen will Junganwältin Lulu in einer renommierten Stuttgarter Großkanzlei durchstarten und stürzt sich in die Arbeit. Dumm nur, wenn man einen Kollegen mit unwiderstehlich schokoladenbraunen Haaren hat, der einem von der ersten Sekunde an puddingweiche Knie beschert. Noch dümmer, wenn sich das Objekt der Begierde als verflixt harte Nuss erweist und sämtliche Eroberungsversuche ohne Erfolg bleiben. Erst eine Autofahrt mit Käsefußaroma und Gangster-Musik führt überraschend zum Wendepunkt - oder etwa doch nicht? Die Geschichte einer liebenswert quirligen Berufsanfängerin, die dem Leser einen authentischen Blick hinter die glänzende Fassade einer großen Rechtsanwaltskanzlei gewährt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 278

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (20 Bewertungen)
12
4
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anna Mandell

Fristlos verliebt

Anna Mandell

Fristlosverliebt

Roman

Anna Mandell, 1985 geboren, arbeitet als Rechtsanwältin und Unternehmensjuristin in Stuttgart und lebt mit ihrem Mann in Esslingen am Neckar. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie eher zufällig, als sie sich im Rahmen ihrer Promotion an der Universität Tübingen danach sehnte, etwas Unterhaltsameres als Paragraphen und Fußnoten aufs Papier zu bringen.

Für Manuel

 

1. Auflage 2015

© 2015 by Silberburg-Verlag GmbH, Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen. Coverfoto: © Anna Mandell. Lektorat: Gertrud Menczel, Böblingen.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1676-2 E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1677-9 Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1435-5

Besuchen Sie uns im Internet und entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Ihre Meinung ist wichtig …

… für unsere Verlagsarbeit. Wir freuen uns auf Kritik und Anregungen unter:

www.silberburg.de/Meinung

Inhalt

Autorin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Weitere Bücher und E-Books aus dem Silberburg-Verlag

1. Kapitel

Morgen ist es so weit! Morgen beginnt der Abschnitt meines Lebens, auf den ich die letzten Monate – nein, die letzten Jahre – hingearbeitet habe. Morgen werde ich, Luise »Lulu« Schäufele, 29 Jahre jung, mein Dasein als erfolgreiche Rechtsanwältin einer international renommierten Wirtschaftskanzlei in Stuttgart beginnen und unfassbar reich und berühmt werden! Im eleganten nachtblauen Businesskostüm, das dezent meine schlanke Silhouette umschmeichelt und meine von Natur aus goldblonden Haare betont, mit den unverzichtbaren Perlenohrringen und einer dieser total trendigen schwarzen Kunststoffbrillen, die das halbe Gesicht verdecken, aber den Träger unwiderstehlich intellektuell wirken lassen, werde ich vorbei an der marmornen Rezeption in den gläsernen Aufzug schweben, der mich in mein von Chrom und schwarzem Leder dominiertes Büro der Kanzlei Hornisch, Prengles & Partner im dritten Stock befördern wird. Sowohl Kollegen, Sekretärinnen als auch Mandanten werden schon allein wegen meines Outfits von meiner Kompetenz als Rechtsanwältin restlos überzeugt sein.

Das klingt zu schön, um wahr zu sein? Ist es aber! Okay … ich geb’s zu, ein paar unbedeutende Details habe ich geschönt: Meine Figur ist alles andere als »Jennifer-Aniston-like«, meine Haare waren mal goldblond gefärbt, mittlerweile hat meine undefinierbare Naturfarbe – Friseure nennen sie taktvoll »aschblond« – ungefähr die Hälfte meiner schulterlangen Haare zurückerobert und die »Perlen«-Ohrringe sind statt durch die jahrelange Arbeit einer Muschel durch die sekundenschnelle Arbeit einer Kunststoffpresse entstanden. Aber ich wäre ja keine Rechtsanwältin, wenn ich diese Mankos nicht umgehend zu rechtfertigen wüsste.

Erstens: Eigentlich bin ich nicht dick, ich habe nur einen großen Hintern und kräftige Schenkel. Dafür kann ich aber nichts! Die Ursache hierfür ist, dass ich die letzten Jahre benannte Körperteile auf den Bibliotheksstühlen der Universität Tübingen plattdrücken musste. Zu wenig Fett am Allerwertesten als Polster hätte zu ernstzunehmenden Sitzbeschwerden auf den harten Holzstuhlflächen führen können. Um dieses natürliche Sitzkissen und den für die Konzentration unerlässlichen Zuckerpegel aufrechtzuerhalten, musste ich mir natürlich regelmäßig Kalorien, vorzugsweise in Form von Rum-Trauben-Nuss-Schokolade zuführen. Sportliche Betätigung, um das Fett des Sitzpolsters in Muskeln umzuwandeln, war bei einem Examensstoffumfang von gut 8000 Karteikarten – auf denen gerade mal das Notwendigste in Stichworten zusammengefasst war und ausformuliert wahrscheinlich die fünffache Menge ergeben hätte – utopisch. Um es kurz zu sagen: Ich hatte schlicht und ergreifend keine Zeit, neben meinem Hirn auch noch meinen Körper in Bestform zu bringen. Ich denke, diese Argumente dürften mich von jeglicher Schuld hinsichtlich der Birnenform meines Körpers befreien.

Zweitens: Was meine vernachlässigte Frisur angeht, ist das schnell erklärt. Goldblonde Haare gefallen mir besser als aschblonde Haare. Aber Haare gefallen mir auch besser als eine Glatze. Leider stellen mich die im Drogeriemarkt erhältlichen Haarfärbemittel jedoch vor genau diese Wahl: gesunde aschblonde oder ausfallende goldblonde Haare. Vielleicht hätte ich schon bei dem fiesen Gestank der Färbepaste Verdacht schöpfen müssen, dass ich, die ich generell auf alles überempfindlich reagiere, besser die Finger davon lassen sollte. Anscheinend war ich jedoch vom funkelnden Goldblond auf der Färbemittelverpackung geblendet gewesen und konnte erst wieder klar sehen, als meine Kopfhaut wie Feuer brannte und sich meine Haare, beim panischen Auswaschen der Paste, ebenso panisch büschelweise in den Abfluss verabschiedeten. Seitdem habe ich verständlicherweise die Finger von solchen Selbstfärbeexperimenten gelassen und kann meinem derzeitigen unschönen Farbansatz daher nicht im Alleingang ohne professionelle Hilfe den Garaus machen.

Apropos professionelle Hilfe: Auf die konnte ich in der Vergangenheit leider auch nicht zurückgreifen, da der Gang zu einem Tübinger Haarstylisten für mich psychisch unzumutbar ist und ich sozusagen an einem regelrechten »Tübinger Friseurtrauma« leide. Kurze Erklärung hierzu: Ich bin in dieser schwäbischen Kleinstadt aufgewachsen – so wie auch schon meine Mutter, meine Großmutter, meine Urgroßmutter und so weiter – und kenne daher so ziemlich jeden Einwohner zumindest über zwei Ecken. Es gibt daher Beziehungen, die älter sind als die Tübinger Stiftskirche. Eine solche besteht zum Beispiel zwischen den Schäufeles und Frau Käsbach, die einen Friseursalon betreibt. Frau Käsbach schneidet also schon seit Jahrhunderten der Familie Schäufele die Haare. Es ist über die Jahre hinweg natürlich nicht immer die gleiche Frau Käsbach gewesen, sondern mehrere Generationen von Frau Käsbachs, obwohl ich mir gut vorstellen könnte, dass die jetzige mehrere hundert Jahre alt ist. Eines haben die Käsbach-Friseurfrauen generationenübergreifend jedoch alle gemeinsam: Sie halten die altmodischen Haarschnitte aus der Gründerzeit des Friseursalons nach wie vor für absolut »en vogue« und sind tödlich beleidigt, wenn sich jemand aus der Familie Schäufele erdreistet, mit der Tradition zu brechen und zu einem anderen Friseur zu gehen.

In einer frühpubertären Trotzphase habe ich diesen unverzeihlichen Treuebruch einmal begangen und habe bitter dafür büßen müssen. Die Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniert in einer kleinen Stadt schneller, als bekannte Onlineplattformen einen Pinnwandeintrag hochladen können. Binnen kürzester Zeit wusste die damalige Frau Käsbach Bescheid und es gab einen derartigen Eklat, dass die Tübinger Stadtmauer in ihren Grundfesten erzitterte. Mittlerweile sind 15 Jahre ins Ländle gegangen und ich bin zumindest wieder einigermaßen geduldet. Wenn ich nun den Salon aufsuche, wird meine Tat nur noch gelegentlich mit als Mitleidsbekundungen getarnten Sticheleien gerächt wie: »Ach, du Arme, hast ja wirklich Pech gehabt bei der Verteilung der Gene! Die Haare deiner Eltern und Geschwister – ich habe eine ältere Schwester und zwei jüngere Brüder – sind so schön kräftig und glänzend, nur du hast merkwürdige, dünne Fusseln auf dem Kopf. Na ja, da kann man nichts machen, vielleicht ändert sich die Struktur ja, wenn sie mal grau sind, was bei dir bald der Fall sein dürfte!«

Ich wäre daher schön blöd, die alten Wunden wieder aufzureißen und bei Frau Käsbach mit selbstgefärbten Haaren aufzulaufen. Bei ihr um die Korrektur des Ansatzes zu bitten, ist also angesichts der Vorgeschichte ebenso undenkbar wie das Aufsuchen eines anderen Tübinger Friseurs. Der Punkt mit den Haaren kann mir demnach nicht zur Last gelegt werden. Außerdem wohne ich nun ja seit einer Woche in der Landeshauptstadt Stuttgart und kann mich, sobald ich mit dem Auspacken der Umzugskartons fertig bin, von Frau Käsbach unbemerkt zu einem Salon begeben und das Haaransatz-Problem beheben lassen.

Drittens: Und nun zu den Kunststoffperlen. Als ich damals im zarten Alter von 19 Jahren begann, Jura zu studieren, musste ich schnell lernen, dass das Studium der Rechtswissenschaften nicht nur jahrelanges Bücherwälzen, sondern auch die Anpassung an einen ganz speziellen Modestil und einen noch spezielleren Lebensstil erforderte. Völlig unbedarft betrat ich in Jeans, Sneakers und T-Shirt gekleidet das imposante, schlossähnliche Universitätsgebäude der Juristen, die »Neue Aula«, zu meiner ersten Vorlesung und stellte bald fest, dass ich mit meiner Kleiderwahl beinahe allein dastand. Wohin das Auge blickte, überall galoppierten mir von feinsäuberlich gebügelten Polohemden, Blusen und Pullundern Ralph-Lauren-Pferde entgegen, Lacoste-Krokodile bleckten ihre Zähne und ein wohlbekanntes englisches, beige-schwarz-rot-weißes Karomuster wechselte sich ab mit einem ebenso geläufigen, braun-goldenen Blumendesign in Schal- oder Handtaschenform. Farblich herrschten Rosa – erstaunlicherweise schwerpunktmäßig bei der männlichen Spezies –, Oma-Beige und Altherren-Lodengrün vor. Auch bezüglich der Schuhauswahl schien man sich überraschend einig: braune Lederhalbschuhe im klassischen Bootschuh-Look für jedermann. Insgesamt unterschied sich die Kleidung der Frauen kaum von der der Männer, bis auf die Handtaschen (wobei ein paar ganz exzentrische Exemplare auch davor nicht Halt machten und tatsächlich sogenannte »Manbags« spazieren führten) und – da wäre ich wieder beim Thema – die allgegenwärtigen Perlenohrringe.

Die Botschaft, die dieses Outfit vermitteln soll, ist eng verknüpft mit dem schon angesprochenen Lebensstil und trotz aller Klischeehaftigkeit erstaunlich oft zutreffend. Seine Träger wählen vorzugsweise CDU, spielen Tennis, gehen reiten, stellen sich inklusive Zweit- und Drittnamen mit »Mein Name ist Christian-Georg Karl von Gleichenstein« vor, sind spießig, konservativ und in der Regel finanziell gut betucht. Letzteres trifft auf mich aber nicht zu und ich kann mir einfach keine echten Perlen leisten. Die Tatsache, dass ich in keine reiche Familie hineingeboren wurde, liegt außerhalb meines Verantwortungsbereichs. Mich trifft daher auch hinsichtlich dieses Mankos keine Schuld.

Abgesehen davon wird sich das jetzt ohnehin alles ändern: Als neuer Stern am Kanzleihimmel werde ich mir in Zukunft mit meinem ansehnlichen Gehalt schon fast einen persönlichen Perlentaucher für meine dann umfangreiche Schmuckkollektion leisten können.

Insgesamt lässt sich jedenfalls festhalten, dass ich in allen drei Punkten von jeglicher Schuld freizusprechen bin.

Nun, da das geklärt wäre, laufe ich nochmal nervös durch meine nicht besonders luxuriöse, aber gemütliche Zweizimmerwohnung im Dachgeschoss eines Altbaus im Stuttgarter Osten und kontrolliere anhand einer meiner geliebten Checklisten, ob für morgen alles vorbereitet ist.

To-do

Status

- Schwarze Pumps polieren und griffbereit an die Haustüre stellen. (Merknotiz an mich: Der altertümliche Ausdruck »frisch gewichst« darf heutzutage wegen hoher Missverständnisgefahr nicht mehrverwendet werden siehe hochnotpeinliche Situation beim Blockflötenvorspiel in der fünften Klasse)

- Kostüm aus Umzugskarton heraussuchen, bügeln, entfusseln und auf eventuelle Rum-Trauben-Nuss-Schokoladenflecken untersuchen

- Schokolade der betreffenden Sorte als Nervennahrung einpacken

Leider schon aufgegessen

- Wecker auf für studiumsverwöhnte Langschläferin unerträgliche sieben Uhr stellen

- Zweitwecker für Hauptweckereinfach-im-Schlaf-ausstellende- und-dann-gemütlich-weiter-schlafende Persönlichkeit weit entfernt vom Bett außerhalb der Gefahrenzone platzieren

- Smartphone-Akku aufladen, damit ich morgen im Notfall meine Freundinnen zwecks unlösbaren juristischen Fragen im Speziellen oder Lebensproblemen im Allgemeinen von der Kanzlei unbemerkt kontaktieren kann

wird über Nacht erledigt

- Schwarzwälder Kirschtorte für Kanzleieinstand backen und ohne zu naschen in Transportbox packen

Kurzerhand noch eine zweite kleine Torte zum Naschen gebacken. Jetzt kann ich mich morgen vornehm zurückhalten und laufe nicht Gefahr, die Hälfte der mitgebrachten Torte selbst zu essen

- 50 Kniebeugen machen, um vielleicht doch noch kurzfristig einen durchtrainierten Po für den morgigen Tag zu erhalten

✓ / —

Aufgrund soeben verzehrter Schokoladentafel bei Kniebeuge Nummer 10 Sodbrennen bekommen und daher vorzeitig Vorgang abgebrochen

- Glücksbringer Elga – meine abgeliebte Plüsch-Schildkröte – tief unten in die Aktentasche verstauen (sie muss ja nicht gleich am ersten Arbeitstag zum Kanzleigespräch werden)

Kann sie nicht finden! Alarmstufe rot!

Zum Glück bin ich die Checkliste nochmal durchgegangen! Nicht auszudenken, dass ich morgen in diesen wichtigen Tag ohne Elga gestartet wäre! Meine geliebte Großmutter Helga – die für ihr stolzes Alter von 89 Jahren zum Glück immer noch ziemlich rüstig ist und in Tübingen in einem Häuschen in der Nähe meiner Eltern wohnt – hat sie mir zur Geburt geschenkt und seitdem sind wir unzertrennlich. Ich wollte sie eigentlich nach meiner Großmutter benennen, hatte als Kind aber Schwierigkeiten mit dem H, so dass der etwas ungewöhnliche Name Elga entstand und sich trotz meiner mittlerweile tadellosen H-Aussprache gehalten hat.

Ich weiß nicht, ob es etwas mit dieser frühkindlichen Stofftierbegegnung zu tun hatte, aber Schildkröten, genauer gesagt Riesenschildkröten, sind meine absoluten Lieblingstiere. In dem Alter, in dem andere Mädchen anfingen, für Pferde zu schwärmen und ihr Zimmer mit Black-Beauty-Postern aus der Wendy-Zeitschrift zupflasterten, entwickelte ich ein Faible für diese wundervoll runzeligen, majestätischen Lebewesen. Ich besorgte mir sämtliche Bücher aus der städtischen Bibliothek hierzu – wobei das Literaturangebot zu Riesenschildkröten in der Tübinger Bücherei zu meinem Leidwesen relativ überschaubar war – und konnte gar nicht verstehen, weswegen meine Freundinnen meine Begeisterung darüber, dass Riesenschildkröten bis zu 400 Kilogramm schwer und 176 Jahre alt werden können, nicht wirklich teilten, sondern lieber mit leuchtenden Augen von ihrer letzten Reitstunde berichteten.

Ein Bildband über Riesenschildkröten auf den Galapagosinseln faszinierte mich sogar so sehr, dass ich ihn insgesamt sieben Mal auslieh. Die Inselgruppe, die diesen Tieren sogar ihren Namen verdankt – »Galápago« ist das spanische Wort für Schildkröte –, sind das Riesenschildkröten-Mekka schlechthin. Mehrfach versuchte ich meine Eltern zu überreden, unseren nächsten Familienurlaub dort zu verbringen. Mein Argument, dass es unfair sei, dass die »Pferdemädchen« beim Urlaub auf dem Ponyhof ihren Lieblingen nahe sein durften, ich meinen Riesenschildkröten aber nicht, stieß auf taube Ohren und endete regelmäßig in einem großen Streit. Als ich damals schniefend und Elga fest im Arm haltend auf meinem Kinderstockbett saß, schwor ich mir, sobald ich erwachsen wäre, selber auf die Galapagosinseln zu reisen. Meine Oma Helga bekräftigte mich immer in diesem Vorsatz und sagte mir in ihrem Urschwäbisch: »Mädle, du darfsch nie aufhöre, an deine Träum zu glaube, au wenn se ned immer so oifach zu erreicha sen. Da musch di grad mit Fleiß neihänge!« Mittlerweile bin ich zumindest laut Gesetz seit zwölf Jahren erwachsen – auch wenn ich mich ehrlich gesagt selten so fühle –, bei den Riesenschildkröten war ich leider immer noch nicht. Wahrscheinlich hab ich mich nicht genug »neighängt«, aber es hat auch einfach nie richtig gepasst: erst Zeit, aber kein Geld, dann kein Geld und keine Zeit, zukünftig wohl Geld, aber keine Zeit. Es ist wie verhext! Apropos keine Zeit: Ich sollte mich jetzt besser mal daranmachen, Elga zu finden! Ich hab sie seit dem Umzug schon ein paar Mal vermisst, bin aber nie zum Suchen gekommen.

Ich durchwühle sämtliche Umzugskartons: Nichts! Ich durchwühle nochmal alle Umzugskartons: Wieder nichts! Das gibt’s doch nicht! Frustriert setze ich mich auf eine der Kisten und versuche mich zu erinnern, wo ich was eingepackt habe. Und siehe da, manchmal funktioniert mein Hirn doch besser als gedacht! Ich öffne die Aktentasche und schaue in Elgas gutmütiges Schildkrötengesicht. Das hätte mir auch gleich einfallen können. So organisiert wie ich bin, habe ich beim Packen schon daran gedacht, dass Elga am ersten Tag auf jeden Fall mit in die Kanzlei muss, und sie vorsorglich in die Tasche gepackt. Na wunderbar, alles wieder gut, jetzt kann ich in meiner Checkliste ein Minus durch einen weiteren Haken ersetzen.

Mit meinem Ergebnis, 6 ½ ✓ zu 2 ½ –, einigermaßen zufrieden und etwas erschöpft von der Suchaktion, lasse ich mich auf mein kuscheliges Sofa unter der Dachschräge fallen, wickele mich in eine flauschige Decke und lausche dem Regen, der stetig gegen das Dachfenster trommelt. Für mich gibt es kein beruhigenderes Geräusch auf der Welt. Es erinnert mich an die Zeit, als ich noch klein war und bei meinen Eltern, deren Ehebett ebenfalls im Dachgeschoss stand, im »Gräbele« schlafen durfte. Für Nichtschwaben: Das Gräbele ist der kleine Graben zwischen zwei Matratzen in einem Doppelbett. Ich hatte damals furchtbare Angst vor Einbrechern, aber war mit kindlicher Logik vollkommen davon überzeugt, dass diese nur bei gutem Wetter ihr Unwesen trieben. Wer würde schon freiwillig bei Kälte und Nässe nachts draußen herumturnen? Nein, für einen Einbruch kam definitiv nur ein lauer, trockener Sommerabend in Betracht. Der Regen war daher damals meine Sicherheitsgarantie und verfehlt – trotz des mittlerweile erlangten Wissens, dass Einbrüche wegen der geringeren Entdeckungsgefahr sogar vorzugsweise bei schlechtem Wetter verübt werden – seine Wirkung auch heute nicht. Ich spüre, wie meine Aufregung angesichts des kommenden Tages langsam nachlässt, und schließe mal eben ganz kurz die Augen.

Das hätte ich lieber bleiben lassen! Aus dem »kurz die Augen schließen« wird ein ausgeprägter Mittagsschlaf, in dessen Verlauf ich mich in eine Hütte aus Bananenblättern im Urwald träume. Es ist Regenzeit und ich habe dort zusammen mit meinem einheimischen Begleiter, dessen Oberkörper dem von Tarzan in nichts nachsteht, Unterschlupf gesucht. Nach unserer Tropenexpedition sehe ich unglaublich sexy aus in meinem weißen, vor Regennässe beinahe durchsichtigen Sommerkleid, der wilden, zerzausten Haarmähne und neckischen Schlammspritzern, die sich schon beinahe dekorativ auf mein Dekolleté und Gesicht platziert haben. Gerade als dies auch meinem heißen Dschungelkönig auffällt und er dazu ansetzt, mich leidenschaftlich zu küssen, überfällt uns hinterrücks eine gemeine, tropische Monsterkröte: »Quuaak, Quaaak, Quaaaauuaaak!!!« Ich wehre mich mit Händen und Füßen, aber das dumme Tier hört nicht auf zu quaken.

Mit einem Ruck fahre ich hoch und stelle fest, dass ich statt im Regenwald im Schwabenländle bin und dass das Quakgeräusch von meinem Handy herrührt. Oh je, diesen albernen Klingelton muss ich unbedingt mal ändern, der stammt noch aus Zeiten, als ich mit Ralf – meinem Exfreund – zusammen war und dieser es lustig fand, an meinen Handy-Einstellungen herumzuspielen. Leider ist es nicht meine Eroberung aus dem Urwald, die gerade anruft, sondern ausgerechnet dieser Ralf, der oberkörpertechnisch nicht annähernd mithalten kann.

Das ist allerdings nicht der Grund, weshalb ich mich vor drei Monaten von ihm getrennt habe. Auch der Name »Ralf«, den ich als grenzwertig erachte und der mich mehrfach dazu bewogen hat ihm vorzuschlagen, ernsthaft über eine Namensänderung nachzudenken, war nicht ausschlaggebend. Nein, es war schlicht und ergreifend Ralfs Art.

Wir lernten uns vor zwei Jahren beim Tübinger Stocherkahnrennen kennen, als ich freudig überrascht darüber war, trotz des enormen Besucherandrangs den letzten freien Sitzplatz am Neckarufer zu ergattern. Von dort aus würde ich einen ungehinderten Ausblick auf die rund fünfzig Kähne haben, die von verkleideten und mit langen Holzstäben ausgestatteten Studenten stochernd dem Ziel entgegengetrieben werden würden. Dabei kommt es auf dem überfüllten Neckar alljährlich zu spektakulären Zusammenstößen zwischen den Kähnen, zu unzähligen unfreiwilligen Tauchgängen, und wenn bei der Siegerehrung die Verlierer einen halben Liter Lebertran trinken müssen, auch häufig zu grünen Gesichtern.

Noch leicht belämmert von dem täglichen Lernmarathon für das nahende Zweite Staatsexamen, machte ich es mir auf der Wiese gemütlich und versuchte dabei nicht zu sehr hin- und herzurutschen, damit meine neue weiße Hose keine Grasflecken abbekam. Fünf Sekunden später wäre ich für einen Grasfleck, im Vergleich zu dem, was sich tatsächlich auf der gesamten Rückseite meiner Hose verteilt hatte, dankbar gewesen. Es hatte einen guten Grund gehabt, dass dieser Platz noch frei gewesen war. Ich konnte Hunde noch nie leiden und in diesem Moment, als ich die hellbraune Kacke auf meiner Hose schon roch, bevor ich sie sah, hätte ich sie alle miteinander im Neckar ertränken können. Während ich noch fluchend wie ein Rumpelstilzchen im Kreis hüpfte und vergeblich versuchte, mit einem Büschel Gras das Gröbste zu beseitigen, nahte mein Retter Ralf mit einem Papiertaschentuch und beschwichtigenden Worten. Er sah gut aus, war freundlich und ich empfand seine Gelassenheit als wohltuend. Nach zwei weiteren Dates waren wir ein Paar.

Wäre ich nicht so sehr mit der Vorbereitung auf mein Examen beschäftigt gewesen, hätte ich wahrscheinlich schon bald darauf gemerkt, dass er vielleicht doch etwas zu gelassen, besser gesagt geradezu lethargisch war. Während der Lernphase gab ich mich damit zufrieden, dass unsere Treffen fast immer fernsehschauend auf dem Sofa stattfanden, da ich ohnehin häufig erschöpft war. Als ich die Prüfung dann jedoch eineinhalb Jahre später hinter mich gebracht hatte und meine Lebensgeister zurückgekehrt waren, nervte mich Ralfs Trägheit zunehmend. Anders als bei meinen geliebten Riesenschildkröten fand ich diese Eigenschaft bei einem Partner unerträglich. Als mir der Zustand dann mehr stank als die Hundekacke bei unserer ersten Begegnung, beendete ich unsere Beziehung. Ich bewarb mich für die Stelle in der Kanzlei Hornisch, Prengles & Partner und zog nach deren Zusage aus Tübingen weg nach Stuttgart.

Seitdem hat Ralf ungeahnte Aktivität entwickelt und sich in den letzten Wochen häufiger bei mir gemeldet als damals, als wir noch zusammen waren. Wie es aussieht, hat er sich daran erinnert, dass ich morgen in der Kanzlei anfange, und möchte mir noch einen guten Start wünschen.

»Hallo Ralf!«, murmele ich verschlafen in mein Handy. Ich bin etwas verstimmt, schließlich hat er meine Dschungel-Kuss-Szene gründlich vermasselt und außerdem gehen mir seine Anrufe, bei denen wir uns größtenteils anschweigen, ziemlich auf den Keks.

»Hi Lulu!«, tönt es aus dem Telefon.

»Hallo! Na, alles klar bei dir?«, sage ich.

»Ja, alles paletti«, kommt es zurück.

Dann folgt Schweigen. Kein »Und wie geht’s dir? Bist du aufgeregt vor morgen?«, einfach gar nichts. Um dem Telefonat noch irgendeinen Sinn zu geben, frage ich: »Du, sag mal, wie ändert man denn den Klingelton auf meinem Handy? Ich will das Gequake loswerden, das du damals eingestellt hast.«

Ich könnte das wahrscheinlich auch selber herausfinden, aber mir fehlt dazu meistens die Geduld. Juristische Literatur kann ich mir stundenlang reinziehen, aber Bedienungsanleitungen für technische Geräte machen mich schon nach wenigen Minuten geradezu aggressiv. Ich aktiviere die Freisprechfunktion und folge Ralfs Anweisungen, die nun aus dem Handylautsprecher tönen:

»Geh in deinem Menü auf Einstellungen Telefon Anrufe und dann auf Klingelton. Da kannst du einen anderen Ton auswählen.«

Ist ja wirklich nicht so schwer. Ich entscheide mich für einen neutralen, kanzleitauglichen »Ringringring«-Klingelton. »Danke!«, sage ich und weiß schon nicht mehr, was ich sonst noch mit Ralf besprechen soll.

Von ihm kommt auch nichts mehr außer einem »Bitte!« und dann wieder Stille.

»Und sonst?«, frage ich.

»Hhhmmh, nix Besonderes«, sagt Ralf träge.

Das erstaunt mich nicht sonderlich, bahnbrechende Erlebnisse hat man vor dem Fernseher selten. Diesen Part überlässt man bequem den Menschen auf dem Bildschirm.

»Mhmmmhmm. Hmm tja …«, kommt es von mir geistesgegenwärtig zurück.

Als sich die darauffolgende Pause immer weiter unangenehm in die Länge zieht und mir klar wird, dass Ralf vergessen hat, dass morgen mein großer Tag ist – typisch für ihn! –, drücke ich mit einem »Ja, dann also … Tschüss!« auf die Taste mit dem roten Hörer. Gespräch beendet. War mal wieder super. Na ja, wenigstens hilft mir Ralf dabei, die Trennung nicht ansatzweise zu bereuen, so dass ich mich voll auf meine Karriere konzentrieren kann.

Draußen ist es mittlerweile dunkel geworden und der Regen hat nachgelassen. Es wird Zeit ins Bett zu gehen, aber nicht ohne vorher noch eine heiße Schokolade mit einem großzügigen Schuss Baileys zu trinken und ein wenig in einem Roman zu schmökern.

Neben meiner Eigenschaft als Schoko-Junkie – ich bin geradezu süchtig nach Schokolade, egal ob als Tafel, Riegel, Bonbon oder flüssig in der Tasse – gilt meine zweite große Leidenschaft dem Lesen. Schon als Kind habe ich ganze Rucksackladungen voller Bücher verschlungen. Damals war konsequenterweise »Charlie und die Schokoladenfabrik« von Roald Dahl meine absolute Lieblingslektüre, am besten in Kombination mit einer jugendfreien »Ohne-Rum«-Trauben-Nuss-Schokoladentafel. Kein Wunder, dass ich als Kind noch moppeliger war als jetzt. Damals war es jedes Mal eine Tortur für mich, wenn meine Mutter beschloss, dass ich mal wieder einer neuen Hose bedurfte, und mich in das angesagteste Tübinger Kindermodengeschäft schleifte. Ich schämte mich immer furchtbar, wenn uns die Verkäuferin schnurstracks zu dem mit einem großen, roten Schild »Extra weit!!!« gebrandmarkten Hosenregal für dicke Kinder führte.

»Ihre Kleine ist ja etwas kräftiger gebaut, da gehen wir mal besser hier rüber!«, verkündete sie dann gerne mit lauter, schriller Stimme, so dass eventuell im Laden anwesende Grundschulklassenkameraden es auf keinen Fall überhören konnten. Und selbst wenn es zufällig irgendjemand nicht auf diese Weise mitbekam, dann sorgte spätestens das anprangernde Schild dafür, dass jeder über meinen Leibesumfang informiert wurde. Disziplinierter bezüglich des Schokoladenverzehrs bin ich seither nicht geworden, aber dank der Tatsache, dass ich relativ groß bin, hat sich der Lesespeck über die Jahre verwachsen und ist nur noch verstärkt an Po und Schenkeln aufzufinden.

Was mein Leseverhalten angeht, muss ich zu meiner Schande gestehen, dass sich das Lektüreniveau seit meiner Kindheit nicht etwa stetig nach oben geschraubt hat und ich mittlerweile bei Spätwerken von Thomas Mann angelangt bin. Leider verhält sich der geistige Gehalt meiner Freizeitlektüre vielmehr entgegengesetzt zu dem meiner studienbedingten Lehrbuchlektüre. Je mehr ich also juristischer Fachliteratur ausgesetzt bin, desto trivialer werden die Bücher, die ich außerhalb des Studiums zum reinen Vergnügen lese. Wer sich tagsüber stundenlang mit dem »gutgläubigen Ersterwerb einer Auflassungsvormerkung vom Nichtberechtigten nach § 885 in Verbindung mit §§ 893, 892 Bürgerliches Gesetzbuch« herumquält, kann zum Feierabend »der fieberhaften Hermetik des Zauberberges« nur noch wenig abgewinnen. Falls ich falsch liege und es doch Mitbürger mit einem derart übermenschlichen Gehirn gibt, dann ziehe ich hiermit respektvoll den Hut – und denke insgeheim, dass sie im Gegenzug dafür wahrscheinlich soziale Defizite haben.

Der Roman, den ich gerade lese, ist eines dieser typischen Frauenbücher, die fast ausnahmslos aus fünf Zutaten bestehen. Die Protagonistin …

1. hat Männerprobleme,

2. schreibt Tagebuch,

3. hat einen schwulen Kumpel oder wahlweiseMitbewohner,

4. kann nicht kochen,

5. und kämpft mit ihrem Gewicht.

Da eigentlich nur der letzte dieser Punkte auf mich zutrifft …

–mangels Mann in meinem Leben bleiben auch die damiteinhergehenden Probleme aus,

–ich habe noch nie ein Tagebuch verfasst, nur als Kindeines gelesen (das von meiner großen Schwester Sabine,als ich rausfinden wollte, ob sie in den Nachbarsjungenverknallt ist),

–ich habe keinen schwulen Kumpel, nur einenschwulen Wellensittich (Wellensittiche sind meine»Zweitlieblingstiere« nach Riesenschildkröten und imGegensatz zu Letzteren wohnungstauglich),

–meine handgeschabten Käsespätzle sind legendär undich koche und backe (siehe Schwarzwälder Kirschtorte)auch sonst gut

… berührt mich die Handlung kaum, so dass ich nach wenigen gelesenen Seiten in meinen Schönheitsschlaf hinübergleite.

2. Kapitel

Leider sehe ich am nächsten Morgen trotzdem nicht besonders schön aus. Nach drei Stunden Schlaf wachte ich mitten in der Nacht wieder auf und wälzte mich von da an bis zum Morgengrauen von links nach rechts und wieder nach links. Eigentlich habe ich ein hübsches Gesicht mit großen blauen Augen, aber heute werden sie von dunklen Ringen untermalt. Na ja, egal, noch ein Grund mehr, meine große Kunststoffbrille zu tragen. Dann erfüllt sie neben dem Zweck, mich blond und schlau- statt blauäugig aussehen zu lassen, auch noch die Kaschierung der Anzeichen einer durchwachten Nacht. Es darf nur niemand herausfinden, dass die Gläser so viele Dioptrien wie die Fensterfront in meinem Büro und meine Augen auch ohne Brille eine hundertprozentige Sehstärke haben.

Während ich mir die Haare zu einem strengen Knoten hochstecke, fange ich unbewusst an, eine Melodie zu pfeifen. Die meisten Leute pfeifen, wenn sie besonders gut gelaunt sind, bei mir ist es hingegen ein Zeichen allergrößter Anspannung und Nervosität. Diese merkwürdige Angewohnheit hat mir schon mehrfach irritierte Gesichtsausdrücke meiner Mitmenschen beschert, zum Beispiel als ich bei meiner Führerscheinprüfung den »Drunken Sailor« zum Besten gab, aber es ist ein Impuls, den ich nur schwer unterdrücken kann. Postwendend erhalte ich auf mein Pfeifkonzert eine Antwort von Susi Sartorius. Susi Sartorius ist mein besagter schwuler Mitbewohner. Er ist grün-gelb gefiedert und hat eine bläuliche Nase. Hätte ich mich in der Tierkunde ausgekannt, dann wäre ich nie dem Irrtum unterlegen, dass Susi ein Weibchen sei. Ich weiß nun im Nachhinein, dass das Geschlecht relativ einfach an der Färbung der Nase zu erkennen ist. Blau steht für Männchen, braun für Weibchen. Dieses Wissen hatte ich bei der Namensgebung jedoch noch nicht und so ging ich davon aus, dass Susi ein Weibchen sei, weil er nachweislich auf den männlichen Wellensittich meiner Freundin Lena stand und diesem regelrecht nachstellte. Als ich dann erfuhr, dass Susi männlichen Geschlechts und offensichtlich schwul war, war es zu spät, den Namen wieder zu ändern, da Susi sich schon daran gewöhnt hatte und sogar auf Zuruf reagierte. Um Susis männliche Ehre wenigstens teilweise wiederherzustellen, beschloss ich, ihr einen maskulin klingenden Nachnamen zu verpassen, und entschied mich aus einer Eingebung heraus für den Namenspaten des dicken, roten Sammelbandes deutscher Verfassungs- und Verwaltungsgesetze Carl Sartorius.

Noch immer pfeifend schnappe ich mir mein nachtblaues Businesskostüm und steige schwungvoll in die Bügelfaltenhose. Als ich sie nach oben ziehen möchte, bleibe ich mitten in der Bewegung kurz über den Knien stecken. Irgendetwas ist im Weg. Ich versuche es nochmal mit mehr Nachdruck und einem kräftigen Ruck. Die Hose bewegt sich keinen Millimeter. Das Etwas, das im Weg ist, sind meine Schenkel. Ich fühle mich beinahe in den Tübinger Hosenladen aus Kindertagen zurückversetzt. Verflixte Scheiße! Warum bin ich nicht auf die Idee gekommen, das Kostüm noch einmal vor dem heutigen Tag anzuprobieren? Das letzte Mal habe ich es zu meiner mündlichen Prüfung getragen. Scheinbar haben seitdem zu viele Schokoladentafeln ihre letzte Ruhestätte in meinem Magen gefunden. Fluchend klettere ich wieder aus der unbrauchbaren Hose und mache mich panisch daran, meinen Kleiderschrank zu durchwühlen. Mein ganzer Zeitplan ist durcheinander! Erst als fast alle Klamotten in wildem Chaos auf dem Boden liegen, fällt mir wieder ein, dass ich das Kostüm alternativ zur Hose mit einem ebenfalls dazu passenden nachtblauen Rock tragen kann und sich dieser noch in einem meiner unausgepackten Umzugskartons verbirgt. Nach einer weiteren hektischen Suchaktion finde ich den Rock und … Luft anhalten, Bauch einziehen … er passt! Ich mit meiner Birnenform hätte einfach besser im Mittelalter zur Welt kommen sollen, als alle Frauen noch Röcke trugen und sich nicht in viel zu enge Hosen quetschen mussten!

Den Erfinder von Frauenhosen und – weil ich grade so schön in Fahrt bin – die Emanzipation im Generellen noch immer verwünschend renne ich die fünf Stockwerke von meiner Wohnung auf die Straße hinunter. Dort wartet treu mein kleines, verbeultes Auto auf mich, das auf den Namen Fritz hört. Er lässt meine ungelenken Kratzversuche, seine Frontscheibe vom Morgenfrost zu befreien, klaglos über sich ergehen. Ich mag mein Auto und ich bin sehr froh, dass es so viele Beulen und Kratzer hat, weil ich dadurch völlig entspannt im überfüllten Stuttgarter Osten parken kann und gar nicht merke, wenn über Nacht ein paar weitere Lackschäden durch aggressive Einparker dazugekommen sind.

Es gefällt mir hier im Osten, auch wenn der Ruf dieses Stadtteils nicht gerade der beste ist. Überall gibt es lustige kleine Läden, in denen man von Zahnpasta über Fahrradreifen alles kaufen und sich zudem noch wahlweise die Jeanshose kürzen oder einen Schlüssel nachmachen lassen kann. Die Inhaber mit Namen wie Ali oder Osman sind selten im Verkaufsraum hinter der Kasse, sondern meistens vor der Tür bei Mokka, Zigarette und einem gemütlichen Schwätzchen mit einem Kumpel vom Laden nebenan anzutreffen. Außerdem sind die Mieten hier günstiger und – das ist ein ganz entscheidender Vorteil, wie ich finde – es gibt so gut wie keine Kehrwoche! Überhaupt ist die ganze Atmosphäre in meinem Wohnhaus eher lässig, was ich nach meiner Tübinger Vermieterin Frau Pampel, die ein echter schwäbischer Besen war und leider auch noch über mir wohnte, durchaus zu schätzen weiß.

Zwar kann es in meiner neuen Bleibe vorkommen, dass die Großfamilie unter mir spontan beschließt, morgens um drei Uhr noch eben ein Dübelloch mit dem Schlagbohrer in die Wohnzimmerwand zu treiben, aber dafür hat es auch niemanden gestört, als ich bei meinem Umzug alle hauseigenen Papiermülltonnen bis oben hin mit Ikeakartonagen vollstopfte und somit bis zur nächsten Abfuhr drei Wochen später blockierte. Eine Frau Pampel hätte mir hierfür die Hölle heißgemacht. Meine jetzigen Nachbarn hingegen nahmen die Papiermengen zum Anlass, in unserem Hinterhof ein kleines Lagerfeuer zu entfachen und mich zu einem Willkommensgrillfest mit Unmengen an leckerem türkischem Essen einzuladen.

Trotz des noch kalten Märzwetters und der Tatsache, dass ich den schon seit Monaten fälligen TÜV-Termin immer noch nicht wahrgenommen habe, springt Fritz gleich beim ersten Versuch an. Mal ganz ehrlich: Wer versteht, wie man die TÜV-Plakette abzulesen hat, ohne sich Hilfe zu holen? Vielleicht leide ich ja unter der noch unbekannten Krankheit der »Plaketten-Legasthenie«, aber ich stehe immer wieder vor einem Rätsel, das ich dann meistens erst mit vereinten Kräften von Wikipedia und You-Tube-Video-Anleitung zu lösen weiß, nur um dann festzustellen, dass ich mit der TÜVKontrolle wieder viel zu spät dran bin.

Auf dem Weg zur Kanzlei, die auf dem Pragsattel auf der anderen Seite der Stadt liegt, muss ich die Innenstadt einmal durchqueren und stecke nach kurzer Fahrt mitten im Berufsverkehrsstau. Laut Navi dauert die Strecke zwar nur zehn Minuten, aber jetzt bin ich froh, dass ich doppelt so viel Zeit einkalkuliert habe. Ich schalte das Radio ein und höre ein lautes Rauschen. Das scheint das Resultat meiner Waschanlagenaktion von letzter Woche zu sein. Ich hatte beschlossen, auch Fritz für den heutigen Tag herauszuputzen, und vergessen, die Antenne vor dem Waschgang zu entfernen.

Nach mehreren Versuchen schaffe ich es immerhin, den Regler so einzustellen, dass man das hinter dem Rauschen gespielte Lied erkennen kann. Es ist »Independent Women« von Beyoncé und ich singe den Text, der bestens zu meinem Karrierestart als erfolgreiche Anwältin passt, zwar schief, aber umso inbrünstiger mit.

»… The house I live in I’ve bought it …«

Das stimmt zwar nicht ganz, aber immerhin zahle ich meine Miete selber.

»… The car I’m driving I’ve bought it …«

Ja gut, auch das trifft nicht wirklich zu – meine Eltern haben mich beim Kauf von Fritz nach bestandenem Abi unterstützt –, aber wer will denn so ein genau nehmender Korinthenkacker sein. Ich finde, im Großen und Ganzen stehe ich Beyoncé in (fast) nichts nach.

»I depend on me. All the women who are independent, throw your hands up at me, All the honeys who makin’ money throw your hands up at me …«

Während meiner Gesangseinlage hat sich der Stau aufgelöst und ich sehe schon die beeindruckende Glasfront der Kanzlei Hornisch, Prengles & Partner, hinter der rund 150 Anwälte ihrer Arbeit nachgehen, vor mir auftauchen.

So sehr ich meinen Fritz liebe, ist mir sein verbeultes Äußeres angesichts der vom Kanzleiparkplatz herüberfunkelnden Neuwagen beinahe ausschließlich hier ansässiger Fahrzeugmarken auf einmal ein bisschen peinlich. Ich beschließe, ihn lieber versteckt in einer Seitenstraße zu parken, und lege die restlichen Meter zu meiner zukünftigen Arbeitsstelle zu Fuß zurück.

Mit klopfendem Herzen betrete ich um Punkt acht Uhr das Foyer und werde von der freundlichen Empfangsdame, die sich scheinbar noch von meiner Anmeldung zum Bewerbungsgespräch an mich erinnert, namentlich begrüßt.

»Guten Morgen Frau Schäufele! Einen guten Start wünsche ich!«