Fürs Leben gezeichnet - Tobias Prüwer - E-Book

Fürs Leben gezeichnet E-Book

Tobias Prüwer

4,7

Beschreibung

Tätowieren, Piercen und Dehnen, Einbrennen und Narbenschneiden: Schon immer diente die Haut buchstäblich als Schnittstelle von Körper und Welt, zur besonderen Markierung in der Welt: Body Modification (BodyMod). Heute geschieht diese Praxis der permanenten Körperveränderung meistens unter individuellem Zugriff. Trotz einiger Akzeptanzschübe erzeugt die BodyMod weiterhin tiefe Verunsicherung. So untergräbt sie die Vorstellung von der Urwüchsigkeit und Integrität des Leibes. Begehren und Aufbegehren: Jenseits modischer Sternchen-Tattoos und Nabelringe wird BodyMod als Selbsttechnologie in Fleisch und Blut erkennbar. Im Versuch, eigene Deutungshoheit zu gewinnen, kratzt der markierte Körper am noch immer die „abendländische“ Kultur prägenden Dogma leiblicher Unverfügbarkeit und bedroht die Ordnung. Als ein Stück Körpergeschichte folgt Tobias Prüwers Essay der BodyMod-Spur und oszilliert wie die Nadeln der Tätowiermaschine um die topografischen Markierungspunkte Natürlichkeit und Produktcharakter, Individuum und Konvention, Pathologisierung und Selbstgestaltung. Im Kontext von biopolitischem Diskurs und sozialorganisatorischer Normierung zeigt sich, was diese körperästhetische Perspektive gefährlich macht und welche kleine Freiheit sie gewähren kann.

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Tobias Prüwer

Fürs Leben gezeichnet

Body Modification und Körperdiskurse

© Parodos Verlag Berlin 2012

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagfoto: Franziska Reif

ISBN der Printausgabe: 978-3-938880-49-4

www.parodos.de

Als E-Book vertrieben im heptagon Verlag (2015)

ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-934616-34-9

Bist Du Körper oder hast Du Fleisch?1

Prolog: Bodyplay

Der Leib – und alles, was damit zusammenhängt: Ernährung, Klima, Boden – ist der Ort der Herkunft; auf dem Leib findet man die Stigmata vergangener Ereignisse; aus ihm erwachsen die Begierden, Schwächen und Irrtümer; in ihm verschlingen sie sich miteinander und kommen plötzlich zum Ausdruck, aber in ihm lösen sie sich auch voneinander, geraten in Streit, bringen sich gegenseitig zum Verlöschen und tragen ihren unüberwindlichen Konflikt aus.2

Schon bald nachdem James Cook 1771 von seiner dreijährigen Südseeexpedition nach London zurückgekehrt war, ging das Wort »Tatau« in den allgemeinen Sprachgebrauch über. Denn es markierte etwas Unerhörtes, was in der europäischen Geschichte verschüttet gegangen war: Menschen fügen ihrer Haut permanente Muster zu, nicht als Strafe, sondern als Schmuck und Gemeinschaftssymbol. Mit seinem Bericht über die blau-schwarzen Hautzeichnungen der Tahitianer brachte Cook die Tätowierung – und damit die bis heute populärste Technik der Body Modification – nicht als Novum nach Europa, sondern er brachte sie zurück. Denn obwohl Cook und seine Zeitgenossen das Tattoo als Ausdruck von Exotik, Fremd- und Wildheit ansahen, war es einst gleichfalls in Europa gebräuchlich. Die Wieder-Entdeckung der Tätowierung war die erste Begegnung der neuzeitlichen europäischen Kulturen mit der Body Modification – hier fortan BodyMod genannt. Zwar waren Ohrringe bei Europäern in Gebrauch und Schandstrafen üblich. Diese aber fasste das Zeitalter der Aufklärung als normal auf, während BodyMods stets die Anderen verkörperten, was – mit Abstrichen – bis heute gilt.

In den »westlichen« Kulturen, und auf diese beschränken sich die hier vorgelegten Suchbewegungen, wird die BodyMod heute im Sinne der Selbstdefinition und als Gruppeninitiation sowie Modeaccessoire angewendet. Dennoch wird sie weiterhin unter kolonialistisch oder exklusiv gefärbten Brenngläsern betrachtet, was in mancher Verklärung innerhalb der BodyMod-Szene gespiegelt wird. Für die Entdeckung des indigenen »Wilden«, später des urbanen »Primitiven«, waren die BodyMods markante Konstruktionshilfen. Mit einer Mixtur aus Faszination und Argwohn richtete sich der bürgerliche Blick – und dieser gehört auch zur interessierten, zwischen Norm und Wahn entscheidenden Wissenschaft – auf die Ausgeschlossenen, Randständigen, Devianten und ihre Hautzeichen. Als erste Wissenschaft war es die Kriminologie, welche die BodyMod untersuchte und vielfach nachgeplapperte Ressentiments in die Welt setzte. Ein Rest dieser abschätzigen Haltung hat sich bis heute in der Forschung erhalten; auch, weil es die Nicht-Markierten sind, die sich mit dem markierten Körper beschäftigen. Davon soll, so viel sei über den Autor verraten, dieses Büchlein eine Ausnahme bilden.

Die Haut ist nach Robert Musil der »Reisesack des Lebens« und manche Menschen möchten diesen so gestalten, wie ein Wanderer den Stecken mit Ziernägeln beschlägt. Fürs Leben gezeichnet: In vielen Zeiten und Kulturen rückte man mittels BodyMod der Haut als Schnittstelle zur Welt und als Medium der Körpererfahrung zu Leibe. Unter den Begriff BodyMod können ganz allgemein vom Haarefärben bis zum Zungenspalten alle Praktiken fallen, welche den Körper verändern. Er lässt sich allerdings auch eingrenzen auf Techniken, die (relative) Permanenz beinhalten und nur schwer zu entfernen oder rückgängig zu machen sind. Daher werden hier Playpiercings wie Saline-Injektionen, mit denen Hoden, Penis oder Schamlippen für den temporären Lustgewinn zum Anschwellen gebracht werden, außen vor gelassen. Strenggenommen stellen auch Schönheitsoperationen und Bodybuilding eine BodyMod dar, aber der Begriff beschränkt sich in meiner Definition auf Verfahren, die vom konventionellen Schönheitsbild und der Vorstellung vom Normalen abweichen. So gelten Muskelaufbau oder Brustvergrößerung, Mamillenrekonstruktion oder Permanent-Make-Up in der Regel als Hervorheben des natürlichen Körpers, der gesunden Anmutung. Sie werden erst in »Extremfällen«, also bei »Übertreibung« und Abweichung von der Norm als entstellend empfunden. Daher finden hier nur jene Praktiken Betrachtung, die nicht – vielleicht noch nicht? – in jenem Grade akzeptiert sind wie kosmetische Techniken, also Tätowieren, Piercen, Dehnen, Branding, Scarification etc. Dazu zählt alles vom Ohrloch bis zum Zungenspalten, von der Rose auf der Schulter bis zu Ziernarben, vom Bananenstecker im Bauchnabel bis zu Metall-Implantaten in der Kopfhaut. Zugegeben: Auch auf diesem Gebiet haben Akzeptanzschübe stattgefunden. Allerdings nur, wenn sich die BodyMod im Rahmen der Modekonventionen bewegt. Eine Rose auf dem Schulterblatt ist hübsch, viel mehr darf es aber nicht sein. In diesem Sinne sind die vorgeführten Praktiken auch als Antifashion verstehbar, entziehen sie sich durch ihre Permanenz – »Ein Tattoo ist für immer« – dem Wandel der Trends und dem modischen Zuschnitt des Körpers.

Die Diskussion der BodyMod ermöglicht das Fragen nach dem selbstverständlichen Bild des natürlichen Körpers, der sich einmal mehr als jene Konstruktion erweist, die Gender- und Queer-Theory bereits vielfach thematisiert haben. Sind Körper beziehungsweise Körperbild diskursiv geprägt, werden andere Diskurse – wie jener der BodyMod – möglich und nur durch ein vorherrschendes Dispositiv von Natürlichkeit/Unberührtheit/Reinheit unzulässig. Praktiken der Körperveränderung drohen, die unterstellte körperliche Urwüchsigkeit zu untergraben und den Naturbegriff aufzubrechen: Was soll das eigentlich sein, die Integrität des Körpers? BodyMod lässt sich in dieser Lesart als Versuch fassen, eine gewisse Deutungshoheit über den eigenen Leib innerhalb der Körperdiskurse zu beanspruchen, die noch immer Aspekte von Unverfügbarkeit als Reminiszenz an die »abendländische Kultur« beinhalten. »Mein Körper gehört mir«: Um diese vermeintliche Banalität wird nicht nur in der Abtreibungsdiskussion gestritten. Weil sie sich nicht ordentlich einpassen, können BodyMods für die »gesunde Norm« gefährlich sein und deren Selbstverständlichkeit infrage stellen. Das lässt sich feststellen, ohne BodyMod zur großen Protestform zu idealisieren oder zu stilisieren. Denn der Individualisierungsmoment in der körperlichen Selbstgestaltung und der Akt der Autonomie lassen sich nicht ignorieren.

Nicht zuletzt erscheint der Körper angesichts ubiquitärer Anrufungen und der Durchdringung der Freizeit durch die Arbeitswelt als Rückzugs- und Ausbruchsort bürgerlicher Ausbruchsfantasien – ein Fight Club within. Eng hiermit zusammen hängt das Begehren nach Unmittelbarkeitserfahrungen, welche innerhalb der zunehmend medial vermittelten Wirklichkeit abnehmen. So ermöglicht BodyMod immerhin eine (kleine) Freiheit, weil sie zu einem veränderten Körperverhältnis führen kann – und sei es nur durch zitierte Zeichen nicht selbst gemachter Erfahrung.

Anhand der gesellschaftlichen Ablehnung dieser Praktiken lässt sich an einem weiteren Beispiel Foucaults biopolitische These überprüfen. Es ist eben nicht der eigene Körper, über den man walten darf. Über ihn ist die Allgemeinverfügung verhängt, er dient Fortschritt und Wohlstand. Wer darum dem Körper schadet, schädigt die Allgemeinheit. In dieser Perspektive drängt sich die BodyMod als einerseits als von »Wilden« übernommen und »unzivilisiert« auf und spiegelt andererseits die peinlichen, erst allmählich abgeschafften Körperstrafen. Sie wird als Fremdes wahrgenommen, das ins soziale System einbricht, als das Irrationale, das hier keinen Platz hat. Folgerichtig werden solche Praktiken pathologisiert und als krank, pervers und asozial betrachtet.

Der Frage nach der BodyMod auf der Spur, oszillieren die Etüden dieses Essays wie die Nadeln der Tätowiermaschine um die Komplexe Natürlichkeit/Produkt, Individualität/Normalität, Pathologisierung/Selbstverwirklichung. Im Kontext von biopolitischem Diskurs und sozialorganisatorischer Normierung wird sich zeigen, was diese körperästhetische Perspektive so gefährlich macht.

Der Leib: eine Fläche, auf dem die Ereignisse sich einprägen...; Ort der Zersetzung des Ich (dem er die Schimäre einer substantiellen Einheit zu unterstellen versucht); ein Körper, der in ständigem Zerfall begriffen ist.3

Stichworte zum Blutvergießen

Was wir Fleisch nennen, diese im Innern gearbeitete Masse, hat in keiner Philosophie einen Namen4

Körper hat Geschichte: Er ist durch die Zeiten verändert worden, seine Wahrnehmung unterlag mehrmaligem Wandel. Solch verkörperte Geschichte, oder besser: Körpergeschichte soll im nachfolgenden Kapitel verhandelt werden und BodyMod kurz im Prisma ihrer historischen Vielfalt aufscheinen. In einem Akt der Selbstvergewisserung wird zuvor noch genauer zu klären sein, über was wir eigentlich sprechen, wenn wir BodyMods thematisieren. Dem Körper stehen wir nie undistanziert gegenüber. Wer ihn als Beschreibungsobjekt in den Blick nimmt, findet sich schon in einer Bewegung der Überhöhung wieder, stellt quasi den Geist über den Körper. Dementsprechend schwierig fällt es, über BodyMods zu sprechen.

Als Tiere zweiter Ordnung umgaben sich die Menschen immer schon mit Symbolen. Mit ihnen strukturieren sie ihre Welt, Wahrnehmung, Lebenswelt und formen auf die eine oder andere Weise auch ihre Körper. Manche Kulturtechniken besitzen einen Selbstbezug: Man kann vom Sprechen sprechen, im Hüttenbau den Hüttenbau thematisieren ist dagegen nicht möglich.5 Das Schmücken des menschlichen Körpers zählt zu diesen selbstbezüglichen Techniken, und damit auch die BodyMod. Als Selbsttechnik legt sie sich eine hermeneutische Spur, geht es ihr doch auch um die Interpretation des Leibes und der eigenen Existenz. Die Art und Weise, wie das geschieht, ist höchst differenziert nach Wahl der Körperstellen, des Schmuckes und der Technik: Eberhauer im Septum (unterhalb des Nasenscheidewandknorpels) finden sich bis heute bei den Papuas in Neuguinea, an derselben Stelle tragen die Shipibo-Indianerinnen im Amazonastiefland eine Metallscheibe mit Ring; sie schmücken zudem ihr Antlitz mit permanenten roten Punkt- und Strichmus­tern. Gesichtstätowierungen lassen sich auch bei den Frauen in der Kalahariwüste erblicken, Schmucknarben auf dem Oberkörper und Stirntätowierungen bei den Aborigines, bei denen auch das Penisspalten praktiziert wird. Pflöcke oder Holzscheiben sind in die Unterlippen der Menschen im Südsudan und im Amazonasgebiet platziert. In der Kalahari hängen sich die Frauen mancher Völker Gewichte an die inneren Schamlippen, um diese deutlich heraushängen zu lassen.6 Die heute im »Westen« gängigen Praktiken sind größtenteils steinalt und von indigenen Techniken inspiriert wie Tätowierung, Ohrläppchendehnung und Septum-Piercing, zum Teil aber (post-)moderne Erfindungen, was die Wahl der Körperstelle oder die Art der Ausführung wie Microdermal (Mini-Implantate), Magnet-Implantat oder diverse Oberflächenpiercings (Korsett-Piercing, Surface Weaving) betrifft.

Zeigt sich beim Theoretisieren das Gerede von allerlei Einschreibungen – Töne in Räumen, Blicke in Landschaften, Wetter in Windmühlen – als anhaltend en vogue, so ist den hier behandelten Selbst-Techniken in Fleisch und Blut tatsächlich ein Einschreibungsas­pekt immanent, auch wenn sich dieser nicht auf das Primat der Schriftlichkeit reduzieren lässt. Denn sie hinterlassen signifikante Spuren, die gewollt sind. Über diese liest man mitunter in wissenschaftlichen Erörterungen Erstaunliches, etwa Hochspekulatives wie dieses: »Mit dem Ende der Metaphysik im ausgehenden 19. Jahrhundert tritt die Tätowierung erstmals, einem deus ex machina gleich, in Erscheinung, verschwindet kurz darauf wieder, um dann zeitgleich mit dem auf die wissenschaftlichen Innovationen des 20. Jahrhunderts zurückgehenden prinzipiellen und radikalen Pluralismus abermals in Erscheinung zu treten.«7 Interessant in dieser knappen Darstellung ist das Aussparen eines historisch verbürgten Fakts: Das Tattoo war im ausgehenden 19. und im anbrechenden 20. Jahrhundert bei den unteren Schichten beliebt, im Bürgertum fand es aber kaum Verbreitung. Warum, so muss sich diese Darstellung fragen lassen, sollte gerade der einfache Arbeiter das Ende der Metaphysik am Leib markieren, die in ihren Sicherheitsgefühlen deutlich stärker erschütterte Mittelschicht aber nicht? Das erklärt der Autor nicht und er ist nicht allein. Zahlreiche Wissenschaftler gleichen Wanderern im Nebelmeer, die aus so großer Distanz auf ihr Sujet spähen, dass sie die eigenen Wissenslücken und schlimmer noch: Vor-Urteile nicht bemerken. Solche aber wirken weiter und desinformieren andere. Selbst wenn man heute von Randgruppen nicht mehr sprechen kann angesichts 8,5 Prozent Tätowierter und 6,8 Prozent Gepiercter im Deutschland (Erhebungsjahr: 2007)8, so umweht die BodyMod weiterhin ein schlechter Ruf. Eine kurze Bemerkung zur Empirie: Auch in diesem Feld wirft die Statistik eher Fragen auf, als sie Antworten gibt. Denn andere Befragungen kamen schon 2003 auf rund zehn Prozent Männer und acht Prozent Frauen mit Tattoo – 29 Prozent in der Gruppe der damals 16-29-Jährigen.9 Die Erhebungen scheinen in ihrer Quantität abzuebben, als ob der empirische Interessenboom erlahmte, weil man feststellte, dass die BodyMod kein so exotisches Phänomen (mehr) ist. Allerdings verändert dieser Befund nicht die dominante wissenschaftliche Wahrnehmung, dass BodyMods Ausdruck von Denaturierung, Verzerrung, Störung, Deformation sind. Das mag dem Faktum geschuldet sein, dass die Körperveränderung als anderer Rationalitätstyp dem Vernunftprinzip der Moderne entgegenläuft.10

Die Körperbilder sind von der radikalen Pluralisierung der Gesellschaft und der zunehmenden Auflösung allgemeingültiger Vorstellungen betroffen. Zugleich macht sich Verunsicherung breit, ein Nicht-Auskennen in einer unübersichtlichen Welt, das den Griff zur BodyMod ebenso begründen mag wie seine Ablehnung. Man muss Jean Baudrillards Weltsimulationsthesen nicht völlig folgen, um vielfältige Formen des Begehrens und Aufbegehrens beobachten zu können, die im Ausruf kulminieren: »Ich bin nicht löschbar!« Der Körper ist das kleinste kontrollierte respektive kontrollierbare Handlungsfeld, immerhin hier ist der unmittelbare Zugriff möglich. Gewiss lassen sich die BodyMods auch als narzisstische Prothesen oder Mittel zum »Selbstwertgewinn«11 betrachten. Da unterscheiden sie sich von anderen Quasi-Fetischen der Konsumkultur wie Mobilfon oder Mangolassi allerdings nicht. Für die BodyMod spezifisch ist allerdings die Art und Weise ihres »Konsums«, seine Dauer sowie die bewusstere Entscheidung, die er einfordert – auch wenn die Minitattoos, die manche als Urlaubsmitbringsel erwerben, oder die Ohrlöcher aus dem Schmuckladen einen anderen Anschein erwecken.

Oft versteigen sich Autoren zu einer Überrationalisierung der BodyMod-Intention und zur semantischen Aufladung der Praktiken, was nicht selten zu Vereinfachungen oder Verflachungen des Phänomens führt. Weder eine umfassende Darstellung noch eine Durchpsychologisierung aller möglichen Gründe für eine dauerhafte Körperveränderung sind in diesem Text zu finden, der in dieser Hinsicht schon einen Schritt weiter ist als die Masse der Literatur: Wir lassen alle möglichen Gründe zu und verzichten auf das Pathologisieren, sobald die BodyMod größer ausfällt als das »süße« Nasenpiercing bei der Frau und der »männliche« Mikro-Skorpion auf dem Herrenbizeps. Hätte Bettina Wulff ihren ganzen Arm zum bunten Sleeve gestaltet oder wäre gar mit einer Black’n’Grey-Visualisierung von Dantes Göttlicher Komödie ins Rampenlicht getreten, hätte der ihr angetraute Bundespräsident wohl mehr erklärende Worte als »cool« verlieren müssen. Im engen Sinne sind die BodyMods funktionslos – nur in den seltensten Fällen wird man etwa mit einem Piercing ein Bier öffnen können. Die Erklärung, das sei Körperschmuck, der eben gesehen werden soll, mag für die Mainstream-Tätowierung und die üblichen Piercings gelten: So titelte 2006 die Bild am Sonntag: »Generation Frings – welches Tattoo trägst du?«12 Aber das betrifft nur einen Teil der BodyMods, denn es ist ja auch bereits tätowiert worden, als das sogar verboten war, und viele Methoden gelten heute noch nicht als modisch.

Nun muss man es nicht verstehen oder gar akzeptieren, wenn sich Menschen über die Ohrläppchen hinaus Metallringe, -stäbe und anderen Schmuck in den Körper stechen, Farbe in die Haut einbringen, (Brand-)Narben zufügen lassen, die Zunge spalten oder Implantate unter die Oberfläche setzen lassen. Man könnte es einfach hinnehmen, ja: tolerieren. Aber Exotisierung wie Skandalisierung scheinen das nicht zuzulassen. Da geht es den Fans der BodyMod wie denen, die Hobbys nachgehen, die dem Mainstream nicht vertraut sind. Diese Abneigung lediglich als mediales Phänomen zur Auflagen- oder Click-Steigerung anzusehen, greift zu kurz. Denn subkutan, unterschwellig teilt sich in ihr ein tiefes Unbehagen mit, wie zu zeigen sein wird. Dabei schränken Tattoo & Co. den Träger physisch weit weniger ein als etwa Krawatte oder Pumps. Von Korsagen, die, wenn richtig getragen, den Körper auch massiv verändern, anstatt ihn nur kurz einzuschnüren und leicht zu formen, ganz zu schweigen. Die gesellschaftlichen Einschränkungen und Sanktionen sind aber umso erheblicher.

In der Diskussion der BodyMod wird der Körper einmal mehr als Schauplatz symbolischer Kämpfe ersichtlich. »Der Körper ist so eine Dialektik von Möglichkeiten und Wirklichkeiten, von Realität und Fiktion, von Natur und Kultur; er ist eine Rückkopplung des Kulturellen an das Biologische und umgekehrt«13: »A mature, semiotically informed, perspective sees the body as a material entity inscribed and pierced by the forces of collective mythopoeia to a point where clothes become the interface between physical and the metaphysical.«14 Erscheint der Leib hier als Experimentier- und Entdeckungsfeld, so ist dem Gros der BodyMod-Anhänger die Betonung des körperlichen Selbsteigentums gemeinsam, das Unterstreichen der persönlichen, kulturellen und politischen Ausdrucksmöglichkeiten durch den Körper, etwa um Aspekte von Gender, Sex und Ethnie.15

Festzuhalten bleibt zunächst, dass man Prozess und Tat der BodyMod analytisch vom Ergebnis unterscheiden muss, auch wenn diese zusammengehören. Beides wird unterschiedlich gewichtet: Ist für die einen der Schmerz eben eine lässliche Sache, so geben andere ihn durchaus als angenehmen Nebeneffekt an, während wieder andere ihn als eine Art Ritual durchstehen, ohne den die BodyMod nicht zu haben ist. Was für die Tätowierung gilt, betrifft auch die anderen Praktiken:

Die Tätowierung in der Nachmoderne ist ein Mittel der korporalen Inszenierung, das sich im Spannungsfeld von Inszenierungsdrang und Normalisierungszwang abbildet.16

Abriss der markierten Körpergeschichte

... plumpe Bilder von Eisen geschnitten ...17

Stöhnend schleppt sich der Mann das Hauslabjoch empor, auf 3.200 Metern Höhe durch die Alpen. Sein Häscher ist ihm auf der Spur. Die Outdoor-Jacke und die Mütze aus Wolffell – eine frühe Version von Jack Wolfskin – sitzen, doch unter den Beinlingen aus Schaffell ziehen rheumatische Schmerzen ihre Kreise. Die Knochen plagen sich unter dem Gewaltmarsch, dabei wurden die von der größten Pein betroffenen Stellen extra gewappnet. Das Kreuz auf dem rechten Knie wurde erst kurz vor dem Aufbruch eingestochen, doch die heilsame Wirkung bleibt aus. Dem tödlichen Pfeil seines Verfolgers kann der Wanderer nicht entkommen. Das Geschoss trifft ihn in die Schulter. Als sich das Gletschereis über dem Mann, den wir heute Ötzi nennen, senkt, begräbt es die ältesten bekannten Tätowierungen unter sich. Vor rund 5.500 Jahren starb der Mann aus dem Eis.

Man nimmt an, dass Ötzis Hautzeichen einen physiotherapeutischen Zweck hatten. Denn die 15 bläulich-schwarzen Tätowierungen, wie die parallelen Striche in der Lendengegend, Linien um den rechten Fußknöchel und eine kreuzförmige Tätowierung hinter dem rechten Knie, befinden sich an von großer Beanspruchung gezeichneten Körperstellen. Abnutzungserscheinungen müssen dem Gletschermann Schmerzen bereitet und er die Tätowierungen daher als lindernde Maßnahme getragen haben. Tatsächlich haben die BodyMods in der Geschichte meistens sozialen Zielen gedient. Dass dies sowohl inklusiv wie exklusiv der Fall war, ist auf den nächsten Seiten zu erfahren, die keinen Anspruch darauf erheben, eine zusammenfassende Kulturgeschichte zu sein. So trat der markierte Körper historisch zumeist als in der Gemeinschaft angekommener und aufgenommener oder als geschundener Leib auf. Die Tätowierung diente als Kennzeichnung von Sklaven oder Kriminellen, als Trauerzeichen, Talisman und Amulett, um Krankheit und Böses abzuwenden, im Todesfall in die andere Welt zu gelangen, magisches Potenzial zu wecken, Angst einzujagen, Attraktivität für sich selbst und andere zu verstärken, die sexuelle Stimulanz zu erhöhen.18 Und natürlich, um andere als das Andere zu stigmatisieren.

Wie alle anderen Kulturtechniken, so ist auch die BodyMod nicht geschichtslos, sondern wandelnden Geschmäckern, Konventionen, Normierungen ausgesetzt. »Die Tätowierungen, die unseren Körper schmücken, / wurden nur für uns gemacht; sie sind wie wertvolle Perlenschnüre, / die wir mit ins Grab nehmen«, heißt es etwa in einem Kalinga-Lied. »Frauen ohne Tätowierung / sind unwürdig für den großen Pfad [...] Keine Tätowierung schmückt ihren Körper / und sie wurde als unvollkommen betrachtet.«19 Pflöcke in den Ohren informierten in Peru über den sozialen Status und ihre Opferbereitschaft gegenüber den Göttern drückten die Mayas in Mexico mit Zungenpiercings aus.20

Der kurze Exkurs in die Historie der BodyMod soll seinen Einstieg bei Charles Darwin nehmen, der in seinem Standardwerk Die Abstammung des Menschen ausführlich verschiedene BodyMod-Praktiken aufzählt, denen er auf seinen Reisen begegnete oder von denen ihm berichtet worden ist. Die Durchdringung der verschiedensten Kulturen in allen Weltregionen von BodyMods diente ihm als Hinweis für die Gleichheit der Menschen: