Geblieben - Y. S. Paare - E-Book

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Y. S. Paare

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Beschreibung

Freddy starb 1986 bei einem Autounfall, steckt seitdem auf unerklärliche Weise als einsamer Geist in seinem Haus fest und langweilt sich … zu Tode. Bis 33 Jahre später Waldemar einzieht, Prof. Dr. med. dent. im Ruhestand, der dem normalen Klischee so gar nicht entspricht und Abwechslung in Freddys "Leben" bringt. Eine ungewöhnliche Freundschaft entsteht, die nicht nur Waldemars Rentnerdasein abwechslungsreich gestaltet, sondern auch Freddy aus den 80ern in die Neuzeit katapultiert. Ob Freddys sehnlichster Wunsch, die Umstände seines Ablebens verstehen zu können und seine Liebsten noch einmal zu sehen, in Erfüllung gehen wird? Und welche Rolle eine Yucca dabei spielt, das erzählt Y.S. Paare in dieser rasanten "Roadstory".

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Y. S. Paare

GEBLIEBEN

Eine geistreiche Freundschaftsgeschichte

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angabensind im Internet unter http://www.dnb.deabrufbar.

Alle Rechte vorbehaltenDieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen desUrheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässigund strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und dieEinspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos,in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© Lehmanns Media GmbH, Berlin 2022 Helmholtzstr. 2-910587 BerlinUmschlag: Maja Malaris-Coverdesign, Northeim, www.maja-malaris.deSatz & Layout: LATEXVolker Thurner, BerlinDruck und Bindung: Totem • Inowrocław • Polen

ISBN 978-3-96543-272-7 www.lehmanns.de

Inhaltsverzeichnis

PrologVorgeschichteHauptteilEpilogDanke

Für Pauline

Weil Du mein Liebstes bist.

Prolog

09.06.1986

„Gibst du mir jetzt endlich ein Taschentuch?! Ich fahre auf keinen Fallrechts ran. Wer bremst, verliert!“

Ich drehte Kathrins Autoradio leiser, damit sie nicht gegendie Bässe der Lautsprecher anbrüllen musste, die das hintereNummernschild im Normalfall vibrieren ließen.

„Wo ist deine Handtasche?“, fragte ich nervös.

„Auf dem Rücksitz.“ Sie sagte das mit einer Ruhe, die michwahnsinnig machte! Selbstsicher umfasste sie das Lenkrad mit derlinken Hand, hielt ihren Blick auf die Fahrbahn fixiert und ließ dabeidas Blut aus ihrer Nase lässig in ihre freie gewölbte rechte Handtropfen.

„Nun halt doch an!“, bettelte ich.

„Wozu? Gib mir einfach ein Taschentuch! Meine Hand läuft gleichüber!“

Es war jedes Mal das Gleiche. Eigentlich sollte ich rücksichtsvollmit ihr umgehen, schließlich blutete ihre Nase, aber ich war immerderjenige, der sich dabei als Opfer fühlte. Für mich gab es nichtsSchlimmeres als blutende Nasen von anderen.

Unbeholfen griff ich nach hinten zu Kathrins Tasche, öffnete sieund wühlte darin. Ich fand eine Packung Papiertaschentücher, risssie auf und hielt ihr den ganzen Stapel unter die Nase. „Herrgottnochmal! Halt endlich an! Du bist verrückt!“

„Meine Hand! Zuerst das Blut in meiner Hand. Saug es auf!“ IhreStimme blieb ruhig und besonnen, während mir die Ameisen durchdie Nasenspitze und Frontzähne liefen, was ein sicheres Anzeichenfür eine bevorstehende Ohnmacht war.

Unbeholfen hielt ich ihr also nur noch ein Taschentuch unterdie Nase, während ich mit dem restlichen Stapel das Blut inihrer Hand aufsaugte. Sowohl das Tuch unter der Nase, als auchder Stapel in ihrer Hand färbten sich sofort rot. Mir wurdeübel.

„Da sind noch mehr Taschentücher im Handschuhfach“, sagte sieund zeigte mit dem Kopf in die Richtung.

„Wo soll ich denn jetzt damit hin? Kathrin, halt endlich an!“ Ich sahbesorgt auf die blutdurchtränkten Tücher in der Hand.

„Leg sie erst mal in den Fußraum. Ich halte deswegen doch nichtmitten auf der Autobahn an! Hol einfach neue Taschentücher aus demHandschuhfach. Es blutet doch fast gar nicht mehr.“

Zum Glück fing das Blut im Nasenloch endlich an zu gerinnen.Mir hob sich allerdings der Magen, als ich daran dachte, dass Kathrinsich kurze Zeit später diese ekelhafte Blutschnecke aus demNasenloch ziehen würde.

„Gaff mich nicht so an. Du wirst schon wieder kreidebleich. Gib mirlieber die Taschentücher!“ Lachte sie mich etwa aus?

Ich atmete tief ein und öffnete das Handschuhfach, als mirplötzlich ein Zettel auf den Schoß rutschte. Die Schrift erkannte ichsofort, aber der Satz, der auf dem Zettel stand, erschloss sich mirnicht, obwohl ich ihn längst gelesen hatte. Es war, als ob sichmein Hirn gegen den Sinn dieses Satzes mit aller Macht wehrte.Während ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren, griffKathrin überstürzt zu dem Zettel. Ich sah, wie das restlicheBlut aus ihrer zitternden Hand auf mein Hosenbein tropfte undbemerkte, dass sie jetzt alles andere als ruhig und besonnenwar. Da endlich erschloss sich mir die Aussage des Satzes. Indiesem Moment gab es einen lauten Knall und gleich daraufsah ich, wie der Zettel in Zeitlupe durch die Luft schwebte undmit der Schrift nach oben neben mir auf dem Asphalt zu liegenkam.

Es wird Zeit, daß du Freddy klaren Wein einschenkst. Ich ertrage dieseLügerei nicht länger! Wenn Du es ihm heute nicht sagst, dann packe ich beiihm aus.

Oliver

Jetzt wusste ich, was die verschwörerischen Blicke zwischenKathrin und ihm bedeutet hatten. Mein bester Freund und meineVerlobte … In diesem Augenblick wurde mir schlagartig klar, warum siesich in letzter Zeit immer so unwohl gefühlt hatte und sichmir gegenüber so merkwürdig verhalten hatte. Als sich dieseDinge in meinem Kopf durch die Gehirnwindungen schoben,drängten sich andere Eindrücke vor. Ich vernahm Hilfe-Schreie undentferntes Sirenengeheul. Ein Windstoß ließ den Zettel mit OliversHandschrift über den Asphalt wehen. Er verschwand zwischen vielenBeinen, die um mich herumstanden. Und dann, als sich mein Blickdurch die Beine hindurch einen Weg bahnte, sah ich Kathrinin einigen Metern Entfernung weinend liegen. Sie hatte nochimmer Nasenbluten. Ich spürte keine Schmerzen, stand auf undsagte den Menschen um mich herum, dass es mir gut ginge,dass sie mich zu meiner Verlobten gehen lassen sollten. Aber ichstarrte in Gesichter, die mich nicht wahrzunehmen schienen. Dannüberkam mich die Panik. Der Zettel rückte gedanklich in denHintergrund. Ich musste zu ihr. Sie war verletzt, wir hatten einenUnfall! Da die Menschen um mich herum keinen Platz machten,rempelte ich durch sie hindurch. Ich stolperte und schlug derLänge nach hin, was mir aber erneut keine Schmerzen bereitete.Völlig verworren blickte ich um mich. Die Menschen sahenjetzt einander sehr verstört an. Und Kathrin weinte direkt vormir.

„Ich bin da, du musst nicht …“ Während ich ihr die Worteentgegenhauchte, sah sie einfach durch mich hindurch. Ihr Blick waraber von einem solchen Entsetzen gezeichnet, dass ich mein Gesicht indie Richtung ihres Blickes drehte. Und dann begann ich zu schreien.Aber niemand konnte mich hören.

Vorgeschichte

11. September 2019

„Vielen Dank, ab jetzt werde ich sehr gut allein zurechtkommen! Sie habenwunderbare Arbeit geleistet. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigenwürden?“

Der Makler sah mich hilflos an. Er schien meine versteckte Botschaftverstanden zu haben. Denn während er im Rahmen der geöffnetenHaustür stand, machte er ab sofort keine weiteren Anstalten mehr, denHausflur erneut zu betreten, nachdem er mir den Riss in der äußerenFassade gezeigt hatte. Der Riss interessierte mich nämlich nicht die Bohne!Ich wollte endlich allein sein und nach der langen und anstrengendenFahrt meine Ruhe haben. Ich wusste doch, dass ich ein altes Hausgekauft hatte, an dem noch viel zu machen wäre. Mich brachten dieMakel der Immobilie keineswegs aus der Ruhe. Im Gegenteil! Für michversprühten sie den Charme, der dieses Haus zu dem machte, was es war. Einüberaus gemütliches Plätzchen in der Welt. Hier wollte ich endlich dieStille genießen und vor niemandem mehr Rechenschaft über meinHandeln ablegen müssen. Angekommen! Und zwar im Hier undJetzt.

Vor mir hatte ein Yogalehrer das Haus zur Miete bewohnt. Der hatte auchim Hier und Jetzt gelebt. Ab jetzt würde mein Leben völlig entschleunigtganz neu beginnen!

Als ich die Haustür unsanft hinter mir zufallen ließ, stieg mir der kalteRauch von abgebrannten Räucherstäbchen in die Nase. An diesenGeruch würde ich mich erst gewöhnen müssen, aber ich wusste,dass ein Haus, wenn der Bewohner wechselte, einen neuen Geruchannahm.

Mir gefiel auch, dass ich es möbliert erstanden hatte. Auch wenn dieTapeten demnächst unbedingt erneuert werden müssten und mich somanche Renovierungsarbeit beschäftigen würde. Die alten Möbelerzählten mir auf ihre Weise vom Leben, welches in diesem Hausstattgefunden hatte. Einige Polster hatten Flecken und ein Stuhl amKüchentisch hatte in seinem Plastiksitzbezug, der mal gelb gewesen seinmusste, ein Brandloch. Die Platte des Wohnzimmertischs hatte jemand –wenig kreativ – mit einer Folie überzogen, die mit der Zeit so abgenutzt war,dass die Riefen und Dellen im Holz darunter hindurchstachen. Der Maklerwusste zu berichten, dass seit den 80ern nichts mehr am Haus verändertworden war und sich nichts an der Innenraumgestaltung samt Möbelngeändert hatte. Und das – so fiel es mir auf – war ihm irgendwie peinlichgewesen. Als mir seine Ausschweifungen darüber gehörig auf dieNerven gingen, konnte ich mir Folgendes einfach nicht verkneifen:„Risse, abgenutzte Möbel und vergilbte Tapeten unter einem Dach, dasübrigens dicht ist. Wie ärgerlich! Wir müssen doch noch einmalüber den Preis reden. Ohne Dachschaden keinen freien Blick auf dieSterne!“

Nun war er fort und im Haus herrschte absolute Stille. Endlich!

Ich ließ mich in den erstbesten Sessel am Fernster mit Waldblick fallenund genoss die hereinfallenden Strahlen der Spätsommersonne auf meinemGesicht. In den Strahlen wirbelten aufgescheuchte und aus der Sitzfläche desSessels herausgeschleuderte Staubteilchen in der Luft. Lautlos tanzten sie vormeinen Augen. Diese Ruhe! Das hatte ich mir als Pensionär nachmeinem mehr als stressigem Berufsleben, in dem es so gut wie nie Zeitfür Privates gegeben hatte, verdient. Hier in der Einsamkeit – ohnenächtliche Lichtverschmutzung unzähliger Straßen-, Fahrzeug- undGebäudebeleuchtungen – könnte ich mein Teleskop auf dem Dachbodenunter der großen Dachluke aufstellen und nach Herzenslust die unendlichenWeiten des Universums erkunden. Und ich könnte mich an den Wiesen- undWaldtieren erfreuen, oder den Gemüsegarten unterhalb der Terrassewiederbeleben. So hatte ich es mir zumindest vorgestellt. Den Rest desGrundstückes wollte ich belassen wie es war. Büsche, Obstbäume undviele Blumen lockten Insekten an. Dies war exakt der Ort, an dem ichmeinen Ruhestand verbringen wollte! So hatte ich mir mein Lebenals Ruheständler gewünscht. Und wer weiß? Vielleicht würdeich mir sogar eine Pfeife zulegen! Pfeifenrauchen hatte mich schonimmer fasziniert, obwohl ich während meiner beruflichen Laufbahn alleerdenklichen Tumorerkrankungen in der Mundhöhle zu Gesicht bekam,meistens durch das Rauchen ausgelöst. Hingegen fand ich den Gedankenberuhigend, dass diese Erkrankungen eher im fortgeschrittenen Alterund vor allem bei Gewohnheitsrauchern auftreten. Da ich mich imfortgeschrittenen Alter befand und noch nie geraucht hatte, würde mirmein Körper das ein oder andere Pfeifchen als Pensionär sicherlichverzeihen.

Auf der Terrasse hing an einem Balken des Dachüberstands eine uralte,reparaturbedürftige Sitzschaukel, in der ich mich in meiner Vorstellungbereits paffend sitzen sah. Eine Armlehne war abgebrochen und dieRückenlehne saß nur noch locker an der Verschraubung. Was für einherrliches Stückchen Erde, das ich nun bewohnte! Ich freute mich auf dasLeben ohne Studierende, ohne Wissenschaftler, ohne Politiker und –ganz wichtig! – ohne Patienten. Vornehmlich ohne jene, bei denen esimmer noch heller und gerader werden musste. Ich empfand es alsUngerechtigkeit, dass ein Universitätsprofessor weniger als ein Zahnarztverdient. Deswegen hatte ich meine Zahnarztpraxis, neben meinerArbeit an der Uni, weiterhin für Privatpatienten am Laufen gehalten.Gut, ich jammere vielleicht auf hohem Niveau, aber als Zahnarzt mitDoktortitel behandelt man „nur“ seine Patienten. Als dann endlich vormeinen Dr. das Prof. gesetzt wurde, begann erst die eigentliche Arbeit:Anträge schreiben, mit Lokalpolitikern streiten, Drittmittel akquirierenund – als Ergebnis – noch mehr Anträge schreiben. Ganz nebenbeinoch Studierende vom Studienbeginn bis zur Promotion betreuen. Dakam meine eigene Forschung viel zu kurz. Und vor allem die „amlebenden Objekt“ in meiner Praxis machte mir besonders viel Spaßund sorgte erst dafür, dass ich mir auch mal was Schickes leistenkonnte…“

Aber gut. Nun war es endgültig vorbei. Ab sofort wollte ich endlich einruhiges Privatleben führen. Meine Praxis hatte ich allerdings noch nichtverkauft, würde mich aber unbedingt zeitnah darum kümmern müssen.Meine Fachangestellten waren ebenfalls in Rente gegangen, sodassmit dem Verkauf wenigstens keine Arbeitsplätze gesichert werdenmussten.

Während ich sinnierend im Sessel saß, wurde ich plötzlich müde. DieAnfahrt war anstrengend gewesen. Mich hetzte ja niemand. Entladenkonnte ich meinen alten T3, einen Camper, auch noch später. Viel hatteich aus meinem vorherigen Leben ohnehin nicht mitgenommen. Ichstellte fest, dass man in dem staubigen Sessel zwar sehr tief saß, weiler durchgesessen war, aber einem der Kopf beim Einschlafen nichtunkontrolliert wegsacken konnte. So genoss ich die Ruhe und schliefschließlich ein.

*

Ich traute meinen Augen nicht, als der Alte da wie selbstverständlichim Sessel saß und schlief! Der sollte jetzt in meinem Haus wohnen?!Nicht, dass der Mieter vor ihm in den letzten 33 Jahren besser gewesenwäre. Aber ich habe die Hoffnung nie aufgegeben, dass es hättebesser werden können. Nach dem verschrobenen Yoga-Lehrer wurdemir jetzt ein Rentner vor die Nase gesetzt. Ich schätzte ihn Mittebis Ende 60. Dieser alte Mann würde mein Dasein jedenfallsauch nicht lebendiger gestalten, als der Yogi vor ihm. Der hattenämlich noch nicht einmal meinen Fernseher ersetzt, als ihm dieserkaputt gegangen war. Und Radio hatte der auch nie gehört,sondern stattdessen nur sphärischen Klängen aus verschiedenenGlockenspielen gelauscht. Zu seinen Yogastunden kamen zwar vieleMenschen ins Haus, aber auch das brachte mir keine Freude. Begleitetvon seinem Harmonium wurde gesungen und sich verrenkt.Atemübungen fanden im Dunst der Räucherstäbchen statt, eswurden Gleichgewichtsübungen gemacht und abschließend,unter einer Decke auf der Matte liegend, wurde sich entspannt.Waren die Yogamenschen gegangen, rauchte der zufriedeneLehrer Gras, dass die Bude nur so qualmte. Manchmal war erso dicht, dass ich Angst hatte, er würde das Haus abfackeln,wenn er das Streichholz für ein weiteres Pfeifchen anriss. Wasdann ohne das alles hier aus mir geworden wäre konnte ichnicht abschätzen, aber es wäre mit Sicherheit auch nicht bessergewesen.

Meine Gedanken kehrten zurück zu dem Alten, denn der begannzu schnarchen, dass die Wände wackelten. Ich hatte in den letztenJahren nicht viel erlebt, wobei mir das Wort erLEBTals reine Ironieerscheint. Denn Leben konnte man das, was ich führte, weißGott nicht nennen! Davon war ich weit entfernt und es gab auchkein Zurück mehr. Eigentlich vegetierte ich nur vor mich hin.Einsamkeit bestimmte meine Zeit! Niemand wusste, dass es michüberhaupt gab. Obwohl ich immer wieder versucht hatte michbemerkbar zu machen und für die ein oder andere Unstimmigkeitim Leben des Yogalehrers gesorgt hatte, blieb ich für ihn Luft.Er hinterfragte keine einzige meiner Aktivitäten. Ich schreibees seinen Cannabis-Trips auf die Fahne, dass er sich niemalsgewundert hat, wenn ihm einfach Gegenstände vor die Füßefielen, oder sich die Türblätter im Haus verselbständigtenund mit lautem Knall zuschlugen, oder sich das Licht von alleineinschaltete.

Wenn er wenigstens für ein neues Fernsehgerät gesorgt hätte!Ein bisschen Unterhaltung wäre doch ganz schön gewesen.Und ich hätte gewusst, was in der Welt geschieht, aber ohnedas…

Besonders in Zeiten der Langeweile oder wenn ich wütend war,dann konnte ich mich nicht zusammenreißen und es geschahen einfachdiese Dinge um mich herum. Und langweilig war mir wahrlich oftgenug!

Das laute Schnarchen des Alten holte mich erneut aus meinenGedanken zurück. Wie konnte ein Mensch nur so laut schnarchen?Mir wurde klar, dass es mir in den Nachtstunden gehörig auf dieNerven gehen würde. Nachts … Was taten Rentner eigentlich nachts,wenn sie tagsüber so viel schliefen? Plötzlich überkam mich eingrandioser Gedanke! Sahen Rentner nachts nicht bis Sendeschlussfern? Ein Buch fiel bei diesem wundervollen Gedanken aus dem Regal.Ich verfluchte mich, weil ich mich schon wieder nicht im Griff hatte.Diesmal allerdings deshalb, weil ich freudig aufgeregt war, was –soweit ich mich erinnern konnte – selten vorgekommen war, seit ichhier festsaß. In mir wuchs die Hoffnung, dass dieser alte Mann ganzsicher ein Fernsehgerät besaß, damit er was zum Glotzen hatte! EinFernsehgerät …!

Ich ging eilig durchs Haus und beim Blick auf die Einfahrt durchdas Küchenfenster stellte ich fest, dass der Alte einen rechtanständigen fahrbaren Untersatz besaß. Einen T3-Camper – dasObjekt meiner Träume!

„Damit könnten wir überallhin fahren und hätten alles, waswichtig ist, dabei!“, hörte ich in meiner Erinnerung Kathrinrufen.

„Dafür muss ich aber noch viele Essen kochen!“

Sie kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. „Ich liebe dich auchohne das viele Essen“, sagte sie und hauchte mir zärtlich einen Kussauf die Lippen. „Wir leihen uns einfach irgendwann mal so einenCamper und dann machen wir einen Trip an den Gardasee nachItalien.

„Und was wollen wir da machen?“, fragte ich sie.

Kathrin dachte nach, legte ihren Kopf in den Nacken und drehte sichmit weit ausgestreckten Armen auf der Stelle. „Dort kaufen wir einkleines Hotel und machen unser eigenes Ding!“

Wehmütig dachte ich an damals, als die Welt noch in Ordnunggewesen war. Obwohl ich es nie zum Besitzer, geschweige denn zumEigentümer eines T3-Campers schaffte.

Der T3 draußen war mittlerweile aber in die Jahre gekommen.Ich sah, dass die Radläufe bereits gespachtelt waren. Naja …Das Gefährt war ja auch mindestens 30 Jahre alt. Aber dafürwar es dann doch erstaunlich gut in Schuss. Gern wäre ichhinaus gegangen, um mir den Camper genauer anzuschauen, aberich versuchte es erst gar nicht. Die Vergangenheit hatte mir aufunmissverständliche Weise gezeigt, dass das Vorhaben, dieses Hauszu verlassen, jeweils an den Schwellen der Türen nach draußenendete. Es musste sich um irgendeine Störung handeln, dass ich dasHaus nicht verlassen konnte. Und genau das war es, was meinDasein so unendlich langweilig und eintönig gestaltete. Längsthatte ich es aufgegeben, nach Antworten auf die Frage nach demWarum zu suchen und nahm dieses mir auferlegte Schicksaleinfach hin. Es gab ja auch niemanden, den ich hätte fragenkönnen. Ich war ein Gefangener in meinem Haus, das man nuneinfach – natürlich ohne mich zu fragen – verkauft hatte. Verkauftan einen Rentner. Ich spürte, wie zwar die Wut über diesenVerkauf in mir hochstieg, konnte mich aber im Zaum halten. DieHoffnung, dass der Alte ein Fernsehgerät aufstellen würde, wirkteWunder!

Während ich diesen Gedanken nachging, sah ich zur Yuccapalme,die ihre Blätter gefährlich hängen ließ. Hoffentlich würde der Alteihren Zustand bemerken und sie gießen. Die Palme war mir seit demfurchtbaren Unglück damals eine treue Begleiterin. Als kleinesPflänzchen war sie hier unter sehr dramatischen Umständeneingezogen, was mich aber nicht davon abhielt, sie zu mögen. DiePalme war in der langen Zeit zu einem stattlichen Gewächsherangewachsen und wucherte gekrümmt unter der Zimmerdeckeentlang. Was Kathrin wohl sagen würde, wenn sie die Palme so sah?Ich dachte an damals.

Kathrin lag mit geschlossenen Augen auf unserer Picknickdecke aufdem Waldboden und ich sah, wie einzelne Sonnenstrahlen durch dieBlätter der Bäume um ihre Locken spielten. Ich hockte hinter ihr undküsste ihre Stirn, als sie die Augen öffnete und mich ganz stilleinfach nur ansah. Sie hatte ihre Hände auf dem Bauch liegen und derWind spielte mit den Rüschen an ihrem roten Sommerkleid mitweißen Punkten, was ich so sehr an ihr mochte. „Ich liebe dich!“,flüsterte ich.

„Wir müssen losfahren und eine Yuccapalme kaufen!“, sagte sie,setzte sich auf und ich zog verwundert den Kopf zurück.

„Jetzt?“, fragte ich.

„Ja, genau jetzt!“

„Aber ich verstehe nicht… Wollten wir nicht…?“

„Bitte frag nicht warum, aber wir müssen es jetzt tun!“

Und wieder kam mir ihr Einfall wie eine Flucht vor mir vor.

Meine Gedanken wurden unterbrochen, weil das Schnarchenvon lautem Husten abgelöst wurde. Was für ein unsanftesAufwachen! Er hustete so sehr, dass sein Kopf ganz rot anlief undihm seine Brille verrutschte. Ich bekam Angst, dass er sterbenkönnte. Dann wäre ich wieder allein und ohne Hoffnung auf einFernsehgerät!

Fest nahm ich mir vor, dem Mann eine Chance zu geben.Letztendlich verebbte sein Hustenanfall und das Rot in seinem Gesichtzog sich augenblicklich zurück. Ich beobachtete, wie er aus dem Sesselaufstand und mit sich selbst sprach.

*

„So, das tat gut. Dann wollen wir mal!“ Ich rieb gähnend die Hände,strich mir die Haare glatt und schob meine Brille auf der Nase in dierichtige Position. Ein kleines Nickerchen wirkte doch immer wiederWunder!

Es gab nicht viel zum Ausladen. Eigentlich genoss ich ja die Stille inmeinem neuen Heim, aber mein kleines Radio, so nahm ich mir vor, würdeich zuerst auspacken. Schließlich war es wichtig zu wissen, was in der Weltgeschah. Es ging beim Radiohören ja nicht nur um die Musik. Und dieGlotze würde ich auch schon mal aufstellen. Es würde zwar noch keinenrichtigen Empfang geben, weil hier in der Einöde natürlich kein TV-Kabelverlegt ist und die Satellitenschüssel noch nicht installiert worden war. Aberimmerhin gibt es Telefon samt Internetanschluss und der Router, um den ichden Makler gebeten hatte, war bereits angeschlossen, sodass ich Nachrichten,aber auch Filme über WLAN schauen könnte. Zur Not hätte es dafürauch mein Laptop getan, aber es war eben doch gemütlicher, beimFernsehen in einem Sessel zu sitzen und auf einen großen Bildschirm zuschauen.

Bevor ich aus dem Haus zum Camper ging, sah ich mich in der Kücheum. Der Kühlschrank brummte leise. Auch ein neues Gerät, um das sichder Makler, auf meine Bitte hin, gekümmert hatte. Ich öffnete ihn. Zumeiner Überraschung war er mit dem Nötigsten bestückt und sofortüberkam mich ein schlechtes Gewissen, dass ich den Makler vorhin sounsanft zum Gehen genötigt hatte. Ich nahm mir vor, mich für meinVerhalten zu entschuldigen und würde es auf meine lange Anreise schieben.Coole Sache, der gefüllte Kühlschrank.

Als ich den alten Wasserhahn an der Spüle aufdrehte, sprudelte frischesund klares Wasser. Ich griff zum Wasserkocher, stellte ihn nach derBefüllung zurück in seine Halterung und betätigte den Schalter. Wennich meine wenigen Habseligkeiten ins Haus geholt hätte, zu denenauch ein herrlicher Earl Grey gehörte, würde ich mir eine KanneTee kochen. Ich freute mich auf das warme Getränk und rieb mirerneut die Hände. In diesem Augenblick vernahm ich ein Kribbeln imNacken und war mir sicher, dass ich beobachtet wurde. Jeder kennt dochdieses Gefühl, für das es keine Erklärung gibt. Abrupt drehte ichmich um, stellte aber fest, dass sich dort niemand befand. Natürlichrechnete ich nicht wirklich damit, jemanden in meiner Küche stehenzu sehen, aber ich hielt es für nicht unwahrscheinlich, dass jemandvon draußen zu mir durchs Küchenfenster geschaut haben könnte.Deshalb eilte ich zur Haustür und sah hinaus, ob sich jemand vordem Haus befand. Aber weit und breit war niemand zu sehen. Ichwohnte sehr abgelegen. Wer sollte sich schon in diese Gegend verirren?Selbst nach intensivem Überlegen fiel mir niemand außer Post- oderPaketboten ein. Aber auch von denen fehlte jede Spur. Ich musste michalso getäuscht haben, obwohl ich eigentlich sehr feine Sinne dafürhatte und spüren konnte, wenn mich jemand beobachtete. DiesenSinn hatte ich während meines Lehrauftrags an der Uni ausgebildet.Ich wusste immer, was die Studierenden taten, auch hinter meinemRücken.

Aufmerksam sah ich mich um und atmete die herrliche Luft ein. Das Hausstand einsam am Waldrand, inmitten der flachen Landschaft. Die nächsteOrtschaft war fünf Kilometer weit entfernt und in die nächste Stadt warenes noch satte 30 Kilometer.

Ich atmete tief aus und war überzeugt, dass ich mich schlicht getäuschthaben musste. Trotz des Nickerchens schrieb ich das der Erschöpfung nachder langen Anreise zu.

Da ich nun schon einmal draußen war, griff ich in meine Hosentasche,fummelte den Autoschlüssel raus, öffnete die seitliche Schiebetür und zogden ersten Karton mit Büchern hervor, den ich im Hausflur abstellte. Einenweiteren Karton mit den nötigsten Lebensmitteln brachte ich direkt in dieKüche. Eigentlich brauchte ich die gar nicht, weil der Kühlschrank ja bereitsgefüllt war. Dann holte ich meine Koffer mit Kleidung, die Aktentasche mitLaptop, das Radio, eine Stehlampe, den Schaukelstuhl samt Schaffell, dasTeleskop und zum Schluss meinen neuen, großen Flachbildfernseher.Nachdem alles im Hausflur stand, schloss ich den Camper ab und ließerneut meinen Blick über die wundervolle Landschaft schweifen. MitteSeptember stand die Sonne um 19 Uhr zwar schon recht tief, der Tag waraber warm gewesen und die Temperatur war noch sehr angenehm.Ich liebte den Herbst mit seinem rötlichen Licht, das Laub an denBäumen war noch grün, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis essich bunt färbte. Ich freute mich darauf, es seit vielen, vielen Jahrenwieder einmal ganz bewusst miterleben zu dürfen, wie die Natur ihrJahreszeitenkleid wechseln würde. Mein neues Heim war perfekt dafürgeeignet. Neben dem Haus die saftig grüne Wiese, die bis an den Waldgrenzte, davor der geschotterte Feldweg, der zur großen Straße führte. EinTraum!

Die Arbeit war mir die letzten Jahre immer beschwerlicher geworden. Nunhatte ich es geschafft.

Ich atmete noch einmal tief durch, wandte mich zur Haustür um undbetrat mein Haus. Im Flur war zwar fast kein Durchkommen mehr, aber bevorich alle meine Gegenstände und Klamotten im Haus verteilen würde, wollteich mir zuerst den Tee aufbrühen.

Während der Earl Grey zog, kramte ich aus der großen Tasche im Flurmein kleines Würfelradio hervor, stellte es auf die Arbeitsfläche in derKüche und steckte den Stecker in die Steckdose. Ich freute mich, dass es sofortEmpfang hatte. Aus dem kleinen Lautsprecher ertönte gerade „Akind of magic“ von Queen. Nicht unbedingt meine Lieblingsmusik,dachte ich, aber Musik, die ich gut ertragen konnte und mich an frühererinnerte.

*

Ich saß die ganze Zeit am Küchenfenster auf einem Stuhlund beobachtete den Alten, wie er seine Sachen ins Haus trug.Besonders interessierte ich mich für das futuristisch aussehendewürfelförmige Gerät, welches er behutsam auf die Arbeitsfläche inder Küche stellte. Ihm zuzusehen sorgte bei mir doch für sehrabwechslungsreiche Unterhaltung! Neugierig, was das wohl für einGerät sein könnte, las ich von meinem Platz aus, was auf demWürfel stand. It´s a SONY!, hallte es in meiner Erinnerung.Sofort dachte ich an meinen Walkman. Der war auch von SONYgewesen.

„Lass mich auch mal aufsetzen!“ Kathrin nahm mir den Kopfhörermit seinen orangenen, mit Schaumstoff überzogenen Lautsprechernab und setzte ihn auf. Dabei schob sie ihre braunen Locken mit demBügel so nach hinten, dass es aussah, als würde sie einen Haarreiftragen. „Boah! Das ist ja geil!“, schrie sie.

Ich hob einen Lautsprecher auf ihrem Ohr an und sagte, dass sie nichtso schreien müsse.

„Ja, aber sonst höre ich mich doch nicht!“, schrie sie wieder.

Ich musste lächeln, als diese Erinnerung in mir wach wurde.

Aber was nun dieser Würfel auf der Arbeitsfläche sein sollte, daskonnte ich mir nicht denken! Jedenfalls sah es nicht nach einemWalkman aus. Sicher war ich mir, dass es aber auf jeden Fall etwasmit Musik zu tun haben musste, weil ich mir nicht vorstellenkonnte, dass SONY mittlerweile auch Küchengeräte herstellte.Gespannt sah ich zu, wie der Alte das Ding anschloss und einenflachen Knopf betätigte. Dass ein so kleiner Knopf eine derartigeExplosion in mir auslösen könnte, darauf war ich jedoch nichtgefasst! Es war, als ob man mir nach einem langen Weg durch dieWüste kühles Wasser zu trinken gab! Wie ein Verdurstendersaugte ich sie gierig in mir auf, ließ mich gleichzeitig davonumspülen und lauschte so andächtig, dass ich alles um michherum vergaß. Mein Dasein füllte sich auf einen lange nichtda gewesenen Energiepegel.. Hätte ich mich nicht sofort imZaum gehalten, wären alle Möbelstücke im Raum auf einmalabgehoben und geschwebt. Musik! Noch dazu meine Musik!Freddy Mercury sang: A Kind of magic. Und er hätte es nichtpassender besingen können, was da gerade in mir und ummich herum vorging! Ich saß einfach nur verzaubert da undlauschte.

Dass aus so einem kleinen Würfel so satte Musik schallen konnte,das konnte nur mit Magie funktionieren!

Ich wurde die alten Bilder und Gefühle nicht so schnell los.

Das Lied spielten sie in der Kneipe, in der ich als Koch und Kathrin alsServiererin arbeitete, rauf und runter. Kathrin stand mit neonpinkgeschminkten Lippen und neongrünem Haarband hinter der Thekeund zapfte Bier. Sie hatte Thekendienst. Lieber wäre sie auf derFläche gewesen und hätte Gäste bedient.

„Schon fertig in der Küche?“, fragte sie.

„Reicht für heute“, sagte ich. „18 Essen an einem normalenWochentag sind mehr als genug!“

Es war das Jahr in dem wir heiraten wollten, bis alles so anderskam.

Freddy war fertig und mit seinem verstummten Gesangverschwanden die Bilder aus der Vergangenheit. Eine männlicheStimme kündigte die Nachrichten an und sagte, dass die Grünen inder Umfrage gleichauf mit der Union seien. Ich dachte, dass das einScherz sein müsste. Danach kam die Meldung, dass im Weißen Hausin Washington, D.C., in den USA der US-Präsident DonaldTrump der Opfer der Terroranschläge vor 18 Jahren auf dasWorld Trade Center und das Pentagon zur Stunde gedachte. Beidem Gedenken seien auch Angehörige und Überlebende derAnschläge anwesend. Anschläge auf das World Trade Center undPentagon? Vor 18 Jahren?! Und Donald Trump sollte Präsident derVereinigten Staaten sein? Es konnte sich nur um einen anderen DonaldTrump handeln! Nicht um den, der seit 1971 der Inhaber desMischkonzerns Trump Organisation war und ihn als CEO leitete.Außerdem sagte der Nachrichtensprecher, dass mit dem Austritt derBriten, dem Brexit, wann immer er kommen mochte, etlicheBegriffe und Klauseln geprüft werden müssten. Ich verstand nurBahnhof. Wo wollten die Briten denn austreten und was warein Brexit? Die Nachrichten endeten und bevor ich noch überall das Gehörte nachdenken konnte, erklang aus dem Radioeine schlumpfenähnliche Krächzstimme zu etwas, was wohlMusik sein sollte und bettelte „ … dance for me, dance for me…“.

Ich beobachtete – irgendwie genervt von diesen Klängen –den Alten, der gehetzt an seinem Tee nippte, dann seine Tasseauf dem Tisch abstellte, aufstand und auf dem Würfelradioherumdrückte. Der bettelnde Schlumpf wurde abgewürgt und ausdem Lautsprecher erklang „Imagine“ von John Lennon. Diesmalkonnte ich mich nicht zusammenreißen und versehentlich fieldie Teetasse des Alten vom Tisch. Verwundert drehte er sichum.

*

Wie es passieren konnte, dass die Tasse vom Tisch fiel, war mir ein Rätselund wieder stellte sich das merkwürdige Kribbeln an meinem Nacken ein.Natürlich war niemand da, der sie vom Tisch gewischt haben konnte, abertrotzdem hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Selbstverständlichkonnte es auch bloße Einbildung sein. Vielleicht reagierte ich etwasübersensibel in meinem neuen Heim und hatte die Tasse einfach nur zu weitan den Rand gestellt, weil mich die Musik aus dem Radio so genervthatte.

Hektisch durchsuchte ich die Küchenschränke nach etwas zumAufwischen. Tatsächlich fand ich dafür ein altes Handtuch. Vorsichtigsammelte ich die Scherben der Tasse zusammen. Unter der Spüle befand sichein Mülleimer, in dem bereits ein Müllbeutel eingezogen worden war. DerMakler schien an alles gedacht zu haben! Da das Handtuch schon sehr dünnund löchrig war, wickelte ich die Scherben in darin ein und warf allesweg.

*

Während John Lennon sein „Imagine“ trällerte, beobachtete ich,wie der Alte das löchrige Handtuch im Mülleimer versenkte.

„Sieh nur, er lag mitten auf der Straße! Meinst du, dass wir ihnaufpäppeln können?“ Kathrin hatte Tränen in den Augen, als siemir den kleinen Mauersegler in ihrer Hand zeigte.

„Wir müssen ihm ein Nest bauen!“, sagte ich und holte ein Handtuchaus dem Küchenschrank.

Nicht das Handtuch, in dem Kathrin und ich den kleinenMauersegler großgezogen hatten! Zu viele Erinnerungen hingen andiesem Tuch. Ich verließ ruckartig meinen Stuhl, passte dabei nicht aufund verschob ihn versehentlich einige Zentimeter. Stocksteif stand derAlte da und sah in meine Richtung. Er kniff die Augen zusammen undmurmelte:

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„Was ist hier eigentlich los?“ Zuerst stand ich einfach regungslos da undblickte in Richtung Stuhl. Doch dann bückte ich mich und sah nach, ob sichvielleicht ein Tier ins Haus geschlichen hatte und verantwortlich war fürdiese mysteriösen Dinge, die um mich herum geschahen. Zuerst die Tasse,die wie von Geisterhand vom Tisch gefallen war und nun hatte sich der Stuhlvon allein bewegt. Vielleicht eine Katze?, dachte ich. Aber ich konnte keineErklärung für diese Vorkommnisse finden. Dort saß kein Tier. Da warabsolut nichts. Nun, auch wenn ich selbst nicht so richtig daran glaubenwollte, erklärte ich mir den verrückten Stuhl damit, dass er vielleichtirgendwie unter Spannung nicht richtig am Tisch gestanden hatte.Schulterzuckend nahm ich mir eine neue Tasse aus dem Schrank und fülltesie mit wohlschmeckendem heißen Tee, um ihn im Wohnzimmer zutrinken.

Als ich mit der Tasse über den Flur ging, störte ich mich an meinenherumstehenden Sachen. Ich wusste, dass ich nicht eher zur Ruhe kommenwürde, bis ich sie weggeräumt hätte. Außerdem waren sie so unordentlichabgestellt, eine große Stolperfalle. Eine zerbrochene Tasse war gut zu ersetzen,aber wenn mein Fernsehgerät umfallen würde, dann wäre das schonein größerer Schaden. Es stand mitten im Weg und ich hätte michumständlich daran herumwinden müssen.Deshalb beschloss ich,den Fernseher ins Wohnzimmer zu bringen. Es gab dort einen altenFernsehschrank. Er würde zwar eher klein gegen das große Gerät wirken,aber so sollte es erst mal gehen und das Gerät würde sicher stehen. Ichstellte meine Tasse auf dem kleinen Garderobenschrank ab, umfasste densperrigen Bildschirm und zerrte ihn an den für ihn vorgesehenenPlatz.

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Ich war hin- und hergerissen. Sollte ich lieber den Alten weiterbeobachten oder in der Küche der Musik lauschen? Es fiel mir sehrschwer mich zu entscheiden, aber vielleicht konnte ich die Musik jaauch noch hören, während ich dem Alten zusah. Ich begab mich aufden Flur und wunderte mich, mit welcher Mühe er eine große undflache, schwarze Scheibe mit Drehfuß ins Wohnzimmer schleppte undsie exakt dort abstellte, wo früher mein Fernseher gestanden hatte. Essah aus wie ein schwarzer Bilderrahmen, an dem ein Netzsteckerbaumelte. Ich folgte ihm und vergaß ganz die Musik aus der Küche,denn als der Alte den Netzstecker in die Steckdose steckte undirgendetwas Kleines an der Rückwand der schwarzen Scheibeinstallierte, wurde diese farbig. So farbig, dass man meinen könnte,jemand hätte Leuchtfarben darauf ausgekippt. Ich war schwererstaunt! Der Alte fummelte an einem kleinen Kasten mit Tastenin seiner Hand herum, sah aus wie eine Fernbedienung. Unddas Bild änderte sich. Dann zog er sein Portmonee aus derGesäßtasche und kramte daraus einen Zettel mit Buchstaben undNummern hervor. Auf dem Gerät erschien ein Buchstabenfeldund es gab auch Ziffern. Ich weiß nicht genau, was der Alte datat, aber plötzlich zeigte das Gerät so bunte Kästen. Darinstand was von Amazonas, Tube, Netzflix … Sollte das etwa …?!Ich traute mich gar nicht zu Ende zu denken, aus Angst vorder abgrundtiefen Enttäuschung, wenn dieses Monstergerätdoch keine Glotze gewesen wäre! Der Alte drückte Knöpfeauf dem kleinen Kasten in seiner Hand und die quadratischbunten Flächen auf dem Gerät änderten sich und die bereitsgezeigten verschwanden seitlich aus dem Bild. Dann wurde eineFläche groß und nach einem kurzen Moment erschien ein Bildmit verschiedenen Fotos. Ein Foto vergrößerte sich und jetzterschien auf dem Ding etwas, das sich bewegte. Das Gerät wartatsächlich ein Fernseher! Ich konnte es kaum glauben. Das, was er daaufgestellt hatte, war wirklich eine absolut tolle Glotze! Das Dingwar besser als Kino und zeigte gestochen scharfe Bilder. EinFilmanfang lief nun in dem zuvor tiefschwarzen Ding überdie Scheibe. Die Bildwiedergabe war so klar und real, dass ichglaubte, man könne in das Gerät hineinkriechen. Ich konnte meinGlück nicht fassen. Es gab in diesem Haus endlich wieder einenFernseher!

Der Alte machte deshalb auf meiner Sympathieskala einengewaltigen Sprung nach oben. Auf Rentner konnte man sich echtverlassen! Alles das, was ich die letzten Jahre so sehr vermisst hatte,was mir mein Dasein in diesem Haus etwas versüßt hätte, das warnun mit dem Alten zusammen wieder hier eingezogen. Meine Sinnewurden gerade dermaßen überflutet, dass ich zuerst nicht bemerkte,wie der Wohnzimmertisch zu schweben begann. Ich schaffte es nicht,meine Kräfte im Zaum zu halten. Diese Freude, dass ich wiederetwas mehr am Weltgeschehen teilnehmen könnte, löste dieseüberschüssige Energie in mir aus.

Der Alte war glücklicherweise so mit dem Fernseher zubeschäftigt, dass er den schwebenden Tisch nicht bemerkt hatte. Leiseließ ich ihn auf dem Boden absetzen. Dann stand ich einfach nur daund schaute fasziniert auf den Bildschirm. Aus der Küche drangzusätzlich die Musik an meine Ohren. Mehr! Mehr!, dachte ich! Undnoch während ich das dachte, bekam ich mehr – nämlich mehrGedanken, die kaum zu sortieren gewesen waren:

Ich habe so viele Jahre verpasst!, dachte ich. Eigentlich ist das fürjemanden, der bereits tot ist und dies wohl auch auf Ewigkeit bleibt,nicht mehr als ein Wimpernschlag, aber eben doch so viel, dass ihmklar wird, dass die Welt sich für Lebende grundlegend veränderthaben musste. Okay, okay, der Fernseher war erst drei Jahre nach demEinzug des kiffenden Yoga-Lehrers kaputt gegangen und ich hatte dasGerät hin und wieder nachts eingeschaltet. Aber es waren doch dreiJahrzehnte übrig geblieben, von denen ich absolut nicht wusste, wiesich die Welt verändert hatte. Wenn ich schon ein Radio undeinen Fernseher im ausgeschalteten Zustand nicht erkannte, wiefremd würde mir die Welt außerhalb dieses Hauses dann wohlsein?

Ein weiterer Gedanke kam hinzu: Wie konnte der Fernseherüberhaupt ohne Antenne funktionieren? Das Ding steckte nur in derSteckdose. Woher bekam es den Empfang? Die Erkenntnis um meineUnwissenheit und der damit verpassten Entwicklung der Welt brachtemich so aus der Fassung, dass ich versehentlich das Deckenlichtanschaltete. Schnell schaltete ich es wieder aus und nahm mirvor, ab sofort vorsichtiger zu agieren! Ich konnte es mir nichterlauben, den Alten aus dem Haus zu vergraulen. Mit ihm – daswar ja mittlerweile völlig klar! – würde mir garantiert nichtmehr langweilig sein. Ich begann ihn regelrecht zu mögen. Unddas nicht nur, weil er ein Radio und einen Fernseher aufgestellthatte. In mir stieg so eine Art Ahnung empor, dass dieser Mannmeine verunfallte und irgendwie steckengebliebene Existenzerträglicher machen würde. Vielleicht beantwortete mir seinDasein die eine grundlegende Frage, warum ich nach meinemTod geblieben war? Er war zwar erst vor wenigen Stunden hierangekommen, gleichwohl vermittelte er mir ein Gefühl derZuversicht, was meine Zukunft anbelangt. Das hatte ich seit sovielen Jahren nicht mehr gespürt, weil ich glaubte, dass meineSituation auf ewig so aussichtslos bleiben würde. Weder konnteich das Haus verlassen, noch hatte ich wegen eines fehlendenRadios und des kaputten Fernsehers einen Draht zur Außenweltgehabt.

Ich nahm mir ganz fest vor, den Rentner dazu zu bringen, meineExistenz zu verbessern!

Plötzlich klingelte ein Telefon, obwohl es gar kein Telefon mehr indiesem Haus gab. Der Yogi hatte mein wunderschönes Tastentelefonin Weinrot einfach ausgestöpselt und in den Keller verfrachtet. Hatteder Alte es etwa unbemerkt wieder angeschlossen? Ich sah in den Flurzum Telefontisch. Wie schon vermutet, es war kein Telefon da!Aber das Klingeln kam auch gar nicht aus dem Flur, wo derFeTAp 7511früher einmal gestanden hatte. Das Klingeln schien direkt aus demAlten zu kommen. Fragen über Fragen… Wie war das möglich? DenAlten schien das Klingeln gehörig zu nerven, denn er verdrehte dieAugen, als er sich plötzlich in die hintere Gesäßtasche seinerCordhose griff und einen weiteren, aber sehr kleinen flachen Kastenhervorzog, auf dem ein Bild zu sehen war. Ich stellte mich – brennendvor Neugierde – direkt hinter ihn und schaute ihm über die Schulter.Auf dem Ding war das Foto eines jungen Mannes zu sehen. In Höheseines Kinns blinkte ein Balken mit der Aufschrift „annehmen“. DerAlte wischte seufzend mit dem Zeigefinger darüber und hielt sich denKasten ans Ohr.

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„Max?“, fragte ich eine Spur zu genervt und hielt mir das Smartphoneans Ohr, als mir einfiel, dass ich ihn bei meiner Ankunft hier hatte anrufenwollen. Sogleich bereute ich meinen Tonfall.

„Hallo Paps. Stehst du im Stau? Du hörst dich so genervt an.“

„Nein, nein“, antwortete ich freundlicher. „Es ist alles in Ordnung.Ich bin längst gut angekommen und habe schlicht vergessen, dichanzurufen.“

„Ich habe mir Sorgen gemacht!“, tönte es vorwurfsvoll aus dem kleinenLautsprecher an mein Ohr. Ich war es nicht gewohnt, dass man sich um michSorgen machte und bekam Max gegenüber augenblicklich ein schlechtesGewissen.

„Oh, … es tut mir wirklich leid. Ich bin im Sessel eingenickt.“ Ich hoffte,dass ihm dies als Entschuldigung reichte.

„Auch wenn du es dir nicht eingestehen willst – du wirst alt!“ Max lachteund wusste genau, dass er mich damit provozieren konnte. Doch ich gingnicht darauf ein. „Ich BINalt, Max. Ich bin!“, nahm ich ihm den Wind ausden Segeln und lachte ebenfalls.

„Na gut, dann bin ich beruhigt. Räumst du schon ein?“

„Bin schon fast fertig. Ich habe ja nicht viel mitgenommen.“ Maxunterbrach mich.

„Dann gönne ich dir jetzt deine lang ersehnte Ruhe und freue mich aufnächste Woche!“

„Ich freue mich auch auf dich, ehrlich! Aber versprich dir von meinerneuen Bleibe nicht allzu viel. Du bist was anderes gewohnt.“

„Hört sich ja fast so an, als würdest du dich für dein neues Heimschämen?“

„Ganz im Gegenteil! Für mich ist es das beste, was mir passierenkonnte. Hier ist alles so herrlich unluxuriös und einfach! Das mag ich…“

„Ja, deswegen hast du dir auch den Rennschlitten gekauft.“

„Ich verlasse mich auf dich, dass er in einwandfreiem Zustand hierankommt!“

„Läuft, Paps!“

„Meldest du dich, wenn du losfährst?“

„Mal sehen. Wenn ich es nicht vergesse …“

„Natürlich wirst du es nicht vergessen. Schließlich bist du noch einjunger Spund und nicht so ein vergessliches Fossil wie dein alter Vater. Alsodann – mach’s gut, Max.“

„Ja, Paps, du auch!“

Wir legten auf. Und wieder beschlich mich dieses leise Gefühl, dass ichbeobachtet wurde. Ich als Wissenschaftler wusste natürlich, dass esdafür eine plausible Erklärung geben musste, aber mir wurde dochetwas mulmig, als sich die Yuccapalme bewegte. Mir fiel auf, dasssie ihre Blätter schlaff hängen ließ. Ich schüttelte wegen dieserMerkwürdigkeiten meinen Kopf und griff kurzerhand zur Gießkanneneben der Palme. Ich befüllte sie im Bad und leerte sie dann gänzlichüber der trockenen Erde. Die riesige Palme steckte in einem für sieviel zu klein gewordenen Pflanzkübel. Ich müsste sie demnächstmal umtopfen, dachte ich. Vorsichtig strich ich über ihre schlaffenBlätter. „Du brauchst ein bisschen mehr Aufmerksamkeit“, sagte ich undnahm mir vor, sie nicht nur umzutopfen, sondern ihr auch die Blätterabzustauben, sobald sich die Yucca wieder erholt hätte. Und dasssie sich erholen würde, das stand für mich außer Zweifel. Ich hattemal irgendwo gelesen, dass Yuccapalmen sehr zäh wären. Mehr alsab uns zu Wasser und ein bisschen Pflege bräuchte diese Pflanzenicht.

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Ich staunte nicht schlecht, als ich erkannte, dass es der kleineschwarze Kasten am Ohr des Alten war, der geklingelt hatte.Offensichtlich ein Telefon, obwohl kein Hörer zu sehen war! Telefoneschienen mittlerweile auch ohne Kabel zu funktionieren und sahenzudem ganz anders aus als früher. Ich wunderte mich jedochdarüber, dass sie immer noch so altmodisch klingelten. Da müssteman in Zukunft nachbessern, dachte ich. Am liebsten hätte ich genaudas sofort dem Alten gesagt, aber er konnte mich ja nicht hören,geschweige denn sehen. Wenn ich mich bemerkbar gemacht und esrichtig darauf angelegt hätte, dass er meine Existenz wahrnahm, dannwäre er wahrscheinlich schreiend aus dem Haus gerannt und hättees nie mehr betreten.

Ich kam trotz all der freudigen Überraschungen zurück auf denBoden der Tatsachen. Ein Gefühl der Einsamkeit machte sich breit undich stellte fest, dass mich all die technischen Veränderungen auchtraurig machten. Ich musste unheimlich viel verpasst haben. Und ichwar trotz des Alten, der nichts von meiner Existenz wusste, nochimmer allein.

Verbunden mit dem Fortschritt taten sich große Ungewissheiten vormir auf. Immer wieder hatte ich in der Vergangenheit intensiv anmeine Familie, also meine Eltern und meinen Bruder Klaus, gedacht.Und noch viel öfter an Kathrin. Doch zu diesem Zeitpunkt wurdemir klar, dass ich mir nun gar nicht mehr vorstellen konnte,wie sie mittlerweile lebten, weil die Welt sich verändert hatte.Wenn es jetzt schon Fernseher ohne Antennenanschluss undTelefone ohne Kabel gab, dann musste es ja überall neue Technikgeben, die das Leben der Menschen komplett verändert hatte. Ichkonnte mir meine Mutter und meinen Vater nicht mit so einemkleinen Kastentelefon vorstellen… Und bei Kathrin erst rechtnicht.

„Rufst du mich an, wenn du gut angekommen bist? Ich werde dieganze Zeit am Telefon sitzen und auf deinen Anruf warten!“, sagteKathrin mit Tränen in den Augen. „Ich habe dir Kleingeld für dieTelefonzelle besorgt!“ Sie hielt es mir hin.

„Sobald ich eine Zelle finde, melde ich mich umgehend. Versprochen!“

Ob man dieses moderne Telefon von überall aus benutzen könnte?Weshalb sollte es dann, so kombinierte ich, noch Telefonzellen geben?Immer wenn ich zu beruflichen Weiterbildungen war, musste ich michnach meiner Ankunft sofort bei Kathrin melden. Sie saß ab meinervoraussichtlichen Ankunftszeit am Telefon und erwartete meinenAnruf. Ob man sich heute wirklich immer und jederzeit von überallmelden konnte?

Mir fiel Oliver ein. Durch ihn hatte ich alles verloren. Wenn mansein Leben verliert, dann verliert man alles! Ich gab ihm dieSchuld daran, dass Kathrin das Lenkrad verrissen hatte. Und dasalles nur wegen dieses Zettels. Schon unzählige Male hatte ichdarüber nachgedacht, was passiert wäre, wenn der Zettel nicht imHandschuhfach gelegen hätte. Wahrscheinlich würde ich noch leben.Aber wie wahrscheinlich wäre es gewesen, dass Kathrin bei mirgeblieben wäre?

Auch meinen Eltern hätte ich den Schmerz über meinenplötzlichen Tod gern erspart. Es machte keinen Sinn, darübernachzudenken, was Oliver getan hatte. Vielleicht sollte es einfach sosein und so kommen, wie es gekommen war. Leider war ich derVerlierer in diesem Spiel.

Schon oft hatte ich überlegt, dass Menschen nach dem Tod alle aufdiese Weise hierbleiben und sich dieser kleine Fehler nur bei meinemDasein ins System geschlichen hatte, sodass ich das Haus nichtverlassen konnte.

Ich drückte diese Gedanken aber immer wieder beiseite, weil sieohnehin nicht zielführend waren. Stattdessen sah ich dem Alten dabeizu, wie er sich um die Yuccapalme kümmerte. Es rührte mich aufeine sehr verwunderliche Art.

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Die ersten Tage im neuen Heim vergingen wie im Flug! Mittlerweile hatteich schon so etwas wie einen gewohnten Tagesrhythmus in meinem neuenHeim entwickelt. Morgens machte ich vor dem Frühstück gern einenkleinen Spaziergang.

Nach dem Frühstück las ich auf meinem Laptop die Zeitung undanschließend ließ ich mich einfach überraschen, was der Tag für michbereithielt.

Im hinteren Teil meines Gartens hatte ich zum Wald hin einenPflaumenbaum mit reifen Früchten entdeckt, die ich gepflückt hatte. ImKeller standen unzählige Einmachgläser und ein Einkochtopf, sodass ichmich entschloss, Pflaumenkompott einzumachen. Ungewohnt war es fürmich, dass ich nicht mal eben schnell um die Ecke zum Einkaufengehen konnte, wie es zuvor von meiner alten Wohnung aus möglichgewesen war. Ich musste jetzt mit dem Camper zum Einkaufen fahrenund kaufte zum ersten Mal in meinem Leben richtig auf Vorrat ein,damit ich nicht jeden Tag erneut los musste. Das einzige, was mirmorgens fehlte, waren frische Brötchen. An die eingefrorene Aufbackwarewürde ich mich erst gewöhnen müssen, aber vielleicht könnte ichmir auch noch das Brötchenbacken beibringen. Ich hatte ja nun alleZeit der Welt. Mittlerweile war jedes Zimmer mit seinen Möbeln imHaus von mir erkundet worden, sodass ich Bescheid wusste, wo was zufinden war. Vom Besen über Werkzeug bis zur Bettwäsche war allesda.

Mein neues Haus inmitten der wunderbaren Natur genoss ich so sehr!Der Yogi schien nicht viel benutzt zu haben. Die Bettwäsche jedenfalls rochnicht frisch, sondern so, als hätte sie mehrere Jahrzehnte unbenutzt imSchrank gelegen. Ich erinnerte mich daran, dass mir der Makler erzählthatte, dass der Yogi nur den unteren Teil des Hauses bewohnt hatte. Hiersahen die Dinge in den Schränken auch wirklich benutzter aus. Kaum einGlas und keine Tasse waren nicht angeschlagen. Die Sessel warendurchgesessen, das Sofa fleckig und die Teppiche über dem Parkettschrien danach, mal ausgeklopft zu werden. Trotzdem gefiel mir alles.Übrigens hatte ich mir beim Einkaufen in der Stadt tatsächlich einePfeife zugelegt und bereits die Schaukel auf der Terrasse repariert. Ichinteressierte mich gar nicht mehr für mein Teleskop, welches unter dergroßen Dachluke auf dem Dachboden stand. Früher hatte ich damitstundenlang in die Sterne geschaut und dabei über die Unendlichkeit desUniversums nachgedacht. Wenn ich so darüber nachdachte, war dasmeine einzige Privatbeschäftigung gewesen, welche ich regelmäßigpraktiziert hatte. Es hatte viele Umstände gemacht, weil ich zumSternegucken immer die Stadt wegen der nächtlichen Lichtverschmutzunghatte verlassen müssen. Jetzt ging das von zu Hause aus! Wenn ichden Blick durch das Teleskop in die Weite des Weltalls schweifen ließ,rätselte ich gern über die Bedeutung der Unendlichkeit. Ich habe sie nieergründen können, diese Bedeutung. Wahrscheinlich ist das menschlicheGehirn in dieser Hinsicht einfach zu begrenzt. Vielleicht war meinVerstand sogar mittlerweile zu eingeschränkt, um die merkwürdigenVorkommnisse im Haus zu erklären. Sobald ich nämlich das Radio oder denFernseher ausschaltete und in einen anderen Raum wechselte, gingen sieeinfach wieder an. Ich hatte das Stromnetz im Haus bereits untersucht,den Sicherungskasten genauestens unter die Lupe genommen, aberich konnte nichts Ungewöhnliches feststellen, was das Angehen derGeräte erklären konnte. Tatsächlich fand ich keinen plausiblen Grunddafür. Als Zahnarzt und Universitätsprofessor hatte ich mit Elektrikja nie so viel zu tun gehabt, aber die grundsätzlichen Regeln derElektrotechnik waren mir durchaus vertraut. Jedoch fand ich keine Fehler inder Stromversorgung des Hauses. Ich nahm mir vor, einen Elektriker zu Ratezu ziehen. Hinzu kam, dass ich mir ebenso nicht erklären konnte,warum hin und wieder Türen von allein zugingen oder ich Geräuschevon rückenden Möbeln vernahm. Manchmal fand ich es geradezugespenstisch. Mein Verstand sagte mir ganz klar, dass sich für allesUngewöhnliche eine Erklärung finden lassen müsste, aber ich fand sienicht! Ich überlegte, dass das Haus vielleicht einfach nur arbeitete.Tagsüber war es immer noch sehr warm und nachts, wenn sich das Hausabkühlte, stand es wahrscheinlich unter Spannung und begann zu knarzenund zu knacken. Die Türen konnten sich erklärbar durch Zugluftbewegen. Ich mochte es, wenn die Fenster offen standen. Dieser warmeSpätsommer machte es möglich. Aber dennoch kam mir das alles sehrmerkwürdig vor und meine Erklärungen wirkten auf mich mehr alsfadenscheinig.

Mittlerweile hatte sich übrigens der Geruch im Haus verändert. Es rochheimelig, wenn ich von draußen hineinging. Es roch nach gekochtem Essen,nach frischer Wäsche und Leben! Und das, obwohl ich es ganz alleinbewohnte.

Meine Zukunftspläne von einem ruhigen Leben in der Abgeschiedenheit,vielleicht sogar mit einem tierischen Freund, endeten allerdings abrupt mitdem Versuch, die große Yuccapalme umzutopfen. Im Keller hatte ich einengroßen Tonkübel entdeckt, der ihren Wurzeln und ihrer stattlichen Größeein gutes neues Zuhause bieten würde. Unverhofft kommt oft – und dazunoch ganz plötzlich! Alles änderte sich mit einem schmerzhaften Stechen inder Brust, als ich den Tonkübel unter großer Mühe die Kellertreppehinaufwuchtete.

Es fühlte sich an, als ob mir jemand von hinten in den Rückendurch die Brust geschossen hätte. Ich ließ den Tonkübel los, dieserrollte rückwärts von der Treppenstufe und riss mich mit sich dieTreppe hinab, bis ich inmitten eines Haufens von Tonscherben amFuß der Kellertreppe lag und mir mit schmerzverzerrtem Gesicht undbeängstigender Luftnot an die Brust griff. Mich überkam große Panik! Ichwar vollkommen allein und hatte solche Schmerzen, dass ich nochnicht mal imstande war, mir mein Handy aus der Gesäßtasche zuziehen, um Hilfe zu rufen. Ich japste nach Luft, riss die Augen weitauf und dann wurde es still um mich und meine Schmerzen ließennach.

Von einem Moment auf den anderen setzte ich mich auf und sah michum.

*

Fasziniert schaute ich auf den Bildschirm. Es lief eine Reportageüber die Entstehung der Erde. Ich staunte über die neuen Trickfilme,die so real wirkten, als hätte man das Gezeigte wirklich gefilmt.Dieser neuzeitliche Fernseher war für mich die größte Erfindung derMenschheit! Gerade als die Urknalltheorie erklärt wurde und sicheine mächtige Explosion auf dem Bildschirm in Zeitlupe ausbreitete,erreichte mich ein Krachen, das aus dem Keller zu mir herauftönte.Sicherlich war dem Alten etwas aus der Hand gefallen, dachte ichund wollte mir die Sendung weiter ansehen. Als ich aber einStöhnen vernahm, riss ich mich von dem Flimmerkasten – der diese