Genau jetzt mit dir - Tine Nell - E-Book

Genau jetzt mit dir E-Book

Tine Nell

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eigentlich wollte Alma nicht mehr als Hebamme arbeiten. Doch nach ihrem Umzug von Frankfurt in die schwedische Kleinstadt Nora wagt sie einen Neustart in der Praxis ihrer Tante. Ihre Arbeit bereitet ihr endlich wieder Freude, umso mehr, als sie bei einem Hausbesuch den Bruder der werdenden Mutter kennenlernt. Liam Hansen geht ihr so schnell nicht mehr aus dem Kopf. Er scheint ihre Nähe ebenso zu suchen, und die großartige Natur rund um Nora verstärkt die Anziehung. Doch Liam darf auf keinen Fall erfahren, was in Almas Vergangenheit geschehen ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 446

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Tine Nell

Genau jetzt mit dir

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Drei Jahre nachdem Alma ihre Arbeit als Hebamme im Universitätsklinikum in Frankfurt aufgegeben hat, erhält sie ein Jobangebot von ihrer Tante Edda. Diese leitet in Nora, einem kleinen Dorf in Südschweden, die Hebammenpraxis. Alma ist froh, Frankfurt den Rücken zu kehren, und sieht in dem Angebot ihrer Tante zudem die Möglichkeit, einen Schritt zurück in den Beruf zu wagen, der sie seit ihrer Jugend fasziniert. Die Arbeit in der Vor- und Nachsorge und die Gesellschaft ihrer Tante Edda, in deren Haus sie vorerst ein Zimmer bezieht, tun ihr gut. Außerdem nimmt ihre Halbschwester Kontakt zu ihr auf. Liv führt als Reiseführerin Touristen durch Stockholm und ist mit ihrer quirligen Art eine Quelle der positiven Energie für die sonst eher ruhige Alma. Alma fühlt sich in dem beschaulichen Städtchen am Norasjön-See viel wohler als in Frankfurt. Erfüllt von ihrem neuen Job, dem Kontakt zu ihrer Schwester und dem entschleunigten Leben in Nora blüht sie regelrecht auf. Als Hebamme betreut Alma unter anderen Elsa, die in der zwölften Woche schwanger ist und mit ihrem dreijährigen Sohn von ihrem Mann sitzengelassen wurde. Bei ihrem ersten Besuch stößt unerwartet Elsas Bruder Liam zu ihnen, den Alma so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommt. 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Tine Nell lebt mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und einem Hund in der Nähe von Siegen, wo sie Tage und Nächte mit Schreiben und Lesen verbringt. Sie liebt die Stille, das Meer und wenn aus Gedanken eine Geschichte entsteht. Die alte Holzstadt Nora in Südschweden hat sie selbst besucht für ihre Recherche.

Inhalt

[Hinweis des Verlags]

[Widmung]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

Epilog

Danksagung

[Triggerwarnung]

Und so geht es weiter …

Prolog

1. Kapitel

Dieses Buch enthält potenziell belastende Inhalte. Deshalb findet sich am Ende des Buchs eine Triggerwarnung. Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Für Jan, Mia, Tom & Jari.

Ihr seid mein Zuhause.

1

Ben und Jerry jammerten in regelmäßigen Abständen von der Rückbank, was wie die perfekte Titelmelodie zu unserer Reise klang. Der letzte Stopp an einem Rastplatz lag drei Stunden zurück. Für zwei verwöhnte Kater, die in einer engen Transportbox untergebracht waren, grenzte das an eine Zumutung.

»Wir haben es bald geschafft«, redete ich ihnen gut zu und warf einen schnellen Blick über die Schulter. Durch die schwarzen Gitterstäbe funkelte mich Jerry vorwurfsvoll aus seinen goldbraunen Augen an. Dafür würde er mich die nächsten Tage mit Nichtbeachtung strafen, so viel war klar.

»Du leidest wenigstens still, Wilma.« Mit der rechten Hand tätschelte ich die Blätter der Yuccapalme, die auf dem Beifahrersitz stand und bei jeder Unebenheit wippte. Es war ein Wunder, dass die Karosserie meines Autos nicht über die Straße schleifte, denn es war bis unters Dach mit meinen Habseligkeiten vollgestopft. Achtundzwanzig Jahre verpackt in acht Kisten, zwei Reisetaschen, eine Transportbox und einen Blumentopf. Insgesamt siebzehn Stunden Fahrt trennten mich von meiner kleinen Dreizimmerwohnung am Frankfurter Stadtrand. Eine lange Zeit und doch zu kurz, wenn man bedachte, dass ich mein altes Leben hinter mir lassen wollte, um noch einmal von vorn zu beginnen. Ein Neustart in Nora, bei meiner Tante Edda, die fest davon überzeugt war, dass man jedes Stimmungstief mit Kanelbullar — den berühmten schwedischen Zimtschnecken — im Magen überwinden konnte. Edda war eine Frohnatur und lebte nach dem Sprichwort: Kommer tid kommer råd. Es bedeutete, dass es sinnlos war, sich schon im Vorfeld zu viele Gedanken über etwas zu machen. Wenn es so weit war, würde sich schon eine Lösung finden. Ich wünschte, ich könnte dem zustimmen, doch das Leben hatte mich bisher anderes gelehrt.

Meine Gefühle überwältigten mich, als ich von der Landstraße abbog und Nora erreichte. Das Erste, was ich sah, war der weiße Kirchturm, der im Stadtkern stand und stolz zwischen den roten Häuserdächern in den mittlerweile strahlend blauen Himmel emporragte. Andächtig und in gemächlichem Tempo, als wäre ich zum ersten Mal in meinem Leben hier, fuhr ich durch die Straßen, vorbei an den historischen roten Holzhäusern, in denen die rund siebentausend Menschen lebten und arbeiteten. Es war Sonntag, und bis auf die Cafés, vor denen Gäste an runden Tischen saßen und ihren Kaffee in der Frühlingssonne tranken, waren die Geschäfte geschlossen. Obwohl ich im dreißig Kilometer entfernten Örebro geboren und aufgewachsen war, fühlte sich Nora wie meine Heimat an. Vielleicht weil ich die Ferien stets in dem beschaulichen schwedischen Städtchen verbracht hatte. Eine unbeschwerte Zeit, die nach unserem Umzug nach Deutschland jedes Mal wie Balsam für die Seele war.

Ich blickte zum wolkenlosen Himmel und lächelte. Eine einzelne Träne rollte über meine Wange, als ich mir vorstellte, wie glücklich es sie machen würde, dass ich wieder hier war. »Hej, Mamma. Ich bin zu Hause.«

Tante Edda wohnte wenige Fahrminuten vom kleinen Stadtkern entfernt, in einem typischen roten Schwedenhaus, das an einen Wald angrenzte und direkt am Norasjön lag — dem See, auf dem ich in den Weihnachtsferien Schlittschuh laufen und in dem ich im Sommer Schwimmen gegangen war. Hier gab es keine direkten Nachbarn, dafür aber jede Menge Wiesen, Wälder und Elche, die man zur Brunftzeit brüllen hören konnte.

Ben und Jerry miauten empört, als mein VW Golf über den unbefestigten Weg zu Eddas Einfahrt holperte und die beiden ordentlich durchgeschüttelt wurden. Dort stand neben dem wunderschönen Holzhaus ein weiß gestrichenes Nebengebäude. Was früher als Schuppen gedient hatte, war liebevoll umgebaut worden und wurde inzwischen seit vielen Jahren als Hebammenpraxis genutzt. Magkänsla, was übersetzt Bauchgefühl hieß, war die einzige Hebammenpraxis in Nora und naher Umgebung. Über die Jahre hatte sich Edda mit ihrer Praxis etabliert und ein kleines Hebammen-Team zusammengestellt. Und ich gehörte ab sofort dazu. Bei dem Gedanken, wieder in meinem alten Beruf arbeiten zu können, kribbelte es vor Aufregung in mir. Gleichzeitig zog etwas an meinem Herzen. Etwas Schmerzhaftes, das sich vor drei Jahren dort eingenistet hatte.

Ich parkte neben der Praxis und betrachtete einen Augenblick lang das Gebäude mit dem hübschen Schild, auf dem in geschwungener Schrift der Name der Praxis stand, neben der gezeichneten Silhouette einer schwangeren Frau. Hinter den bodentiefen Fenstern erkannte ich den kleinen Empfangsbereich, zwei Sessel und einen niedrigen Holztisch. Schon als Kind war ich oft in der Praxis gewesen, hatte mir die Schwarzweißfotografien von neugeborenen Babys und runden Babybäuchen angesehen, die gerahmt an den Wänden hingen. Je älter ich wurde, desto interessierter hatte ich meine Tante über ihre Arbeit ausgefragt, und so irgendwann den Entschluss gefasst, ebenfalls Hebamme zu werden.

Ich stieg aus, reckte meine steifen Glieder und sog die Luft ein, die nach warmen Kiefernnadeln roch.

»Ich höre deine Kater bis ins Haus schreien.«

Ruckartig drehte ich mich um und strahlte meine Tante an, die wie aus dem Nichts hinter mir aufgetaucht war. Der Klang ihrer Stimme und der vertraute Singsang der schwedischen Sprache verursachten einen Kloß in meinem Hals.

»Edda«, hauchte ich und stellte bei ihrem Anblick fest, dass meine Tante sich in den letzten Jahren kaum verändert hatte. Ihr dunkelblondes Haar, das man in Schweden liebevoll als råttfärg — rattenfarbig — bezeichnete, war wie eh und je glatt und kinnlang, ihre grauen Augen hatten diesen stets wissenden Schimmer und erinnerten mich für Sekunden an die meines Vaters. Ich ignorierte den Gedankenblitz und stürzte in ihre ausgebreiteten Arme. Zuletzt hatte ich sie vor drei Jahren gesehen, als sie für die Beerdigung meiner Mutter nach Frankfurt gereist und ein paar Tage bei mir geblieben war. Danach hatten wir häufig telefoniert und uns ab und zu Fotos über das Handy geschickt. Sie von sich in ihrem Garten, ich Selfies von mir mit Ben und Jerry.

»Schön, dass du hier bist, Alma.« Ihre Stimme brach, und sie drückte mich fest an ihre Brust. Sie roch wie in meiner Erinnerung nach frischem Gras und Frühlingssonne. Edda war etwas kleiner als ich und hatte einen weiblichen Körper mit weichen Rundungen. Meine Figur glich der meiner Mutter — groß und eher schlaksig.

Edda rückte von mir ab, nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und betrachtete mich lächelnd. »Du siehst gut aus. Müde, aber gut.«

Ich erwiderte ihr Lächeln und spürte, wie die Anspannung der letzten drei Tage nach und nach von meinen Schultern rutschte.

»Wie war die Fahrt?«

»Anstrengend. Aber es hat alles gut funktioniert.«

»Und die Kater?« Wie auf Kommando meldete sich einer von ihnen mit einem theatralischen Miauen zu Wort. Ich tippte auf Jerry.

»Sie sind waschechte Dramaqueens. Ich fürchte, sie hassen mich jetzt.«

Edda lachte und ließ ihre Hände sinken.

»So eine lange Fahrt und die Übernachtungen in den Hotels bedeuten Stress. Sie werden sich hoffentlich schnell einleben.« Ihr Blick fiel auf die Beifahrerseite, wo sich Wilmas Blätter gegen die Fensterscheibe pressten, als hätte sie ebenfalls die Nase voll vom Autofahren.

»Du hast eine Pflanze mitgebracht?« Eddas Blick sprang wieder zu mir, und ich musste über ihre ungläubige Miene lachen.

»Darf ich vorstellen. Das ist Wilma. Wilma, das ist meine Tante Edda.«

»Wilma?« Ihr Ausdruck veränderte sich, während sich auf ihrem Gesicht Erkenntnis breitmachte. Ihre Züge wurden weicher. »Sie hat Svenja gehört, stimmt’s?«

Ich war dankbar, dass Wilma noch ins Auto gepasst hatte. Die Palme war etwas Besonderes für mich, und ich hätte es nicht übers Herz gebracht, sie dem neuen Mieter zu überlassen, ohne zu wissen, ob er sie gut behandeln würde.

Wilma hatte meiner Mutter gehört, die, nachdem wir Schweden verlassen hatten, zu einer Topfpflanzenfanatikerin mutiert war. Unsere damalige Wohnung war überfüllt gewesen mit Pflanzen in diversen Formaten. Obwohl sie Deutsche gewesen war, hatte sie ihr Leben in Schweden nie losgelassen. Sie hatte die raue Natur vermisst, das Grün, die Tannen, die Seen. Ihre Topfpflanzen waren der Versuch gewesen, ein wenig davon in unsere graue Stadtwohnung zu holen. Auch mir zuliebe.

»Mama hat sie geliebt. Ich konnte sie nicht in der Wohnung zurücklassen.«

»Das verstehe ich.« Ihr Lächeln kehrte zurück, als sie eine Handbewegung Richtung Tür machte. »Ich habe ein großes Haus, da finden wir bestimmt einen passenden Platz für Wilma.«

2

Nachdem ich eine lange Dusche genommen und mich in meinem Zimmer ein wenig eingerichtet hatte, lief ich die Holztreppe hinunter, deren Stufen bei jedem Schritt knarrten, um mich zu Edda auf die Terrasse zu gesellen. Ben und Jerry saßen immer noch zusammengekauert in der Transportbox, die wir mit geöffneter Klappe ins Wohnzimmer gestellt hatten. Selbst die Lockversuche mit ihren Lieblingssnacks hatten nicht geholfen.

Während ich durch das Wohnzimmer lief, vorbei an Wilma, die ein helles Plätzchen direkt am Fenster bekommen hatte, realisierte ich, dass das hier vorerst mein neues Zuhause war. Es fühlte sich vertraut an, weil sich seit meinem letzten Besuch nichts verändert hatte. Alles stand noch an seinem Platz, genauso wie ich es in Erinnerung hatte. Selbst der Geruch nach Lavendel und verkohltem Feuerholz, der das Wohnzimmer erfüllte, war unverändert. Viele Möbel oder Dekoration besaß Edda nicht. Die Schweden waren für ihr Understatement bekannt, was sich in ihrem Wohnstil abzeichnete, der auch meinen persönlichen Geschmack geprägt hatte. Diesen Lebensstil bezeichnete man als Lagom, was sinngemäß: »Nicht zu viel, nicht zu wenig, sondern gerade recht« bedeutete. Und genauso war Eddas Haus eingerichtet. Es war alles da, was man brauchte. Es gab ein beiges Sofa mit einem kleinen Holztischchen, Regale aus Kiefernholz, in denen Bücher standen, im Essbereich einen massiven Tisch mit Stühlen in unterschiedlichen Designs, als hätte Edda sie in einem Secondhandshop zusammengesucht. Die angrenzende Küche im Landhausstil war in Cremeweiß gehalten. Die wenigen, aber ausgewählten Möbel gaben den Räumen Struktur, weshalb es bei Edda immer aufgeräumt und harmonisch wirkte.

Mein Blick blieb an den Fotos hängen, die auf dem Kaminsims standen. Eins zeigte Tante Edda mit meiner Mutter. Sie sahen jung und unbeschwert aus, ahnten nicht, was auf sie zukommen würde. Auf dem daneben war ich als Kleinkind zu sehen, die hellblonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die mandelförmigen blauen Augen erwartungsvoll aufgerissen, weil mir ein Eis unter die Nase gehalten wurde. Zwölf Jahre hatte ich mit meinem schwedischen Vater und meiner deutschen Mutter ein halbwegs normales Leben in Örebro geführt. Bis zu dem Zeitpunkt, als herauskam, dass mein Vater seit Jahren ein notorischer Fremdgänger war und ein Kind mit einer anderen Frau gezeugt hatte. Daraufhin war meine Mutter mit mir nach Deutschland zurückgekehrt, weil ihr die Distanz zu Andrik nicht groß genug hätte sein können.

Nachdem ich Schweden acht lange Jahre nicht mehr besucht hatte, war ich nun zurückgekehrt.

Das letzte Bild kannte ich noch nicht. Es war neu dazugekommen und zeigte Edda mit einer jungen Frau, die eine Sonnenbrille trug und Edda im Arm hielt. Es schien eine Selbstaufnahme zu sein, weil das Foto etwas schief und verwackelt wirkte. Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, als mir bewusstwurde, dass die hübsche Brünette Liv sein musste — meine Halbschwester, die ich noch nie kennengelernt hatte. Edda hatte seit ein paar Jahren Kontakt zu ihr, was gut war, schließlich konnte Liv nichts dafür, dass mein Vater ein heuchlerisches Arschloch war. Sie war zwei Jahre jünger als ich und lebte in Stockholm, wo sie als Reiseführerin arbeitete. Edda erzählte manchmal von ihr, weshalb ich wusste, dass sie mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater aufgewachsen war. Doch ich hatte nie darauf reagiert oder weitere Fragen gestellt, vor allem nicht, ob sie noch Kontakt zu Andrik hatte. Es war nicht so, dass mich Liv nicht interessierte, aber es überforderte mich, dass es sie gab. Selbst als erwachsene Frau wusste ich nicht, wie ich damit umgehen sollte, dass mein Vater mir das Herz gebrochen hatte.

Tante Edda saß mit einer Tasse Kaffee auf einem der Holzgartenstühle und ließ ihren Blick über die Wiese schweifen, auf der mehrere Obstbäume standen. Ein Trampelpfad führte zu dem eigenen Bootssteg, wo die Pärla, ein weißes Holzboot, friedlich auf der Wasseroberfläche schaukelte. »Nicht unsere Städte und Dörfer sind unsere Heimat, es sind der Wald und die Natur«, hatte Tante Edda mir schon als Kind beigebracht, wenn sie mit mir durch ihren Garten gelaufen war und die Namen aller Pflanzen und Blumen aufgezählt hatte, die darin wuchsen. Während für viele Menschen das Leben in der Großstadt für Individualität und Freiheit stand, war es für die Leute hier die Natur, die sie aufblühen ließ. Mehr als die Hälfte Schwedens war mit Wäldern bedeckt. Etwas, das mir erst klargeworden war, nachdem meine Mutter und ich in das graue Frankfurt gezogen waren.

»Mandeltårta?«

Auf dem Gartentisch standen Brötchen, Einmachgläser mit Eddas selbstgemachten Marmeladen und eine Torte, die ich auf Anhieb identifizierte.

Meine Tante wandte sich mir zu und lächelte.

»Ich dachte, wir ziehen die Fika etwas vor, weil ich weiß, wie sehr du die Torte liebst.«

Mein Herz wurde vor Rührung butterweich. Wie sehr ich die Fika in Deutschland vermisst hatte — diese kleinen Kaffeepausen, die man mit Kollegen, Freunden oder der Familie verbrachte. Man trank starken Kaffee und aß dazu etwas Süßes. Meine Mutter und ich hatten versucht, die geliebte schwedische Tradition weiterhin zu zelebrieren, doch bei unserem neuen Alltag in Deutschland und ihren Arbeitszeiten als Köchin im Restaurant war das nicht möglich gewesen.

Mit knurrendem Magen setzte ich mich auf den Stuhl neben ihr, weil ich die Aussicht auf den See genießen wollte.

»Das ist lieb, danke, Edda. Einmal bin ich extra zu Ikea gefahren, nur um mir die tiefgekühlte Mandeltorte zu kaufen. Du weißt, ich habe kein Talent fürs Backen. Aber ich hatte solche Sehnsucht danach.«

»Dafür hast du das Kochtalent deiner Mutter geerbt.« Edda lud mir ein Stück Torte auf, während ich mir Kaffee eingoss.

Er war tiefschwarz und roch köstlich würzig. Ich schloss die Augen, als ich mir eine Gabel voll Torte in den Mund schob. Ich schmeckte Buttercreme, geröstete Mandeln und viele Erinnerungen.

»Allein dafür hat sich die Fahrt gelohnt«, murmelte ich und lächelte meine Tante an.

»Ich bin froh, dass du mein Angebot angenommen hast. Valentina ist schon ganz gespannt auf dich. Astrid kennst du ja bereits von deinen Besuchen.«

»Ich werde heute Nacht vor Aufregung bestimmt kein Auge zumachen.«

»Es gibt keinen Grund, nervös zu sein.« Edda legte eine Hand auf mein Bein. »Du schaffst das. Du bist doch keine Anfängerin mehr und wirst sehen, wie schnell du dich eingearbeitet hast. Wir machen es wie besprochen. Du begleitest uns drei im Wechsel bei den Hausbesuchen, und nach ein paar Tagen wirst du dann deine erste eigene Schwangere betreuen.«

»Weißt du schon, zu wem ich fahren werde?«

»Das erfährst du alles morgen früh bei der Teambesprechung.«

Nervös drehte ich meine Kuchengabel zwischen den Fingern. »Ich habe drei Jahre nicht mehr als Hebamme gearbeitet. Das ist eine lange Zeit.«

»Nicht, wenn es eine Berufung ist. Und das ist es in deinem Fall, Alma. Ich werde nie vergessen, wie du mich schon als Kleinkind über meine Arbeit ausgefragt hast. Du wolltest alles über die Geburt wissen, hast dir hochkonzentriert Bilder in Büchern dazu angeschaut. Dich hat nichts abgeschreckt, du warst nur fasziniert.« Sie musterte mich voller Stolz, was mich wegsehen ließ. Es fühlte sich furchtbar an, meiner Tante nicht die Wahrheit zu sagen. Doch ich brachte es nicht über mich.

»Du bist so ernst.« Edda musterte mich und neigte den Kopf zur Seite. »Was beschäftigt dich?«

»Es geht mir gut, es ist nur …«, ich stockte und atmete durch, »es war alles sehr aufregend in den letzten Tagen.«

Edda nickte, den Blick voller Verständnis.

»Der Abschied fiel dir sicher schwer, besonders von deinen Freundinnen und Freunden.«

»Ehrlich gesagt musste ich mich von niemandem verabschieden. In letzter Zeit habe ich mich von allen zurückgezogen.«

Falten bildeten sich auf Eddas Stirn. »Wieso hast du mir nie davon erzählt, wenn wir telefoniert haben? Ich hatte den Eindruck, dir geht es ganz gut. Auch wenn dir die Arbeit in der Augenarztpraxis keinen Spaß gemacht hat.«

»Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst«, gestand ich kleinlaut. »Ich dachte, dass es mit dem neuen Job bergauf geht, aber es wurde eher schlimmer.«

Edda presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. »Kein Wunder. Die Arbeit hat dich nicht erfüllt.«

In meinem Magen zwickte es, und plötzlich lag mir der leckere Kuchen wie ein Stein im Magen. Als ich Edda von meiner Kündigung im Krankenhaus berichtet hatte, war sie zu Recht überrascht gewesen. Ich hatte die wechselnden Schichten und die Unterbesetzung als Begründung vorgeschoben, und Edda hatte es mir abgenommen.

»Du wirst sehen, dass es dir bald besser geht. Wie kann es einem in Schweden inmitten der Natur nicht gutgehen?«

Ihr überzeugtes Lächeln ließ keinerlei Zweifel zu, und ich wünschte mir von Herzen, dass sie recht behielt.

***

Pünktlich um acht Uhr am nächsten Morgen saß ich mit meinen zukünftigen Kolleginnen in einem der Praxisräume. Edda hatte mich kurz herumgeführt, aber es hatte sich seit meinem letzten Besuch auch hier nichts verändert. Es gab ein Büro, in dem wir uns jetzt befanden, dazu zwei weitere Räume, die für die Geburtsvorbereitungskurse genutzt wurden. Das waren dreitägige Crashkurse, die kurz vor dem errechneten Termin stattfanden.

Durch Edda wusste ich, wie stark sich die Begleitung einer Schwangerschaft in Schweden von der üblichen Vorgehensweise in Deutschland unterschied. Hier gab es nur zwei Untersuchungen, die den Schwangeren zugeteilte Hebammen im Krankenhaus durchführten — zu Beginn der Schwangerschaft und um die zwanzigste Woche herum. Zum Arzt ging eine Schwangere nur, wenn es Komplikationen gab. Somit lag alles in den Händen der Hebammen, oder Barnmorskas, wie man sie hier nannte.

»Guten Morgen zusammen.« Edda lächelte in unsere kleine Runde, die außer uns beiden noch aus Astrid und Valentina bestand.

Astrid war in Eddas Alter und arbeitete schon seit vielen Jahren mit meiner Tante zusammen. Sie war eine sehr erfahrene Hebamme, die genau wie Edda gefühlt auf jede Frage eine Antwort hatte. Ihr ergrautes Haar trug sie kurz, und ihre Brille baumelte an einem Band um ihren Hals, da sie sie nur zum Lesen brauchte.

Valentina hatte dunkles Haar, das sie in einem straffen Dutt trug, braune warme Augen und eine quirlige Art, die sie mir bei der Begrüßung mit ihren argentinischen Wurzeln erklärte. Sie war genauso alt wie ich und hatte im Krankenhaus in Stockholm gearbeitet, bevor sie vergangenes Jahr zu ihrem Freund nach Nora gezogen war und in Eddas Praxis angefangen hatte. Ihr Lächeln war offen und herzlich, was mir die Anspannung nahm, mit der ich gestern ins Bett gegangen und heute Morgen aufgestanden war.

Nachdem ich mich vorgestellt hatte, fassten Astrid, Valentina und Edda ihre letzte Woche zusammen und besprachen, was in der kommenden anstehen würde. Danach teilte Edda mich für die Mitfahrten ein.

»Ab nächster Woche wirst du dann zusätzlich zu Elsa Hansen fahren. Sie ist im fünften Monat schwanger und hat schon einen fünfjährigen Sohn.« Ihre Miene wurde ernster, während sie weitersprach. »Leider ist sie seit Beginn der Schwangerschaft alleinerziehend. Ihr Mann Oskar hat sie verlassen und ist aus Nora weggezogen.«

Ich nickte betreten.

»Greift er ihr denn trotzdem noch unter die Arme?«

Edda schüttelte seufzend den Kopf. »So wie ich Elsa verstanden habe, hat er psychische Probleme und unterstützt sie nur noch finanziell, soweit es geht. Elsa arbeitet Vollzeit im Blumenladen in Nora. Sie ist eine starke Frau und tut alles dafür, dass es Fynn trotz des Verlustes seines Vaters gutgeht. Das führt nur leider dazu, dass sie zu wenig auf sich selbst achtet. Da ihre Eltern schon verstorben sind, hat sie sonst kaum Hilfe. Deshalb ist ihr Bruder vor ein paar Wochen zu ihr gezogen.«

»Das ist schön«, murmelte ich und musste zugeben, dass ich mich fragte, wieso Edda mir ausgerechnet diese Familie zugewiesen hatte.

»Ich kenne Elsa seit ihrer eigenen Geburt, und ich sehe die Besuche bei ihr auch als persönliche Unterstützung. Und da du noch ein wenig Praxiserfahrung brauchst, wirst du sie alle vier Wochen besuchen.«

Nach dem Meeting blieb ich den Rest des Tages bei Edda in der Praxis, wo sich einige Schwangere zur Erstkontrolle angemeldet hatten. Zum ersten Mal in meiner Arbeitslaufbahn durfte ich per Ultraschall die Gebärmuttergröße messen. Ich war ziemlich stolz, dass ich es auf Anhieb hinbekam.

Nach der zweiten Untersuchung machten Edda und ich eine Kaffeepause und setzten uns auf die zwei Stühle vor der Praxis. Der Himmel über Nora war bedeckt, aber es war dennoch so warm, dass ein dünner Pullover ausreichte.

»Nun frag mich schon, Alma«, begann Edda unvermittelt, nachdem wir eine Weile schweigend die Auffahrt hinuntergeblickt hatten. »Ich sehe dir doch an, dass dir seit dem Meeting etwas auf der Seele brennt.«

Ich linste zu ihr, ertappt, dass sie mich so leicht durchschaut hatte. »Es ist nur … Warum ausgerechnet die Familie Hansen?«

»Wie meinst du das?«, hakte Edda nach, obwohl sie kein bisschen überrascht über meine Frage zu sein schien.

»Weil, na ja, es erinnert mich an Mama und mich.«

»Ich weiß.« Edda lächelte sanft. »Und deshalb bin ich mir sicher, dass du genau die richtige Hebamme für Elsa bist. Du verstehst Fynn und sie.«

Ich starrte meine Tante an, unschlüssig, was ich davon halten sollte.

»Du hast nie darüber gesprochen, aber ich weiß, dass es dich immer noch quält. Die Trennung und Andriks Betrug.«

Ihre Worte fühlten sich an wie tiefe Schnitte in meiner Haut. Es war ein Thema, das ich nur ertrug, weil ich es seit Jahren von mir wegschob. Genauso wie die unbeantworteten Fragen an meinen Vater und die Wut, die ich für ihn empfand.

»Du musst nicht darüber reden. Dazu möchte ich dich nicht zwingen. Aber ich weiß, dass du deinen eigenen Schmerz nutzen kannst, um anderen zu helfen.«

»Woher willst du das wissen?« Meine Stimme klang brüchig, und ich musste mich zusammenreißen, um den Emotionen nicht einfach freien Lauf zu lassen.

In Eddas Augen trat ein Kummer, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. »Weil ich es aus eigener Erfahrung weiß, Alma.«

Sie schluckte und senkte den Blick in ihre Tasse. Zu meiner Enttäuschung führte sie ihre Antwort nicht weiter aus. Aber was auch immer sie damit gemeint hatte, es schien etwas sehr Persönliches zu sein, wenn sie es nicht mit mir teilen wollte. Und das war okay, weil ich wusste, dass manche Dinge zu schmerzhaft waren, um sie auszusprechen.

3

Das Haus der Hansens lag exakt acht Minuten Fahrzeit von Edda entfernt. Es war verrückt, dass man sie als direkte Nachbarn bezeichnete. Man begriff es erst, wenn man durch Schwedens Straßen fuhr. In Nora gab es davon nur eine einzige, und die holperte ich gerade mit meinem Auto entlang. Mächtige Kiefern salutierten am Straßenrand, und der Duft von Harz strömte in mein Auto, dessen Fenster ich trotz der kühlen Morgenluft geöffnet hatte. Während die Winter in Schweden kalt und hart waren, pendelte sich die Temperatur im Frühjahr auf maximal fünfzehn Grad ein. Nachdem ich jahrelang fast ausschließlich stickige Stadtluft eingeatmet hatte, bekam ich nicht genug von der naturdurchtränkten Luft.

Ich parkte in der gepflasterten Einfahrt, die zu dem einzigen Haus weit und breit führte. Es war genau wie das meiner Tante aus Holz erbaut, allerdings waren die Bretter blau gestrichen, statt in dem typischen Schwedenrot. Zwei liebevoll bepflanzte Beete mit bunten Frühlingsblumen lagen links und rechts davon.

Ich betrachtete das Haus für ein paar Sekunden durch das Seitenfenster, sammelte mich und stieg aus. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich meine Tasche aus dem Kofferraum holte, in der sich die wichtigsten Utensilien befanden, die eine Hebamme brauchte. Vor der Tür atmete ich noch einmal durch und drückte den Klingelknopf, über dem ein Messingschild mit der Aufschrift Hansen hing.

Beinahe im selben Moment wurde die Tür auch schon aufgerissen. Mein Blick fiel ins Leere, bevor ich ihn senkte und einen kleinen Jungen sah. Er hatte hellblondes kurzes Haar und musterte mich neugierig. Das musste Fynn sein.

»Hej«, begrüßte ich ihn und lächelte freundlich. »Ich bin Alma, die Hebamme.«

»Weiß ich«, kam es mit einer piepsigen Stimme zurück. Ein zögerliches Lächeln legte sich auf seinen Mund.

»Meine Mama hat ein Baby im Bauch.«

Ich nickte. »Und genau deshalb bin ich da.«

»Holst du das Baby jetzt aus ihr raus?«

»Oh nein, dafür ist es noch viel zu klein. Es muss noch ein paar Monate wachsen, bis es kräftig genug ist, um auf die Welt zu kommen.«

Enttäuschung machte sich auf seinem rundlichen Gesicht breit. Anscheinend konnte Fynn es kaum erwarten, sein Geschwisterchen kennenzulernen.

Eine hübsche junge Frau mit ebenso blonden Haaren wie Fynn trat zu uns. Ihre Wangen waren etwas gerötet, und unter ihrem Shirt zeichnete sich eine kleine Kugel ab.

»Hej Alma, ich bin Elsa. Schön, dass du da bist.«

Sie nahm Fynn bei der Hand und zog ihn sanft ein Stück zurück, so dass ich eintreten konnte.

»Danke, ich freue mich auch.«

Ich folgte den beiden in das etwas beengte Wohn- und Esszimmer. Es war gemütlich eingerichtet und ein wenig chaotisch. Überall lagen Kinderspielsachen herum. Kuscheltiere, kleine Autos und Bausteine.

Elsa deutete auf einen der Stühle, von dem sie hastig einen Haufen Kinderkleidung nahm.

»Entschuldige, ich war bis eben auf der Arbeit und habe es nicht mehr geschafft aufzuräumen.«

»Guck mal, ich bin ein Flugzeug«, krähte der kleine Fynn und sauste mit ausgebreiteten Armen durch den Raum. Dazu machte er Geräusche, als wäre er ein Düsenjet.

»Das ist doch nicht schlimm«, versicherte ich ihr und stellte meine Tasche auf dem Boden neben dem Stuhl ab. »Edda hat mir erzählt, dass du in dem Blumenladen in Nora arbeitest.«

Elsa warf einen Blick zu Fynn, der jetzt kein Flugzeug mehr war, sondern wie ein Känguru auf dem Sofa herumhopste und mich dabei beobachtete. Ich lächelte ihm zu, was ihn verlegen wegsehen ließ.

»Ja, genau. Ich mag meine Arbeit, aber die Schwangerschaft macht mir etwas zu schaffen. Ich fühle mich ständig müde und schlapp.« Nachdem wir uns gesetzt hatten, bot mir Elsa ein Glas Wasser an.

»Ist dein Eisenwert in Ordnung?«

Sie nickte. »Edda hat ihn letzten Monat kontrolliert.«

»Vielleicht ist es einfach der Stress«, mutmaßte ich. Elsa tat mir unendlich leid. Ich sah wieder zu dem kleinen Fynn, der ohne seinen Vater aufwachsen musste. Ich wusste zu gut, wie sich das anfühlte und wie stark die Trennung der eigenen Eltern eine Kinderwelt erschütterte.

»Zum Glück habe ich Liam. Ohne ihn wäre ich absolut aufgeschmissen.«

»Dein Bruder?«

»Ja. Er wohnt seit zwei Monaten bei uns und unterstützt mich.«

»Das ist nett von ihm.« Das war es. Was für ein toller Bruder musste er sein, dass er seine Koffer gepackt und zu seiner Schwester gezogen war, um ihr unter die Arme zu greifen.

»Seit er zurück in Nora ist, arbeitet er bei Älghorn, dem Outdoor-Store in der Stadt. Er bringt Fynn morgens zur Vorschule und holt ihn nachmittags wieder ab. Danach unternimmt er viel mit ihm. Fynn genießt die Zeit mit seinem Onkel sehr. Als er noch in Örebro gewohnt und Filialleiter eines Sportgeschäfts war, haben wir ihn nicht so oft zu Gesicht bekommen.« Ein liebevolles Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie ihren kleinen Sohn betrachtete, der sich offensichtlich müde gehopst hatte und ein Buch ansah. »Die letzten Wochen waren nicht leicht für uns. Ohne Liam …«

»Schwärmst du schon wieder von mir?«

Wie von der Tarantel gestochen sauste Fynn auf den Mann zu, der ins Wohnzimmer trat, und sprang mit Anlauf in seine Arme … In seine starken Arme — der Bizeps zeichnete sich deutlich unter seinem Shirt ab. Er war kein Muskelprotz, schien aber irgendeine Art von Sport zu machen, der seine hochgewachsene Statur geformt hatte. Oder er hatte gute Gene. Die dunkelblonden Haare reichten ihm bis zum Kinn. Sie waren leicht gewellt und lagen unordentlich auf seinem Kopf, als wäre er eben noch mit den Fingern hindurchgefahren. Sein Teint ließ vermuten, dass er viel Zeit in der Sonne verbrachte.

Elsa schmunzelte. »Klar, ich mache den ganzen Tag nichts anderes, als meinen kleinen Bruder in den Himmel zu loben.«

»Wieso klein? Onkel Liam ist viel größer als du«, bemerkte Fynn, was Liam zum Grinsen brachte, wobei er eine Reihe gerader weißer Zähne entblößte.

Sein Blick sprang von Elsa zu mir, und einen Atemzug lang warfen mich seine hellgrauen Augen aus der Bahn. Dunkle dichte Brauen lagen darüber, die nun in die Höhe wanderten. Sein Lächeln veränderte sich, wurde … höflicher? Ich konnte es nicht genau einordnen.

»Alma, das ist mein Bruder Liam. Liam, das ist Alma, die neue Hebamme.«

»Ich habe das Auto vor dem Haus gesehen. Eine Hebamme, die extra aus Deutschland angereist kommt. Wow.«

»Lass deine Witze. Alma ist Eddas Nichte aus Deutschland. Sie ist Halbschwedin und gerade wieder hergezogen. Ich hatte dir von ihr erzählt.« Elsa blickte zu mir und seufzte. »Entschuldige, mein Bruder glaubt, er wäre unheimlich lustig.«

»Das bin ich auch«, verteidigte er sich prompt, und sein Grinsen wurde breiter. »Aber du verstehst keinen Spaß. Oder, Fynn? Stimmt doch.«

»Mama ist nicht lustig«, pflichtete ihm Fynn bei, was mich zum Kichern brachte.

Liam setzte Fynn ab und kam auf uns zu. Er streckte mir seine Hand hin, die groß und gebräunt war. Mit Verzögerung legte ich meine blasse Hand in seine. Erneut trafen sich unsere Blicke, als er sie mit angenehmem Druck umfasste. Ich spürte die Wärme seiner Haut und die rauen Stellen an der Handinnenseite. Ein Schauer rieselte meine Wirbelsäule herunter, als er mich schief anlächelte.

»Hej Alma. Ich bin Liam, der lustige Bruder dieser hormongeladenen Frau. Ich hoffe, du hältst sie aus.«

»Klar. Das ist mein Job«, gab ich zurück. Meine Stimme klang leiser, als ich beabsichtigt hatte. Ich spürte, wie mir das Blut langsam ins Gesicht stieg. Das passierte mir häufig, wenn ich nervös war. Und ja, dieser Typ machte mich nervös.

Ich zupfte am Kragen meines Shirts herum, das ausgerechnet einen weiten Rundhalsausschnitt hatte. Nicht optimal, um Hektikflecken zu verbergen, die ich ebenfalls in aufregenden Situationen bekam. Mir wurde bewusst, dass der neue Job mich aus meiner Komfortzone holte, in der ich mich die letzten Jahre bewegt hatte. Während der Geburten im Kreißsaal war es sehr privat gewesen, aber bei den Schwangeren zu Hause zu sein, war eine andere Art der Intimität, die ich so noch nicht kannte. Die Familien ließen einen in ihr Leben, in ihr Zuhause. Es fühlte sich sehr besonders an, aber auch nach einer Herausforderung.

»Hallo?!«, beschwerte sich Elsa. »So schlimm bin ich gar nicht. Und außerdem ist das ganz normal. Aber ihr Männer versteht das natürlich nicht.«

»Ja, klar.« Liam lachte und klopfte Fynn auf die schmale Schulter. »Dann lassen die unwissenden Männer des Hauses euch mal alleine. Hey Kumpel, wie wäre es mit einer kleinen Bootstour?«

»Super!«, kam es postwendend von dem Jungen, der seinen Onkel offensichtlich vergötterte. Es war süß, ihn dabei zu beobachten, wie er einschlug und dann beide in Richtung Flur gingen. Fynn stimmte ein Lied über einen Kapitän an, als Liam sich noch einmal zu uns umdrehte.

»Hat mich gefreut, Alma.«

»Viel Spaß euch«, gab ich zurück und brachte ein halbwegs entspanntes Lächeln zustande. Wo hatte Liam gelernt, anderen solche Blicke zuzuwerfen? Das war wirklich gemein.

Nach zwanzig Minuten verabschiedete ich mich von Elsa, die ich bis zur Geburt alle vier Wochen sehen würde. Am Ende vielleicht sogar etwas häufiger, je nach dem, wie es ihr ging. Ich freute mich darauf, weil ich spürte, wie dankbar Elsa für den Beistand war. Edda war es ein Anliegen gewesen, sie in guten Händen zu wissen. Ich würde mir Mühe geben, sie für die Geburt und die Zeit danach zu stärken.

Als ich in mein Auto stieg und zurück zur Praxis fuhr, von wo aus ich Valentina zum nächsten Termin begleiten würde, blitzte immer wieder das Bild von Liam vor meinem geistigen Auge auf. Es war fast ein bisschen schade, dass ich ihn erst in vier Wochen wiedersehen würde.

4

Meine ersten Tage als Hebamme in Schweden verliefen aufregend — im positiven Sinn. Durch die Fahrten zu den Familien mit Valentina, Astrid und meiner Tante lernte ich unheimlich viel. Ich saugte alle Informationen, die ich während der Besuche mitbekam, wie ein Schwamm auf. Obwohl ich den Beruf der Hebamme gelernt und danach drei Jahre lang im Kreißsaal gearbeitet hatte, war mir vieles noch unbekannt, und ich fühlte mich in meinem neuen Job wie eine blutige Anfängerin. Aber das war nicht schlimm, weil mir die Arbeit Freude machte und ich dankbar für meine erfahrenen Kolleginnen war. Valentina und mich verband die Zeit als Hebammen im Krankenhaus, über die wir uns auf den Autofahrten bis zum nächsten Haus austauschten. Der Unterschied zwischen Schweden und Deutschland war auch hier gravierend, und ich musste feststellen, dass mir viele Dinge in den deutschen Geburtenstationen besser gefielen. Es war unvorstellbar für mich, dass schwedische Frauen ihre Kinder häufig ohne Hilfe im Auto oder auf dem Sofa zur Welt brachten, weil die wenigen Geburtshäuser überfüllt waren und sie notgedrungen abgewiesen wurden. Valentina interessierte sich vor allem für die Wassergeburten, die ich häufig begleitet hatte. Es fiel mir schwer, davon zu erzählen, ohne dass die dramatischen Bilder jener Nacht auftauchten. Aber irgendwie gelang es mir, sie auszublenden und von meinen positiven Erfahrungen zu berichten. Ich war erleichtert, dass mich weder Valentina noch Astrid über den Grund für meine Kündigung im Krankenhaus ausfragten und ich das Thema nicht wieder mit Lügen umschiffen musste.

***

Nach den ersten beiden ereignisreichen Wochen genoss ich den Samstagmorgen mit Edda auf der Terrasse. Satt von einem leckeren Frühstück hielten wir unsere Gesichter in die zarten Sonnenstrahlen, die sich ab und an durch die aufreißende Wolkendecke drängten.

Gegen Mittag fuhren wir in die Stadt, worauf ich mich freute, da ich seit meiner Ankunft in Nora noch nicht dort gewesen war.

Ich lächelte vor mich hin, während ich aus dem Fenster sah und die vorbeiziehenden sattgrünen Tannen betrachtete.

»Zwei Wochen schwedische Luft, und du wirkst schon vollkommen verändert«, sagte Edda und warf mir einen schnellen Seitenblick zu, während sie ihr Auto über die Straße lenkte. »Du lächelst endlich wieder mehr. Als du ankamst, habe ich dich mit dieser tiefen, nachdenklichen Falte auf der Stirn kaum wiedererkannt.«

»Ich fühle mich sehr wohl, Edda. Es ist, als ob ich nach Hause gekommen wäre.«

»Borta bra men hemma bäst.« Sie erwiderte mein Lächeln, das mir endlich wieder leichtfiel. Edda hatte recht, am schönsten war es doch zu Hause.

»Samstags ist in der Stadt immer mehr los. Zumindest für unsere Verhältnisse. Lächerlich im Gegensatz zur Frankfurter Innenstadt.«

Ich lachte. »Ich habe es immer, so gut es ging, vermieden, ins Zentrum zu fahren. Mir war es dort viel zu voll und laut.«

»Dafür kann es hier sehr still sein. In einer Großstadt ist immer was los. Viele Menschen lieben den Trubel«, gab Edda zu bedenken.

»Ja, bestimmt. Aber ich habe mich dort trotzdem einsam gefühlt, obwohl ich in einem Mehrfamilienhaus mit zehn Parteien gewohnt habe.«

Als wir im Stadtkern ankamen, parkte Edda auf einem großen Platz gleich neben der weißen Kirche unweit des Seeufers. Ende August fand hier einer der größten Märkte Schwedens statt, der Tre små gummor. Zu dem Ereignis kamen zehnmal so viele Menschen in die Stadt, wie sie Einwohner hatte, und etwa dreihundertfünfzig Markthändler verkauften ihre Waren. Neben dem Kirchturm gab es ein weiteres Gebäude, das zwischen den kleinen Häusern auf dem Marktplatz hervorstach. Der Göthlinska Gården — das zweihundert Jahre alte Bürgerhaus von Nora. Davor stand ein Springbrunnen, auf dessen Pfeilern zwei Statuen thronten — eine Frau und ein Mann.

»Wie friedlich es hier ist«, stellte ich fest, während wir durch die gepflasterten Straßen liefen, vorbei an einem Friseursalon mit nostalgischem Schild über dem Eingang, auf dem tatsächlich nur Friseursalon stand, kleinen Boutiquen und Cafés, die herrlich aussehenden Kuchen und Zimtschnecken in der Auslage anboten. In einem davon tranken wir am Nachmittag Kaffee und bestellten uns Mazarin, einen Kuchen aus mit Marzipan gefülltem Mürbeteig mit einer dicken Zitronengussschicht.

»Ich muss noch in den Supermarkt«, verkündete meine Tante, nachdem wir das Café wieder verlassen hatten. »Du kannst dich aber gerne noch ein wenig umsehen. Wir können uns in einer halben Stunde beim Auto treffen.«

Ich war einverstanden und lief weiter durch die Gassen in Richtung See. Das Smaskigt, ein Restaurant, in dem bodenständige schwedische Hausmannskost serviert wurde, befand sich auf einer weitläufigen Wiese direkt am Wasser und bot von seiner Terrasse aus einen wunderschönen Ausblick. Gerade als ich mich wieder auf den Rückweg machen wollte, fiel mir ein Gebäude ins Auge, das ich bislang nicht wahrgenommen hatte. Älghorn stand in grünen Buchstaben auf der Fassade, die mit dunklen Holzbrettern verkleidet war. Daneben hing ein Elchgeweih, passend zum Namen des Ladens. Das musste der Outdoor-Store sein, in dem Liam Hansen arbeitete, Elsas Bruder. Neugierig ging ich auf die Eingangstür zu, die geöffnet war und so einen Blick ins Innere gewährte. Der Laden war größer, als er von außen schien. Mehrere Regale zogen sich bis zu einer Ladentheke am Ende des Raumes. Eine Treppe führte in die zweite Etage. Ohne darüber nachzudenken, ging ich hinein. Ich war mir sicher, das Geschäft während meiner Zeit in Nora noch nie betreten zu haben. Warum auch? Ich war weder jemand, der gern Wandern ging und Funktionskleidung benötigte, noch angelte oder kletterte ich. Neben dem Gerücht, in Schweden würden alle nur Köttbullar essen, hielt sich das Klischee hartnäckig, Schweden würden nur Funktionskleidung tragen. Auch wenn es oft kälter war als in Deutschland, hatte ich in Frankfurt schon mehr Menschen in Jack-Wolfskin-Jacken und Trekkingschuhen gesehen als in Schweden.

In dem Geschäft roch es ledrig, und in den Regalen tummelten sich allerhand Dinge, die ich noch nie benutzt hatte. Kletterseile und Karabiner in gefühlt einhundert Ausführungen, Zelte, Rucksäcke, Helme, Angelequipment und Isomatten. Das Geschäft schien in Aktivitäten eingeteilt zu sein, was bei der riesigen Auswahl definitiv Sinn ergab.

»Hej, kann ich dir helfen?«

Ich zuckte zusammen und drehte mich zu der Person um, die mich angesprochen hatte. Obwohl ich damit hätte rechnen müssen, ihn hier anzutreffen, fühlte ich mich überrumpelt, als Liam plötzlich vor mir stand. Seine Haare waren nicht offen wie bei meinem Hausbesuch, sondern im Nacken zurückgebunden, was sein Gesicht kantiger wirken ließ. Er trug Jeans und ein tannengrünes T-Shirt, das etwas enger an der Brust anlag und mit dem Schriftzug des Ladens bedruckt war. Seine grauen Augen weiteten sich, als er mich unverhohlen musterte.

»Alma?«

Es schmeichelte mir, dass er mich sofort wiedererkannt und sich gleich an meinen Namen erinnert hatte. Was natürlich kein Grund war, irgendetwas Kindisches hineinzuinterpretieren.

»Das ist ja ein Zufall.«

»Ja, wow.« Ich räusperte mich und setzte ein wackliges Lächeln auf. Liam wusste anscheinend nicht, dass seine Schwester Elsa mir von seinem Job erzählt hatte. Ganz sicher würde ich es ihm nicht auf die Nase binden und damit zugeben, dass mich die Neugier hergetrieben hatte. Nur leider fühlte ich mich jetzt, wo Liam vor mir stand, etwas überfordert. Wie funktionierte noch mal Smalltalk? Alle Floskeln schienen sich mit Liams Auftauchen aus meinem Wortschatz verabschiedet zu haben.

»Wie war denn deine erste Zeit in Schweden?«

Dankbar, dass er die Konversation in Gang brachte, entspannte ich mich. »Gut. Ich fühle mich wohl und habe viel gelernt.«

»Das freut mich.« Sein Lächeln war aufrichtig und so warm, dass es mich gleich wieder aus der Bahn warf.

»Wie geht es deiner Schwester?«

Er seufzte und steckte die Hände in die Jeanstaschen. »Sie hat gestern wieder lange gearbeitet, um noch eine Bestellung für eine Hochzeit fertig zu bekommen, die heute stattfindet. Seitdem spürt sie so einen Druck im Bauch. Aber sie meinte, das wäre normal.«

»Hat sie zufällig erwähnt, wo genau sie diesen Druck spürt?«

Liam zog die Brauen zusammen, als würde er nachdenken. »Nein, ich glaube nicht.« Seine Miene wurde ernster. »Sag mir jetzt nicht, dass das nicht normal ist.«

»Keine Sorge. In einer Schwangerschaft kann es immer mal drücken und ziepen. Die Mutterbänder dehnen sich, um Platz für die wachsende Gebärmutter zu schaffen. Aber ich werde sie später vorsichtshalber anrufen und mich erkundigen.«

»Danke. Fynn ist bei einem Freund zum Spielen, solange ich arbeite, damit Elsa sich ausruhen kann. Ich hoffe, dass sie das auch tut.«

»Ich werde es herausfinden und petzen, falls sie sich nicht daran gehalten hat.«

Liams Sorge um seine Schwester war herzergreifend. Man spürte, wie wichtig sie ihm war. Es musste ein schönes Gefühl sein, eine so enge Bindung zu jemandem zu haben, den man von klein auf kannte. Ich dachte an meine Halbschwester Liv und fragte mich, ob Tante Edda ihr von meinem Umzug nach Schweden erzählt hatte …

»Und du erkundest die Stadt?«

Liams Frage riss mich aus meinen Gedanken. »Ja, ich war ewig nicht mehr hier.«

»Wie lange ist es her?«

»Acht Jahre.«

»Okay, wow, das ist wirklich lange.«

Für ein paar Sekunden sahen wir uns einfach nur lächelnd an. Ich spürte, wie mir Wärme den Hals hinaufkroch. Alma, sag was, irgendetwas …

»Und du arbeitest hier?«

Eine einfallsreiche Frage. Total überflüssig, wenn jemand ein Shirt trug, auf dem groß und breit der Name des Geschäfts stand. Doch Liam schien es nichts auszumachen, dass ich mich wie ein Trottel verhielt.

»Der Laden gehört meinem Kumpel Cai. Er hat ihn von seinem Vater übernommen und sein Sortiment erweitert. Früher gab es nur eine Etage, und alles war etwas kleiner. Aber es kommt gut an. Die Touristen gehen hier ein und aus.«

»Es gefällt mir. So eine große Auswahl an … allem.«

Liam neigte den Kopf etwas zur Seite.

»Bist du denn auf der Suche nach etwas Bestimmtem? Vielleicht kann ich dir helfen.«

»Ähm …« Ich schaute mich um und griff dann nach dem Erstbesten, was mir in dem Regal zwischen die Finger kam. Es war ein Buch. Sehr gut. Bücher konnte schließlich jeder gebrauchen.

»Ich glaube, ich habe es schon gefunden.«

Liam blickte mit gerunzelter Stirn auf meine Hände, in denen ich das Buch hielt.

»Survival, Orientierung und Erste Hilfe?«

Mein Atem stockte, und ich folgte seinem Blick auf das Cover.

»Äh, ja. Mir ist bewusstgeworden, dass ich absolut nichts über die Wälder weiß, obwohl ich Halbschwedin bin. Was, wenn ich mich mal verlaufe? Ich wäre aufgeschmissen.«

Liam schaute auf, und irgendetwas in seinem Blick verriet mir, dass er mir kein Wort glaubte. Ein kleines Schmunzeln bildete sich auf seinen Lippen.

»Das ist sehr vorausschauend.«

Mein Kopf drohte mittlerweile zu explodieren, und ich hatte es plötzlich sehr eilig, davonzukommen.

»Ich muss dann auch wieder los. Edda wartet sicher schon auf mich. Wenn sie fährt, muss ich nach Hause laufen.«

»Was mit dem Buch ja kein Problem mehr ist. Mit dem Wissen darin kommst du überall an.«

Obwohl seine Miene ernst blieb, glaubte ich, ein amüsiertes Funkeln in seinen Augen zu sehen.

Da Liam offensichtlich der einzige Mitarbeiter in dem Laden war, kassierte er das Buch auch noch ab. Ich vermied es, ihn länger anzusehen als nötig, verstaute das Buch, das ich niemals lesen würde, in meiner Tasche und sah zu, dass ich verschwand.

5

Am Montagnachmittag fuhr ich nach Feierabend bei den Hansens vorbei. Nachdem ich am Samstag Älghorn verlassen hatte, hatte ich gleich Elsa angerufen und in der Apotheke ein homöopathisches Pulver besorgt, das ich aus Deutschland kannte und das die Gebärmutter etwas beruhigen sollte.

An der Haustür empfing mich der kleine Fynn.

»Holst du heute das Baby aus meiner Mama raus?«

Ich verkniff mir ein Lachen. »Hallo Fynn. Nein, tut mir leid. Aber du kannst heute mal hören, wie das kleine Herz deines Geschwisterchens schlägt. Wie wäre das?«

»Das Baby hat ein Herz?« Seine Augen wurden groß vor Erstaunen.

»Na klar. Und es schlägt genauso kräftig wie deins. Nur schneller. Ich habe ein Gerät in meiner Tasche, damit kann man es hören.«

»Echt? Ein Zaubergerät?«

»So was in der Art.«

Fynn taxierte voller Ehrfurcht die schlichte Ledertasche, dann griff er nach meiner freien Hand.

»Komm, Alma.«

Als ich von dem Kleinen aufsah, blickte ich in zwei sturmgraue Augen, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatten. Liam.

»Hej«, begrüßte er mich und schenkte mir dieses unverwechselbare schiefe Lächeln. »Danke, dass du noch vorbeikommst. Elsa meinte, du hättest eigentlich längst Feierabend.«

Er sah ins Wohnzimmer. Fynn war vorgelaufen und erzählte seiner Mama aufgeregt von meinem Vorschlag. Ungeduldig rief er meinen Namen.

»Ich glaube, da wartet jemand auf dich.«

Unsere Blicke verhedderten sich ineinander, und meine Beine fühlten sich plötzlich wie Pudding an. Staksig ging ich an ihm vorbei ins Wohnzimmer, wo Elsa mit Fynn auf dem Sofa saß. Sie wirkte abgeschlagen, und unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab.

»Du siehst müde aus«, stellte ich nach unserer Begrüßung fest. »Wie geht es dir?«

Elsa strich sich ein paar lose Strähnen aus der Stirn.

»Besser, aber ich fühle mich immer noch schlapp.«

»Und der Druck?«

»Unverändert. Abends ist es am stärksten.«

Während ich Elsa das Pulver und die Einnahme erklärte, war Fynn ganz zappelig und blickte immer wieder auf meine Tasche, als wäre darin ein verzaubertes Kaninchen versteckt.

Liam hatte sich derweil auf einen Stuhl am Esstisch niedergelassen und beobachtete uns. Es machte mich nervös, seinen Blick auf mir zu spüren. Auf eine positive Art.

»Hören wir jetzt das Herz?«, fragte Fynn zum wiederholten Mal, und als ich mich herunterbeugte und die Tasche öffnete, klatschte er in die kleinen Händchen.

Ich holte den Herzfrequenzmesser heraus und zeigte ihn Fynn. Dann setzte ich die Sonde an Elsas Bauch an und suchte nach der richtigen Position. Nach kurzer Zeit hörte man über den Lautsprecher ein Pochen. Es war niedlich, wie andächtig Fynn dem rhythmischen Klang des Babyherzchens lauschte, der ein wenig an das Geräusch des Hufschlags eines galoppierenden Pferdes erinnerte. Das pulsierende Geräusch drang in meine Ohrmuschel und verband sich mit dem Schlagen meines eigenen Herzens. Es war jedes Mal ein Wunder, dass in einem Bauch ein neues Leben heranwuchs. Ich blinzelte und sah zu Elsa, der Tränen in die Augen traten. Ich erkannte die Liebe und den Schmerz, den sie in diesem Moment empfand. Dieses Kind würde keinen Vater haben und genau wie Fynn irgendwann damit klarkommen müssen, dass sein Erzeuger sich kurzfristig für ein anderes Leben entschieden hatte. Es machte mich wütend und unendlich traurig.

»Mama, wieso weinst du?« Fynn fing mit seinem kleinen Zeigefinger eine Träne auf, die Elsa an der Wange herunterrollte.

Elsa nahm einen zittrigen Atemzug und lächelte ihren Sohn so gefasst wie möglich an. »Weil ich mich auf das Baby freue, Schatz. Und darauf, dass du ein ganz toller großer Bruder sein wirst.«

Fynn strahlte stolz und tippte auf den Bauch seiner Mutter. Dann beugte er sich hinunter.

»Ich bringe dir bei, wie man auf einen Baum klettert«, flüsterte er nahe an Elsas Bauchnabel, als befände sich dort eine Art Sprachrohr. »Und Onkel Liam spielt mit uns Fußball. Du darfst auch mal der Torwart sein.«

»Das ist sehr großzügig von dir, Fynn.« Liam hatte die Arme auf die Oberschenkel gestützt und die Hände gefaltet. Seine Knöchel waren weiß verfärbt und seine Armmuskeln angespannt. Er schluckte und begegnete meinem Blick. Man sah ihm an, wie nahe ihm Elsas Situation ging.

Ich stoppte die Aufzeichnung und richtete mich wieder an Fynn.

»Deinem Geschwisterchen geht es gut. Und ich bin mir sicher, dass es sich schon sehr auf dich freut. Wenn du viel mit dem Baby sprichst, erkennt es nach der Geburt gleich deine Stimme.«

Fynn nickte eifrig, immer noch dieses kindliche unbefangene Strahlen im Gesicht.

»Gehen wir jetzt Eis essen?« Fynn blickte zu Liam, der immer noch wie versteinert wirkte. Blinzelnd sah er zu seinem Neffen.

»Klar, habe ich ja versprochen.«

»Yeah!« Fynn rutschte vom Sofa und lief in den Flur, um sich seine Schuhe anzuziehen.

Ich packte das Gerät zurück in meine Tasche und lächelte Elsa sanft an, die sich weitere Tränen verbiss. Es zerriss mir das Herz, sie so zu sehen.

Fynn kam noch einmal zurückgelaufen, um seiner Mama einen Kuss zu geben. Gemeinsam mit Liam verließ er das Haus.

»Lass es raus«, flüsterte ich, nachdem die Tür ins Schloss gefallen und Ruhe im Wohnzimmer eingekehrt war. Ich legte meine Hand auf Elsas Oberarm und drückte ihn sacht.

Ihr gebrochener Blick huschte zu mir, bevor die Spannung aus ihrem Körper wich und sie den Kopf hängen ließ. Dann weinte sie und ließ all den Schmerz und die Trauer heraus. Es dauerte viele Minuten, bis sich ihre Atmung beruhigt hatte und ihr Körper nicht mehr von Schluchzern geschüttelt wurde.

»Fynn ist so tapfer«, kam es heiser von ihr. »Er hat es einfach akzeptiert, dass Oskar ausgezogen ist. Unsere Ehe lief schon länger nicht mehr gut, das hat Fynn zum Schluss leider oft mitbekommen. Eigentlich war es schon seit seiner Geburt schwierig. Oskar hatte phasenweise mit Depressionen zu kämpfen, die er aber nie ernst genommen hat. Ich glaube, dass er sich in die Arbeit geflüchtet hat, weil er gemerkt hat, dass er als Vater überfordert war. Ich habe gespürt, dass er sich in seiner Rolle unwohl fühlte, aber ich habe es ignoriert. Das war ein Fehler.«

»Es ist nicht deine Schuld, Elsa. Ihr habt euch gemeinsam für eine Familie entschieden.«

»Wir haben versucht, uns zusammenzuraufen, Lösungen zu finden. Dann wurde ich unerwartet wieder schwanger. Das war der Auslöser für unseren Streit. Oskar wollte das Kind nicht, und für mich kam eine Abtreibung nicht in Frage.« Elsas Unterlippe begann erneut zu beben. »Das Kind kann doch nichts dafür.«

Ich nickte betroffen, während ich Elsas Erzählung verarbeitete.

»Ich bin dankbar für dieses Baby, aber ich habe auch schreckliche Angst davor, mit zwei Kindern allein zu sein.«

»Du hast Liam«, erinnerte ich sie, woraufhin sie seufzte.

»Ja, und das ist auch unheimlich beruhigend. Aber Liam hat sein eigenes Leben und sollte hier nicht den Vaterersatz spielen müssen. Das kann ich nicht von ihm erwarten.«

»Das verstehe ich. Aber ich bin mir sicher, dass er das nicht macht, nur weil er sich verantwortlich fühlt. Er ist dein Bruder und will für dich da sein.«

»So war er schon immer.« Endlich lächelte Elsa wieder. Sie unterdrückte ein Gähnen, was ein Zeichen für mich war, aufzubrechen. »Danke, Alma«, sagte sie, als sie mich zur Tür brachte. »Ich weiß es zu schätzen, dass du für mich da bist. Und dann auch noch in deiner Freizeit.«

»Das mache ich wirklich gerne.« Es war nicht dahingesagt, ich meinte es ernst. Es war ein schönes Gefühl, wieder in einem Job zu arbeiten, der mich erfüllte und bei dem ich das Gefühl hatte, anderen helfen zu können. Es hatte mir gefehlt, was mir in meiner ersten Woche in Nora erst richtig bewusstgeworden war. Außerdem berührte mich Elsas Schicksal, und ich spürte eine Art Verbundenheit mit der Familie. Schließlich wusste ich, wie es sich anfühlte, verlassen zu werden. Ich bat Elsa darum, mich bis zu unserem nächsten Termin auf dem Laufenden zu halten, ob ihr das Pulver half, und verabschiedete mich.

Auf dem Weg zu meinem Auto rannte mir Fynn entgegen. Liam lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an einer geöffneten Autotür. Sie gehörte zu einem schwarz glänzenden Volvo.

»Wolltet ihr nicht Eis essen gehen?«, fragte ich überrascht.

Liam zuckte mit den Schultern.

»Fynn wollte unbedingt, dass du mitkommst.«

»Was?« Überrumpelt schaute ich zu Fynn, der mit großen Kulleraugen zu mir aufsah. Seine winzige Stupsnase kräuselte sich.

»Quatsch. Onkel Liam hat das gesagt. Aber wenn du Eis magst, kannst du mitkommen. Magst du Eis?«

Ich starrte den Jungen an, wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Mein Mund klappte auf, und ich bekam nicht mehr als ein »Ähm« heraus.