GEISTER DER TIEFE - Jeffrey Hale - E-Book
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GEISTER DER TIEFE E-Book

Jeffrey Hale

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Beschreibung

Was für ein Monster könnte eine gesamte Schiffscrew töten, ohne auch nur einen Tropfen Blut zu vergießen? Was für ein Monster könnte einen ganzen Frachter zum Sinken bringen. Und was für ein Monster könnte fünfundzwanzig Menschen verschlingen und spurlos verschwinden? Genau das soll Professor Nicholas Voigt herausfinden. Damit beauftragt, das sagenumwobene Wrack der SS Ourang Medan zu finden, begibt er sich zur Straße von Malakka. Dort trifft er auf seine Schiffskameraden und seinen exzentrischen Geldgeber – den Millionär Bryan Dunston. Schnell muss er erkennen, dass Dunston von Gier und Bosheit angetrieben wird. Der Millionär glaubt, dass sich im Wrack der Ourang Medan eine Waffe von unermesslicher Kraft verbirgt … und er wird nicht eher ruhen, bis er sie gefunden hat …

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Geister der Tiefe

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: FROM BELOW. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2015. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

 

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: FROM BELOW Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Schiffmann

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-873-7

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Geister der Tiefe
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Epilog
Über den Autor

Für Janice L. Hill

 

Du hast mich stets ermutigt und inspiriert. Ich bedaure nur, dass wir nie dazu gekommen sind, ein Haus am Strand von Hawaii zu beziehen.

Oh … und trink nicht so viele Margaritas im Jenseits. Ich habe gehört, die Cocktails dort sind verboten stark.

Prolog

16. Juni 1947

Jon Hull stand an Bord der SS Silver Star und atmete lange aus. Wegen der Buschfeuer an der indonesischen Küste konnte er überhaupt nichts erkennen. Als er sich übers Heck lehnte, sah er nur Wasser – schleimig, grünbraunes Wasser.

»Beschissene Straße von Malakka«, schimpfte er und spuckten einen Klumpen Rotz in die Salzbrühe. »Gibt keinen bedrückenderen Ort auf diesem Planeten; man sollte sie Straße der Toten nennen.«

»Tut man auch – in gewissen Kreisen«, warf eine raue Stimme von rechts her ein.

Er drehte sich erschrocken um und trat einen minimalen Schritt zurück. Das wollte er nicht; es war ein Versehen. Der wabernde Qualm und das schummrige asiatische Zwielicht bereiteten ihm durchaus Unbehagen.

»Ach Gully, du bist es«, sagte er, während er sein Herz zwingen wollte, langsamer zu schlagen. »Ich dachte, du würdest dich unten ausruhen. Deine Schicht fängt in einer Viertelstunde an.«

»Deine auch, und trotzdem … bist du hier«, brummte der Deckarbeiter und winkte ab. Er war ein großer Mann mit langem Bart und wettergegerbtem Gesicht. Seine Augen sprachen Bände von zahllosen Reisen und ebenso vielen Siegen wie Niederlagen. Laut Vincent, dem Schiffskoch, hatte Gully von allen an Bord am meisten Erfahrung als Seefahrer; nach 40 Jahren unterwegs zählte er zu den Veteranen.

»Konnte nicht schlafen«, schob Jon zur Erklärung vor. Er kam sich unter Gullys stechendem Blick nackt vor und hasste dieses Gefühl. »Muss wohl schlechten Eintopf gegessen haben.«

Gully nickte. »Das wird es gewesen sein. Ich habe einmal eine Schüssel Salzkartoffeln verdrückt und bekam danach drei Tage lang kein Auge zu. Jeder Versuch endete damit, dass ich mein Mittagessen über die Reling kotzte.« Er unterbrach sich, legte seine Hände auf den kalten Stahlbaum und fuhr fort. »Weißt du, woran es noch liegen könnte? An Angst; du fürchtest dich doch nicht, oder?«

»Was? Nein, wovor sollte ich mich fürchten?«, fragte Jon ein wenig zu hastig. »Ich bin vielleicht erst 17, aber kein Grünschnabel. Mein Dad nahm mich oft mit zum Tiefseefischen vor der Küste Floridas. Ich bin schon auf so einigen Schiffen mitgefahren.«

»Ich auch, aber das bedeutet keineswegs, dass ich nicht hin und wieder Schiss kriege«, gestand Gully verhalten lächelnd. »Angst ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Sie dient einem Zweck. Sie beschützt dich, hält dich wach; außerdem hält sich dich davon ab, deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen.«

»Und du erzählst mir das … aus welchem Grund?«, erwiderte Jon. »Ich sagte dir bereits, dass ich mich nicht fürchte. Im Gegenteil, ich langweile mich. Kann dieser Schrotthaufen nicht schneller schwimmen? Wir treiben schon seit Stunden durch diesen Kanal. Je schneller wir an Land kommen, desto früher werden wir ausgezahlt.«

»Stimmt«, murmelte Gully. »Würden wir den Motor anfeuern, wären wir zehnmal früher im Hafen. Wir könnten aber auch mit einem anderen Schiff zusammenstoßen und genauso enden wie die vielen Wracks unter uns am Meeresboden. Hast du eine Ahnung, wie viele Kapitäne deinem Irrtum aufgesessen sind?«

Jon zog die Schultern hoch. »Fünf?«

»Sagen wir zehn – oder gleich 15. Wenn sich die Sichtverhältnisse verschlechtern, hat man im Nu einen Fehler begangen. Vorsicht ist besser als Nachsicht.«

»Du meinst wohl eher, besser arm bleiben, als was verdienen«, maulte Jon. Die barsche Antwort mutete in Anbetracht von Gullys Größe und Statur gewagt an, aber Jon machte sich keine Sorgen. Die Straße von Malakka war höchstens 90 Fuß tief, und die Küste Indonesiens lag in Schwimmweite. »Wäre ich Kapitän, würde ich diesen Schaluppe das Fliegen lehren. Wer nicht wagt, gewinnt auch nicht.«

»Bis zu einem bestimmten Punkt hast du recht«, relativierte Gully. »Es gibt Situationen, da ist es am besten, wenn man die Karten auf den Tisch legt; ein andermal tut man gut daran, sich nicht hineinschauen zu lassen. Ein guter Kapitän weiß, wann er sein Leben aufs Spiel setzt; das hat mich die Erfahrung gelehrt.«

»Und aus dem Grund bist du immer noch nur ein Deckarbeiter«, konterte Jon. Ihm war bewusst, dass ihm der Ältere helfen, etwas von seiner Nervosität nehmen wollte, doch er wusste es nicht zu schätzen. Als jüngstes Besatzungsmitglied musste er einen langen Schatten werfen; tat er dies nicht, machte er sich zum Prügelknaben des Schiffs – dem Schwächling, dem kleinen Wicht.

Auf hoher See gibt es keinen Platz für Angst, redete er sich ein, während er vom Heck nach vorne marschierte. Er spielte mit dem Gedanken, diese Phrase über seine Schulter zurückzugeben, während Gully im Dunst verschwand, ließ es aber bleiben. In dem Moment, da er sich dem Deckhaus näherte, schlug eine Welle gegen das Schiff, sodass er stolperte und gegen ein anderes Crewmitglied stieß.

Unter gewöhnlichen Umständen hätte die Berührung den Mann zu einigen Drohgebärden und Frechheiten bewogen, aber die unerwartete Erschütterung verdutzte ihn. Er konnte sich nicht erklären, woher die Welle gekommen war; am Horizont sah man keine Schlechtwetterwolken.

»Was in Gottes Namen geht hier vor sich?«, wunderte er sich laut, bevor er zur Steuerbordreling trottete.

Was Jon dachte, spiegelte sich in der Frage wider. Er mochte zwar kein bewanderter Matrose sein, wusste aber, dass etwas nicht stimmte. Schließlich war er vertraut mit dem Meer und seinen verschiedenen Eigenheiten.

Nachdem er auf seine Uhr geschaut hatte, eilte er unter Deck. Er und Gavin sollten in fünf Minuten Wachübergabe halten. Das gab ihm noch zwei Minuten, um seine Zigaretten zu finden und eine Packung Cracker aus der Küche zu schnorren.

Er bewegte sich zielstrebig durch die Gänge der SilverStar bis zu den engen Quartieren und kramte in seiner Koje herum. Da er abgesehen von einer kratzigen Wolldecke, einem unförmigen Kissen und einem abgegriffenen Abenteuerroman nicht viel sein Eigen nannte, konnte es eigentlich nicht lange dauern, die Kippen zu finden. Tat es aber.

Fast drei Minuten später stand Jon noch immer mit leeren Händen da. Er ärgerte sich, weil sein Körper nach Nikotin verlangte, und hätte seiner Frustration am liebsten Luft verschafft, hielt sich aber zurück. Falls er etwas kaputtmachte, musste er bitter dafür büßen; der erste Maat würde ihm weniger zu essen geben lassen … oder etwas Schlimmeres tun.

Während er von Stricken an seinen Hand- und Fußgelenken fantasierte, fuhr sich Jon mit einer Hand über den Schopf und ging zügig über den Korridor. Es gab nur einen Mann, der wusste, wo er seine Zigaretten aufbewahrte, und das war Theodore Grimwall, der Funker des Schiffs.

»Was für ein Arsch; wenn er die ganze Packung eingesackt hat …«

Jon sprach den Satz nicht zu Ende. Er wusste nicht genau, was er tun würde, falls sich Theodore als Schuldiger herausstellte. Es war ja nicht so, dass er ihm drohen konnte, denn der Mann hielt einen höheren Rang inne als er. Der Drecksack konnte veranlassen, dass Jon in seine Koje gesperrt oder genötigt wurde, das Hauptdeck zu schrubben.

Im Geiste ging er noch seine Optionen durch, als er sich dem Funkraum näherte. Die Tür war geschlossen, also blieb er stehen und legte ein Ohr an die Dichtung. Meistens ließ Theodore sie offenstehen; die Silver Star war ein Handelsschiff und wurde darum nicht in vertrauliche Informationen eingeweiht.

Vorausgesetzt, der Wetterbericht gilt nicht als »vertraulich«, lachte Jon leise bei sich. Dann hörte er die Stimme des Kapitäns, und die Heiterkeit verging ihm. Er konnte sich nicht leisten, bei ihm in Ungnade zu fallen, nicht so früh auf dieser Reise.

Am besten melde ich mich zum Dienst und tue so, als sei ich nie hier gewesen, überlegte er. Zu dumm, dass er sich nicht von der Tür losmachen konnte. Der Kapitän hörte sich distanzierter an als sonst an. Er sprach, als sei er aufgekratzt, beunruhigt – mit einem Unterton, bei dem Jon merkwürdig flau im Magen wurde.

»Sind Sie sicher, dass das die Nachricht war? Die ganze Nachricht?«, fragte der graubärtige Oberbefehlshaber. »Mehr kam nicht?«

»Nichts, Sir«, beteuerte Theodore. Jon konnte sich bildhaft vorstellen, wie mit weit auf der Nase hochgeschobener Brille auf seinem Holzhocker kauerte und nervös auf dem Schreibtisch trommelte. »Die Übertragung begann um 19 null-null und endete wenige Minuten später. Ein niederländischer und ein britischer Horchposten schnappten sie auch auf.«

»Und? Wie lautet der allgemeine Tenor? Woher stammt sie?«, fuhr der Kapitän fort. Er musste einen Schritt vorwärts gemacht haben, denn der Boden knarrte, wovon Jon Gänsehaut an den Armen bekam.

Theodore schluckte. »Das ist der schwierige Teil. Der Nachricht ging keine Identifikation voraus. Wer auch immer sie sandte, hatte es verflucht eilig. Ich habe es allerdings geschafft, ihre Herkunft einzugrenzen. Anhand der Koordinaten der Horchposten und des …«

»Zum Teufel mit Ihren Methoden«, brauste der Kapitän auf. »Sagen Sie mir verdammt nochmal, womit wir es hier zu tun haben, sonst degradiere ich Sie und lasse Sie über Bord werfen.« Er war es leid, leere Drohungen zu machen, und wollte seine Worte in die Tat umsetzen. Das erkannte Jon daran, dass Theodore schnell antwortete.

»D-die OurangMedan«, stotterte der Funker. »Die Übertragung stammte von einem niederländischen Frachter namens OurangMedan. Der ist übrigens nicht weit von uns entfernt. Mit unserer momentanen Geschwindigkeit sollten wir ihn in 40 Minuten erreichen. Angenommen …«

»Nichts angenommen«, fuhr der Kapitän dazwischen. »Die SilverStar steht in einem hohen Ruf. Wir haben uns noch nie vor unserer Pflicht gedrückt. Wir sind auf Kurs geblieben, als wir von der Marinekommission abkommandiert wurden, und tun es auch jetzt. Sollte die OurangMedan Hilfe brauchen, wird sie sie erhalten. Nehmen Sie Ihre Koordinaten zusammen und folgen Sie mir auf die Brücke.«

»Sofort?«, hakte Theodore kleinlaut nach.

Eine Bekräftigung war nicht nötig.

Als Jon in den Frachtraum auf der anderen Seite des Korridors zurückwich, ging die Tür auf, und die beiden Offiziere kamen heraus. Der Kapitän schaute finster drein und hatte seinen Mund verzogen. Er war aufgewühlt und ganz offensichtlich besorgt. Zu Glück schaute er nicht einmal in Jons Richtung; er stapfte schnurstracks die Treppe hinauf, wobei ihm Theodor dicht folgte.

Als die zwei außer Sicht waren, schlich sich Jon in den Funkraum und schloss sachte die Tür. Er ging ein erhebliches Risiko ein. Falls ihn jemand erwischte, bedeutete dies das Ende seiner ziemlich schnöden Laufbahn. Er war jedoch neugierig; noch nie hatte er den Kapitän so aufgebracht erlebt. Normalerweise konnte nichts Payne erschüttern. Dass der Mann fluchte, böse schaute oder seinen Emotionen anderweitig Ausdruck verlieh, kam selten vor.

Während er sich leise »Dir passiert nichts« und »Niemand ertappt dich hier« vorsagte, trat Jon vor Theodores Schreibtisch. Darauf stand ein klobiger Fernschreiber, neben dem links ein Stoß vergilbter Blätter lag. Die meisten Aufzeichnungen waren alt – belanglose Funksprüche unter Schiffen und Häfen von befreundeter Seite –, eine jedoch neu. Sie datierte auf den 16.6. und weckte Jons Interesse. Das Schriftbild war unleserlich und verschmiert, ein Beleg für eine fahrige Hand.

Wie Jon Schritte auf dem Gang hörte, zögerte er und sah sich nach einem Versteck um. Theodores Arbeitsplatz war eng und spärlich eingerichtet. An der hinteren Wand stand ein Aktenschrank, rechts eine ramponierte Truhe und links ein leerer Vogelkäfig. Kurzum: Es war kein Raum, in den sich ein erwachsener Mann der Behaglichkeit wegen zurückgezogen hätte.

In der Gewissheit, gleich werde ihm Kapitän Payne die Leviten lesen, fluchte Jon und stellte sich so gerade hin, wie er konnte. Er musste sich stark zusammenreißen, um nicht in die Hose zu pinkeln. Außerdem war er ein Hull; sein Nachname stand synonym für »Gefahr«. Sein Vater hatte im Ersten Weltkrieg auf der USSMayrant gedient.

Im Gedenken an blutige Schlachten und sturmumtoste See nahm Jon seinen Mut zusammen. Er war gefasst auf eine Konfrontation, auf wutschnaubende Ausbrüche und ein ruppiges Verhör; er war bereit, seine Strafe hinzunehmen und abzubüßen.

Zu alledem kam es jedoch nicht.

John hörte mit Freuden, dass die Schritte auf dem Flur vorbeizogen und langsam leiser wurden.

Dankbar darum, verschont worden zu sein, eilte er zum Tisch zurück und überflog das verräterische Dokument. Er wollte es verinnerlichen und dann hinausgehen, doch die Worte waren so erschreckend, so verwirrend, dass er nicht umhinkam, sie immer wieder zu lesen.

Alle Offiziere tot, Kapitän eingeschlossen, stand da ganz nüchtern. Leichen liegen in Kartenraum und auf Brücke. Möglicherweise gesamte Besatzung umgekommen.

»Wodurch?«, sagte Jon laut. Seine Stimme klang dumpf und gespenstisch in der engen Kammer, also zog er vor, nicht weiter darüber nachzudenken. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war noch ein Albtraum, noch ein Grund für Schwierigkeiten beim Einschlafen.

Indem er das Papier zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, ging er die Rückseite durch. Er hoffte, dort eine Antwort auf seine Frage zu finden.

Leider vergeblich.

Abgesehen von einem zusammenhanglosen Gewirr aus Buchstaben und Zahlen stand nichts darauf. Er konnte partout keine Erklärung welcher Art auch immer herauslesen.

Nachdem er den Funkspruch zurück auf den Tisch geworfen hatte, verzog sich Jon schnell aus dem Raum. Seine Nackenhaare hatten sich aufgestellt, und er war sich nicht sicher, weshalb. Die Nachricht bereitete ihm keine Angst; sicher, sie war seltsam, doch Tote stellten keine Bedrohung dar. Etwas anderes störte ihn, und davon bekam er Sodbrennen. Lag es an der ungewöhnlichen Reaktion des Kapitäns?

Nein, sagte sich Jon. Ich bin hibbelig, weil meine Zigaretten weg sind und eine sechsstündige Schicht vor mir habe. Das ist das eigentliche Problem.

Während er durch die Eingeweide des Schiffs lief, wappnete sich Jon für dichten Nebel und klamme Feuchtigkeit. Auf dem Hauptdeck rechnete er damit, der erste Maat stelle ihn zur Rede und ergehe sich in Geschrei, bis er blau anlief; das konnte der Kerl gut, es war eines seiner vielen Talente. Allerdings … fehlte von ihm jegliche Spur. An Deck hielt sich praktisch niemand auf.

Überrascht angesichts dieses Mangels an Betriebsamkeit ging Jon Richtung Brücke. Wenngleich er nicht ohne Erlaubnis eintreten durfte, war er gut im Lippenlesen; sollte er nahe genug herankommen, konnte er durch die breiten Fenster Gesprächsfetzen aufschnappen.

Auf dem Weg übers Deck umging er ein aufgewickeltes Seil und musste auch sonst gelegentlich stehenbleiben, um sich zu orientieren und festen Tritt zu fassen. Aus unerfindlichem Grund schlugen Wellen gegen den Rumpf, weshalb das Schiff schwankte und wippte wie ein übereifriges Kleinkind. Zudem war es kein gleichmäßiger Seegang; sie stiegen und fielen willkürlich, was Jons Kameraden zu verärgertem Gemurmel bewog.

»Erst der Rauch, und jetzt das?«, hörte er einen korpulenten Mann grunzen. »Der alte Poseidon dreht sich wohl in seinem Grab um.«

Jon bezweifelte jedoch, der griechische Meeresgott sei für die raue See verantwortlich. Hier waren andere Kräfte am Werk, etwas Unerhörteres; das spürte er in seinen Knochen. Seine Intuition sagte ihm, etwas Düsteres, Hungriges laure im Ozean, tief unter seinen Füßen. Er konnte es sich zwar nicht ausmalen, doch es war dort – und erwachte.

Nachdem er fast über eine Lattenkiste gestolpert und unsanft gestürzt wäre, schlug er einen schnelleren Schritt an. Bis zum Deckhaus war es nicht mehr weit; binnen weniger Sekunden würde es aus dem Nebel hervortreten wie ein breites, fahles Antlitz.

Das eines Ertrinkenden, flüsterte Jons innere Stimme. Dies war eine makabre Vorstellung, die ihn einstweilen die Konzentration verlieren ließ.

Als Jon seine Gedanken zurück ins Land der Lebenden lenkte, war er nicht mehr allein; neben ihm stand ein großer Mann – ein Mann mit Schnallen an seinem Mantel, verschrammten Lederstiefeln und einem Bart, der so silbern schimmerte wie das Licht des Neumonds.

»Captain! Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht gesehen«, stammelte Jon. »Ich bin unterwegs, um Gavin abzulösen, meine Schicht beginnt in …«

»Deine Schicht beginnt, wenn ich sage, dass sie es tut«, unterbrach der ergraute Dienstherr. Seine Stimme klang eisig und duldete keine Widerrede. »Falls du nicht lieber den Rest der Fahrt damit verbringst, das Deck zu putzen und Zwiebeln zu schälen, siehst du besser zu, dass du dich um 20 null-null bei Richard meldest. Wir haben ein Notsignal von einem befreundeten Schiff empfangen und brauchen ein Enterkommando. Irgendwelche Fragen?«

In Wahrheit schwirrte Jons Kopf vor Fragen, aber er traute sich nicht, sie zu stellen. Der Kapitän war kein sonderlich entgegenkommender Mensch; jahrelange harte Arbeit hatten ihn empfindungslos gemacht.

»Nein, Sir, keine Fragen. Ich melde mich um 20 null-null bei Richards«, bestätigte Jon nach einem Moment betretener Stille. Dann nickte er artig und ging ohne Umwege unter dem Vorwand Richtung Heck, sich an diesem Posten und bei jenen Personen einfinden zu müssen. Er konnte den unbarmherzigen Blick des Kapitäns nicht mehr ertragen, denn er erinnerte ihn an den seines Großvaters: streng und missbilligend.

»Ach, was soll’s?«, seufzte er leise, ehe tief einatmete, auch wenn die asiatische Luft stickig war. »Die Sache hat auch ihr Gutes, denn so kann ich wenigstens noch ein Päckchen Kippen auftreiben. Die habe ich bestimmt noch bitter nötig, bevor der Tag vorbei ist.«

***

Vierzig Minuten später klemmte eine Zigarette zwischen Jons Lippen und ein Messer in seinem Stiefel. Letzteres wirkte zwar weder so beruhigend wie ein .38er Revolver noch so einschüchternd wie eine Machete, doch mehr konnte er sich nicht leisten, jedenfalls solange sie nicht vor Anker gingen.

Während er die Männer ringsum betrachtete, setzte Jon eine unerschrockene Miene auf. Er war der bei weitem Jüngste unter denjenigen, die das in Not geratene Schiff entern sollten. Die anderen hatten ihm zehn bis 20 Jahre voraus und auch entsprechende Narben, die Zeugnis davon ablegten; sie sahen eher nach Söldnern als nach Deckarbeitern aus.

Verglichen mit ihnen bin ich noch ein Kind, fand Jon, als er sich an der Backbordreling festhielt. Seine Hände waren schweißnass und hinterließen fettige Abdrücke am Metall. Dafür konnte er nichts; sein Herz klopfte heftig, pumpte Blut und Hitze durch seine Gliedmaße. Er hätte sich in der Antarktis oder irgendeiner anderen Gletscher-freundlichen Region wesentlich wohler gefühlt. Durch die Kälte wäre seine Furcht nicht aufgefallen und die Unruhe einfach zu verdrängen gewesen, doch hier, eingezwängt zwischen den Ufern Malaysias und Indonesiens, gab die Sonne seine insgeheime Beklommenheit preis.

»Hast du Angst?«, fragte Gully in Jons blühender Fantasie. »Wäre nicht weiter schlimm; Angst ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Sie dient einem Zweck. Sie beschützt dich, hält dich wach; außerdem hält sich dich davon ab, deine Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen.«

»Und welche sind das?«, erwiderte Jon in Gedanken. »Habe ich etwas auf diesem Schiff verloren? Sollte ich zu diesem Enterkommando gehören, auf diesem Kontinent sein? Falls nicht, welche Konsequenzen zieht es nach sich? Was wird passieren, wenn ich an Bord der Ourang Medan gehe?«

Teilweise hoffte er, Gully würde wirklich auftauchen und ihn beschwichtigen. Mochte der alte Seebär bisweilen auch aufdringlich sein, klang er zugleich auf trügerische Weise vernünftig. Er wusste stets, er wusste stets, was er zu sagen hatte und wann, wobei er sich nicht in faden Metaphern oder erbaulichem Quark erging, sondern bei den Fakten blieb, und dafür respektierte Jon ihn.

Der Junge schloss die Augen und sog den Rest Nikotin aus seiner selbstgedrehten Zigarette. Solange er nichts sah, konnte er seine Sorgen fast vergessen – die trägen grünen Wellen, den strengen Geruch der Buschfeuer und die bleierne Furcht in seinem Bauch.

Fast.

Als er die Augen wieder aufschlug, machte er vage Umrisse im Dunst aus. Es war etwas Großes und trieb durch die Wasserstraße wie ein Gespenst, ein entleibter Schemen: ein Schiffsrumpf, rostig und mit den Worten OurangMedan beschriftet, die den Eindruck einer Tätowierung auf verwesender Haut erweckten.

»Wal in Sicht«, höhnte einer der Männer und stieß einen Pfiff aus. Er klang noch weniger begeistert als das Mädchen, mit dem Jon sein erstes Mal erlebt hatte. »Meint ihr, sie sah früher besser aus?«

»Nö, ich wette, sie war schon immer so hässlich«, schnaubte ein anderes Besatzungsmitglied. Dieser Scherz ließ sie alle auflachen, doch die gute Stimmung hielt sich nicht; wie die Silver Star neben dem von zahlreichen Fahrten mitgenommenen Schiff beidrehte, wurde aus herzhaftem Kollern leises Glucksen.

»Da ist niemand an Bord«, verlautbarte Jon im ruhigen Ton. »Kein Mensch.«

Er scherzte nicht.

Das Hauptdeck der OurangMedan war verlassen wie ein Friedhof. Hier und dort lagen gestapelte Paletten, doch kein Matrose wachte über sie. Falls sich irgendeine lebende Seele auf diesem Armutszeugnis von Schiff aufhielt, dann in den Räumlichkeiten unter Deck.

Der Förmlichkeit halber rief Richards, der erste Maat, hinüber und wartete auf eine Antwort. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, rechnete er nicht damit, dass jemand den Ruf erwiderte. Zweifellos hatte er Theodores grausige Mitschrift des Funkspruchs gelesen, auch wenn er jetzt nicht besorgt wirkte, im Gegenteil: So wie er die Lippen schürzte, schien ihm vielmehr fad zu sein.

Vielleicht hält er die Nachricht für eine Finte, sann Jon. Immerhin ist diese Wasserstraße sicher. Die japanischen U-Boote sind abgezogen, und Piraterie beschränkt sich auf ein Minimum. Es gibt keinen Grund dafür, dass eine Besatzung ihr Schiff verlässt … oder …

Das Wort in Jons Hinterkopf war »stirbt«. Es dröhnte in seinem Kopf wie das Echo eines Schusses, der ihn zwar nicht körperlich verletzte, aber durcheinanderbrachte. Er konnte es nicht loslassen. Beim Einsteigen in ein Beiboot und als er sein Ruder ins Brackwasser tauchte, haderte er mit seinem Gleichgewichtssinn.

»Auf so etwas bin ich nicht gefasst«, hörte er einen seiner dunkelhäutigen Genossen sagen. Dann realisierte er, dass ihm genau dieser Satz auch auf der Zunge lag, und nahm sich flugs vor, zu schweigen. Er musste sich zusammennehmen, bevor er im trüben Gewässer der Straße von Malakka seine wenige Würde verlor.

***

Sobald das Boot eine günstige Position eingenommen hatte, wurde eine Leiter an der Steuerbordwand der OurangMedan befestigt. Sie bestand aus Stricken und leidlich stabilen Holzsprossen, was Richards gleichwohl nicht zurückscheuen ließ; der Maat packte sie mit beiden Händen und begann wacker seinen Aufstieg. Obwohl er ein schmächtiger Typ war und unter einer Hautkrankheit litt, die einen Teil seines Gesichts mit violetten Flecken verunstaltete, achtete die Crew ihn. Sie redete weder hinter seinem Rücken über ihn, noch hatte sie gemeine Spitznamen für ihn geprägt. Er war ein Anführer in jeder Hinsicht.

Wie Jon den letzten Mann an der Leiter nach oben huschen sah, vertäute er das Beiboot und rollte die Schultern; seine Muskeln waren verspannt. Er fühlte sich wie ein Soldat, der sich darauf gefasst machte, am Gestade des Gegners einzufallen. Dachte er logisch, musste er sich sicher wähnen und nicht davon ausgehen, auf ein Regiment japanischer Kriegshunde zu stoßen, doch sein Aberglaube verhieß das Gegenteil; er sagte ihm, dass …

»Hull, bist du das da unten? Wenn ja, komm schleunigst rauf; wir bezahlen dich nicht dafür, dass du Däumchen drehst«, rief Richards vom Deck der OurangMedan. Sein Tonfall klang missbilligend, während der Dunst seine Züge unkenntlich machte. »Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Jawohl, Sir«, murrte Jon und griff zu den miteinander verflochtenen Brettern.

Ehe er sich versah, hielt er sich an der Steuerbordreling fest und zog sich hoch. Nach der Kletterpartie und weil er zuvor das Ruder so verkrampft gehalten hatte, taten seine Finger weh. Er beschwerte sich jedoch nicht, sondern vergewisserte sich lediglich des Messers in seinem Stiefel und ging los.

Jon fasste den Bug ins Auge, während er sich so sachte wie möglich durch den Nebel bewegte. Er war sich nicht sicher, wonach genau er suchte, also bewegte er sich langsam und schaute sich ununterbrochen um. Irgendwie war die OurangMedan größer, als er von der SilverStar aus gedacht hatte, und außerdem zwielichtiger. Der Qualm der Buschfeuer an der indonesischen Küste schien sich an Deck zu sammeln, weshalb man kaum etwas erkannte, geschweige denn durchatmen konnte.

Weil sich Jon einem bereits bestehenden Suchtrupp anschließen wollte, schlug er eine andere Richtung ein – nach Nordosten beziehungsweise dorthin, wo er den Nordosten vermutete. Je länger er ging, desto mehr zweifelte er an seiner Orientierung.

Ist das der richtige Weg?, fragte er sich, als er über einen Putzeimer mit Mopp stolperte, vertraute Gegenstände für ihn. Werde ich Richards finden oder gehe ich im Kreis? Lässt mich mein innerer Kompass jetzt endgültig im Stich?

Jon schwitzte stark. Er blieb neben einem Lademast stehen und hielt sich daran fest. Der erste Maat hatte ein lautes Organ, also hätte er ihn hören müssen, zumal die See nur leise rauschte. Dass er es jedoch nicht konnte, beunruhigte ihn.

»Hallo?«, rief er zaghaft, wobei er schwächer und schutzbedürftiger klang als gewollt. »Kann mich jemand hören? Ist da wer? Ich heiße Jon Hull und bin Mitglied der Besatzung der SilverStar. Wir sind hier, um zu helfen; mein Schiff erhielt ein Notsignal von diesem. Falls jemand am Leben …«

Jon ließ seine Offerte verklingen. Er glaubte nicht, dass noch jemand am Leben sei – nicht mehr. Wie die verlorenen Seelen hier herumspukten, konnte man nachgerade spüren. Ihre Blicke ruhten auf ihm, weshalb ihm das Blut in den Adern gefror und die Worte im Mund versandeten.

Im Zuge eines Adrenalinschubs drehte sich Jon um und versuchte, seine Schritte zurückzuverfolgen. Obschon er sich nicht unbedingt vor seiner Pflicht drücken wollte, sah er sich definitiv außerstande, allein weiterzugehen. Die Leere an Bord der OurangMedan war zu verdächtig; davon bekam er Muffensausen.

Indem er eine unmelodische Tonfolge summte, um die Toten auf Abstand zu halten, erhöhte er sein Schritttempo zusehends. Er konnte nicht anders; unter ihm verbarg sich eine bösartige Präsenz. Sie pulsierte und ließ die müden Planken des Schiffs erzittern.

Mit eindrücklichen Bildern von Dämonen und auferstandenen Leichen vor seinem geistigen Auge zog der junge Deckgehilfe einen Dolch. Er musste sich nach Kräften bemühen, um nicht zu schreien. Oder …

Bamm!

Bevor Jon seinen Schließmuskel zusammenkneifen konnte, stieß er mit einem Fuß gegen etwas, das nachgab, und fiel unbeholfen auf die Knie. Zwar tat er sein Bestes, um den Sturz mit den Händen abzufedern, scheiterte aber. Infolgedessen stieß er sich den Kopf an einer Metallstange und musste dann mehrere Sekunden lang blinzeln, bis er keine Sternchen mehr sah.

Während er alle Götter verfluchte, die ihm einfielen, wälzte er sich auf seinen Hintern. Er ärgerte sich über seine Unachtsamkeit und war nun ziemlich desorientiert – bis er die Kreatur vor sich sah. In dem Moment wurde ihm schlagartig bewusst, wie real diese Situation war, und er ruderte in die Gegenrichtung zurück.

»Heilige Muttergottes!«, schnaufte er, während sich der Anblick der spitzen Zähne und des gesträubten Fells des Hundes in seinem Kopf einbrannte. Er wollte laufen, doch seine Beine waren taub. Er zappelte auf dem sonnenverbrannten Deck damit, als seien sie ein Paar Fische am Haken, weshalb er nicht fliehen konnte.

Seine Reaktion war allerdings übertrieben.

Sobald sein Verstand seinen Körper einholte, sah er ein, dass er sicher war. Der zähnefletschende Hund war tot wie ein Stück Kantholz. Seine Augen standen zwar offen, waren aber trüb, und seine Zunge, die aus dem Maul hing, zog Mücken an.

Wie Jon das Tier mit morbider Faszination betrachtete, fasste er wieder Mut. Wiewohl er nicht bestimmen konnte, was den Hund getötet hatte, wusste er nicht so recht, ob er es erfahren wollte. Im Fell sah man keine offenen Wunden oder klare Belege für Gewalteinwirkung. Allem Anschein nach war der Köter vor Schreck gestorben.

Mit einem Mal unschlüssig, zog sich Jon zurück. Er hatte sein Messer verloren, als er hingefallen war, und fühlte sich deswegen nackt. Nun hätte er ein Königreich für ein Gewehr oder eine Stahlstange gegeben, etwas zum Eindämmen seiner inneren Ängste.

»Hallo?«, versuchte er wieder, diesmal in moderater Lautstärke. »Richards? Finnegan? Falls Sie mich hören, sagen Sie etwas, ich erlaube mir keinen Scherz. Hier ist etwas – auf diesem Schiff, ich kann es spüren. Es hat bereits getötet und …«

Möchte Nachschlag, sprach er im Geiste zu Ende, als sich die Luke vor seinen Füßen auftat.

Mit dem Geruch von Salzwasser, Schweiß und etwas widerlich Süßem in der Nase blickte Jon ins düstere Innere des Schiffsrumpfs hinab. Er wollte weder die rostige Treppe nehmen noch über die langen, verhallten Korridore schleichen, hatte aber keine andere Wahl. Um dieses elende Schiff und die Verdammten, die darauf weilten, hinter sich zu lassen, musste er Richards und die anderen wiederfinden – und um dies zu schaffen, war er gezwungen hinabzusteigen.

Mochte er auch einen pochenden Schmerz in seinen Gelenken spüren, nahm er die Einladung des Schiffs dennoch an. Er stieß auf der Treppe nach unten vor, Stufe für Stufe. Zweimal ging ein Ruck durch den Kahn – aufgrund eingebildeter Wellen? –, sodass er seitwärts kippte und gegen die gewölbten Metallwände stieß. Er fühlte sich dämlich und unkoordiniert, obwohl keine Seeleute zugegen waren, die ihn in seiner Bedrängnis hätten verspotten können.

»Keine lebenden Seeleute«, wisperte er im Dunkeln. Da er das hohle Echo seiner Worte hasste, beschloss er, den Mund zu halten, bis er den ersten Maat fand.

So stellte er sich zwangsläufig auf eine Enttäuschung ein.

Zehn Minuten später war er immer noch allein. Sein Schatten verschmolz weiterhin mit gesichtslosen Geistern, die am Rande seines Gesichtsfeldes tänzelten, und seine Glieder wurden allmählich schwer vor Furcht. Seine Haut fühlte sich kalt an, obschon die Thermostate unter Deck knapp 30 °C anzeigten.

Jon rieb sich die Arme, um seine Gänsehaut zu überwinden, und schaute dabei in einen kleinen Raum. Er erkannte, dass darin Etagen- und Einzelbetten sowie mit Kleidern vollgestopfte Holztruhen standen, wollte aber auf keinen Fall eintreten. Licht konnte er nicht in der Kammer machen, dafür aber menschenähnliche Gestalten in den Ecken sehen. Ihre Glieder waren in grotesken Posen verdreht – ein Zerrbild von Tanzenden –, und ihre Augen lidlose Spiegel, schwarz wie Onyx.

Zitternd schaute Jon zum Heizraum hinüber, der am Ende des Korridors lag. Darin glühte es schwach; zurückhaltende Rot-, Orange- und Gelbtöne, die industrielles Grau überdeckten und Jon zuversichtlich stimmten. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu beruhigen und seinen nächsten Schritt zu durchdenken.

Das Schicksal hatte jedoch andere Pläne.

Kaum dass Jon eine Hand an den Türrahmen legte, wähnte er sich im Angesicht des Todes. Er konnte ihn regelrecht schmecken. Er rutschte seinen Rachen hinunter und ließ einen bitteren Schwall Galle hochkommen. Umkehren konnte er jedoch nicht; eine unsichtbare Macht trieb ihn weiter vorwärts, machte ihn zu einer Marionette aus Fleisch und Blut. Das Atmen fiel ihm schwer; wie hätte er da die Flucht ergreifen sollen?

Also richtete er ein stummes Gebet an den Gott, den seine Mutter als den ihren auserkoren hatte, schob sich in den Raum und versuchte, nicht aufzuschreien.

Dort in diesem Stahlkerker verstreut machte er Männer in unterschiedlichen Stadien der Verwesung aus. Sie hatten ihre Münder vor Entsetzen verzogen und ihre Arme ausgestreckt, als würden sie mit ungesehenen Gegnern ringen. Einige lagen flach am Boden, wohingegen andere an den Wänden oder Lattenkisten aufgerichtet saßen. Allerdings waren nicht alle zusammengebrochen. Einige wenige standen mit steifen Knien da und zeigten ihre Zähne. Sie erinnerten Jon an Wachsfiguren, erschaffen zum Ängstigen wie Unterhalten im Kuriositätenkabinett von Wanderzirkussen.

Das sind aber keine Puppen, dachte Jon, während sich seine Hose dunkelbraun einfärbte. Es sind Männer – Schiffsarbeiter –, die ihr Leben auf hoher See verdienten. Was ist mit ihnen passiert?

Sosehr er sich darum bemühte, fand er doch keine Antwort. Wie der Hund an Deck hatten auch sie keinerlei Quetschungen oder Schnitte erlitten. Ihre Hälse waren fleckenlos, und ihre Kleider nicht zerrissen.

Nachdem er sich das Schreckensbild eingeprägt hatte, machte Jon auf dem Absatz kehrt und fiel fast auf den Hintern. Er war nicht mehr allein; nein, in der Tür stand sogar eine ganze Traube von Gestalten. Sie grinsten schief, und ihre Augen funkelten vor gehässiger Verzückung.

Gespenster!, glaubte Jon felsenfest. Die körperlosen Geister der Toten sind zurückgekehrt, um meine unsterbliche Seele zu rauben!

Das stimmte nicht ganz.

»Verflucht seltsam, was?«, fragte Richards und betrat den Heizraum im unsteten Licht. »Zwanzig Mann – alle tot, ohne dass es einen augenscheinlichen Grund dafür gibt. Hast du so etwas je gesehen?«

Jon schüttelte den Kopf. Dann gewann er seine Contenance einigermaßen wieder und fragte, wo der Rest der Besatzung sei. Zudem wollte er wissen, warum die OurangMedan so verlassen war, anmutete wie ein Geisterschiff.

Richards konnte sich lediglich auf die Unterlippe beißen. »Verlassen ist sie, weil alle aus der Crew tot sind«, antwortete er. »Der Captain, der erste Maat, der Steuermann – jeder einzelne Mann. Wir fanden die meisten Offiziere im Steuerhaus und Kartenraum.«

»Und der Funker?«

»An seinem Posten erstarrt. Sein Finger lag tatsächlich noch auf dem Fernschreiber. Muss verreckt sein, während er den letzten Notruf aussandte. Armes Schwein.«

»Armes Schwein«, ganz richtig, fand Jon. Der Mann hatte keine Chance. Er muss in den letzten Augenblicken seines Lebens die Hölle durchgemacht haben.

»Wenigstens ist er wie ein echter Kerl gestorben«, schloss Richards und klopfte sich mit seinem Revolver gegen den Oberschenkel. »Er bewahrte Ruhe, während seine Kameraden ringsum fielen. Dazu braucht man eine Menge Schneid. Er verdient eine Seefahrern würdige Bestattung – ein Begräbnis auf dem Ozean – und wird sie auch bekommen.«

»Wie das?«, fragte Jon. Er klang ungern gefühllos, war aber müde und verschreckt, weshalb er tunlichst nichts mehr mit dieser Sache zu tun haben wollte. »Dazu haben wir nicht die notwendigen Mittel, und außerdem kann niemand sagen, ob das Schiff noch fahrtüchtig ist.«

Richards neigte seinen Kopf zur Seite. »Stimmt. Deshalb werden wir auch eine Trosse festmachen und es in den Hafen abschleppen. Die Behörden vor Ort können bestimmen, was mit ihm geschehen ist, sobald es vor Anker liegt.«

Und sobald wir weit genug davon weg sind, ergänzte Jon für sich selbst. Die Idee hörte sich vernünftig an und spendete ihm neue Energie. Er konnte kaum erwarten, die gruseligen Decks der Medan zu verlassen. Durch das unaufhörliche Schwanken wurde ihm übel, ganz zu schweigen vom Gestank der Leichen.

Nach einem letzten prüfenden Blick in den Heizraum zuckte Richards mit den Achseln und führte das Enterkommando den Flur hinauf. In seinen Augen war die Mission vorbei. Er hatte auf das SOS reagiert und einen Haufen Leichen vorgefunden. Fürs Warum und Wieso interessierte er sich nicht; er war ein Seemann, kein Kriminalbeamter.

Bei Jon lag der Fall anders. Auch wenn er nicht schnell genug von dem verwunschenen Kahn herunterkommen konnte, packte ihn die Neugier. Ihm wollte nicht so recht einleuchten, wie es zu einer solchen Tragödie gekommen war. Seine innere Stimme sagte ihm, es müsse eine logische Erklärung dafür geben, also ließ er es darauf ankommen: Er blieb auf dem Weg durch den weitläufigen Bauch des Schiffs stehen und brach das Schweigen.

»Hört ihr das?«, fragte er und zog so eine Reihe verdrossener Blicke auf sich. »Dieses Brummen wird lauter; ich glaube, es kommt aus einem dieser Frachträume. Sollten wir nicht nachschauen?«

»Und uns Vincents berühmte Hühnersuppe entgehen lassen? Im Leben nicht«, gluckste eines der Besatzungsmitglieder. Der Mann hatte ein wächsernes Mondgesicht und drängte die Gruppe mit seinen drallen Pranken zum Weitergehen. »Wenn du so scharf darauf bist, schau doch selbst nach.«

»Genau«, pflichtete ein anderer lachend bei. »Wir lassen eine Rettungsweste auf dem Hauptdeck liegen, damit du uns nachschwimmen kannst, wenn du fertig bist. Klingt fair, oder?«

Jon ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte er dem Kerl eine blutige Nase verpasst, hielt sich aber zurück. Jon war mit seinen 150 Pfund kein Schwergewicht. Die meisten Arbeiter an Bord der SilverStar wogen noch 100 Pfund mehr und waren drei Zoll größer; sie konnten den Jungen nahezu mühelos bezwungen.

Indem er sich zwang, den Zorn hinunterzuschlucken, folgte Jon seinen Kameraden. Er mochte später Rache nehmen, wenn er nicht mehr von Leichen umgeben war.

Euch zeig ich’s, nahm er sich vor. Wenn ihr am wenigsten damit rechnet, seid ihr reif. Ihr werdet bereuen, euch mit Jon Hull angelegt zu haben. Wenn ich mit euch fertig …

Was?

Er kam nicht dazu, seine Pläne konkreter auszufeilen. Als er eine Luke passierte, an der LAGER 4 stand, dröhnte es ohrenbetäubend, und er blieb ruckartig stehen. Ohne Zweifel, da war etwas in dem tiefen Raum; es trug Schuld daran, dass seine Beine zitterten – dass das ganze Schiff vom Heck bis zum Bug zitterte.

Jon widerstand der Versuchung, Richards darauf aufmerksam zu machen, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und legte eine Hand auf den Türgriff, dessen Stahl sich kalt anfühlte. Das Stück Metall vibrierte, obwohl er es festhielt. Kurz wägte er seine Handlungsmöglichkeiten gegeneinander ab.

Wenn ich die Tür nicht öffnete, erfährt nie jemand etwas, versicherte er sich selbst. Meinem Ruf wird es nicht schaden; Richard kann mich nicht als Feigling bezeichnen, Gully wird meinen Mut nicht infrage stellen, und mein Vater bekommt keinen Grund dafür, enttäuscht zu sein.

Schön und gut, aber ich werde nicht mehr in den Spiegel schauen können, sagte ihm sein Bauch. Wenn du jetzt den Schwanz einziehst, siehst du dich dein ganzes Leben lang nur als kleinen Jungen. Denk daran, was dein Vater immer meint: »Es sind die kleinen Dinge, die einen Mann formen …«

»Und die großen, die ihn definieren«, schloss er leise ab. Er hatte kein sonderlich enges Verhältnis zu seinem Vater, hielt aber sehr viel von dem alten Bären. Vernon Hull war der aufrichtigste und ehrbarste Mensch im ganzen Staate Florida.

In der Einbildung, sein Vater stehe neben ihm, drückte Jon auf die Klinke und versetzte der Tür einen tollkühnen Stoß. Da er die Frachträume der SilverStar kannte, wusste er ungefähr, was ihn erwartete. Er rechnete damit, eine Menge Holzkisten und Paletten zu sehen, darüber Leuchtstofflampen ohne Schirm; auch ahnte er, es werde nach Staub, Rost und Meerwasser riechen.

Er irrte sich.

In dem Moment, da sich seine Pupillen an das dürftige Licht im Raum gewöhnten, setzte sein Herzschlag aus, und er bekam einen trockenen Mund. Was dort vom Boden bis unter die Decke gestapelt lag, war weit wunder- und gräulicher, als er es sich hätte zusammenspinnen können. Es warf eine Fülle von Fragen auf und schürte ungeahnte Ängste.

Nachdem er vor dem Lager zurückgetreten war, versuchte er, seine Gefährten zu rufen. Ihm war egal, wie verschreckt er sich anhören würde, denn er musste sie alarmieren – und es gelang ihm auch beinahe.

Als sich Richards umdrehte, weil das jüngste Mitglied seines Enterkommandos jammerte und wie verrückt herumfuchtelte, erschütterte eine Explosion das Schiff und Trümmer trudelten in einem Feuerball aus Lager Nummer vier.

Kein Mann von der SilverStar überlebte.

Kapitel 1

»Die Ursprünge des Leviathans lassen sich in zahlreichen Kulturen und mythologischen Traditionen wiederfinden«, sprach Nicholas vor der Klasse. Er hielt einen nicht wasserfesten Stift zwischen Daumen und Zeigefinger, den er dazu verwendete, bestimmte Worte und Satzteile seiner Präsentation zu unterstreichen. An der Decke hing zwar ein Projektor, doch den ignorierte er. Ihm waren Tafel und Marker als bewährte Arbeitsmittel lieber als neumodische PowerPoint-Vorträge. So ging es leichter und glatter vonstatten, zumal man sich nicht mit technischem Popanz herumschlagen musste. »Laut Bibel ist der Leviathan einem Wal ähnlich und riesengroß; ein wirkliches Ungeheuer. Im Buch Hiob wird er kurz beschrieben, und zwar folgendermaßen: Wer öffnet die Tore seines Mauls? Rings um seine Zähne lagert Schrecken. Reihen von Schilden sind sein Rücken, verschlossen mit Siegel aus Kieselstein. Einer reiht sich an den andern, kein Lufthauch dringt zwischen ihnen durch. Fest haftet jeder an dem andern, sie sind verklammert, lösen sich nicht. Sein Niesen lässt Licht aufleuchten; seine Augen sind wie des Frührots Wimpern. Aus seinem Maul fahren brennende Fackeln, feurige Funken schießen hervor. Rauch dampft aus seinen Nüstern wie aus kochendem, heißem Topf. Sein Atem entflammt glühende Kohlen, eine Flamme schlägt aus seinem Maul hervor. Stärke wohnt in seinem Nacken, vor ihm her hüpft bange Furcht. Straff liegt seines Wanstes Fleisch, wie angegossen, unbewegt. Sein Herz ist fest wie Stein, fest wie der untere Mühlstein. Erhebt es sich, erschrecken selbst die Starken; vor Schrecken wissen sie nicht aus noch ein. Trifft man es, kein Schwert hält stand, nicht Lanze noch Geschoss und Pfeil. Eisen achtet es wie Stroh, Bronze wie morsch gewordenes Holz. Kein Bogenpfeil wird es verjagen, in Stoppeln verwandeln sich ihm die Steine der Schleuder. Wie Stoppeln dünkt ihm die Keule, es lacht nur über Schwertergerassel. Sein Unteres sind Scherbenspitzen; ein Dreschbrett breitet es über den Schlamm. Die Tiefe lässt es brodeln wie den Kessel, macht das Meer zu einem Salbentopf. Es hinterlässt eine leuchtende Spur; man meint, die Flut sei Greisenhaar. Auf Erden gibt es seinesgleichen nicht, dazu geschaffen, um sich nie zu fürchten. Kommt Ihnen bekannt vor, was?«

Hinten im Saal hob jemand eine Hand.

Nicholas unterdrückte ein Schmunzeln. Sie gehörte wenig überraschend Jimmy Cho, der im ersten Semester und scharf auf Bestnoten war. Der 18-Jährige schaute regelmäßig bei ihm im Büro vorbei, um sich über ihr Lehrbuch und die Pflichtlektüren zu unterhalten – ein kluges Kerlchen, wenn auch nervig.

»Ja, Jimmy?«

Der Junge errötete praktisch vor Aufregung. »Wenn ich mich nicht irre … spricht ein sumerischer Text aus dem dritten Jahrtausend vor Christus von einer siebenköpfigen Schlange. Sie soll aber nicht unbezwingbar gewesen sein; angeblich hat ein Halbgott namens Ninurta sie umgebracht und bei einem Siegeszug durch den Irak zur Schau gestellt.«

Nicholas staunte nicht schlecht. »Sehr gut. Gemäß dem mesopotamischen Lehrgedicht Angim tötete dieser Schutzgott der Stadt Lagaš ein siebenköpfiges Monster. Dessen Name lautete Mušmaḫḫū, übersetzt ungefähr ‘erhabene Schlange’, doch es war mehr als das, ein Mischwesen aus Löwe, Schlange und Vogel.«

»Vergleichbar mit einem Basilisken«, fügte Jimmy ungefragt hinzu. Er bildete sich etwas auf seine Beiträge ein, was man an seinen Augen erkannte. Wie er sich im Klassenraum umschaute, schien er darauf zu warten, dass man sein umfassendes Wissen beklatschte.

Da es jedoch niemand tat, lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und tat so, als würde er etwas auf seinem Block notieren.

»Ja, vergleichbar mit einem Basilisken«, bestätigte Nicholas mit einem kurzen Lachen und bemühte ein letztes Mal seinen Stift an der Tafel. Es war fast vier Uhr und somit an der Zeit, seine Studenten zu erlösen. Dann würde er sein Büro aufräumen; da die Abschlussklausuren bevorstanden, konnte er sich kein Durcheinander leisten. Schließlich musste er die Prüfungsfragen festlegen und Hausarbeiten benoten.

Das bedeutet, dass ich heute Abend nichts trinke, ermahnte er sich selbst, während seine jugendlich frischen Schützlinge ihre Bücher zusammenpackten. Sie wussten, jetzt war Schluss, denn Nicholas beendete das Seminar stets pünktlich. Er ließ sie nie länger sitzen oder zu früh aufbrechen; exakt eine Stunde und 15 Minuten baute er sich vor den Kursteilnehmern auf, um ihnen von Mythen und Folklore zu erzählen. Er brachte ihnen Todesfeen, Kobolde und inzestuöse Kriegsgötter nahe. Dies war sein Fachgebiet, seine Leidenschaft. Algebra, Wirtschaftslehre oder Geologie konnten ihm gestohlen bleiben.

»Mythologie gibt uns ein besseres Verständnis von uns selbst als Rasse als jedes Geschichtsbuch«, pflegte er zu sagen. »Sie offenbart nicht nur religiöse Bräuche, sondern spiegelt auch sozioökonomische Muster, Stärken und Schwächen wider. Indem wir die Glaubensvorstellungen unserer Ahnen erforschen, können wir etwas über unsere Spezies lernen: begreifen, wie wir ticken. Es verhilft uns praktisch zur Selbsterkenntnis, und wenn wir begreifen, wer wir sind, können wir uns auch weiterentwickeln.«

Wie er sich unter den vielen großäugigen Gesichtern im Saal umschaute, grinste er und sprach die Worte, auf die alle warteten. Immerhin war heute Freitag – der Abend in der Woche, an dem sie tranken, rauchten und die Kuh in der Stadt fliegen ließen, als gebe es kein Morgen.

Was würde ich dafür geben, wieder jung zu sein, seufzte er innerlich, während die Studenten aus dem Raum strömten wie eine Herde übereifriger Rinder. Einige blieben noch kurz, um das Mitgeschriebene abzugleichen, doch die meisten waren binnen Sekunden hinausgegangen.

Im Grunde genommen hatte Nicholas seine besten Jahre noch gar nicht so lange hinter sich. Er war 31, also für einen Akademiker relativ jung, fühlte sich aber alt. Er hatte sich scheiden lassen, einen Vater mit Demenz und einen Berg Schulden lang- wie kurzfristiger Art.

»Kann nur noch ein paar Jahre dauern, bis ich ganz graue Haare habe«, sagte er auflachend bei sich, nachdem der letzte Student verschwunden war und Ruhe auf dem Flur einkehrte. Er wollte sich aber nicht beklagen, sondern behielt sich vor, positiv zu denken.

Letzten Endes, so dachte er, bin ich gesund und habe Menschen in meinem Leben, die mir etwas bedeuten. Darauf kommt es an. Als unvermittelt Stoff raschelte und jemand hörbar laut einatmete, drehte er sich um.

»Ach, Mr. Purcell, ich habe Sie gar nicht bemerkt. Sie warten doch nicht etwa schon lange, oder?«, fragte er und ließ seine Unterlagen aufs Pult fallen.

Purcell war der Dekan der Universität, ein Männlein mit hängenden Schultern und ständig beschlagener Brille. Viele Professoren nannten ihn wegen seiner auffällig großen, nässenden Augen insgeheim »das Chamäleon«. Er hätte sie für ihren herzlichen Humor aber wahrscheinlich nicht gerügt. Trotz seines kantigen Erscheinungsbildes war er umgänglich. Er schimpfte nie, brüllte nicht herum und war auch kein Besserwisser, sondern bevorzugte nach Möglichkeit vernunftmäßige Diskussionen.

»Oh nein, ich bin gerade erst gekommen. Wollte Sie noch erwischen, bevor Sie ins Wochenende verschwinden«, erwiderte der ältere Mann und schüttelte die Hand, die Nicholas ihm anbot. »Man hört, Sie hätten den Laden fest im Griff, und die Studenten scheinen Ihnen auch gewogen zu sein.«

»Dann nehme ich sie wohl nicht hart genug ran«, entgegnete Nicholas diebisch grinsend. »Im nächsten Semester muss ich ihnen das doppelte Pensum auferlegen, sie um ihre Noten kämpfen lassen. Sie wissen nicht zufällig, wo ich ein Paar Holzschwerter auftreiben kann?«

Purcell lächelte ausdruckslos. »Eigentlich bin ich genau deswegen hier. Die Zahlen der eingeschriebenen Studenten wurden veröffentlicht, und aufgrund unserer gegenwärtigen Finanzlage …«

»Wissen wir gar nicht, wohin mit dem Geld?«, riet Nicholas. Er tat sein Bestes, um unbeschwert zu bleiben, aber es war nicht leicht. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Purcell benahm sich anders als sonst; der alte Wicht zeigte sich normalerweise nicht so introvertiert. Seine Finger zuckten seitlich am Körper, und er trat ständig mit dem Absatz seines linken Schuhs auf den Teppich.

»Nein, das ist es nicht«, fuhr er fort. »Anhand der Prognosen müssen wir umstrukturieren – personelle Veränderungen vornehmen –, und da Ihr Vertrag gegen Ende dieses Semesters ausläuft …«

Der Dekan ließ die Worte verklingen. Er wollte den Satz nicht zu Ende aussprechen, also half Nicholas ihm auf die Sprünge.

»Sie feuern mich, nicht wahr? Sie sind hier, um mir den Laufpass persönlich zu geben – nach fünf Jahren verlässlicher Dienste.«

»Was? Nein. Nicht ganz«, relativierte Purcell stirnrunzelnd, sodass seine hängenden Wangen wackelten, wobei sich die Falten unter seinen Augenhöhlen spannten, bis er wie eine lebende Vogelscheuche aussah. »Ich bin hier, um Sie zu entlassen, ja – aber nur vorübergehend. Sobald sich die Bilanzen wieder ausgleichen, hole ich Sie zurück.«

»Wie bald?«, wollte Nicholas wissen. Er konnte nicht verhindern, dass er gereizt klang, denn er fühlte sich beleidigt, vor vollendete Tatsachen gestellt. »Nächstes Jahr? Übernächstes? In fünf Jahren? Sobald sich die wirtschaftliche Lage bessert? Wenn die Anstalt noch eine Spritze von mehreren Millionen Dollar erhält?«

Nervös glättete der Dekan seine Krawatte. »Ja, dann vermutlich. Die Zukunft vorherzusagen, ist schwierig. Sie wissen ja, wie es läuft: Zuerst badete man im Geld, und im nächsten Augenblick fehlt es hinten wie vorne. Es ist ein Teufelskreis.«

Nicholas spitzte seine Lippen. Er hätte dem Dekan geglaubt, wären die geschätzten Zahlen der Studienanfänger im kommenden Jahr nicht schon in der Vorwoche herausgegeben worden. Demnach wusste er, man erwartete ein Rekordhoch – und dass die Kräfte hinter den Kulissen die Verwaltung unter Druck setzten, um Kosten einzusparen.

»Na gut«, sagte er zuletzt. »Dann mache ich den Abflug. Ich werde mich nicht dagegen wehren, aber sparen Sie sich den Aufwand, mich anzurufen, wenn wieder alles in der Reihe ist. Ich werde meine alte Stelle nicht mehr annehmen, nicht in diesem Trümmerhaufen; lieber suche ich mir eine Universität, an der man meine Kompetenzen zu schätzen weiß und die ihre Tutoren nicht auf die Straße setzt, wenn ein Haufen fetter Säcke meint, dickere Schecks einstreichen zu müssen. Haben Sie kapiert?«

Purcell nickte abgeschlagen. Er bemüßigte sich nicht, sein Gegenüber beschwichtigen oder für seine Ausdrucksweise schelten zu wollen, sondern wünschte ihm nur viel Glück für seine zukünftigen Bestrebungen und schlich davon, woraufhin Nicholas mit flauem Gefühl im Bauch vor leeren Saal zurückblieb.

Kapitel 2

Auf der Nachhausefahrt kam sich Nicholas einsam vor wie selten. Keine Minute verging, in der er die Stimme des Dekans nicht im Kopf hörte. Er versuchte, sie auszublenden, indem er das Radio aufdrehte, vor sich hinsummte und Namen griechischer Götter grummelte, aber vergebens. Das »Ich bin hier, um Sie zu entlassen, ja – aber nur vorübergehend« ließ ihn nicht mehr los, war wie eine Klette.

Zweimal redete er sich ein, die Hochschule sei seiner unwürdig, und zweimal erkannte er, wie falsch er damit lag. Die Technische Universität von Colorado war nicht irgendwer, sondern eine durchaus hochangesehene Anstalt. An ihr unterrichteten Professoren von internationalem Renommee, und der Staat hatte wiederholt Fördergelder hineinfließen lassen. Deshalb fiel es ihm umso schwerer, die Kündigung zu verwinden.

»Wenigstens habe ich jetzt mehr Zeit für meinen Dad«, brummelte er, während er gleichzeitig aus Versehen über eine rote Ampel raste. »Außerdem kann ich öfter was mit meinen Freunden unternehmen und mich mit meiner Ex versöhnen.«

Würde er das wirklich tun?

Je länger er der Vorstellung nachhing, desto skeptischer wurde er. Viele Freunde hatte er nicht – beruflich bedingt –, und seine Exfrau war beileibe keine angenehme Zeitgenossin.

Indem er das Lenkrad des Jaguars fest packte, versuchte Nicholas, sich zu beruhigen. Er war an und für sich kein aufbrausender Mensch und wusste deshalb nicht, wie er mit seiner Wut umgehen, sie auslassen sollte.

Eines steht fest: Ich gönne mir ein großes Glas Whiskey, bevor ich mich hinlege, dachte er. Dann fiel ihm die Tachonadel ins Auge, und er zwang sich, den Fuß vom Gas zu nehmen; er fuhr 55 in einer 35er-Zone, und am Straßenrand standen Polizeistreifenwagen.

Nachdem er sich im Rückspiegel nach Blaulicht umgesehen hatte, atmete er erleichtert auf. Falls er nicht herunterkam, handelte er sich noch einen Strafzettel ein – oder etwas Schlimmeres.

***

»Guten Abend, Rita«, grüßte Nicholas. »Steht die Heimatfront noch?« Er hielt inne, nachdem er durch die Haustür getreten war. Links stand ein Kleiderständer, rechts ein Schrank, doch er ging weiter und warf seine Jacke auf die Couch im Wohnzimmer. Das war eine schlechte Angewohnheit, deretwegen ihn die Krankenschwester regelmäßig zurechtwies. Rita hatte ihr eigenes Zimmer und kümmerte sich rund um die Uhr um seinen Vater.

»Ach … alles in Ordnung, nichts Außergewöhnliches«, antwortete die dickliche Latina, während sie durch die Küche ging. Sie trug wie üblich ihren Kittel und obendrein eine Schürze. Nicholas bezahlte sie nicht fürs Kochen, aber sie tat es trotzdem; wie sie behauptete, lag ihr die Bewirtung anderer im Blut. »Ihr Vater sitzt oben vor dem Fernseher. Als er aufwachte, war er überzeugt davon, in einem Viagra-Werbespot mitzuspielen, also hielt ich es für besser, ihn alleinzulassen.«

»Wahrscheinlich nicht die dümmste Entscheidung«, stimmte Nicholas mit dem Anflug eines Grinsens im Gesicht zu.

Abgesehen davon, dass Robert Voigt an einer seltenen Art von Demenz litt, war er harmlos. Er lebte die meiste Zeit über in einer Fantasiewelt, und zwar als Schauspieler, dessen Leben unsichtbare Kameras auf Schritt und Tritt filmten.

Nachdem er seine Schlüssel auf den Couchtisch gelegt hatte, ging er die schlichte Treppe hinauf. Er hatte sich auferlegt, seinen Vater täglich zu besuchen, egal, wie voll sein Terminplan war. Seiner Ansicht nach bewirkte es etwas; ab und an erlebte der Mann lichte Momente, in denen sein wahres Wesen durchschimmerte.

Als Kind hatte Nicholas zu ihm aufgeschaut. Robert war auf Ölbohrinseln im Einsatz gewesen, in Alaska beim Bau von Pipelines und nicht zuletzt als Soldat im Irak im Rahmen von Operation Wüstensturm. Noch dazu hatte er ein stattliches Bild abgegeben; in seiner besten Zeit war er 1,92m groß gewesen.

Leider ist Dad nur noch ein Schatten seiner selbst, sann Nicholas, als er den oberen Absatz erreichte. Er hat den Verstand verloren, erkennt Freunde oder Verwandte kaum wieder – und er lacht nicht mehr, jedenfalls nicht von Herzen. Tagsüber zieht er sich meistens in sich selbst zurück.

Ehe er das Zimmer seines Vaters betrat, hörte er Stimmen aus der Konserve und die abgedroschene Titelmelodie irgendeiner Serie. Da die einen Spaltbreit offenstand, sah er den klobigen 20-Zoll-Fernseher in der Ecke schon vom Flur aus. Das Gerät ließ nie im Stich, auch trotz seines Alters und obwohl es optisch wenig hermachte. Das Bild blieb immer scharf, und kein Befehl per Fernbedienung blieb unausgeführt. Es tat seine Pflicht gewissermaßen mit stummer Würde.

Während er sich noch fragte, ob sein Vater einen modernen, hochauflösenden Fernseher ausschlagen mochte, klopfte Nicholas an den Türrahmen. Er hätte unangekündigt hineinplatzen können, achtete aber auf Roberts Privatsphäre.

»Dad, bist du da drin?«, rief er, da die Lautstärke unverändert blieb. »Rita meinte, du seist auf den Beinen. Du versteckst dich doch nicht, oder?«

»Verstecken? Natürlich nicht«, antwortete sein Vater und öffnete die Tür mit einer Hand, die von Leberflecken übersät war. »Ich bin niemand, der sich versteckt, nicht wenn es um meinen Blutdruck geht. Ist dir das Medikament Laxis ein Begriff? Ist neu auf dem Markt, erst kürzlich von der Arzneimittelbehörde zugelassen, und soll den Blutdruck bei 80 Prozent aller Männer über 50 senken.«

»Dann zählst du ja genau zur Zielgruppe, Methusalem. Wie alt bist du eigentlich: 65?«, schätzte Nicholas und tat so, als würde er Robert zweimal in den Bauch boxen. Mittlerweile war er die Abschweifungen seines Vaters gewohnt; er konnte selbst abwegigste Themen zum Gesprächsgegenstand machen.

»Eigentlich 62«, gab er im versonnenen Tonfall an. Dann schnaufte er beschwerlich und griff seinen Faden wieder auf: »Für Männer meines Alters – solche, die noch nie Schwierigkeiten mit dem Herzen hatten, weder erblich bedingt noch aus anderen Gründen – gibt es nichts Gescheiteres als Laxis, um Blutdruckprobleme in den Griff zu bekommen. Frauen beziehungsweise Schwangere oder solche, die Nachwuchs planen, sollten es nicht einnehmen. Im Falle starker Blutungen Einnahme abbrechen und umgehend einen Arzt aufsuchen. Blindheit, Übelkeit und Taubheitsgefühl in den Extremitäten gehören zu den üblichen Nebenwirkungen. Laxis ist nicht tödlich, kann die Gesundheit bei Missbrauch aber ernsthaft gefährden.«

Nicholas nickte. »Klingt nach ziemlich starkem Stoff. Falls du was davon besorgen kannst, solltest du mit mir teilen. Im Augenblick könnte ich mich ordentlich zudröhnen. Mr. Purcell war so freundlich, mir heute mitzuteilen, dass ich entlassen bin. Anscheinend besteht nur wenig Bedarf an Professoren für Mythologie und Folklore.«

Nachdem er das losgeworden war, setzte sich Nicholas aufs Bett und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Er wollte zwar nicht allzu trist daherkommen, konnte aber nicht anders. Sich angreifbar und machtlos zu fühlen, war ihm zuwider. Seine Laufbahn und Leistungen machten ihn stolz … oder hatten ihn stolz gemacht – vor dem Treffen mit Mr. Purcell.

»Bist du jemals gefeuert worden, Dad?«

»Ich? Oh ja, schon oft«, entgegnete Robert, indem er sich auf dem Bett niederließ. Er redete mit fester Stimme und fließend, doch seine Augen verhießen etwas anderes: Die beiden stahlgrauen Pupillen wirkten irgendwie leer, verdeckt unter milchiger Trübung. Dies belegte, dass er nicht aus Erfahrung sprach. »Man hat mich aus allen erdenklichen Gründen gefeuert. Das Wichtigste dabei ist … nicht aufgeben. Depression ist einer der Hauptgründe für den Niedergang der Vereinigten Staaten. Sie macht dich fertig, wenn du nicht dagegen ankämpfst, aber du bist ja nicht allein.«

»Nein, das stimmt, ich habe dich«, pflichtete Nicholas mit müdem Lächeln bei.

Sein Vater ging nicht darauf ein.

»Es gibt Millionen von Menschen, die genauso wie du mit dem Monster hadern, das man Depression nennt. Ruf die Webseite auf, die am unteren Bildschirmrand verlinkt ist, um mehr über dein Leiden zu erfahren. Dort findest eine Fülle von Informationen, weiterführenden Verweisen und Telefonnummern, falls du Hilfe suchst. Du bist wirklich nicht allein. Hoffnung besteht immer.«

Sicher, Hoffnung, wie aufbauend, dachte Nicholas, als sein Vater anfing, auf eine leere Stelle an der Wand zu starren. Auf Müsli-Schachteln habe ich schon überzeugendere Motivationstexte gelesen.

Falls Robert den grämlichen Blick deuten konnte, zu dem sich Nicholas hinreißen ließ, zeigte er es nicht. Der ältere Herr legte ihm nur einen Arm um die Schultern und gab vor, ihm zuzureden, während ein imaginärer Sprecher weiter von Notrufnummern und Behandlungsmöglichkeiten salbaderte.

Eine Zeitlang spielte Nicholas mit. Er riss Witze über Roberts Gewicht und schütter werdendes Haar, während dieser wiederum Magensäuremittel und Nahrungsergänzungsstoffe anpries. Entspannen konnte er sich jedoch nicht. Er brauchte unbedingt eine Stimme der Vernunft, die ihm versicherte, dass sich alles wieder einrenken würde. Jemand musste ihm sagen, er solle auf die Colorado Tech pfeifen, und eine Flasche billigen Sprit für ihn kaufen. Er brauchte einen Vater – und hatte nichts weiter als eine wandelnde Dauerwerbesendung.

Nachdem er sich so höflich wie möglich empfohlen hatte, verließ Nicholas Roberts Zimmer und trottete die Treppe hinunter. Dass er nicht endgültig zusammenbrach, war ein Wunder.

Wie soll ich die Pflegekosten für meinen Vater decken, wenn ich keinen Job habe?, fragte er sich und das Universum generell. Wie kann ich meine Hypothek bezahlen oder die Abfindung meiner Ex? In ein paar Monaten bin ich pleite und bettelarm; schon jetzt hängen mir Inkassobüros am Hals.

Mit vor Dollarzeichen schwirrendem Kopf betrat er das Wohnzimmer und pflanzte sich auf die Couch. Er war zu müde zum Nachdenken. Gerne hätte er sich mit einem Augenaufschlag in eine andere Dimension katapultiert, wo sein Vater stark wie geistesgegenwärtig war und seine Zukunft rosig aussah.

Rita, der seine Unruhe nicht entging, brachte ihm eine Schale Suppe. Sie legte ihm nahe, etwas zu essen; er sei zu gestresst und nehme zu wenig zu sich. Sich eine Nacht mit Kopfzerbrechen um die Ohren zu schlagen, so deutete sie an, ändere auch nichts an seiner Situation. Damit hatte sie recht; so viel war er bereit, sich einzugestehen. Die dampfende Mahlzeit anzunehmen, gelang ihm jedoch nicht, denn sein Magen fühlte sich an wie ein Stein, und in seinem Hals steckte nicht nur ein Kloß.

»Danke … aber nein«, brummelte er unter dem hausmütterlichen Blick der Schwester. »Ich bin nicht hungrig. Morgen esse ich einen Teller, falls mein Vater bis dahin nicht alles verputzt hat.«

Rita wollte widersprechen: »Aber …«

Nicholas ließ nicht zu, dass sie sich in Rage redete. Stattdessen umarmte er sie halbherzig und schlurfte den Flur hinunter in sein Schlafzimmer. Es war so oder so kein großer Raum, wirkte aber noch kleiner, nachdem er sich ins Bett gelegt hatte. Die Regale an den Wänden sahen viel größer aus – als würden zu viele seltene Bände darin stehen. Das eine oder andere neigte sich gefährlich weit zur Seite; kippten sie um, würden wie beim Domino alle anderen folgen.