Gejagt im Eis - Odd Harald Hauge - E-Book

Gejagt im Eis E-Book

Odd Harald Hauge

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  • Herausgeber: Benevento
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Unbarmherzige Verfolgungsjagd durch die eisige Wildnis Spitzbergens Martin Moltzau kennt die Arktis wie seine Westentasche – ein Paradies für Abenteurer aus Eis, Schnee und weißer Weite. Spitzbergen ist die Heimat von Eisbären und Polarfüchsen. Das ehemals florierende Bergbaugebiet ist heute entmilitarisierte Zone. Auf der Insel im arktischen Ozean bietet Moltzau Schneemobiltouren für Touristen an. Bei den neuen Gästen beschleicht ihn jedoch ein ungutes Gefühl. Die amerikanische Familie will unbedingt eine verfallene, russische Bergbausiedlung besuchen, obwohl die Route extrem gefährlich ist. Als das Wetter umschlägt, gerät die Situation außer Kontrolle: Die Tochter verschwindet im Nebel und ein schwer bewaffneter russischer Spezialtrupp heftet sich an Moltzaus Fersen. Der Abenteurer gerät zwischen machtpolitische Fronten. Verfolgt von den Russen, beginnt eine wilde Jagd durchs Eis. Kann Moltzau der weißen Hölle entkommen? - Schauplatz Spitzbergen: Thriller-Spannung in spektakulärer Landschaft - Packender Politthriller um den Machtkampf in Nordeuropa: Welche Interessen verfolgt Russland? - Actionreich und rasant: Abenteuerbuch für Arktis-Fans und Liebhaber skandinavischer Krimis Zwischen den Fronten: Russische Invasion auf neutralem Boden  Schutzlos der endlosen Eiswüste ausgeliefert muss Martin Moltzau an seine Grenzen gehen. Nicht nur die Naturgewalten scheinen gegen ihn zu arbeiten – auch seine erbarmungslosen Verfolger kennen keine Gnade. Wird er das größte Abenteuer seines Lebens heil überstehen? Autor Odd Harald Hauge ist selbst Extremabenteurer und hat bereits Bücher über seine Expeditionen durch Grönland, zum Mount Everest und zum Südpol veröffentlicht. Sein Knowhow und seine persönlichen Erfahrungen in extremen Ausnahmesituationen fließen in diesen temporeichen Thriller mit ein und machen die Geschichte besonders anschaulich. Gekonnt kombiniert Hauge spannende Unterhaltung mit aktuellen politischen Themen!

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Seitenzahl: 394

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ODD HARALD HAUGE

GEJAGT IM EIS

THRILLER

Aus dem Norwegischen von Nina Hoyer

Die norwegische Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel STOREBJØRN bei Kagge Forlag, Oslo, erschienen.

This translation has been published with the financial support of NORLA.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr.

Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2021

Copyright © 2019 by Odd Harald Hauge

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021

Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München,eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Published in agreement with Stilton Literary Agency

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags,der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung,auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftlicheGenehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischerSysteme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Minion Pro, Verlag Compressed

Lektorat: Nina Hübner

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotive: © FinePic®, München; © Getty Images/Katja Hinz/EyeEm

Spitzbergenkarte: © David Keeping

ISBN: 978-3-7109-0112-6

eISBN: 978-3-7109-5116-9

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

1

Die kommenden Tage würden die schlimmsten seines Lebens werden.

Aber das wusste Martin Moltzau noch nicht, als er seinen Blick über das Meer gen Westen schweifen ließ. Er spürte den eisigen Wind im Rücken und vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Daunenjacke. Eine Mischung aus Neugier und Unlust machte sich in ihm breit.

Noch eine halbe Stunde, dann musste er wieder liefern, rund um die Uhr. Wäre wieder mit denselben Fragen, denselben Geschichten, derselben Bewunderung und dem Vertrauen in ihn, den Guide, konfrontiert. Er konnte nicht sagen, ob er das hasste oder genoss. Vielleicht brauchte er es einfach.

Als das Flugzeug der skandinavischen Fluggesellschaft SAS herannahte, konnte Martin das Sonnenlicht auf dem Rumpf aufblitzen sehen. Der Himmel über der Maschine war strahlend blau, und unter ihr glitzerte das eisfreie Meer. Der Isfjord Spitzbergens hatte seinen Namen schon vor vielen Generationen erhalten und war längst nicht mehr zugefroren.

Für einen Piloten, der schon häufig in Longyearbyen gelandet war, musste dies trotz der starken Böen ein schöner Arbeitstag sein. Das Flugzeug schaukelte ein wenig im Seitenwind, als es über die Häuschen am Ufer hinwegbrauste. Aus dem Brüllen der Motoren nach der Landung schloss Martin, dass der Flieger vermutlich schwer und die Landebahn entsprechend kurz war.

Er sah dem Flugzeug nach, bis es hinter dem Terminal verschwand. Dann zog er seine Kapuze hoch und stapfte dorthin. Die Sonne wärmte kaum, obwohl es schon Mai war.

Im Terminal – das zugleich Ankunfts- und Abflughalle war – wimmelte es nur so von Menschen. Martin bahnte sich einen Weg durch die Menge und positionierte sich dort, wo die Fluggäste die Halle betreten würden, sodass die neu eingetroffenen Passagiere ihn sofort sehen konnten.

Da spürte er einen Klaps auf seiner Schulter und drehte sich um. Jon Alming, Redakteur der norwegischen Wochenzeitung Svalbardposten und mit seinen eins neunzig einen Kopf kleiner als Martin, sah zu ihm hoch. Ein neugieriger Ausdruck lag auf seinem schmalen Gesicht; sein Lächeln entblößte ein schiefes Gebiss.

»Na, bereit für neue Gäste?«

»Ja, die letzten für diese Saison.«

»Wo treibst du diese Leute bloß alle auf, die dir für ein paar Tage in der Wildnis ein halbes Vermögen bezahlen?«

»Das ist ein Berufsgeheimnis, Jon.«

»Deine Berühmtheit ist dir da sicher nicht von Schaden«, sagte der Redakteur mit einem Grinsen. »Du musst mir bald mal ein Interview geben.«

»Vergiss es!«

Martin kehrte Alming den Rücken zu. Er hatte das unbestimmte Gefühl, dass dieser Typ ein Schleimer war.

Martin zog eine kleine amerikanische Flagge aus den Tiefen seiner Jackentasche und hielt sie wie verabredet vor sich hoch.

»Amerikaner? Von der Wall Street?«, fragte Alming.

»Das ist wohl der einzige Straßenname in den Vereinigten Staaten, der dir etwas sagt, oder?«, erwiderte Martin nur.

Er mochte diese alte Bezeichnung für die USA viel lieber und wollte nicht offen zugeben, dass Alming recht hatte. Der Vater der Familie, die er erwartete, arbeitete tatsächlich an der Wall Street, und er hatte ihm subtil zu verstehen gegeben, dass Geld keine Rolle spielte.

Alming trat zuvorkommend beiseite, als die ersten Fluggäste aus der schmalen Tür herauskamen. Nur wenig später blieb ein muskulöser Mann in den Fünfzigern vor Martin stehen – er war ungefähr gleich groß wie er – und nahm seine Hand. Sein Händedruck war so fest, dass er beinahe Martins Hand zerquetschte.

»Mr. Moltzau, I presume. Ich bin James Parker.«

Ein Lächeln breitete sich auf Martins Gesicht aus. Diese Begrüßung war ganz nach seinem Geschmack. Bevor er etwas erwidern konnte, erschienen neben Parker zwei Frauen. Eine von ihnen musste Mrs. Parker sein. Sie wirkte nur wenige Jahre jünger als ihr Mann, war blond, klein und zierlich. Mit einem munteren Gesichtsausdruck reichte sie Martin ebenfalls die Hand. Die andere Frau hätte überall Aufsehen erregt, selbst in voller Wintermontur. Martin ertappte sich dabei, wie er seinen Blick unwillkürlich über ihre Figur wandern ließ, bevor sie ihn zur Begrüßung auf die Wange küsste.

Sie stellten sich einander vor, und im Stillen wiederholte Martin die Namen noch mal, um sie sich besser einzuprägen: James, Sarah und Cindy. Für einen Guide war es unerlässlich, seine Kunden mit Namen anzusprechen.

»Die Gepäckausgabe braucht hier leider ewig«, bemerkte Martin.

»Wir reisen mit leichtem Gepäck«, erwiderte James und hob vielsagend einen mittelgroßen Rucksack hoch.

Martin konnte sein Erstaunen nicht verbergen.

Die Tochter, Cindy, zwinkerte ihm zu. »Sie haben uns doch geschrieben, dass echte Abenteurer nur Handgepäck bei sich haben. Und dass wir die gesamte Ausrüstung, die wir brauchen, auch vor Ort leihen können, oder etwa nicht?«

Martin lachte. »Das schreibe ich allen meinen Gästen, aber bisher ist noch niemand meinem Rat gefolgt.«

Geflissentlich ging Martin voran durch das Gedränge am Gepäckband und wies ihnen den Weg zum Ausgang. Als sie in die Kälte hinaustraten und der Wind sie traf, hatten seine Gäste es eilig, sich ihre Parkas anzuziehen.

»Brrr, wie kalt ist es denn gerade?«, fragte Sarah. Ihrer Körpersprache nach zu urteilen, litt sie an einem Kälteschock.

»Minus achtzehn Grad. Celsius. Durch den Wind ist es gefühlt noch kälter. Aber Sie haben Glück, Sie müssen nicht zu Fuß gehen«, sagte Martin und deutete auf ein Großraumtaxi hinter dem Flughafenbus. Doch Familie Parker sah plötzlich in eine andere Richtung. Sie hatten die erste Touristenattraktion Longyearbyens entdeckt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Wegweiser, der Auskunft über die Entfernung dieses Außenpostens unweit des Nordpols zu vielen Metropolen der Welt gab.

Martin folgte ihnen, als sie vorsichtig die vereiste Straße überquerten. Sarah glitt aus, und Martin, der sie blitzschnell packte, konnte ihren Sturz auf die Eisplatten gerade noch verhindern. Mit einem energischen Ruck zog er sie wieder auf die Füße. Sie starrte auf seine linke Hand, an der drei Finger fehlten. Nur Daumen und Zeigefinger waren noch da. Martin war es gewohnt, dass die Leute ihn deshalb anstarrten, und ließ Sarah erst wieder los, als sie sicher neben dem Wegweiser stand.

»Danke. Was ist mit Ihrer Hand passiert?«, erkundigte sie sich.

»Ach, das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Martin nur.

Er nahm die Kamera, die James ihm hinhielt, und fotografierte die Parkers, während sie auf eines der Schilder am Wegweiser zeigten – New York. 5581 Kilometer. Für einen flüchtigen Moment sah Martin sich selbst wie aus der Distanz, zwanzig Jahre später, immer noch dieselben Aufnahmen knipsend, nur von anderen Familien. Dann schob er diesen so plötzlich in ihm aufgestiegenen Gedanken beiseite.

Wenig später im Taxi baute er sich vor seinen Gästen im Mittelgang auf und gab sich ganz als der Boss.

»Noch einmal herzlich willkommen!«, sagte er mit einer Geste zum Taxifahrer. »Darf ich vorstellen? Das ist mein Freund Aleksander. Vielleicht ist er ja der erste Russe, dem Sie begegnen? Er fährt uns jetzt in knapp fünfzehn Minuten in die Stadt. Heute werden Sie sich diesen seltsamen Ort näher ansehen und können sich erst einmal an die Kälte gewöhnen. Beziehen wir den Windfaktor mit ein, ist die gefühlte Temperatur zurzeit etwa sechzig Grad kälter als in Ihrer Heimat. Sie dürfen gern zugeben, dass Sie das kalt finden.«

Martin schaute in die interessierten Gesichter seiner Gäste und merkte, wie ihn ein Gefühl der Ruhe und Befriedigung überkam, wie immer, wenn er andere Menschen an etwas Interessantem teilhaben lassen konnte.

Als das Taxi langsam das Plateau hinunterfuhr und den Flughafen hinter sich ließ, setzte er sich. Er fragte sich wie so oft, was den Leuten, die Spitzbergen das erste Mal besuchten, wohl durch den Kopf gehen mochte. Was ihnen ins Auge stach. Er selbst war demgegenüber mittlerweile so gut wie blind geworden. Kamen die Gäste während der hellen Jahreszeit mit einem Nachtflug an, war es nicht weiter schwierig, das zu erahnen, dann waren sie von der Mitternachtssonne gefesselt. Vielleicht fragte sich die Familie Parker ja erstaunt, weshalb der Boden nur wenige Zentimeter von Schnee bedeckt war, obwohl sie sich so nahe am Nordpol befanden? Auch der Anblick der am Straßenrand weidenden Rentiere war sicherlich exotisch für sie.

Jemand tippte ihm auf die Schulter. Er drehte sich um.

»Wo befindet sich eigentlich die berühmte Saatgutbank, diese moderne Arche Noah?«, fragte James.

»Sie liegt gleich da oben«, sagte Martin und deutete auf den Hang zu seiner Rechten. Alle drei lehnten sich zur Seite, um besser sehen zu können.

»Ich kann nichts entdecken.«

Martin bat Aleksander, am Straßenrand anzuhalten. Sie stiegen aus und reihten sich vor dem Auto auf. Weil die Sonne schon so tief stand, mussten sie die Augen mit der Hand abschirmen.

»Es ist dieses kleine Gebäude dort oben links«, erklärte Martin. Er deutete darauf.

»Ich kann nur eine kleine Hütte erkennen.« James drehte sich zu ihm um. »Und ich dachte, das ist eine weltberühmte Sehenswürdigkeit. Kann man sie besichtigen?«

»Da kommt noch nicht mal der US-Präsident persönlich rein.«

James und Sarah schüttelten den Kopf und setzten sich wieder in den Wagen.

Cindy blieb noch stehen und sah zu dem Betonriegel hinauf.

»Menschen aus aller Welt könnten voller Ehrfurcht hierher pilgern«, sagte sie. »Es hat etwas Magisches und Unvergängliches an sich, so ein Vorratslager tief im Berg zu errichten und dort Material zu deponieren, mit dem sich die Welt neu erschaffen ließe. In anderen Ländern wäre so etwas die Attraktion.«

»Dieses Land ist nicht wie andere Länder.«

»Aber Spitzbergen gehört doch zu Norwegen, oder?«

»Gute Frage.« Martin bat Cindy mit einer Handbewegung, wieder einzusteigen, bevor er selbst neben dem Fahrer Platz nahm.

Die Straße verlief entlang der Küste des Fjords. Auf der anderen Seite erhob sich ein Steilhang, bedeckt mit Kohlenstaub. Dann kamen Lagergebäude und einst provisorische Hütten in Sicht, die inzwischen dauerhaft dort standen, es folgten Industriegebäude, das Energieunternehmen, das die Stadt mit Kohlestrom versorgte, der einzige Autohändler des Ortes, die einzige Tankstelle. Bei dem markanten Universitätsgebäude bog Aleksander rechts ab Richtung Zentrum, wo sich bunte Holzhäuser in Reihenhausbauweise über das Tal erstreckten. Vor jedem Haus parkten Schneemobile.

Martin drehte sich zu seinen Gästen um. »Die meisten Besucher glauben, dass der Name Longyearbyen sich vom Klima und der hier so lange vorherrschenden Dunkelheit ableitet. Tatsächlich aber rührt er daher, dass ein Amerikaner – Mister John Munro Longyear – 1906 die erste ständige Grubensiedlung auf Spitzbergen gegründet hat. Sie wurde später nach ihm ›Longyear City‹ genannt, und im Norwegischen wurde daraus Longyearbyen. Er hat uns Glück gebracht.«

Sie hielten vor einem Gebäude, das aussah wie ein Bretterhaufen. »Das Fangstmannhotel, erbaut aus Treibholz«, sagte Martin über die Schulter und schwang sich rasch vom Sitz, um seinen Kunden die Schiebetür zu öffnen. »Unser Basis-Camp. Es ist vermutlich einzigartig.« Mit skeptischer Miene musterten die drei Amerikaner das Gebäude, das in ihren Augen wie ein besserer Schuppen wirken musste. Sobald sie jedoch das Hotelinnere betraten, legte sich ein Ausdruck des Staunens und der Erleichterung auf ihre Züge. Dergleichen hatte Martin immer wieder beobachten können. Es konnte kaum nur an den Steinplatten auf dem Boden liegen, der seltsamen Mischung aus arktischen und afrikanischen Souvenirs oder den Jutesäcken mit der Aufschrift Café do Brasil an den Wänden, es musste die gesamte Atmosphäre, diese Mischung aus allem sein.

»Sie haben den Taxifahrer gar nicht bezahlt. Sind Sie eng miteinander befreundet?«, fragte Sarah.

»Wir sind wie Brüder«, erklärte Martin.

»Leben eigentlich viele Russen in Longyearbyen?«

»Nein, die meisten leben in Barentsburg.«

James hatte bereits den Schlüssel von der Rezeption erhalten und hielt ihn in die Höhe. »Nur ein Zimmer? Für uns alle?«

Martin breitete in einer entschuldigenden Geste die Arme aus. »Es ist Hochsaison. Alles ist ausgebucht.«

Um sich nicht mit James’ Verärgerung auseinandersetzen zu müssen, ging Martin voraus zur Treppe. Milliardäre waren anderes gewohnt als nur ein Familienzimmer. Am Fuß der Treppe setzte sich Martin auf einen Stuhl und löste seine Schnürsenkel.

»Die Schuhe müssen immer hier unten abgestellt werden. Ausnahmen gibt es nicht.«

Er schnappte James’ Bemerkung an Sarah auf, wofür sie hier eigentlich bezahlt hätten, kommentierte sie aber nicht weiter. Die Familie war mit einem Linienflug angereist, nicht in einem eigenen Privatjet, sonst hätte er es niemals gewagt, sie zu dritt in einem Zimmer einzuquartieren.

Im Zimmer sahen sich James, Sarah und Cindy staunend um. Alles war aus braunem Holz – Decke, Wände, Boden, Betten, Stühle.

»Man hat ausschließlich hiesiges Material verbaut«, erklärte Martin.

»Aber es gibt hier doch gar keine Bäume …?«, sagte Cindy fragend.

James kam Martin mit der Antwort zuvor. »Das ist Treibholz. Die Hölzer trieben aus sibirischen Flüssen über das Polarmeer, sind unter Umständen sogar am Nordpol vorbeigetrieben, bis sie hier an die Ufer geschwemmt wurden. Fridtjof Nansen hat als Erster herausgefunden, woher die Baumstämme an Spitzbergens Ufern stammten.«

Martin sah den Milliardär mit großen Augen an. James musste ungewöhnlich gut in der Geschichte Spitzbergens bewandert sein.

»Da kommt sowieso niemand von euch rauf, also werde ich mich opfern«, sagte Cindy und kletterte leichtfüßig die schmale Leiter zum Hochbett hinauf.

James sah ihr kopfschüttelnd zu. »Da könnte ich im Handstand hochkommen.«

»Hört auf, euch zu streiten!«, sagte Sarah.

»Ich hole Sie in einer Stunde zum Mittagessen an der Rezeption ab«, sagte Martin und zeigte zur Fensterfront. »Nachts müssen Sie die Mitternachtssonne mit den Vorhängen aussperren, sonst machen Sie kein Auge zu. Obwohl die Wetterverhältnisse noch immer winterlich sind, scheint schon seit einem Monat die Mitternachtssonne. Erst im September wird es hier wieder dunkel.«

James hielt ihn auf, bevor Martin die Tür hinter sich zumachen konnte. »Wir haben nur einen Schlüssel. Zu dritt ist das unpraktisch.«

»Lassen Sie die Tür einfach offen. Hier gibt es keine Kriminalität. Niemand verschließt hier die Türen.«

Cindy beugte sich vom Hochbett herunter. »Das ist ja traumhaft. Wer möchte hier nicht leben?«

Kopfschüttelnd schloss Martin die Tür hinter sich. Unten an der Rezeption saß eine seiner alten Bekannten hinter dem Empfangstresen. Sie war voll und ganz in drei Rubbellose vertieft und sah nicht auf.

Martin räusperte sich, bis sie ihn bemerkte. »Wusstest du, dass du bei unbegrenztem Zugang zu gratis Rubbellosen bei acht Stunden Rubbeln pro Tag in Vollzeit in einem Jahr 280 000 Kronen Jahreseinkommen erzielen würdest?«

Verblüfft sah sie ihn an. »Woher willst du das denn wissen?«

»Das ist simple Mathematik. Man muss nur die Wahrscheinlichkeit eines Gewinns kennen und wie lange man an einem Rubbellos sitzt.«

Er reckte den Daumen in die Höhe und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, bevor er sich in die Lobby setzte und in der neuesten Ausgabe der Svalbardposten blätterte. Es dauerte ein paar Minuten, dann schenkte ihm seine Bekannte aus einer frischen Kanne Kaffee nach. Martin blickte von der Zeitung auf und verspürte den Stich eines schlechten Gewissens, weil er sie mit dem Rubbellos auf den Arm genommen hatte. Übertrieben höflich bedankte er sich bei ihr.

»Wie sind die Leute so, mit denen du diesmal losziehst?«, fragte sie ihn.

Martin zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Es ist eine typische amerikanische Familie. Was soll da schon schiefgehen?«

2

»Hat Ihr Unternehmen viele Angestellte?«, fragte Sarah und zeigte auf Martins rechten Ärmel, auf dem das große blaue Logo mit dem Schriftzug Ursa Major prangte.

»Die gesammelte Belegschaft steht vor Ihnen«, erwiderte Martin.

Er hatte noch nie Angestellte gehabt und würde auch niemals welche einstellen. Damit würde er seine Freiheit einbüßen. Sarah schien deshalb nicht enttäuscht. Sie winkte eifrig James und Cindy zu, die gerade aus dem Hotel kamen. Cindy sah sie, lief rasch die Treppen vor dem Eingang herunter und schlitterte in so hohem Tempo auf ihren Schuhsohlen über den vereisten Platz, dass sie beinahe ungebremst gegen die gegenüberliegende Hauswand geprallt wäre, wenn Martin sie nicht gerettet hätte.

»Bei Ihrem Schwung gehören Sie jetzt schon zu meinen Lieblingsgästen.« Martin fand selbst, dass es sich wie eine leere Floskel anhörte. »Nur noch zwei Minuten zu Fuß, dann gibt es Mittagessen«, sagte er und wies in Richtung Fußgängerzone.

Cindy hakte sich bei ihm ein, als sie die Einkaufsstraße hinunterschlenderten. »Sie haben hoffentlich nicht irgendwo hier in der Stadt eine Frau, die auf komische Gedanken käme, wenn sie uns so die Straße entlanggehen sieht, oder?«

Martin schüttelte den Kopf. Er mochte es nicht, wenn man ihm Fragen zu seiner Familie stellte, vor allem, weil er keine hatte. Er war erst fünfundvierzig, für eine eigene Familie blieb ihm noch ewig Zeit.

»Wo kann man hier denn am besten Souvenirs kaufen?«, wollte Cindy wissen.

Martin deutete auf das Gebäude, vor dem sie gerade standen. »Souvenirs der preiswerteren Art können Sie hier im Supermarkt bekommen, ansonsten kann ich Ihnen im Umkreis des Hotels ein paar Adressen nennen.«

»Sie dürfen gern billig und hässlich sein«, erklärte Cindy. »Ich habe die weltbeste Sammlung an den unmöglichsten Souvenirs aus der ganzen Welt daheim.«

»Dann sind Sie hier richtig«, erwiderte Martin.

»Sie sammelt sie schon seit zwanzig Jahren«, fügte Cindys Mutter hinter ihnen hinzu.

»Ach, dann hat sie also schon damit angefangen, als sie noch in den Windeln lag?«, bemerkte Martin.

»Nice try, aber ich bin schon über dreißig«, entgegnete Cindy. Im nächsten Moment rief sie aus: »Stationen!«, und zeigte auf das Schild des bekannten Restaurants. »So viel verstehe sogar ich.«

Martin schlenderte ins Restaurant und geleitete die Reisegesellschaft zu einem freien Tisch. Vom Tresen holte er vier Menükarten und setzte sich. Aber niemand der Parkers machte Anstalten, auch nur einen Blick in die Karte zu werfen. James lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Wir haben den besten Guide der Welt angeheuert. Empfehlen Sie uns etwas.«

»Ja. Alles, nur kein Walfleisch«, fügte Sarah hinzu, als Martin wieder aufstand. »Dieses Lokal scheint ganz im Zeichen des Walfangs zu stehen. So etwas Barbarisches kann auch nur den Norwegern einfallen.«

Martin war versucht, ihr einige ebenso barbarische Facetten der amerikanischen Gesellschaft ins Gedächtnis zu rufen, schenkte ihr stattdessen aber sein charmantestes Lächeln. Sie errötete.

Am Bartresen bestellte er daraufhin ein Gericht, das bei Amerikanern nie ein Fehlgriff war – Hamburger. Mit einer Flasche Rotwein und vier Gläsern kehrte er an den Tisch zurück. Während er seinen Gästen Wein einschenkte, fiel ihm plötzlich ein, dass Amerikaner wahrscheinlich lieber Bier tranken – vor allem zu Burgern. Aber für diese Fehleinschätzung musste er sich sicherlich nicht entschuldigen.

»Was war Ihre bislang größte Heldentat?«, fragte ihn Sarah wie aus heiterem Himmel.

Martin nahm sein Weinglas und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Diese Frage hatte man ihm schon unzählige Male gestellt. Eine passende Antwort darauf hatte er trotzdem nicht. Er wollte schon sagen, dass es für ihn eine Heldentat bedeutete, heute rechtzeitig am Flughafen gewesen zu sein, als Cindy ihm zuvorkam: »Sie wurden zweimal zum ›Entdecker des Jahres‹ gewählt.«

Martin nickte.

»Gab es auch andere, die diese Auszeichnung zweimal bekommen haben?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Ging bei der Everest-Expedition denn nicht alles schief?«, fragte James.

Sarah zupfte ihren Mann am Hemdsärmel. »Er sitzt doch noch hier.«

»Aber nicht der ganze Kerl«, sagte James und deutete auf Martins linke Hand. »Die meisten haben mehr als nur ein paar Finger eingebüßt. Viele haben dort ihr Leben gelassen.«

Drei Augenpaare richteten sich auf ihn. Martin starrte ins Leere. Es verging nicht ein Tag, an dem er nicht daran dachte. Vier von fünf Menschen lagen irgendwo dort oben unterhalb des Gipfels begraben. Er selbst habe Glück gehabt, antwortete er denen, die ihn danach darauf ansprachen. In Wahrheit aber war er nun mal jemand, der nie aufgab.

»Haben Sie inzwischen damit aufgehört, gefährliche Expeditionen zu unternehmen?«, fragte Sarah.

Martin erwiderte nichts, sah nur starr hinab auf die Tischplatte. Er wusste nicht, wie er ›gefährlich‹ definieren sollte. Nichts war gefährlich, wenn alles nach Plan verlief. Und das war immer das Ziel – alles so berechenbar wie möglich zu gestalten.

»Vielleicht ist Ihnen ja nun Ihr Glück abhandengekommen?«, sagte Cindy.

Martin sah ihr in die Augen. »So etwas wie Glück oder Pech gibt es nicht. Man kann höchstens schlecht vorbereitet sein. Aber es stimmt, ich habe damit aufgehört.«

»Sie können doch nicht mit etwas aufhören, das Sie zu einer Berühmtheit gemacht hat!«

»Das haben meine Sponsoren auch gesagt.«

Tatsächlich aber hatte er sich von seinen Sponsoren getrennt, bevor sie sich von ihm trennen konnten. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, ein »Polarheld« zu sein, der seinen Zenit überschritten hatte und sich weigerte, das zu erkennen.

»Meine Träume sind in Erfüllung gegangen.«

»Pah!«, sagte Cindy. »Sie haben jetzt einfach nur neue.«

Ich bin auf der Suche danach, hätte er antworten können. Er wusste nur nicht, wo er suchen sollte. Noch immer dachte er über eine passende Erwiderung nach, als die Kellnerin ihn rettete, die mit vier Tellern an den Tisch trat. Nachdem alle vom Essen probiert hatten, erhob Martin sein Glas zu einem Skål.

»Haben Sie nicht auch Bücher geschrieben, die auf Englisch publiziert wurden?«, fragte Sarah.

Martin nickte.

»Schreiben Sie weiterhin?«

»Der Lesehunger nach Büchern über einen Mann, der allein in die weiße Unendlichkeit aufbricht, erschöpft sich irgendwann.«

»Ich werde mir jedenfalls einen von Ihren Titeln im Internet bestellen«, sagte Sarah.

Wer’s glaubt, wird selig, dachte Martin bei sich. Er hatte selten jemanden kennengelernt, der so fürsorglich war wie Sarah. »Warum wollten Sie eigentlich ausgerechnet hierher?«, fragte er. »Spitzbergen suchen sich nicht viele für einen Familienurlaub aus.«

»Wir hatten einen Artikel darüber in der New York Times gelesen«, erklärte Sarah. »Über die Grubenstadt Pyramiden.«

»Aber vor allem wollten wir gemeinsam als Familie eine unvergessliche Reise erleben«, ergänzte James.

»Die meisten Touristen kommen hierher, um Eisbären zu sehen«, sagte Martin.

James zuckte mit den Achseln. »Für uns ist das Wichtigste, Zeit miteinander zu verbringen.«

»Würden Sie sich selbst als Stadtmenschen bezeichnen?«, fragte Martin. Er hatte schon Gäste gehabt, die draußen in der Wildnis die Panik überfallen hatte. Man konnte unmöglich vorhersagen, wie ein Mensch tickte. Selbst die besonders Ängstlichen strotzten nur so vor Selbstbewusstsein, wenn sie in einem Café saßen und alles aus sicherer Entfernung betrachten konnten.

»Mein Mann und ich sind beide in Wyoming aufgewachsen, aber ich stamme, glaube ich, ursprünglich aus Texas«, erklärte Sarah.

»Das glauben Sie nur?«

»Ich wurde adoptiert. Wir kommen beide vom Land, im Gegensatz zu Cindy.«

»Sie sind also ein richtiges Manhattan girl«, mutmaßte Martin laut, zu Cindy gewandt. Doch die starrte nur störrisch vor sich hin, ohne etwas darauf zu erwidern.

»Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste«, fügte Martin hinzu, aber Cindy war nicht zu Scherzen aufgelegt und sah ihn nur grimmig an. Selbst das schönste Gesicht kann schlechte Seiten haben, dachte Martin bei sich.

»Kommt es hier bei uns zu Unfällen, dann meistens mit dem Schneemobil«, sagte er, um das Thema zu wechseln. »Viele rasen schon nach einer halben Stunde damit wie die Idioten rum. Sie halten sich für die Weltmeister und legen ein zu hohes Tempo vor.«

»Zu dieser Sorte gehöre ich jedenfalls nicht«, sagte James.

Du Milliardär mit übergroßem Ego, wir werden sehen, dachte Martin im Stillen. Er hatte den Burger noch nicht angerührt. Sein Rotweinglas dagegen hatte er schon zur Hälfte geleert. »Für morgen werden dreißig Grad minus vorhergesagt«, bemerkte er.

Seine Gäste ließen sich unbeirrt weiter das Essen schmecken, als wäre diese Information vollkommen unwichtig für sie.

»Das ist ziemlich kalt«, fügte er hinzu.

»Wir sind doch sicherlich entsprechend ausgerüstet, oder?«, sagte James.

»Wir haben die beste Ausrüstung, die man sich denken kann«, erwiderte Martin. »Aber bei extremen Minusgraden wird alles ein bisschen schwergängiger. Gegenstände frieren ein, gehen kaputt. Das lässt sich nicht vermeiden.«

»Dreißig Grad minus ist doch nicht so wahnsinnig kalt«, sagte James mit vollem Mund.

Martin hatte seinen Burger immer noch nicht angerührt. Er leerte sein Weinglas und schenkte sich aus der Flasche nach. Als er den anderen anbot, ihnen ebenfalls nachzuschenken, schüttelten sie den Kopf. Er erhob sein Glas, und James und er prosteten sich erneut zu.

»Wie gut, dass Sie die Sache so sehen. Wenn alle von Ihnen vernünftig mit dem Schneemobil fahren und die Kälte vertragen, wird unser Abenteuer bestimmt von Erfolg gekrönt sein!«

Als Martin kaum eine halbe Stunde später am Tresen die Rechnung beglich, sah er, wie James zum Telefonieren ans Fenster trat. Es schien, als hätte er ein Satellitentelefon. Martin steckte die Quittung in die Hosentasche und ging zurück zum Tisch. James beendete sein Gespräch und steckte das Telefon zurück in die Jackentasche.

»Wir haben hier oben dank Ihrer Landsleute bei der NASA die weltbeste Mobilfunk- und Internetverbindung, die man sich denken kann«, erklärte Martin. »Sie haben knapp tausend Kilometer Glasfaserkabel vom Festland durch das Meer bis hierher verlegt. In Longyearbyen gibt es deshalb keine Notwendigkeit, ein Satellitentelefon zu benutzen.«

James wirkte kein bisschen überrascht. »Wir verwalten zwanzig Milliarden Dollar für unsere Kunden. Ich muss jederzeit mit meinen Angestellten in Kontakt treten können, wo immer ich mich auch aufhalte. Es spielt keine Rolle, was es kostet.«

»Ich habe so ein Telefon noch nie gesehen. Darf ich es mir mal anschauen?«, fragte Martin und streckte die Hand danach aus.

James schüttelte den Kopf. »Ein anderes Mal.«

Martins Hand schwebte in der Luft. Er kam sich dumm vor. Vielen Dank auch, dachte er.

3

Minendirektor Michail Mirantschuk stand am Fenster und ließ seinen Blick über das Barentsburg schweifen, dessen Geschicke er seit mehr als zehn Jahren lenkte. Sein Vertrag war gerade um weitere fünf Jahre verlängert worden, obwohl er längst in Rente gehen und sich am Schwarzen Meer hätte niederlassen können. Er kannte hier jeden Stein, jedes Haus, jeden Menschen. Dies hier war sein Zuhause, die Leute hier seine Familie.

Was er aber hasste, waren Eindringlinge in »seinem« Reich. Der Mann, den er jetzt gerade am Hotel vorbeigehen und leichtfüßig den Pfützen auf der Straße ausweichen sah, war die Inkarnation des Teufels persönlich. Roman Zorin war im Auftrag von Gazprom vor Ort und in Begleitung einer Horde Schlägertypen, für deren Bezeichnung dem Minendirektor fast die Worte fehlten. Sie hegten keinerlei Respekt gegenüber dem Trust Arktikugol, der Kohleminengesellschaft, die die russische Präsenz auf Spitzbergen seit nunmehr fast hundert Jahren verwaltete. Der Minendirektor beobachtete noch, wie sein Feind den Weg zum Büro der Minengesellschaft einschlug, bevor dieser aus seinem Blickfeld verschwand. Aber er wusste, wohin dieser Kerl unterwegs war.

Mit schweren Schritten ging Mirantschuk zu seinem ausladenden Schreibtisch aus dunklem Holz. Eine große russische Flagge zierte die Wand hinter ihm und ein schmeichelhaftes Porträt des russischen Präsidenten die vor ihm. Mirantschuk hatte es dort hingehängt, wo er es immerzu sehen konnte, nachdem der Präsident es persönlich während eines Spitzbergen-Besuchs signiert hatte.

Niemand konnte Mirantschuk vorwerfen, selbstverliebt zu sein, waren die Wände des Büros doch ansonsten nackt. Außerdem fand er, dass nichts schöner war als das natürliche Holz, das beim Bau des Hauptbüros vor fünfzig Jahren verwendet worden war.

Ohne Vorwarnung schwang die Tür auf, und Roman Zorin schritt über die Schwelle. Obwohl Mirantschuk darauf gefasst gewesen war, zuckte er zusammen, als der ungeladene Gast so in sein Büro hereinbrach.

»Für gewöhnlich klopft man erst an«, brummte er.

Zorin erwiderte nichts und nahm einfach kommentarlos auf dem Besucherstuhl Platz.

Der Minendirektor setzte seine Brille ab, legte sie auf den Tisch und sammelte sich, damit er sich unmissverständlich und entschieden ausdrückte. »Roman Zorin – oder vielleicht sollte ich besser Erdölleitungstechniker Zorin sagen. Sie führen sich auf, als würde Ihnen diese Stadt gehören, aber da liegen Sie falsch, denn in Wahrheit gehört sie mir. Falls Sie und Ihre Truppe hier irgendeine Zukunft haben wollen, müssen Sie damit aufhören, die Ortsbevölkerung so herablassend zu behandeln, und lernen, was Manieren sind.«

Zorins Blick schweifte durch den Raum. Er wirkte gelangweilt.

Als Zorin nichts auf Mirantschuks Zurechtweisung erwiderte, kippte der Minendirektor seinen Bürostuhl nach hinten, legte seine Füße auf den Tisch und betrachtete seinen Besucher. Er trug eine Kurzhaarfrisur und hatte ein beinahe unscheinbares eckiges Gesicht, wenn da nicht die tiefe Narbe über dem linken Auge gewesen wäre. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Mirantschuk sich danach erkundigt, wie Zorin zu der Narbe gekommen war, jedoch nie eine Antwort erhalten.

»Ich kenne niemanden, der so unzivilisiert ist wie Sie, Roman. Brechen hier einfach so herein, als handelte es sich um Ihr Büro. Wenn ich nun mit etwas Wichtigem beschäftigt gewesen wäre?«

»Sie sind niemals mit etwas Wichtigem beschäftigt, Michail Mirantschuk«, sagte Zorin.

»Und trotzdem befinden Sie sich hier in meiner Stadt«, entgegnete Mirantschuk und beugte sich auf dem Stuhl nach vorn.

Zorin gab sich weiterhin desinteressiert. »Möglich, aber ich will Ihnen den Befehl ins Gedächtnis rufen, den Sie bekommen haben. Unsere Arbeit ist mit allen Mitteln zu unterstützen, ohne Wenn und Aber.«

Diesmal war es an Mirantschuk, seinen Widersacher schweigend anzustarren.

»Nichtsdestotrotz wurde mir aufgetragen, Sie davon zu unterrichten, dass wir einen Auftrag ausführen, außerhalb der Stadt, ich und meine ganze Truppe«, sagte Zorin. »Wir requirieren die besten Schneemobile vor Ort und sämtliche Ausrüstung, die wir brauchen. Ihre Unterschrift dafür haben wir, glaube ich, schon, das sollte also kein Problem sein.«

»Vielleicht ändere ich meine Meinung wieder.«

»Selbst wenn, dann tun wir es trotzdem. Ich bin nicht hier, um Sie um Ihre Zustimmung zu bitten, sondern nur, um Sie darüber zu informieren. Und eben diesen Teil meines Auftrags betrachte ich hiermit als erfüllt.«

Mirantschuk lehnte sich über den Schreibtisch. »Und wie lautet der restliche Teil des Auftrags?«

Zorin erhob sich, bevor er erwiderte: »Es ist beinahe peinlich, Sie daran erinnern zu müssen, dass Sie das nicht das Geringste angeht.«

»Soll ich jetzt etwa Befehle von der Gazprom entgegennehmen?«, fragte Mirantschuk. »Welche Befugnisse haben Ihre Ölbosse denn hier?«

Zorin sah auf den Direktor hinab. »Ich werde mich nicht wiederholen.«

Ungerührt schlenderte er aus dem Büro und ließ die Tür absichtlich offen. Mirantschuks Sekretärin eilte aus dem Vorzimmer herbei und schloss sie wieder. Mirantschuk stellte sich erneut ans Fenster und sah Zorin zurück in Richtung Hotel gehen. Ihm war nicht zu Ohren gekommen, dass Zorin oder jemand anderes aus seinem Gazprom-Gefolge auch nur einen Fuß in die Bar oder das Hotelrestaurant gesetzt hätten. Sie mieden andere Menschen. Zum Glück. Der Minendirektor rührte sich nicht vom Fleck und blickte Zorin so lange hinterher, bis dieser nicht länger zu sehen war.

Als Igor Arkadij später an die Wohnungstür des Trust-Arktikugol-Chefs klopfte, hatte er in keiner Weise vor, ohne Aufforderung hineinzustürmen. Er wartete, bis ihm die Tür geöffnet wurde und Michail Mirantschuk ihm, seinem Stellvertreter, mit einer Geste signalisierte einzutreten. Kein Russe gab sich die Hand über der Türschwelle, und Mirantschuk war ein besonders abergläubischer Mann.

Der Minendirektor wies seinem Gast den Weg in die geräumige Küche, griff im Vorbeigehen nach der Flasche Wodka, nahm zwei Gläser vom Rand der Spüle und stellte sie auf den Tisch. Aus einem Vorratsschrank holte er Wurst und dunkles Brot und legte beides auf ein Schneidebrett.

»Setz dich, Igor«, forderte er ihn auf und schenkte bis zum Rand Wodka in die beiden kleinen Wassergläser. Sie leerten die Gläser in einem Zug, bevor Mirantschuk sie erneut füllte. »Roman Zorin ist ein Ärgernis und ein Problem.«

Arkadij erwiderte nichts, musterte seinen Chef nur aufmerksam und drehte sein Glas in den Händen.

»Wie äußern sich die Leute in der Stadt eigentlich über Zorin und seine Truppe?«, fragte Mirantschuk.

»Viele hier sind Ukrainer wie ich. Sie hassen herablassende Russen mit einem persönlich auf sie ausgestellten Freifahrtschein in der Tasche. Ich weiß, dass mehrere ihnen liebend gerne eins auf die Fresse geben würden.«

»Das sollen sie natürlich nicht tun«, sagte Mirantschuk. »Wir wollen hier schließlich keine Anarchie.« Jäh leerte er sein Glas und knallte es auf den Tisch. Diesmal füllte es Arkadij erneut bis zum Rand.

»Es hilft auch nichts, dass die Gazprom sie hierhergeschickt hat und dass sie uns, die Kohle abbauen, für Dinosaurier halten«, fügte Arkadij hinzu.

»Gazprom sollte es besser wissen«, erwiderte Mirantschuk. Er wusste nicht, welchen Plan Gazprom verfolgte. Sämtliche Länder, die den Spitzbergenvertrag unterzeichnet hatten, durften dort Bodenschätze abbauen, waren dabei aber den norwegischen Gesetzen unterworfen. Norwegische Gesellschaften hatten die interessanten Gebiete schon vor langer Zeit für sich beansprucht. Es ergab also gar keinen Sinn für Gazprom, hier auf der Inselgruppe umherzustreunen, das sorgte bloß für Unruhe.

Arkadij nickte. »Da gibt es irgendetwas, das wir nicht wissen.«

Mirantschuk legte Wurst auf eine Scheibe Brot und schob sie zu Arkadij hinüber. »Ich habe ein schlechtes Gefühl.«

»Und was willst du dagegen tun?«

»Deshalb wollte ich mit dir reden. Sie schwärmen jetzt wieder aus, weigern sich aber zu erzählen, wohin sie fahren und was sie vorhaben. Die ganze Angelegenheit ist ein Machtkampf, und den kann ich ohne Unterstützung von oben nicht gewinnen. Und genau darum sollst du dich kümmern.

Arkadij schien diese Order seines Chefs nicht zu überraschen. Mirantschuk richtete einen Zeigefinger auf Arkadij, als er fortfuhr: »Morgen geht ein Flug mit Minenarbeitern von Longyearbyen nach Murmansk. Du wirst an Bord dieses Flugzeugs sein. Von Murmansk nimmst du den ersten Flug nach Moskau, suchst den Leiter des Trust Arktikugol auf und trägst den Fall vor.«

»Aber du kannst deinen Vorgesetzten doch selbst anrufen«, protestierte Arkadij.

»Du aber hast mit ihm zusammen studiert, und ihr beide stammt aus der Ukraine. Er weiß, wie er uns im Kreml die nötige Rückendeckung verschaffen kann. Es ist deine Aufgabe, ihn dazu zu überreden. Und das schaffst du am besten mit einem guten Essen, Wodka und einem Saunabesuch.«

Arkadij nickte und nahm Haltung an. Mirantschuk hatte recht, er wusste mit dem Leiter des Trust Arktikugol umzugehen.

Mirantschuk hob die Wodkaflasche hoch. »Aber zuerst machen wir die hier noch leer.«

4

»Woher wussten Sie eigentlich, dass ich Guide auf Spitzbergen bin? Ich habe ja noch nicht einmal eine eigene Internetseite.« Der Wind, der vom nach der Stadt benannten Gletscher Longyearbreen durch den Ort fegte, war so eisig, dass Martin sich umdrehte und rückwärts die Straße hochging, während er mit seinen Gästen sprach.

»Sie wurden uns empfohlen«, sagte James, der seinen Handschuh zum Schutz vor das Gesicht hielt. »Ich habe mich bei einem alten Freund in der amerikanischen Botschaft in Oslo erkundigt, und er schlug mir den berühmten Martin Moltzau vor. Er hatte sogar Ihre Mail-Adresse.«

»Und nachdem wir etwas über Sie und Ihre Heldentaten gelesen hatten, gab es für uns keinen Zweifel mehr daran, dass Sie unser Mann sind«, fügte Cindy hinzu. Sie folgte Martins Beispiel und drehte sich mit dem Rücken zum Wind.

»Und dann mussten Sie sich nur noch in Ihren Privatjet schwingen.« Sofort bereute Martin die unverhüllte Ironie seiner Worte.

»Ich bin nicht reich geworden, indem ich Geld verschwendet habe«, erwiderte James nur.

Martin hörte, wie sich hinter ihm ein Auto näherte, und machte einen großen Schritt zur Seite. Als das Auto mit dem Taxi-Schild neben ihm hielt, lugte er unter seiner Kapuze hervor. Aleksander ließ mit einem Grinsen die Fensterscheibe herunter.

»Ja, heute ist es ganz schön kalt. Ihr könnt gratis mit mir zum Restaurant Huset fahren. Dorthin wollt ihr doch, oder?«

Martin gab Aleksander einen Klaps auf die Schulter, als er wenig später vor dem grauen Betonkoloss auf der Anhöhe als Letzter aus dem Taxi stieg. »Nimm dir heute Abend frei. Wir sehen uns!«

Am Restauranteingang holte Martin die Parkers ein und schnappte dem Kellner die Weinkarte aus der Hand. »Dieser Weinkeller ist berühmt«, sagte er, während er die umfangreiche Karte hochhielt.

Sie setzten sich, und James griff interessiert nach der Karte. Sarah blickte sich in dem berühmten Gourmetrestaurant um. »Wieso ist es hier so gut besucht?«, fragte sie. »Hier wohnen doch kaum Menschen?«

»Jeder, der nach Longyearbyen kommt, muss wenigstens einmal hier gewesen sein«, erklärte Martin.

Als der Weinkellner an ihren Tisch trat, bestellte James den besten Montrachet auf der Karte zur meeresfruchtigen Vorspeise. Außerdem entschied er sich für zwei Flaschen Sassicaia aus der Toskana. Martin war froh, dass er seinen Preis exklusive Getränke kalkuliert hatte.

»Für irgendetwas müssen die Honorare unserer Kunden schließlich draufgehen«, sagte James mit einem verschmitzten Lächeln.

»Sind Sie Börsenmakler?«, fragte Martin.

»Ich war Gründer einer der ersten Hedgefonds zu der Zeit, als die Investoren nur so an die Börse strömten, um mit auf der neuen Finanzwelle zu reiten.«

Martin hatte sich schon häufig gefragt, wie man davon reich werden konnte, das Geld anderer Menschen zu verwalten, denn die Fondsmanager wurden schließlich immer reicher als ihre Klienten. Es waren Männer wie James, die eine eigene Jacht und einen Privatjet besaßen, nicht ihre Kunden.

Schon beim Servieren der ersten Appetithäppchen wurde Martin wieder die Klasse des hier angebotenen Essens bewusst. Für Gäste, die das Restaurant zum ersten Mal besuchten, war es immer das Gesprächsthema.

»Eigentlich müssten sie hier Michelin-Sterne haben«, sagte James, nachdem er die Gänseleber gekostet hatte. »Wirklich unglaublich, hier – fast am Nordpol – so einen Ort zu finden.«

Martin unterließ es, ihm von dem begeisterungsfähigen früheren Restaurantbesitzer zu erzählen, der dreißig Jahre seines Lebens darauf verwendet hatte, hier einen exklusiven Weinkeller und eine Haute-Cuisine-Kultur zu etablieren. Diese Kultur war nach wie vor zu spüren. Stattdessen wandte er sich an Cindy. »Und was machen Sie beruflich?«, fragte er mit dem Weinglas in der Hand. Er tippte auf etwas Kreatives, vielleicht irgendetwas mit Design.

»Ich arbeite«, sagte sie mit abweisender Körpersprache.

Er verstand den Hinweis.

Cindy legte ihre Serviette auf den Tisch und entschuldigte sich. James folgte ihr, als sie hinausging.

Sarah lehnte sich zu Martin. »Cindy wollte viele Jahre lang nichts von James und mir wissen. Deshalb ist diese Reise etwas ganz Besonderes für uns – wir hoffen, dass sie uns einander wieder näherbringen kann.«

Martin wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Sarah verstand sein Schweigen als Aufforderung fortzufahren.

»Sie ging auf Distanz zu James’ Geld, weil er Milliarden damit verdiente, ›Papiere hin- und herzuschieben‹, wie sie es nannte, hatte aber gleichzeitig nichts dagegen, dieses Geld auszugeben. Sie feierte wilde Partys in Manhattan, von denen wir glücklicherweise nur gerüchteweise gehört haben. Hat sich mit Gleichgesinnten umgeben, mit verwöhnten jungen Leuten, die keine Ziele kannten oder einen Sinn in irgendetwas sahen. Es schien fast so, als ob sie uns für etwas bestrafen wollte. Am Ende mussten wir ihr den Geldhahn zudrehen.«

»Und was ist jetzt anders? Wer von Ihnen hat sich verändert?«

Sarah sah nachdenklich aus dem Fenster, wo die Mitternachtssonne schien. »Ich war im vergangenen Jahr schwer krank«, fügte sie schließlich hinzu. »Das hat uns die Augen geöffnet.«

Das erzählte sie so emotionslos, dass Martin fast den Eindruck gewann, sie hätte sich das alles nur ausgedacht.

Jetzt kamen Vater und Tochter wieder; sie wirkten ernst. Sie haben gestritten, dachte Martin, während die beiden sich schweigend wieder setzten. Drei Schneemobile dröhnten unmittelbar vor dem Fenster vorbei, alle mit schwer beladenen Anhängerschlitten und mit Waffen, die gut sichtbar auf den Motorhauben befestigt waren. Sie hielten Kurs auf den Longyearbreen. Martin zeigte auf die Fahrzeuge. »Ab morgen werden Sie so herumdüsen.«

»Wir haben ja ein Programm von Ihnen zugeschickt bekommen, aber ich habe ganz vergessen, was morgen ansteht«, sagte Cindy.

»Nach dem Frühstück haben Sie etwas Zeit zu Ihrer freien Verfügung, während ich unsere Ausrüstung richte.«

»Dann erreichen wir übermorgen Pyramiden, oder?«

»Sofern das Wetter es zulässt, ja.«

»Wir haben dafür bezahlt, nach Pyramiden zu kommen«, beharrte Cindy. »Das auszulassen kommt nicht infrage, egal wie das Wetter ist.«

»Es kann sein, dass das Eis auf den Fjorden nicht trägt, deshalb müssen wir eventuell einen Umweg über die großen, nördlich gelegenen Gletscher nehmen«, erklärte Martin. »Und das hat bei schlechtem Wetter keinen Zweck.«

Cindy richtete ihren Zeigefinger auf ihn. »Nein. Sie werden liefern.«

Martin war erstaunt über dieses starke Interesse an Pyramiden. Obgleich die alte Minenstadt ein spannender Ort war – eine verlassene russische Bergarbeitersiedlung, beinahe schon eine Geisterstadt, die fast einmalig auf der Welt war. Er konnte die drei bei jedem Wetter dort hinbringen, aber das beabsichtigte er ihnen nicht zu sagen. Er war hier der Boss, und damit mussten sie sich arrangieren.

»Es wird vermutlich klappen«, sagte er nur.

Das letzte von zwei Desserts wurde serviert. Martin stellte fest, dass immer noch eine halb volle Flasche Sassicaia dastand. Er bot an, den anderen nachzuschenken, doch alle schüttelten den Kopf. Daraufhin schenkte er sich selbst großzügig nach. So einen Wein ließ man nicht verkommen.

»Macht Skifahren stark?«, fragte Cindy und fasste prüfend nach seinem Oberarm. Er widerstand dem Impuls, sich aus ihrem Griff zu lösen. Cindy wartete seine Antwort nicht ab, sondern wandte sich an James. »Ich wette, dass du stärker bist als unser Guide, Papa.«

»Das interessiert hier niemanden, Cindy«, sagte James.

Martin aber war klar, dass das zumindest eine Person interessierte. Cindy packte mit der anderen Hand James’ Oberarm. »Armdrücken«, sagte sie so laut, dass die Gesellschaft am Nachbartisch sich nach ihnen umdrehte.

Martin wand sich problemlos aus ihrem schwachen Griff.

»Was soll das werden?«

»Trauen Sie sich etwa nicht?«

»Wir sitzen in einem Gourmetrestaurant«, ermahnte sie James. »Sprich nicht so laut.«

»Sie trauen sich nicht.«

Martin sah zu James hinüber. Beide zuckten mit den Schultern. »Wenn es Ihrer Tochter eine Freude macht …«, sagte er.

Cindy räumte Flaschen und Gläser beiseite, und Martin und James rückten ihre Stühle dichter an den Tisch und setzten sich zurecht. Martin merkte, dass das für James keine Premiere war, da er ein Vorbereitungsritual hatte. Er zweifelte nicht daran, wie der Wettkampf ausgehen würde, die Frage war eher, wie er sich in dieser Situation richtig verhalten sollte. Rasch ließ er seinen Blick durch das Lokal schweifen. Natürlich zogen sie die Aufmerksamkeit der benachbarten Tische auf sich. Zum Glück kannte er keinen der anderen Gäste. Er stützte seinen rechten Ellbogen auf den Tisch, legte seinen linken Arm quer vor sich und grub seine Füße in den Boden. Alles im richtigen Winkel, um die Kraft bestmöglich auszunutzen. Er hatte sich einmal in einer Bar mit dem Weltmeister dieser Disziplin gemessen und wusste, dass es dabei ausschließlich um Schnelligkeit ging. Der Kampf musste sofort entschieden werden. In diesem Fall plante er, aus Rücksicht auf die Zuschauer und seinen Widersacher, es aber zunächst etwas langsamer anzugehen.

»Das ist einfach nur peinlich«, war Sarahs Kommentar.

Cindy stand voller Eifer am Tischende. Sie zählte von zehn herunter, wie beim Start einer Rakete. Auf Los! drückte Martin fest zu und merkte rasch, dass er so keinerlei Fortschritte erzielte. Das hatte er schon erwartet. Er sah zu James, aber der Amerikaner starrte auf den Tisch. James mobilisierte mehr Kräfte, und an seinem Hals trat eine Ader hervor, sein Bizeps schwoll an. Martin hielt ruhig dagegen.

Der Kampf ging weiter. Er erwog, James gewinnen zu lassen. Das wäre eine nette Geste, aber er hatte keine Lust, im Anschluss daran zu hören zu bekommen, dass er schwächer als ein Wall-Street-Milliardär wäre. In Longyearbyen würde die Nachricht innerhalb von vierundzwanzig Stunden die Runde machen. Darüber hinaus war er der Guide dieser Leute, sie mussten vor ihm Respekt haben.

Martin erhöhte den Druck, aber James gab nicht einen Millimeter nach. Martin erhöhte ihn abermals, ohne dass sich etwas änderte. Da spürte er, dass er nicht viel mehr Kraft aufbringen konnte, und fürchtete für einen flüchtigen Moment ein schreckliches Kontra und eine demütigende Niederlage zu erleiden. Ein Blick auf seinen Gegner verriet ihm jedoch, dass das nicht sehr wahrscheinlich war. James’ Gesicht fing an sich zu röten.

»In einer halben Stunde schließt das Restaurant«, sagte Martin in einem, wie er hoffte, entspannten Ton. Er war bereit, seinem Gegner ein Unentschieden anzubieten.

Cindy verfolgte das Duell gebannt. Martin war froh, dass sie wenigstens den Mund hielt. Sarah schüttelte nur den Kopf.

Nichts tat sich.

Martin hätte die ganze Woche so dasitzen können, zweifelte aber daran, ob er den Typen besiegen konnte. Sie waren gleich groß, doch James war zehn Jahre älter als er. Er gab sicherlich Geld fürs Fitnessstudio aus. Martin trainierte nie drinnen, seine Armkraft kam von einem Leben auf Skiern. Es war mittlerweile nur etwas zu lange her, dass er Skier an den Füßen gehabt hatte.

Martin fasste einen Entschluss. Er konzentrierte seine gesamte Energie auf den Arm, stemmte die Füße in den Boden und übte neuen Druck aus. Zuerst tat sich nichts, doch dann geriet James in die Defensive, und mit dem Arm im falschen Winkel hatte er keine Chance mehr. Cindy applaudierte überraschend begeistert anhand dieses Ergebnisses.

James reichte Martin mit einem breiten Lächeln die Hand.

»Beeindruckend!«, sagte Martin und meinte das ehrlich.

Als er aufstehen wollte, sah er, wie James Sarah flüchtig zuzwinkerte. Hatte James etwa mit Absicht verloren? War er es, der höflich gewesen war, und nicht Martin? Er verspürte einen sofortigen Drang nach einer Revanche, aber die Parkers waren schon aufgestanden, und damit war die Gelegenheit verstrichen.

»Ich bestelle Ihnen ein Taxi«, sagte Martin. »Es sei denn, Sie möchten vielleicht dem Nachtclub nebenan einen Besuch abstatten? In dieser Jahreszeit fällt es einem nicht so leicht, Schlaf zu finden.«

James und Sarah schüttelten den Kopf. Cindy sah in eine andere Richtung, folgte ihren Eltern aber hinaus, wo immer noch die Mitternachtssonne schien.

5

Irgendetwas stimmte hier nicht, aber was es war, wurde Martin erst klar, als er ein Glas Wein an der Bar orderte und sich, ohne zu rufen, verständlich machen konnte. Im Nachtclub spielte keine Musik.

»Der DJ hat heute Abend die Anlage hochgehen lassen«, klärte ihn der Barkeeper auf.

»Herrlich!«, sagte Martin, denn er hasste es, sich nur schreiend mit seinem Nachbarn unterhalten zu können. Er nahm sein Weinglas in die Hand, stand auf und sah sich im Lokal nach Bekannten um. An der Fensterfront saß Aleksander mit dem Redakteur Jon Alming.

»Wenn du deine eigene Bar hast, musst du dir das zum Beispiel nehmen – keine Musik!«, sagte Martin zu Aleksander und ließ sich auf den Stuhl neben ihm fallen.

Verdrossen starrte Aleksander auf den Boden seines Glases. »Wie du weißt, verweigern mir die Politiker immer noch die Konzession.«

»Weil es in der Stadt angeblich zu viele Bars gibt, ha! Das ist echt ein Witz! Sie sollten den Spitzbergenvertrag mal genauer studieren. Da steht etwas über gleiche Rechte für alle drin.«

»Ich sollte es nicht sagen«, fiel Alming ihm ins Wort, »aber du wirst kommende Woche das Titelblatt der Svalbardposten zieren, Aleksander.«

Martin und Aleksander starrten den Redakteur fassungslos an.

»Wir erwischen die Politiker mit runtergelassenen Hosen! In dem Artikel zitieren wir eine Mail, aus der hervorgeht, dass die Lokalpolitiker dir die Schanklizenz verweigern, weil du nicht völlig unbescholten bist. Es reicht schon, wenn du auch nur ein einziges der vielen Gesetze gebrochen hast, die auf noch so entfernte Weise mit dem Betrieb einer Bar zu tun haben. Wie zum Beispiel das Steuer- und Abgabengesetz, das Rechenschaftsgesetz, das Gesetz über das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Religion oder Geschlecht und, und, und …«