Fühl dich ganz - Lukas Klaschinski - E-Book

Fühl dich ganz E-Book

Lukas Klaschinski

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Beschreibung

Psychologie-Podcaster Lukas Klaschinski zeigt dir, warum Gefühlsbereitschaft der Schlüssel zu einem erfüllten Leben ist Sie sind das Wichtigste des menschlichen Erlebens: unsere Gefühle! Zugleich haben wir heute ein großes Problem mit unserer Gefühlsbereitschaft, denn durch unbegrenzte Möglichkeiten ist die Versuchung groß, sich abzulenken. Der bekannte Psychologe und Podcaster Lukas Klaschinski zeigt dir in seinem Sachbuch, wie du stattdessen mit deinen eigenen Gefühlen und denen anderer besser umgehen kannst. Auf diese Weise lernst du deine Emotionen anzunehmen, sie zu integrieren und für dich als Wegweiser im Leben zu nutzen.  Finde Schritt für Schritt zurück zu dir  Häufig bekommen wir in unserer Gesellschaft ein falsches Bild von Emotionen vermittelt. Freude ist willkommen, Angst wird ausgesperrt. Lukas' Überzeugung: Gefühle sind Teil des Lebens und gehören dazu - die angenehmen wie die unangenehmen. Wenn wir sie mit Gefühlsbereitschaft in unser Leben lassen, können wir ihre wichtige Botschaft erkennen. Wir sind nicht mehr fremdgesteuert, sondern führen so ein selbstbestimmtes Leben und finden unseren Sinn.  Fundiert und nahbar erklärt der Autor die Psychologie hinter unserer Gefühlswelt und zeigt: Kein Gefühl ist schlecht. Durch seine persönlichen Geschichten kannst du in diesem Buch Gefühle erleben, verstehen und dich selbst ausprobieren. Mithilfe der renommierten Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) veranschaulicht Lukas Klaschinski, wie sich wirkliche Gefühlsbereitschaft erleben lässt und was uns tatsächlich dabei hilft, ein erfülltes Leben zu führen.  In diesem Buch findest du: - fundierte und spannende Erklärungen zur menschlichen Psyche, - viele Praxisbeispiele zum besseren Verständnis deiner Emotionen und Verhaltensweisen, - ehrliche Berichte aus Lukas' eigener Erlebnis- und Gefühlswelt, - Konkrete Übungen und Impulse für einen achtsamen Umgang mit deinen Gefühlen, - Vom Autor eingesprochene Meditationen.

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Lukas Klaschinski

FÜHL DICH GANZ

Was wir gewinnen, wenn wir unsere Emotionen verstehen und zulassen

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Psychologie-Podcaster Lukas Klaschinski zeigt dir, warum Gefühlsbereitschaft der Schlüssel zu einem erfüllten Leben ist

Sie sind das Wichtigste des menschlichen Erlebens: unsere Gefühle! Zugleich haben wir heute ein großes Problem mit unserer Gefühlsbereitschaft, denn durch unbegrenzte Möglichkeiten ist die Versuchung groß, sich abzulenken. Der bekannte Psychologe und Podcaster Lukas Klaschinski zeigt dir in seinem Sachbuch, wie du stattdessen mit deinen eigenen Gefühlen und denen anderer besser umgehen kannst. Auf diese Weise lernst du deine Emotionen anzunehmen, sie zu integrieren und für dich als Wegweiser im Leben zu nutzen.

Finde Schritt für Schritt zurück zu dir

Häufig bekommen wir in unserer Gesellschaft ein falsches Bild von Emotionen vermittelt. Freude ist willkommen, Angst wird ausgesperrt. Lukas‘ Überzeugung: Gefühle sind Teil des Lebens und gehören dazu - die angenehmen wie die unangenehmen. Wenn wir sie mit Gefühlsbereitschaft in unser Leben lassen, können wir ihre wichtige Botschaft erkennen. Wir sind nicht mehr fremdgesteuert, sondern führen so ein selbstbestimmtes Leben und finden unseren Sinn.

Fundiert und nahbar erklärt der Autor die Psychologie hinter unserer Gefühlswelt und zeigt: Kein Gefühl ist schlecht. Durch seine persönlichen Geschichten kannst du in diesem Buch Gefühle erleben, verstehen und dich selbst ausprobieren. Mithilfe der renommierten Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) veranschaulicht Lukas Klaschinski, wie sich wirkliche Gefühlsbereitschaft erleben lässt und was uns tatsächlich dabei hilft, ein erfülltes Leben zu führen.

 

In diesem Buch findest du:

fundierte und spannende Erklärungen zur menschlichen Psyche,

viele Praxisbeispiele zum besseren Verständnis deiner Emotionen und Verhaltensweisen,

ehrliche Berichte aus Lukas’ eigener Erlebnis- und Gefühlswelt,

Konkrete Übungen und Impulse für einen achtsamen Umgang mit deinen Gefühlen,

vom Autor eingesprochene Meditationen.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Einleitung

Gefühlsbereitschaft – das Verhalten der Stunde

Im Leben geht es immer ums Gefühl

Auf der Fährte unserer Gefühle

Der Weg zum Gefühl

Warum Gefühlsbereitschaft alles verändert

Wie geht das mit der Gefühlsbereitschaft?

Höre auf dein Gefühl, aber mach nicht alles, was es dir sagt

Die Toolbox fürs Leben

Schäme dich und lebe

Warum wir uns schämen

Der Scham begegnen

Mit der Scham leben

Mitgefühl für dich und die Scham

Wie Trauer Brücken der Verbindung baut

Der Sinn hinter der Trauer

Wie Trauer ihren Platz bekommt

Schleusen auf mit Akzeptanz

Die Kraft von Tagebüchern

Im Schwitzkasten der Wut

Unsere Grenzwächterin, die Wut

Mut zur Wut

Der Wut die Tür aufmachen

Hand in Hand mit der Wut

Die Kraft der Einsamkeit

Was steckt hinter der Einsamkeit?

Die Nachricht der Einsamkeit

Auf den Spuren der Einsamkeit

Gemeinsam gegen Einsam

Die Angst vor der Liebe

Was Liebe mit uns macht

Was sagt uns die Liebe?

Was Werte mit Liebe zu tun haben

Beziehungen dauerhaft stärken

Wie mir kurz vor dem Tod meine Werte einfielen

Die Aufgabe der Ohnmacht

In Kontakt kommen mit der Ohnmacht

Ohnmacht gibt uns Kraft

Im Hier und Jetzt leben

Angst, Motor und Bremse zugleich!

Wie Angst uns schützen will

Die Spirale der Angst

Einen Umgang mit der Angst finden

Vertrag mit uns selbst – ins Tun kommen!

Glück, der stärkste Magnet der Welt

Freude, Glück und Zufriedenheit – Kinder der Evolution

Weg zum Glück oder doch eher weg vom Glück?

Wie Gefühlsbereitschaft hilft, ein erfülltes Leben zu führen

Wie komme ich denn nun zu meinem Glück?

Danksagung

Schön, dass du dieses Buch in den Händen hältst. Du schenkst dir und mir damit das Wichtigste, was wir Menschen haben: Zeit. Oft investieren wir diese in 1000 verschiedene Dinge, nur nicht in uns selbst.

Einleitung

Südafrika – hier wollte ich alles nachholen, was in meinem stressigen Alltag zu kurz kommt: wandern, lesen, Freunde treffen, gutes Essen und Kitesurfen. Für mich gibt es kaum ein schöneres Gefühl, als vom Wind gezogen über das schroffe Meer zu gleiten. Der Nervenkitzel, wenn man weiß, dass zwischen der spiegelnden Oberfläche und dem Grund 100 Meter Wasser liegen, die Kraft der Natur, die dich völlig umschließt … So hatte ich es zumindest in Erinnerung, denn tatsächlich war ich seit zehn Jahren nicht mehr kiten. Um Wind und Wellen nicht völlig ausgeliefert zu sein, wollte ich zur Auffrischung Unterricht nehmen. Mit meinem Surflehrer ging es zum Strand. Er erklärte mir noch einmal kurz, wie man den Drachen lenkt. Ich bewegte den Kite in der Luft. Alles fühlte sich ganz natürlich an.

Nach den Trockenübungen am Strand ging es richtig los. Ich brachte den Drachen zum Starten. Das Brett unter die Füße geklemmt, glitt ich raus aufs Meer. Trotz der hohen Wellen bekam ich es einigermaßen gut hin. Ein paarmal konnte ich den Drachen erfolgreich im Wind halten, doch dann stürzte er ins Wasser. Zum Glück in der Nähe zum Strand, denn so konnte der Lehrer mir helfen, den großen gelb-blauen Kite erneut zu starten. In einer flüssigen Bewegung schnappte er sich den Schirm vom Boden, während ich mich kurz sortierte. Dann startete ich einen neuen Durchgang. Es sollte der letzte an diesem Tag werden. Der Wind war stark und pfiff unerbittlich, zerrte an allem, was ich hatte. Nicht weit vom Strand entfernt schlüpfte ich schnell in die Laschen des Brettes und gab dem Kitelehrer das Signal: Go, lass den Drachen los! Wie der Blitz schnellte der Kite unkontrolliert dem Himmel entgegen. Erst da begriff ich, dass sich mehrere Seile verknotet hatten – das machte den Drachen für mich unsteuerbar. Er flog einen Looping und entwickelte eine solche Zugkraft, dass es mich mit voller Wucht aus dem Brett in die Luft katapultierte. Ich spürte einen überwältigenden Ruck am ganzen Körper, ohne die geringste Chance dagegenzuhalten. Alles in mir war wie betäubt, gelähmt, außerhalb meiner Kontrolle. Mein Atem stockte und ich merkte, wie ich gleich das Bewusstsein verlieren würde. Für einen kurzen Moment sah ich alles von oben. Ich befand mich zehn Meter über dem Strand und spürte schon im selben Augenblick den Kipppunkt – wie bei einer Achterbahn, kurz bevor es steil nach unten geht. Ich sah noch die straffen Seile an meinem Körper hängen, während vor mir der riesige Drachen vom Wind gejagt wieder Richtung Boden schoss. Ich fühlte mich hilflos, konnte nichts tun. Während ich für den Bruchteil einer Sekunde am höchsten Punkt schwebte, stieg in mir eine Gewissheit auf: Den Sturz in die Tiefe werde ich nicht überleben.

 

Glücklicherweise lag ich falsch. Wie durch ein Wunder überlebte ich. Das Leben gab mir eine zweite Chance – und gratis dazu bekam ich eine unauslöschbare Wahrheit vor Augen geführt, die ich nicht mit dem Verstand erfassen konnte, aber tief in mir fühlte: Das Leben ist endlich. Nach dieser Begegnung mit dem Tod habe ich mir viele Fragen gestellt:

Was ist mir wirklich wichtig im Leben? Habe ich auch danach gelebt?Was will ich anders machen?

Wäre dieser Tag in Südafrika mein letzter gewesen, hätte ich einige Sachen bereut. Denn wenn ich ganz ehrlich auf mein bisheriges Leben blicke, habe ich zwar viel erlebt, aber immer eine sichere emotionale Distanz gewahrt. Ich hatte ein gutes Verhältnis zu den Menschen, die mir wichtig waren, und blieb trotzdem irgendwie immer auf Sicherheitsabstand. Ja, es war, als ob zwischen mir und der Welt eine Milchglasscheibe wäre. Beziehungen, Begegnungen und Erlebnisse: Alles sah ich wie durch einen Filter, der den Dingen ihre Lebendigkeit nahm. Ein schönes, aber nicht tief bewegendes und erfülltes Leben. Jede Verletzung perlte an mir ab, nichts kam so richtig an mich heran. Durch meine Arbeit als Journalist und Psychologe konnte ich in den vergangenen Jahren mit vielen Menschen sprechen und feststellen, dass es den meisten von uns ähnlich geht: Wir sind auf der Suche nach einem guten Leben und wollen angenehme Gefühle erleben. »Good Vibes only«, leuchtet es uns auf unzähligen Profilen in den sozialen Netzwerken entgegen – und wenn das nicht geht, werden auch »No Vibes at all« in Kauf genommen. Auch wenn wir vielleicht diese Statusmeldung nicht nach außen tragen, ist es doch eine innere Haltung, mit der viele durchs Leben gehen. Angenehme Gefühle stehen hoch im Kurs, unangenehme werden ausgesperrt. Die Präsentation bei der Arbeit, die uns für unerträgliche 30 Minuten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Das neue Hobby, das immer wieder verschoben wird, weil wir Angst davor haben, an ihm zu scheitern. Oder aber das unangenehme Gespräch mit einer Freundin, das wir vermeiden, obwohl es notwendig wäre, und somit das Ende einer Freundschaft einleiten. Der Psychotherapieforscher Klaus Grawe beschäftigte sich über Jahrzehnte mit dem, was uns als Menschen antreibt und wonach wir streben. Wir sehnen uns nach Beziehung, wollen aber auch unser eigenes Ding machen, also autonom sein. Wir möchten Spaß haben und von anderen anerkannt werden, um unseren Selbstwert zu erhöhen1. Bei all diesen Bedürfnissen geht es ums Gefühl. Das Gefühl, das uns motiviert, in eine Richtung zu gehen, oder das Gefühl, das am Ende auf uns wartet. Schließlich wollen wir alle lieber süß statt bitter. Es liegt in unserer Natur, nach angenehmen Gefühlen zu streben und unangenehme zu vermeiden2.

 

Das erfüllte Leben scheint zum Greifen nahe: Wenn ich erst mal den neuen Job habe, dann wird alles besser. Wenn ich erst mal meinen Traumpartner finde, dann kann ich endlich glücklich sein. Irgendwann eröffne ich mal mein eigenes Café, dann … Die einen machen ihre Vorstellung von Glück an Menschen und Erfahrungen fest, die anderen an materiellen Gütern wie der neuen Uhr, dem schnellen Auto oder der großen Eigentumswohnung. Der Weg zum guten Gefühl, zu Glück und Zufriedenheit scheint aber nicht so einfach und klar zu sein, wie es uns große Werbetafeln mit breit grinsenden Menschen oft glauben lassen. Nicht wenige fühlen sich getrieben, betäubt, sogar gefangen im sich immer schneller drehenden Hamsterrad. Sie sehnen sich stattdessen nach mehr innerer Ruhe, Gelassenheit und nach dem Gefühl des Ankommens. Und dabei ist es ziemlich egal, ob wir weltberühmt sind, Millionen auf dem Konto haben oder irgendwo einem normalen Job nachgehen. Warum ist es so schwer, unser Leben in vollen Zügen zu genießen?

Der technische Fortschritt hat uns jede Menge Arbeit abgenommen und schickt uns doch ständig in die Dauerschleife des Beschäftigt-Seins. Er will uns helfen, das Wesentliche zu erkennen, und lenkt uns doch so oft davon ab. Und nicht nur unsere äußere Welt bringt uns regelmäßig ins Schleudern, auch unsere Gedanken und Gefühle. Sie steuern uns häufig wie ein Autopilot mit Glaubenssätzen wie »Ich bin nicht liebenswert«, »Ich bin nicht genug«, »Ich kann nichts«, »Es ist meine Schuld«, »Ich bin wertlos«, »Ich kann nichts richtig machen«, »Ich bin langweilig«, »Ich bin zu faul«. Wir kleben in alten Mustern fest, die uns schon lange nicht mehr nützen.

 

Für viele scheinen Methoden wie »Positive Thinking« vielversprechend. Der Ansatz: Sobald alle negativen Gedanken gegen positive ausgetauscht worden sind, werde es schon klappen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich immer den großen roten Knopf der Psychologie gesucht: einen erlösenden Knopf, den ich drücken kann, um alle unangenehmen Gefühle abzustellen und gleichzeitig die angenehmen dauerhaft zu aktivieren. Ich suchte lange Zeit nach dieser einen Methode, dieser einen Erkenntnis – diesem Aha-Erlebnis, das mich von meinen schlechten Gefühlen befreien würde. Ich verurteile mich heute nicht für meinen Wunsch: Genau dieses Denken ist Teil unserer genetischen Programmierung. Sie braucht allerdings dringend ein Update. Wir denken alle noch immer mit unserem »Steinzeitgehirn«, das uns vor langer Zeit das Überleben in der Steppe garantiert hat und dementsprechend auf Gefahren gepolt ist. Aber: Unsere gesellschaftliche Entwicklung hat die Evolution mit 200 km/h auf der linken Spur überholt. In vielen Situationen brauchen wir den konstanten Warnblinker im Gehirn nicht mehr. Wir leben nun mit einem Gehirn, das immer mehr will, in einer Welt, in der es für viele Menschen eigentlich mehr als genug gibt. Unser Gehirn hat sich aber leider noch nicht an die Überflussgesellschaft, die es selbst geschaffen hat, angepasst.

Auf der Suche nach dem erfüllenden Leben und den guten Gefühlen musste ich feststellen, dass die meisten von uns im Kern nicht nur die gleichen Wünsche und Bedürfnisse haben, sondern auch früher oder später mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind. Wir spüren Herzschmerz, verlieren geliebte Menschen, erleiden Krankheiten, erfahren berufliche Rückschläge und Ungerechtigkeit. Angst, Zorn, Frust und Scham, Abschiede und Neuanfänge gehören zum Menschsein dazu. Das gilt für uns alle, ob wir wollen oder nicht – auch dann, wenn wir versuchen, sie mithilfe von unserem Handy, unserer Arbeit, Sex, Konsum, Essen und Erfolg zu vermeiden. Insgeheim hoffen wir, dass diese Gefühle irgendwann unsere Fährte verlieren. Dabei vergessen wir, dass sie genauso dazugehören wie die glückliche, fröhliche und strahlende Seite, wie das Yin zum Yang. Die unangenehmen Gefühle tauchen früher oder später auf, egal, wie stark wir uns dagegen wehren. Worauf wir aber sehr wohl Einfluss nehmen können, ist unser Umgang mit ihnen. Dieser ist häufig ganz schön festgefahren. Wir lassen die Gefühle nicht mehr rein, versperren uns aber genau dadurch dem Leben. Kein Wunder, denn wir hören von anderen oft Phrasen wie »nicht so schlimm«, »nichts passiert« oder »lach doch mal«. Wir sollen immer gut drauf sein, schließlich ist das am bequemsten für alle – denn wer seine eigenen Gefühle nicht zulässt, möchte den Gefühlen anderer erst recht keinen Raum geben. Wir lernen in der Schule zwar, wie wir den Durchmesser eines Kreises berechnen, welche molekularen Bestandteile Wasser hat und welche Fallgeschwindigkeit ein Apfel entwickeln kann, aber die wichtigste Sache im Leben überhaupt, die uns jede Sekunde von der Geburt bis zum Tod begleitet, lernen wir nicht: Fühlen. Wer soll es uns auch beibringen? Die Schule, wo es der Lehrplan nicht vorsieht? Ohne das Fühlen zu üben, landen wir jedoch Stück für Stück in einer emotionalen Zwangsjacke. Dieses Buch soll dabei helfen, sie auszuziehen. Es soll uns helfen, gefühlsbereit zu werden.

Ich möchte dich mitnehmen auf meiner Reise zu mehr Gefühlsbereitschaft. Eine Reise, die für mich an verschiedenen Stellen ganz schön persönlich, peinlich und unangenehm wird. Vielleicht werde ich mit meinen Geschichten all diese Gefühle, die wir normalerweise nicht gern spüren, verstecken oder anders haben wollen, auch in dir auslösen.

Gefühlsbereitschaft – das Verhalten der Stunde

Vielleicht fragst du dich jetzt: Warum sollte ich das machen, es läuft doch alles ganz gut? Natürlich kannst du dich weiterhin entscheiden, deine unangenehmen Gefühle mit aller Kraft vermeiden zu wollen. Aber damit verlierst du etwas extrem Wichtiges, was dich ausmacht. Es ist nicht nur so, dass Gefühlsvermeidung mit einer ganzen Reihe von psychologischen Leiden in Verbindung steht3, sondern dass du so auch dein Bewusstsein dafür verlierst, was wirklich für dich ganz persönlich zählt. Gefühlsbereit zu sein bedeutet, die Augen zu öffnen für das, was ist. Denn unsere Gefühle geben uns eine Richtung vor. Wenn wir anfangen, sie wahrzunehmen, können wir unsere Bedürfnisse besser erkennen, nach ihnen handeln und dadurch besser leben. All unsere Gefühle spielen dabei eine wichtige Rolle. Die angenehmen wie die unangenehmen. Wie wir mit diesen Gefühlen umgehen, bestimmt alles in unserem Leben: Wie wir lieben, streiten, arbeiten und mit uns selbst umgehen. Wenn wir nicht die gesamte Palette unserer Gefühle wahrnehmen, sind wir wie mit Autopilot in unserem Leben unterwegs. Denn vermeiden können wir unsere Gefühle ohnehin nur kurzfristig. Langfristig bewirken wir damit genau das Gegenteil, denn so übernehmen unsere Gefühle das Steuer auf unserer Fahrt durchs Leben.

 

Mein Leben wurde ein anderes, nachdem ich mich nach dem Kiteunfall für meine Gefühle geöffnet habe – das war natürlich ein längerer Prozess. Verschiedene psychologische Praktiken haben mich dabei unterstützt. Sie haben mir, wie schon vielen Menschen zuvor, zu einem völlig neuen Blick, mehr Lebendigkeit und einem erfüllenderen Umgang mit dem Leben verholfen. Mit der Bereitschaft, all unsere Gefühle zu fühlen, bekommen wir Informationen, die für unser Leben wichtig sind. Wir können lernen, wo es für uns hingehen soll und welche Bedürfnisse wir haben, und können damit unser Leben langfristig danach ausrichten. Ja, wir werden uns unserer selbst sehr viel bewusster. Wer die Fähigkeit entwickelt, all seine Gefühle zu spüren, kann auf eine ganz besondere Art frei sein.

Die Werkzeuge, die du dafür brauchst, stelle ich dir in diesem Buch vor. Sie stammen aus der renommierten und in mehreren Tausend Studien erforschten Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT)4. Aus meiner Sicht ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen inneren Erleben essenziell wichtig – nicht nur zu deinem Wohl, sondern auch zum Wohl aller Menschen in deinem Umfeld, weil du deine Verhaltensmuster und Probleme sonst an anderen auslässt. Ich behaupte deshalb mit gutem Gewissen: In einer gefühlsbereiten Welt gäbe es weniger Konflikte, weniger Kriege und weniger Hass. Gefühle sind dabei Übungssache. Sie beginnen mit Wissen und gelingen mit Übung – vergleichbar mit dem Erlernen einer Sportart oder eines Instruments. Wir lernen uns im wahrsten Sinne des Wortes kennen: Was bedeutet das Drücken in meiner Brust? Das Kribbeln in meinem Bauch? Die Enge in meiner Kehle? Und: Was steckt eigentlich hinter der Wut, der Trauer, dem Glück?

Dafür ist das Buch in zehn Kapitel eingeteilt. Jedes ist einem Gefühl oder einem Zustand gewidmet, der starke Gefühle auslöst. Zu Beginn erzähle ich dir von meinen eigenen Erfahrungen: wie ich weine, lache, helfe, trauere, betrüge, verzweifelt bin und neuen Mut schöpfe. Dann schauen wir uns die psychologische Forschung dazu an: Hier erwarten uns hilfreiche und interessante Informationen, mit denen es dir leichter fällt, dich und andere zu verstehen. Am Ende jedes Kapitels gebe ich dir praktische Alltagshelfer an die Hand, die dich dabei unterstützen, besser mit deinen Gefühlen umzugehen. Alle dienen dazu, dir durch kleine Veränderungen das Steuer für dein Leben zurück in die Hand zu geben.

Dieses Buch wird dich nicht vor dem Schmerz, der Enttäuschung und allen anderen unliebsamen Empfindungen des Lebens schützen. Es wird dir aber dabei helfen, dich zurück zu deinen Gefühlen und damit zu dir selbst zu führen. Gefühle sind nun mal das Wichtigste, was wir haben, um unseren Weg im Leben zu finden – mit allen Sinnen. Denn: Verstehen ist nicht fühlen, beobachten ist nicht fühlen, fühlen ist fühlen. Dieses Buch ist ein Weg dorthin. Es ist meine Reise zu mehr Lebendigkeit, zu einem erfüllteren Leben und tieferen Beziehungen. Dafür begebe ich mich in die Dunkelheit, weil ich hier auf das treffe, was ich allzu lange vermieden habe.

Kapitel 1

Im Leben geht es immer ums Gefühl

Der Zug galoppiert über die Schienen im immer gleichen Rhythmus der Dehnungsfugen. In einer Stunde erreiche ich ein Ziel, von dem ich mich frage, warum ich es überhaupt ansteuere. Auf mich wartet ein Experiment am »Ort der Stille«, wie sich das moderne Kloster nennt. In meinem Leben gibt es alles – alles außer Stille: Termine, Deadlines, viel zu volle Arbeitswochen. Alles ist noch stärker komprimiert durch meinen Anspruch, ein guter Vater, Chef, Freund und ein gutes Familienmitglied zu sein. Stille versuche ich in meinem Leben krampfhaft zu vermeiden. Mit jeder E-Mail, die noch schnell rausmuss, mit jedem Telefonat, das noch dazwischengequetscht wird, mit jeder effizient genutzten freien Sekunde.

Nun also drei Tage Stille. Drei Tage Dunkelheit. Drei Tage keine Ablenkung, keine Geräusche und keine Menschen. Noch nicht einmal Zeit. Nichts als ein tiefes schwarzes Loch, in das ich hineingeworfen werde. Ich klammere mich an diesen Spätsommertag, als ob es kein Morgen gäbe. Als der Zug träge in den Bahnhof einfährt, bläht sich in mir mehr und mehr ein mit Unruhe gefüllter Ballon auf. Ich schleppe ihn zum nächsten Taxi, und die Gleitfahrt durch die Sommerlandschaft beginnt. Wir halten vor einem riesigen gelben Gutshof im schweren Gewand des Barocks. Über die grüne, parkähnliche Fläche komme ich zur imposanten Treppe. Die Klingel ist am »Ort der Stille« gut versteckt. Ich frage mich: »Darf man hier überhaupt klingeln, oder verstößt das gegen das Gebot der Ruhe?« Das »Dingdong« schneidet wie eine Rasierklinge durch das Nichts. Ich warte zehn Sekunden und noch mal … niemand antwortet. Das Geräusch verliert sich in der Ferne. Geduld haben – wahrscheinlich ist das die erste Aufgabe für mich. Gut, dann setze ich mich mal auf die Wiese und gehe meinem Hobby des Zorns nach: Warten. Ironisch, denn im Gegensatz zu dem, was mir bevorsteht, ist das Warten eigentlich keine große Aufgabe. Trotzdem scheinen die nächsten 30 Minuten, die ich hier auf der Wiese verbringen muss, endlos lange. Irgendwann höre ich es im Kies knirschen, drehe mich um und entdecke eine kleine rundliche Frau, die über die Einfahrt in meine Richtung geschlichen kommt. Wie sie da langsam und gebückt vor sich hin schlurft, wirkt sie wie eine in die Jahre gekommene Schildkröte. »Morla!«, schießt es mir sofort durch den Kopf – sie erinnert mich an die uralte Testudine aus der unendlichen Geschichte. Per Handzeichen signalisiert sie mir, dass ich ihr folgen soll. Am Eingang entledigen wir uns unserer Schuhe. Beim Blick nach unten stelle ich verwundert fest, dass sich wohl viele weitere Menschen im Gutshof befinden müssen, denn hier sind genug Schuhe für ein kleines Fachgeschäft aufgereiht. Trotzdem sehe ich weit und breit keine Menschenseele. Wir setzen uns in ein winziges Separee. »Warum bist du hier?«, fragt sie trocken und ohne Vorwarnung. Ich will nicht gleich mit der Sprache rausrücken und zucke erst mal mit den Schultern. Sie fragt erneut: »Warum bist du hier?« Ich antworte zögerlich: »Na, weil ich es mal ausprobieren will.« Sie rollt mit den Augen: »Lass den Scheiß! Warum bist du hier?« Eigenartige Methoden, die sie da anwendet, denke ich – vor allem, wenn man bedenkt, dass sie die Psychologin ist, die mich während meiner Reise in die Dunkelheit begleiten soll. Ich fühle mich wie bei einem Verhör nach einem illegalen Grenzübertritt. Ich antworte: »Also gut. Ich bin hier, weil ich Angst vor der Dunkelheit habe – und Angst vor dem Tod«, füge ich noch hinzu, für den Fall, dass ihr diese Antwort nicht ehrlich genug sein sollte. Ich erzähle ihr von mir als Sechsjährigem, der solche Angst vor dem Alleinsein hatte, dass er, wann immer seine Mutter abends das Haus verlassen hatte, nicht alleine im Bett schlafen wollte. Die Dunkelheit hatte als Kind schon etwas sehr Unheimliches für mich. Wann immer ich mich im schwarzen Schleier der Dunkelheit befand, überkam mich eine solch existenzielle Angst, dass ich kein Auge zumachte. Ich suchte Trost bei meiner Schwester, aber die wollte das Bett aus Platzgründen für sich alleine. Als Kompromiss durfte ich jedes Mal einen kleinen Bindfaden an ihrem Fußgelenk festmachen, den ich beim Einschlafen in meinem Bett in den Händen hielt. So konnte ich immer mal wieder prüfen, ob noch jemand am anderen Ende der Leitung war. Die uralte Morla grinst mich an und sagt: »Deiner Angst wirst du hier begegnen, wie auch allem anderen, das in dir ist. Denn das wird von der Dunkelheit und dem Nichts angezogen wie Metallsplitter von einem Magneten. Nichts kann sich vor der Dunkelheit verstecken.« Das klingt ja sehr verlockend, denke ich. Ihre Worte fühlen sich an wie ein Brecheisen. Meiner generellen Schwierigkeit, mich Menschen gegenüber verletzlich zu zeigen, helfen sie jedenfalls nicht. Morla fragt noch ab, ob in meiner Familiengeschichte bereits Psychosen aufgetreten sind, und erklärt mir, dass auch diese durch Dunkelheit ausgelöst werden können. Sie zählt dann noch eine ganze Reihe von möglichen Dingen auf, die meinem Vorhaben entgegenstehen könnten. Ich verneine alle. Außerdem solle ich mich darauf gefasst machen, dass mich heftige Angstschübe ereilen würden. Sie sagt, ich werde weinen und singen, einfach um eine Stimme zu hören. Es läuft mir kalt den Rücken hinunter. Ich denke: Vielleicht wäre jetzt der angemessene Zeitpunkt zu gestehen, dass ich Angst vor meinen Gefühlen habe? Nein. Das Geheimnis behalte ich lieber noch für mich. Morla steht auf und signalisiert mir mit einer Handbewegung, dass ich ihr folgen soll. Ich trotte hinter ihr her wie ein trainiertes Gänseküken. Wir erreichen den Ort, der für die nächsten drei Tage mein Zuhause sein soll. Ein kleiner, spärlich eingerichteter Raum in einem verlassenen Seitentrakt des jahrhundertealten Gemäuers. Darin stehen ein Bett, ein kleiner Schreibtisch und ein Meditationshocker. »Wozu eigentlich der Schreibtisch?«, denke ich, nachdem sie mir noch das Bad und den noch kleineren Flur im Schein der Kerze präsentiert hat. Denn schreiben kann man hier ganz bestimmt nichts. Der Raum ist komplett in Schwarz gestrichen, damit auch jeder kleinste Lichtstrahl, der sich vielleicht durch einen Türspalt verirren könnte, von den Wänden geschluckt wird. Das ist also mein neues Zuhause, denke ich. Wir setzen uns auf den Boden und sagen nichts. Morlas altes Gesicht bewegt sich im Kerzenschein. Ich bin wie in Trance, hypnotisiert von meinem aufkommenden Unbehagen. Ich solle einfach alles zulassen, was hier auf mich zukommt, sagt Morla. Aufmachen für die bunte Welt an Empfindungen. Okay, das kenne ich, denke ich. In meinen Worten heißt das Gefühlsbereitschaft. In der Theorie habe ich also alles verstanden. Später werde ich realisieren: Genau darum geht es hier nicht. Die ganze Theorie kann Platz machen, wenn die Erfahrung durch die Tür kommt. Ob ich sie noch irgendwas fragen wolle, wiederholt die Schildkröte. Ich schrecke aus meiner Gedankenwelt auf, weil ich ihr anscheinend bei ihrer ersten Frage schon nicht auf den Fersen geblieben bin. Nein, eigentlich sei alles klar. Sie nickt, erhebt sich und bläst die Kerze aus.

Was Dunkelheit bedeutet, wird mir langsam klar, als sie die Tür hinter sich schließt. Nichts, wirklich nichts ist zu erkennen. Schwarz auf schwarz. Kein einziger Fleck. Es ist, als ob jemand den Schalter meiner Augen betätigt hätte und sie jetzt einfach aus sind. Genauso wie meine Ohren. Nichts ist zu hören, außer mein Herzschlag. Bumbum, bumbum, bumbum: Der neue Beat der Stille. Hier beginnt sie wohl, die Reise zu meinen Gefühlen. In diesem Raum, wo nichts ist außer meiner Wahrnehmung und Vorstellung. Nichts, was mich ablenken kann, jeder Versuch zum Scheitern verurteilt. Weglaufen zwecklos. Wovor auch? Mir selbst und meinen inneren Empfindungen? Es klingt lächerlich. Und doch weiß ich, dass ich das immer wieder in meinem Leben versucht habe: Auf der Flucht vor mir selbst stürzte ich mich in Arbeit, in kurze Beziehungen und in mein Streben nach Großartigkeit. Panik steigt auf. Ich versuche mich zu beruhigen. Was soll mir schon passieren? Als Psychologe bin ich doch Experte in Sachen Gefühle.

Gefühle sind etwas, das uns alle verbindet. Wir Menschen sind Fühlwesen. Bei allem, was wir tun oder eben nicht tun, geht es am Ende um das Gefühl, das in uns ausgelöst wird. Uns alle vereint die tiefe Sehnsucht nach diesem Antreiber und Taktgeber. Gefühle sind das Benzin in unserem Leben. Verpackt in Büchern, Kunst, Musik oder Filmen fällt es vielen leichter, sie anzunehmen – durch Abstand sind sie weniger bedrohlich. Im echten Leben dagegen werden uns Gefühle unverpackt serviert. Jeden Tag und jede Nacht. Von Anbeginn unserer Existenz im Mutterleib bis zu unserem letzten Wimpernschlag. Wir können das, was keine noch so moderne künstliche Intelligenz, kein selbststeuerndes Automobil, kein Hochleistungsrechner kann: Fühlen. Wir fühlen, also sind wir.

 

Unsere Emotionen beeinflussen unser Denken, Handeln und unsere Wahrnehmung. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Erfahrung. Der Ursprung des Wortes »Emotion«, abgeleitet vom lateinischen Wort »emovere«, verrät im Kern, welchen evolutionären Zweck Gefühle schon seit Zehntausenden von Jahren erfüllen: Sie sollen uns »bewegen«, uns dabei helfen, am Leben zu bleiben. Dafür liefern sie wichtige Informationen über unsere Bedürfnisse. Wie ein Seismograf zeigen sie uns an, was wir gerade brauchen, welche Bedürfnisse erfüllt sind und welche eben nicht. Am Ende sind Gefühle die Taschenlampe in der Dunkelheit, mit der wir unsere Bedürfnisse erst sehen können. Unsere Gefühle sind ein essenzieller und wertvoller Schlüssel zu einem erfüllten und selbstbestimmten Leben im Einklang mit uns und unseren Mitmenschen. Denn wir brauchen sie, um gesunde Beziehungen mit anderen zu führen. Wie über kleine Fäden sind wir durch sie mit anderen Menschen verbunden. Wir teilen unsere Gefühle: Die Liebe zueinander genauso wie die Trauer über einen gemeinsamen Verlust. Sie helfen uns zu verstehen, was in anderen vorgeht. Im Fühlen liegt eine wahnsinnige Kraft, die zerstörerisch, aber auch heilsam sein kann. Gefühle haben für Kriege, für heroische Rettungsversuche und für Akte der Mitmenschlichkeit gesorgt. Wir sind als Menschheit da, wo wir sind, weil wir fühlen.

In der Fachwelt wird zwischen Emotionen und Gefühlen unterschieden. Vereinfacht gesagt sind Emotionen automatisch ablaufende Reaktionen in unserem Körper, Gefühle dagegen Wahrnehmungen, die entstehen, wenn wir Emotionen erleben5. Und doch werden die beiden Begriffe in den meisten Kontexten synonym verwendet. Mit diesem Buch wollen wir ins Fühlen kommen, und dabei geht es um Emotionen und um Gefühle. Aus diesem Grund nutze auch ich beide Begriffe in diesem Buch synonym.

Wie bei fast allen Dingen im Leben gilt auch bei den Gefühlen: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Jedes Gefühl hat seine Aufgabe und kann uns zu sehr positiven Dingen im Leben antreiben, aber uns auch überrollen und uns zu impulshaften Handlungen drängen. Ein gutes Beispiel ist die Wut, die uns befähigt, eine klare Grenze für uns zu ziehen, aber auch sehr zerstörerisch sein kann, wenn wir uns in ihr verlieren und Dinge sagen, die wir später zutiefst bereuen. Jedes Gefühl hat seine Sonnen- und Schattenseite. Weil wir aber auf keine Gefühle verzichten können, gibt es meiner Meinung nach nicht wirklich negative und positive Gefühle. Alle Emotionen sind Boten wichtiger Informationen. Sie sagen uns: Was finde ich angenehm oder unangenehm? Trotzdem würden sich vermutlich die meisten darauf einigen, dass Glück eine angenehme Empfindung ist, Angst jedoch zu den unangenehmen Empfindungen gehört. Deshalb nutze ich lieber die Begriffe »unangenehm« und »angenehm« statt »positiv« und »negativ«, um Gefühle zu beschreiben. Beide haben ihre Wichtigkeit.

Und wie fast alles in unserem Körper und unserer Psyche sind Gefühle deshalb existent, weil sie eine wichtige Aufgabe zu erfüllen haben, und das, im Gegensatz zu unserem Blinddarm, heute noch immer tun. Bereits Charles Darwin, einer der bedeutendsten Naturforscher der Welt, war davon überzeugt, dass Emotionen uns im Kampf ums Überleben nützen6. Wir können uns als Autofahrer durch das eigene Leben verstehen. Auf unserem Armaturenbrett des Lebens blinken Lampen auf, die uns Informationen über unsere Umgebung und uns selbst geben. Emotionen sind dabei das Blinken, das uns hilft, in unserem Umfeld schnell und zielgerichtet zurechtzukommen. Manchmal blinken grüne Knöpfe, also unsere angenehmen Gefühle, und sagen uns damit: Mein Bedürfnis ist erfüllt. Das grüne Licht steht dann für das angenehme Gefühl von Liebe, wenn der Nachwuchs sich an uns kuschelt oder wir einen romantischen Abend mit unserer liebsten Person verbringen. Es steht dafür, dass unser Bedürfnis nach Bindung erfüllt ist. Ein rotes Licht dagegen blinkt bei unangenehmen Gefühlen wie Angst und Ohnmacht, wenn wir wenige Stunden später aus dem Schlaf gerissen werden und eine Schreckensnachricht mitgeteilt bekommen oder bedroht werden. Unsere Gefühle sind eine evolutionäre Hinterlassenschaft, die uns noch heute darauf hinweist, ob wir Veränderungen in Angriff nehmen sollten. Ohne Gefühle wären wir orientierungslos. Reagieren wir auf unsere Gefühle, sitzen wir am Steuer auf unserer Fahrt durchs Leben und schauen auf ein Cockpit, das uns signalisiert, ob wir genug Benzin im Tank, Öl im Motor und Kühlwasser im System haben7. Ich mag diesen bildlichen Vergleich. Er zeigt, warum es einfach keinen Sinn ergibt, diese Leuchten zu ignorieren. Wenn die Tankanzeige anspringt und uns signalisiert, dass der Tank sich leert, dann wird der Tank in Kürze leer sein, egal ob wir hingucken oder nicht. Wenn wir die Warnleuchte sehen, haben wir wenigstens die Chance, darauf zu reagieren und an die nächste Tankstelle zu fahren. Wir müssen dafür vielleicht nur rechtzeitig die Route ändern und unser Verhalten anpassen.

Wenn wir anfangen, unser Bewusstsein auf die Schaltzentrale unserer Gefühle, auf dieses blinkende Panel aus Lichtern, zu richten, können wir unsere Bedürfnisse besser verstehen und uns auch so verhalten, dass diese erfüllt werden. Fragen wie: Was täte mir jetzt gut? Was wünsche ich mir eigentlich? Wie kann ich gerade jetzt selbst für mich sorgen?, können dabei hilfreich sein.

Dass in unserem Armaturenbrett der Gefühle die roten Lichter heller leuchten als die grünen, ist unserer evolutionären Geschichte geschuldet. Denn sie haben uns schlichtweg bis hierhin das Überleben gesichert8. Wir sind noch immer auf Gefahren eingestellt, die es vor 10000 Jahren gab und die damals sehr bedrohlich für uns waren. Die Devise lautet: Lieber einmal zu viel Angst verspürt und von dem Rascheln im Gebüsch weggesprungen, als einmal zu wenig und so zum Futter der Steppe geworden. Der Vorfahre, der nach dem Motto »Wird schon nichts passieren« gelebt hat, konnte in den meisten Fällen sein Genmaterial nicht weitergeben und starb aus.

Unser Gehirn und damit unsere Gefühle wollen uns noch heute vor diesen Gefahren schützen. Es ist sogar evolutionär sinnvoll, immer wieder eine latente Unzufriedenheit zu verspüren – die kennst du vielleicht auch von dir. Diese Unzufriedenheit sorgte schon damals für Antrieb und sicherte so einen Selektionsvorteil9. Nur tragen wir diese Fixierung auf das Negative auch heute noch in uns. Selbst dann, wenn wir in modernen Büroräumen den ganzen Tag auf Tastaturen einhacken und uns Nachrichten hin und her schicken.

Diese Ausrichtung zum Unangenehmen, in der Psychologie auch Negativitätsbias10 genannt, sorgt heute noch dafür, dass wir uns selbst bei einer gelungenen Präsentation leicht verunsichern lassen. Dann bringt uns dieser eine Kollege mit seinem Kommentar »Mir hat ein bisschen der Tiefgang gefehlt« ins Wanken, auch wenn alle anderen vom Vortrag begeistert waren. Ich kenne das auch von mir: Zwanzig anerkennende und liebe Nachrichten von Hörerinnen und Lesern wiegen oftmals höchstens genauso viel wie diese eine niederschmetternde Mail von einem Kritiker. Auch hier meldet sich das evolutionäre Bedürfnis nach Sicherheit. Denn in der Steinzeit sollten wir eine Person, die uns unseren Platz in der Gruppe streitig macht, genau im Blick haben. Schließlich bedeutet der Ausschluss aus der Gruppe, zu erfrieren, zu verhungern oder gefressen zu werden. Was früher der Säbelzahntiger war, ist also heute der eine Kritiker im Büro, die Chefin, die vergisst zu grüßen, oder unser neuer Schwarm, der uns nicht sofort zurückschreibt. All diese Dinge bringen unsere Warnblinker zum Leuchten und verlangen Aufmerksamkeit.

 

Trotzdem laufen wir nicht die ganze Zeit unzufrieden durch die Welt. Überleg mal: Wenn du dir selbst eine Note geben müsstest für dein Leben zwischen null (unglücklich und am Boden zerstört) und zehn (absolutes Glück, Zufriedenheit, das glänzende Leben aus der Margarinewerbung) – welche Note würdest du dir geben? Nicht für diesen Moment, sondern auf dein gesamtes bisheriges Leben bezogen. Die meisten landen bei einer Sechs oder Sieben11. Ich bin mir sicher: Auch die Menschen auf Instagram, die so tun, als würden sie sich eine Zehn geben. Wir sind im Durchschnitt also recht zufrieden mit unserem Leben, und trotzdem gibt es diese Ausrichtung unseres Gehirns, potenziell unangenehmen, gefährlichen und bedrohlichen Dingen viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Auf der Fährte unserer Gefühle

Auch wenn wir schon über Tausende Jahre mehr oder weniger intensiv an unseren Gefühlen forschen und sie über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg erleben, gibt uns ihre genaue Entstehung im Gehirn noch immer Rätsel auf. Weil du ja gerade ein Buch über den Umgang mit deinen Gefühlen liest, möchte ich dir zumindest einen kurzen Überblick darüber geben, was bekannt ist: Wir wissen mittlerweile, dass es keine einzelnen Hirnregionen sind, in denen Gefühle wie Wut, Angst, Trauer, Freude und Glück entstehen. Emotionen entstehen vielmehr durch ein komplexes Zusammenspiel aus Regionen, die ein Netzwerk bilden. Ein Areal unseres Gehirns ist bei uns Menschen größer als bei allen anderen Tieren auf der Welt: unser präfrontaler Cortex hinter der Stirn. Hier planen wir, lösen Probleme, treffen Entscheidungen und passen uns an veränderte Lebensumstände an. Der präfrontale Cortex mischt auch kräftig mit, wenn es um unsere Möglichkeit geht, Empathie und Mitgefühl zu empfinden12. Dank ihm können wir auch das Verhalten von anderen vorhersagen. Wenn wir uns die komplexen sozialen Strukturen und die Zusammenarbeit als Gruppe in unserer evolutionären Geschichte deutlich machen, ergeben all die einzigartigen Fähigkeiten, die wir als Homo sapiens haben, Sinn. Auch bei der Emotionsregulation spielt der präfrontale Cortex die erste Geige im Orchester unserer Gefühle. Er ist der Sitz unseres Selbstbewusstseins. Hier sind wir also nicht nur in der Emotion gefangen, sondern können uns unserer selbst und unserer Gefühle bewusst werden. Wir sind nicht nur die Darsteller unseres Lebens, sondern auch die Regisseure. Ohne die Emotionsregulation durch den präfrontalen Cortex würde uns die Emotionsverarbeitung schwerer fallen13: Menschen um uns herum müssten dann vielleicht um ihr Leben fürchten, wenn wir eine Partie bei Mensch-ärgere-dich-nicht verlieren, oder der Hoover-Damm müsste für unsere Tränen verstärkt werden, wenn sich unsere Liebsten von uns trennen. Wir hätten weniger Möglichkeiten, gut mit unseren Gefühlen umzugehen14.

Außerdem wichtig, wenn wir unsere Gefühle im ersten Schritt besser verstehen wollen, sind die zwei neuronalen Wege, über die Emotionen verarbeitet werden. Der amerikanische Psychologe und Neurowissenschaftler Joseph LeDoux machte die Entdeckung, dass es so was wie eine Schnellstraße in Sachen Emotionsverarbeitung gibt15. Auf der sogenannten »Low Road« löst ein Reiz unmittelbar ein Gefühl aus. Sie führt vom Thalamus direkt zur Amygdala, wo die Emotion dann verarbeitet wird. Damit ist sie für die emotionale Reaktion verantwortlich. Die Low Road ist die Überholspur ohne Tempolimit – schnell, unbewusst, mühelos und automatisch. Sie erlaubt uns, mit hohem Tempo auf bedrohliche Situationen zu reagieren – zum Beispiel, wenn ich vor einer Ratte zurückspringe, die den Gehweg kreuzt. Die Low Road kann uns allerdings auch zum Fehlalarm verleiten, da sie schnell und nicht immer genau in ihrer Funktion ist. Weil es so schnell geht, haben wir keinen bewussten Einfluss auf diese Reaktion. Wenn man so will, fahren wir dabei im »Selfdriving-Mode«.

Daneben gibt es laut LeDoux in unserem Gehirn die Landstraße, unsere »High Road«, wo wir vom Thalamus über den Zwischenstopp »sensorischer Cortex« zur Amygdala geleitet werden. Auf diesem Weg können wir unseren Blick nach links und rechts schweifen lassen und die Landschaft wahrnehmen. Wir können eine gründliche Bewertung der Informationen des Kontexts und der Bedeutung vornehmen. Die Verarbeitung ist langsamer und erfordert ein höheres Maß an Anstrengung und Aufmerksamkeit. Sie sind dafür aber auch bewusster von uns steuerbar und richten sich mehr nach unseren Regeln. Aber auch hier gibt es Fehlerquellen, auf die ich später im Buch zu sprechen komme.

Die High Road ist wichtig für uns, weil sie der Teil ist, auf den wir den größten Einfluss haben. Hier können wir bewusst verarbeiten. Wir können agieren und nicht nur reagieren. Denn, wie der österreichische Neurologe und Holocaust-Überlebende Viktor Frankl einst so treffend formulierte: »Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegt unsere Freiheit.«16 Und damit hat er, wie ich finde, eines der wichtigsten Zitate der Psychologie erschaffen. Wir als Menschen haben oft die Wahl, wie wir auf die Ereignisse und Umstände in unserem Leben, auf das, was uns täglich begegnet, reagieren wollen. Dieser »Raum« zwischen Reiz und Reaktion ist der Ort, an dem wir die Freiheit und die Verantwortung für unser eigenes Leben haben. Diesen Schatz möchte ich in diesem Buch mit dir entdecken. Denn: Wie immer ist Wissen nicht gleich Tun. Auch hier liegt oft ein Graben, den wir überspringen müssen, dürfen oder wollen.

Dass Wissen nicht gleich Tun ist, merke ich, als ich in meinem dunklen neuen Zuhause das erste Mal wieder die Augen öffne. Ich hatte sie geschlossen, weil mir vom Starren ins Nichts schwindlig wurde. Nach kurzer Zeit war es, als ob ich endlos nach vorne in ein dunkles schwarzes Loch kippte. Ich stellte mir vor, dass meine Pupillen wahrscheinlich schon meine ganze Iris erobert hatten. Der Schweiß läuft mir den Rücken runter. Mein Herz fängt an zu pochen. Und dieses Pochen, das die Stille durchschneidet wie das schrille konstante Piepen von einem Kardiografen bei einer OP, beschleunigt den Kreislauf der Angst in mir. Ich schwitze noch mehr in diesen Räumen. Die Angst kocht förmlich in mir über. Was passiert hier mit mir? Wovor fürchte ich mich? Ich weiß, was reale Gefahren sind, und habe schon einige davon in meinem Leben durchgestanden, zum Beispiel den Kiteunfall in Südafrika. Diese realistische Angst vor dem Tod damals war genauso überwältigend real wie das Gefühl, das ich jetzt hier in der Dunkelheit spüre. Und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied. Während mich meine Angst auf dem Surfbrett auf eine reale Gefahr hingewiesen und mich darüber informiert hat, dass zehn Meter unter mir der steinige Tod auf mich wartet, gibt es eigentlich in der Dunkelheit nichts, was wirklich lebensbedrohlich für mich ist. Und trotzdem fühlt es sich genauso an. Allein in einem Dunkelretreat zu sein ist keine reale Gefahr. Hier ist meine Angst ein evolutionäres Klopfzeichen, ein Fehlalarm.

Beide emotionsgeladenen Momente haben etwas gemeinsam: Nicht das Gefühl als solches ist gefährlich, sondern die Situation, auf die es hinweisen soll. Bei Angst spüren wir zum Beispiel Herzrasen, Schweißausbrüche oder das Zittern am ganzen Körper. So bekommt die Angst die Kraft, unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment auszurichten und unser Handeln zu steuern. Die körperlichen Empfindungen sind das Unangenehmste an einem Gefühl. Viele glauben, diese körperlichen Empfindungen nicht aushalten zu können. Laut der Neurowissenschaftlerin Jill Bolte Taylor dauert die eigentliche Gefühlsregung höchstens 90 Sekunden, wenn wir sie nicht durch Gedanken bewerten und damit aufrechterhalten – danach ebbt das akute Gefühl wieder ab17.

Der Weg zum Gefühl

Gefühle bleiben auch dann, wenn wir sie nicht fühlen. Genau das zeigte sich in einer Studie, in der Versuchspersonen gebeten wurden, sich einen achtminütigen Ausschnitt des Films Gladiator anzusehen18. Sie sollten die wahrscheinlich traurigste Stelle des Films ansehen, als der Protagonist Maximus seine Frau und seinen Sohn ermordet vorfindet. Eine Gruppe der Teilnehmer wurde gebeten, ihre Gefühle dabei zu unterdrücken. Die anderen wurden gebeten, ihre Emotionen zu fühlen und anzunehmen. Bei der anschließenden Stimmungsmessung zeigte sich: Bei der Gruppe, die ihre Gefühle angenommen hat, machte sich naturgemäß die entsprechend traurige und gedrückte Stimmung für den Moment breit. Danach normalisierte sich ihre Stimmung aber sehr schnell. Die Gefühlslage der Emotionsvermeider verschlechterte sich erst einige Zeit später, hielt dafür aber länger an. Auch wenn wir unsere Gefühle im Alltag selten so bewusst unterdrücken wie in dieser Studie, zeigt sie doch, dass das mit dem Wegschieben der Gedanken nicht so einfach ist, wie viele vielleicht hoffen würden. Wir können uns zwar im Moment dafür entscheiden, unsere Emotionen zu unterdrücken, das Gefühl kommt aber wieder – ob wir wollen oder nicht. Obendrauf verschlechterte sich bei der Gruppe der Gefühlsvermeider die kognitive Leistungsfähigkeit nach dem Unterdrücken des Gefühls, weil das System mit der Emotionsregulation beschäftigt war19.

Wenn wir mit der Einstellung ans Fühlen gehen, dass Gefühle für ewig anhalten, ist es kein Wunder, dass wir unangenehmen Gefühlen ausweichen. Besonders extreme Formen kann das bei Menschen mit Angst- und Panikstörungen annehmen. Hier ist es nicht mehr die eigentliche Angst, die als bedrohlich wahrgenommen wird, sondern die Angst vor der Angst20.

Wichtig ist aber: Unangenehme Gefühle sind eben nur der Hinweis auf Gefahren und nicht die Gefahr selbst – die Warnleuchten blinken, aber das Benzin ist noch nicht leer. Außerdem sind die Situationen, auf die das Gefühl in unserer heutigen Zeit hinweist, häufig nicht gefährlich. Wie gefährlich ist unser Vortrag vor den Kollegen tatsächlich? In der Steinzeit hätte eine miese PowerPoint-Präsentation vielleicht den Ausschluss aus der Gruppe bedeutet und damit den sicheren Tod. Heute ernten wir vielleicht ein müdes Lächeln unserer Kollegen. Nicht ganz so dramatisch für uns, aber das Gefühl ist gleich geblieben. Die wirkliche Gefahr heutzutage – bedrohlicher als die allermeisten Situationen, die da draußen auf uns warten – ist der Umgang mit unseren Gedanken und Gefühlen. Denn ein ungünstiger Umgang kann dazu führen, dass wir uns dauerhaft schlecht fühlen. Weil Gefühle manchmal so extrem unangenehm sind, vermeiden wir sie häufig, was mittlerweile zu einem populären Volkssport geworden ist, den viele von uns perfekt beherrschen. Wir machen die Schotten dicht wie bei einer Schleuse, die kein Wasser mehr durchlässt, weil wir Angst haben, von unseren Gefühlen überschwemmt zu werden. Unser innerer Schleusenwärter schiebt unsere Gefühle weg, verdrängt oder ignoriert sie. Wir drehen die Lautstärke in unserem Leben so laut auf, dass wir unsere Gefühle nicht hören und damit die wichtigsten Informationen über unser Leben verpassen.

Ich stelle dir an dieser Stelle einen bunten Strauß der Vermeidungsstrategien vor, die wir meist unbewusst anwenden: Wir betäuben uns mit Substanzen wie Alkohol und anderen Drogen, um zum Beispiel soziale Unsicherheit oder Einsamkeit nicht fühlen zu müssen. »Ich muss mich hier erst mal auf euren Pegel trinken« – ein Ausspruch, der vielen im Laufe ihres Lebens schon mal begegnet ist. Alkohol wird genutzt, um Gefühle nicht fühlen zu müssen und/oder erwünschte Gefühle zu erzeugen21. Der Leidensdruck innerhalb der Bevölkerung muss immens sein, wenn wir auf die Zahlen der alkoholkranken Menschen blicken. Allein in Deutschland konsumieren 7,9 Millionen der 18- bis 64-Jährigen Alkohol in riskanter Form22. Das heißt, jeder sechste Mensch in unserem Umfeld ist laut Statistik davon betroffen. Und auch die durchschnittlichen Mengen, die getrunken werden, sind beachtlich: Ab einem Alter von 15 Jahren trinkt jede Person im Durchschnitt 13,4 Liter reinen Alkohol im Jahr23. In Bier gerechnet bedeutet das ganze drei Badewannen oder 27 Zehnlitereimer. Auch übermäßiges Essen und vor allem Zucker haben laut Forschenden ähnliche Gesundheitsrisiken wie Alkohol24. Zucker ist zwar nicht als Droge klassifiziert, aber setzt beim Konsum im Gehirn Dopamin und Opioide frei, also einen unserer Neurotransmitter, der auch als Glückshormon wirkt, und andere Stoffe, die Schmerzen lindern25. Kein Wunder also, dass Zucker sich hervorragend eignet, um unsere Gefühle zu manipulieren. Mal schnell aus Langeweile etwas essen, das Frustessen nach einem langen, harten Arbeitstag, um das Gefühl der Enttäuschung nicht zu spüren oder aber Hilflosigkeit, Angst und Schuldgefühle mithilfe einer Packung Chips, Gummibärchen und einer Dose Cola runterspülen. Die Schattenseiten sind unter anderem die bedenklichen Auswirkungen auf unsere körperliche Gesundheit: Rund die Hälfte der Deutschen leidet unter Übergewicht26. Und Übergewicht erhöht erheblich das Sterberisiko27. Studien zeigen außerdem, dass Emotionsvermeidung mit Essstörungen in Verbindung steht28.

Neben Lebensmitteln und Substanzen eignen sich auch Netflix, Shopping, Computerspiele, Humor oder Sarkasmus zur Gefühlsvermeidung. Eine andere Variante (die übrigens gerne von Psychologen angewendet wird, auch von mir) ist das Analysieren von anderen Menschen oder sich selbst29. Da analysieren wir den ganzen Tag lang, warum diese eine Person nicht zurückruft oder wir uns immer wieder die gleiche Art Partner aussuchen, und halten uns damit beschäftigt, für alles Erklärungen zu suchen, statt zu fühlen, was eine bestimmte Situation mit uns macht. Reflektieren ist wichtig, aber auch hier macht die Dosis das Gift. Wenn wir etwas verstanden haben, heißt das nicht, dass wir es auch fühlen und damit verarbeiten können. Wir werden damit nur zu »Theorie-Weltmeistern«. Wir lesen Bücher zu Gefühlen, nutzen schlaue Worte und kennen alle Modelle und Studien. Oft bringen uns »logische« Erklärungen aber nicht weiter. Die Angst vor dem Autofahren wird dann mit der statistischen Wahrscheinlichkeit von Unfällen begründet, die Angst vor Spinnen mit unserer Evolution und die Angst davor, verlassen zu werden, mit unserem natürlichen Bedürfnis nach Bindung.