Geordnete Verhältnisse - Lana Lux - E-Book + Hörbuch
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Geordnete Verhältnisse E-Book und Hörbuch

Lana Lux

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Beschreibung

Er sagt, sie sagt – Lana Lux zeigt zwei Seiten einer modernen Tragödie.
»Eine unerhörte Geschichte! Jeder Satz ist eine mit Schmerz und Lachgas gefüllte Pistolenkugel.« (Daniela Dröscher)

Wenn man seine Heimat verlassen muss, kommt es immer darauf an, wo man landet und welche Leute man kennenlernt. Faina landet in einer deutschen Kleinstadt und lernt in der Schule Philipp kennen, einen Jungen mit Wutausbrüchen, der Pflanzen lieber mag als Menschen, sich aber sehnlichst einen Freund wünscht. Faina soll dieser Freund werden, also bringt er ihr Deutsch bei, und wie man Weihnachten richtig feiert. Er macht sie zu seiner Faina.Jahre später ist Philipp der Typ mit Eigentumswohnung und fester Freundin, und Faina steht als verlassene, verschuldete Schwangere vor seiner Tür. Er lässt sie hinein, doch zu welchem Preis? "Geordnete Verhältnisse" ist eine Geschichte über Wut und Obsession – und eine Frau, die sich weigert, zum Besitztum eines Mannes zu werden.

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Seitenzahl: 347

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Zeit:7 Std. 35 min

Sprecher:Oliver Dupont

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Das ist das Cover des Buches »Geordnete Verhältnisse« von Lana Lux

Über das Buch

Wenn man seine Heimat verlassen muss, kommt es immer darauf an, wo man landet und welche Leute man kennenlernt. Faina landet in einer deutschen Kleinstadt und lernt in der Schule Philipp kennen, einen Jungen mit Wutausbrüchen, der Pflanzen lieber mag als Menschen, sich aber sehnlichst einen Freund wünscht. Faina soll dieser Freund werden, also bringt er ihr Deutsch bei, und wie man Weihnachten richtig feiert. Er macht sie zu seiner Faina.Jahre später ist Philipp der Typ mit Eigentumswohnung und fester Freundin, und Faina steht als verlassene, verschuldete Schwangere vor seiner Tür. Er lässt sie hinein, doch zu welchem Preis? »Geordnete Verhältnisse« ist eine Geschichte über Wut und Obsession — und eine Frau, die sich weigert, zum Besitztum eines Mannes zu werden.

Lana Lux

Geordnete Verhältnisse

Roman

Hanser Berlin

Für Rosalie und Konstantin

PHILIPP

1

Als ich am 3. März 1996 zehn Kerzen auf meiner halb gefrorenen Coppenrath & Wiese-Geburtstagstorte auspustete, wünschte ich mir einen besten Freund. Ich hatte diesen Wunsch schon das letzte und vorletzte Jahr gehabt. Ja, im Grunde, seit ich denken kann. Ich weiß nicht, ob ich an seine Erfüllung noch glaubte oder es mir nur gewohnheitsmäßig wünschte, aber ein halbes Jahr später sollte er wahr werden.

Ich war zehn Jahre alt und zum zweiten Mal in der dritten Klasse einer katholischen Grundschule, die sich das Gebäude mit einer evangelischen Grundschule teilte. Der Unterschied war mir damals nicht so klar und es wurde in der Schule nicht viel Wert darauf gelegt, ihn herauszuarbeiten. Auf dem Pausenhof vermischten sich alle und es fiel nicht auf, wer katholisch war und wer evangelisch, sondern nur, wer keins von beidem war. Die türkischen und arabischen Kinder nämlich. Dann gab es noch die jugoslawischen Flüchtlingskinder, die nur dann auffielen, wenn sie in ihrer Sprache redeten, was sie ja auch hätten lassen können, wenn sie nicht auffallen wollten. Wer aber immer unfreiwillig auffiel, sich von allen unterschied und zu keiner Gruppe gehörte, war ich — das einzige rothaarige Kind der Schule. Mit Rot meine ich kein rötliches Blond und auch kein rötliches Braun. Ich meine wirklich leuchtend rot.

Beliebt machten mich die roten Haare garantiert nicht, bekannt jedoch schon. Jeder fühlte sich dazu berufen, sich einen Spitznamen für mich auszudenken — Feuerwanze, Streichholz, Karotte, Pumuckl und sogar Pippi Langstrumpf, was für mich als Junge eine doppelte Kränkung war.

Meine Sommersprossen waren nicht nur auf der Nase, nicht nur im Gesicht, sondern am ganzen Körper. Ich war viel kleiner als andere Kinder und trug entgegen der bunten Neunziger-Jahre-Kindermode ausschließlich schwarze Klamotten. Als wäre das alles nicht genug, war ich bei der Einschulung immer noch nicht trocken. Wie viel Spott ich mir damit einhandelte, brauche ich hier nicht auszuführen. Kinder sind grausam. Dementsprechend hatte ich weder Bock auf die Kinder noch auf die Lehrer oder den Unterricht.

Im Kindergarten muss es auch schon so zugegangen sein. Nicht dass ich mich im Detail daran erinnern könnte, aber in meiner Familie wird immer noch erzählt, wie ich die anderen Kinder anspuckte, mit Steinen nach ihnen schmiss oder ihnen mit der Faust ins Gesicht schlug. Grundlos habe ich das bestimmt nicht getan. Die müssen mich gequält haben, anders kann ich es mir nicht erklären.

In meinen diffusen Erinnerungen an mich als Kleinkind bin ich aber tatsächlich oft wütend. Ich weiß noch, wie sich mein Mund öffnete und ich so laut und so lange brüllte, bis ich ganz heiser war. Es gibt sogar zwei Fotos, auf denen ich mit aufgerissenem Mund, zusammengekniffenen Augen und geballten Fäusten dastehe. Alle waren sie überfordert mit mir. Immer gab es irgendwelche Strafen und Drohungen. Ich kann mich erinnern, wie meine Tante Martha mich die Treppe hochzerrte und immerzu wiederholte: »So nicht, Freundchen, so nicht! Du wirst so lange auf deinem Zimmer bleiben, bis du dir deiner Schuld bewusst bist.« Dabei schlossen sich ihre Finger so fest um meinen Oberarm, dass ich blaue Flecken davontrug.

Der häufigste Satz, an den ich mich aus meiner frühen Kindheit erinnern kann, ist: »Geh und entschuldige dich bei den Mädchen.«

Tante Martha hatte nämlich noch zwei eigene Kinder. Mädchen. Die eine vier Jahre älter als ich, die andere ein Jahr jünger. Immer waren sie gut und ich böse. Ständig sollte ich mich entschuldigen oder mir ein Beispiel an einer von ihnen nehmen. All das laute Geschimpfe war jedoch nicht so wirkungsvoll wie Tante Marthas geflüsterte Drohung: »Sieh dich vor, Philipp, der liebe Gott sieht alles und eines schönen Tages wird er dich bestrafen.«

Einmal habe ich gehört, wie sie zu ihrem Mann, meinem Onkel Peter, sagte, sie habe schon immer gewusst, dass rote Haare mit einem bösen Charakter einhergehen. »Quatsch«, sagte er, »der ist einfach ein dummes Blag.« »Doch, doch«, sagte sie, »schon der Volksmund sagt, rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Volksgenossen.«

Ich kam als Baby zu Tante Martha, der älteren Schwester meiner Mutter. Ihre erste Amtshandlung war, mich katholisch zu taufen. Ohne die Zustimmung meiner Mutter, wohlgemerkt. Ich will aber nicht nur schlecht über sie reden, sonst entsteht der Eindruck, ich sei nachtragend und undankbar. Das bin ich natürlich nicht.

Auch wenn es offensichtlich ist, dass sie mich nur aufgenommen haben, um ihre Wohltätigkeit zu demonstrieren, will ich nicht leugnen, dass sie ein großes, ordentliches Haus hatten, wo ich ein eigenes Zimmer bekam, wo es jeden Tag frisch gekochtes Essen gab, wo man dafür sorgte, dass Kinder an die frische Luft kamen, wo es Haustiere gab, geschmückte Tannen an Weihnachten, bemalte Eier zu Ostern und hübsch eingepackte Geschenke und selbstgebackenen Kuchen zum Geburtstag. Es wurde uns jeden Abend vorgelesen, es gab am ersten Sonntag im Monat ein Hauskonzert und im Sommer eine Fahrradtour durch Österreich. An die meisten dieser löblichen Dinge erinnere ich mich wie gesagt nicht bewusst. Aber sie sind wahr. Nicht nur weil alle das so bestätigen, sondern auch wegen der Fotos. Als ich fünfeinhalb war, tauchte meine Mutter regelmäßig und nüchtern auf und versprach mir, dass ich bald zu ihr ziehen dürfe. Aus diesem Anlass hatte Tante Martha mir das Fotoalbum erstellt. Vermutlich um sicherzugehen, dass ich mich für immer daran erinnere, wie sehr ich in ihrer Schuld stehe. Anders kann ich mir zum Beispiel das »Schreifoto« in dem Album beim besten Willen nicht erklären.

Ein paar Wochen nach meinem sechsten Geburtstag war es endlich so weit. In meiner Erinnerung war es ein sonniger Frühlingstag, als Mama ihren dunkelblauen Golf vor dem Gartentor parkte und ich mit Sack und Pack einstieg.

An dem Tag trug sie eine lilafarbene Lederjacke mit Schulterpolstern und Fransen an den Ärmeln, eine enge hellblaue Jeans, einen wilden Vokuhila und große goldene Ohrringe. Sie sah aus wie die Frauen im Fernsehen.

Ich rannte runter und wurde von ihr hochgewirbelt und geküsst, dann rannte ich wieder nach oben, um nachzusehen, ob ich wirklich alles mitgenommen hatte. Ich hatte nämlich nicht vor zurückzukommen.

Tante Martha lief mir nach, hielt mich am Oberarm fest, wie sie es immer tat, und kniete sich vor mich.

Ich sei bei ihnen immer willkommen, sagte sie, und wenn meine Mama wieder trinken und böse werden sollte, könne ich zurückkommen und sie würde mir wieder das Zimmer herrichten.

»Meine Mama ist aber nicht böse, sondern du«, habe ich geschrien und bin wieder runtergerannt.

Gegensätzlicher als Mama und meine Tante Martha können Geschwister vermutlich nicht sein. Abgesehen von Äußerlichkeiten, dem Rauchen und Fluchen sowie dem breitbeinigen Sitzen, war meine Mutter keine Katholikin, dafür aber Vegetarierin. Sie sagte, Gott ist tot und Religion der größte Mist. Sie sagte auch, Menschen sollen lieber anbeten, was um sie herum ist, die Natur und den Planeten. Trotzdem musste ich weiterhin auf die katholische Grundschule gehen, bei der mich Tante Martha angemeldet hatte.

2

Ich war also zehn und zum zweiten Mal in der Dritten. Die Sommerferien waren seit zwei Wochen vorbei, was ich nicht mal richtig bedauern konnte, denn Mutter hatte einen neuen Typen angeschleppt, und zusammen hatten sie mir die Ferien ganz schön vermiest.

Dennoch fand ich die Veranstaltung beim zweiten Mal erwartungsgemäß nicht gerade spannender.

Also tat ich, was ich am liebsten tat, ich schaute aus dem Fenster und verfolgte das Blätterspiel der Kastanie statt den Unterricht. Manchmal war ich aber auch einfach nur müde, eine Nebenwirkung der Tabletten, die ich seit Ende der ersten Klasse gegen meine Inkontinenz nehmen musste. Damit kein Unfall passierte, hatte ich eine Uhr. Sie war blau, überall auf dem Armband stand SO4, und das Zifferblatt sah wie ein Fußball aus. Wenn andere Kinder überhaupt etwas an mir mochten, dann diese Uhr.

Alle drei Stunden war es so weit. Später sollten es vier werden. Aber es hatte einmal mit den drei Stunden Probleme gegeben, weshalb ich mich heimlich wieder auf zwei Stunden zurückgestuft hatte.

Wenn zwei Stunden um waren, ging ich aufs Klo, egal was gerade angesagt war. Das gefiel Frau Steinmeier noch weniger als meiner alten Klassenlehrerin.

»Ein so großer Junge wie du sollte doch bitte eine Dreiviertelstunde seinen Harndrang unter Kontrolle haben«, sagte sie.

Alle lachten über mich, und ich tat so, als würde mich das nicht jucken und als würde ich sie nicht alle töten wollen.

In meiner Erinnerung war es ein elendiger Montagmorgen. Alle hampelten und kreischten herum. Ich saß in meiner üblichen Pose an meinem Platz, die Arme auf dem Tisch verschränkt, der Kopf darauf, Blick aus dem Fenster. Die Kastanie war übersät mit winzigen grünen Kastanienbabys, die mich an kleine Igel erinnerten. Ich dachte über Kastanien und ihre Stacheln nach. Erst sind sie ganz weich, doch mit der Zeit werden sie hart wie Stahlnadeln, mit denen sie sich vor Fressfeinden schützen. Ich ließ meine Gedanken fließen, als sie von dem monotonen Singsang der Mitgefangenen unterbrochen wurden:

»Gu-ten Mor-gen, Frau Stein-mei-er.«

Frau Steinmeier wollte stehend begrüßt werden. Ich konnte ihr allerdings nicht mehr als meinen aufgerichteten Oberkörper anbieten.

Frau Steinmeier war steinalt. Sie hatte ordentlich frisierte graue Haare und die Falten auf ihrer Oberlippe und ihrem Kinn bildeten ein Gitter, hinter dem das starre Lächeln ihrer schmalen Lippen gefangen zu sein schien. Sie trug ein blaues Kleid mit Sonnenblumen darauf und hatte drei echte Sonnenblumen in einer Vase dabei, die sie auf dem Lehrerpult platzierte. Neben ihr stand ein neues Kind. Es hatte schulterlange, leuchtend rote Locken und trug ein schwarzes T-Shirt zu schwarzen Shorts. In den Händen hielt es einen roten Rucksack mit einem Adidas-Logo und der Aufschrift »Adibas«. Ich las es dreimal, weil ich es gewöhnt war, alles dreimal lesen zu müssen, bis es einen Sinn ergab, aber diesmal lag es nicht an mir.

»Das ist Faina«, sagte Frau Steinmeier. »Sie kommt aus Russland und kann noch nicht so gut Deutsch. Faina, willst du dich vorstellen?«

Das Kind schaute zu Boden, dann schaute es Frau Steinmeier an und sagte: »Nein, danke!«

»Doch, bitte!«, sagte Frau Steinmeier und hob die Augenbrauen.

Das Kind holte tief Luft und hauchte wunderschön falsche Sätze aus: »Gutehn Tag! Iech bien Faina. Iech bien zehn Jahre alt. Iech kommen aus Ukraine. Iech wohnen seit vier Monatee ien Deutschland.« Danach war es knallrot im Gesicht und sah aus, als würde es gleich losheulen.

Es sollte sich auf einen freien Platz setzen, und der einzige freie Platz war neben mir. Das russische Mädchen setzte sich, und mir stieg ein Erdbeergeruch in die Nase. Kaum hatte sie sich gesetzt, sollten wir uns für das Vaterunser erheben. Ich schielte zu ihr rüber. Sie betete nicht mit. Dann sollten wir uns setzen und unsere Mathebücher rausholen. Das russische Mädchen hatte keine Bücher.

»Kannst bei mir reingucken«, sagte ich, was sehr untypisch für mich war.

Als sie den Kopf zu mir drehte, sah ich, dass ihre grünen Augen von dichten roten Wimpern umrandet waren. Ihr Gesicht sah meinem so ähnlich, dass ich das Gefühl hatte, in einen Spiegel zu schauen. Sie lächelte, griff mit der Hand hinters Ohr und holte einen rosafarbenen Klumpen hervor, den sie sich gleich in den Mund steckte und zu kauen begann, wodurch der Erdbeergeruch umso stärker wurde.

In der Pause stürmten alle Mitgefangenen hinaus, als würden sie den freien Himmel zum letzten Mal sehen dürfen. Wie schon in meiner alten Klasse hatte auch hier jeder von ihnen eine passende Gruppe für sich gefunden.

Die ordentlichen Mädchen sprangen unermüdlich über ihren Gummitwist oder die langen Springseile, wobei sie das Gehopse mit einem nervtötenden Singsang begleiteten: »Teddybär, Teddybär, dreh dich um, Teddybär, Teddybär, mach dich krumm.«

Die coolen Jungs ballerten mit aller Wucht auf einen Fußball. Die weniger coolen Jungs spielten mit den weniger ordentlichen Mädchen Fangen. Mädchen gegen Jungs, versteht sich. Die jugoslawischen Flüchtlingskinder waren ernst und ruhig. In den Pausen standen sie im Kreis mit den drei Jugo-Kindern aus meiner alten Klasse und unterhielten sich wie Erwachsene. Sie fand ich am interessantesten, aber zu ihnen konnte ich natürlich nicht gehen, weil ich ja kein Jugo war.

Ich saß meistens alleine auf der Treppe und las. Oder zumindest versuchte ich es. Ich wollte so gerne schnell und flüssig lesen können. Aber es wollte mir mit zehn Jahren immer noch nicht gelingen. Meine Augen fixierten nur einzelne Wörter, ich verlor die Zeile, je mehr ich mich konzentrierte, desto schneller ermüdete ich und machte Fehler, wodurch ich mit demselben Satz immer wieder von vorne beginnen musste. Für gewöhnlich schaffte ich in der gesamten Pause etwa eine Seite.

An diesem besagten Montag saß auch das russische Mädchen auf meinen Treppenstufen. Obwohl es strengstens verboten war, hatte sie ihren Adibas-Rucksack mit auf den Hof genommen. Ich sah, wie sie den Reißverschluss aufzog und eine Apfelsaftpackung herausholte. Der obere Teil des Tetra Paks war abgeschnitten und die Seiten des Kartons waren nach innen gefaltet. Das Ganze wurde von zwei Gummis gehalten. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht loszulachen.

Faina entfernte die Gummis, öffnete die Verpackung und holte ein labbriges Etwas heraus, das mich an Reibekuchen oder Frikadellen erinnerte. Sie biss ab und ihre rechte Backe plusterte sich auf, als sie zu kauen begann.

Dann drehte sie, immer noch kauend, den Kopf zu mir, zeigte mit dem Finger auf mich und dann auf ihre halbe Apfelsaftpackung und fragte mit vollem Mund: »Du wollen?«

Ich glotzte sie an und sagte erst mal gar nichts. Einerseits, weil mir vorher noch nie jemand etwas von seinem Essen angeboten hatte. Andererseits, weil das, was sie da aß, nicht gerade appetitlich aussah.

»Was ist das?«, fragte ich etwas unsicher.

»Oladuschki«, sagte Faina und zuckte entschuldigend oder verlegen mit den Schultern.

»Ist das mit Fleisch?«, fragte ich.

»Fleisch? Nein!«, sagte Faina.

»Kein Fleisch?«, fragte ich nochmal.

»Fleisch? Nein!«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

Sie lächelte und mich durchströmte so ein warmes, wohliges Gefühl, das ich bis dahin nicht kannte. Ich hätte mir bis in alle Ewigkeit dieses sommersprossengesprenkelte Gesicht anschauen können.

»Du hast was Grünes zwischen den Zähnen«, sagte ich.

»Was?«, sagte sie.

»Was Grünes«, sagte ich und zeigte auf meine eigenen Zähne, dann auf sie. Sie wurde rot und fuhr sich bei geschlossenen Lippen mit der Zunge über die Zähne.

Ich rückte auf der Stufe etwas näher zu ihr, streckte meine Hand aus und nahm einen der »Oladuschki« aus der Apfelsaftpackung.

In Erwartung von etwas furchtbar Ekligem biss ich ab und war überrascht, dass es fast lecker war. Es waren im Grunde Zucchinibratlinge. Diese Art von Essen kannte ich von Yvon, der besten Freundin meiner Mutter. Die war auch Vegetarierin und im Gegensatz zu meiner Mutter kochte sie gerne. Außer ihr, meiner Mutter und mir selbst kannte ich damals niemanden, der Vegetarier war. Im Ruhrgebiet der Neunziger begegnete man Zeugen Jehovas und Versicherungsvertretern mit weniger Skepsis als Vegetariern.

Ich schluckte den Zucchinibratling runter und fragte: »Bist du vegetarisch?«

»Nicht schmeken?«, fragte Faina zurück.

»Doch, schmeckt!«

»Gut, ja? Meine Mama gekocht.«

Meine Mutter kochte nur Fertiggerichte, und Pausenbrote oder Ähnliches gab es auch nicht. Stattdessen gab sie mir Geld, und ich konnte mir unten im Kiosk etwas kaufen. Ich nahm immer ein halbes Brötchen mit Käse, ein Balisto und eine Capri-Sonne. Manchmal kaufte ich mir aber auch gar nichts, um das Geld zu sparen, ohne dass ich einen konkreten Wunsch hatte.

Es klingelte zur Stunde, und als ich damals hinter Faina die Treppen zum Klassenraum hochstieg, wusste ich es:

Sie war gekommen, um mein bester Freund zu werden.

3

Seitdem sind fünfzehn Jahre vergangen. Wir Kinder sind erwachsen geworden und die Erwachsenen alt, uralt oder tot.

Ich stehe an der Ampel, halte mit der einen Hand mein Handy ans Ohr und mit der anderen den Regenschirm senkrecht vor mein Gesicht, um zu vermeiden, dass der Wind sein Inneres nach außen kehrt. Ich wollte ihn gerade schließen, als das verdammte Handy in meiner Hosentasche zu vibrieren begann.

Ich telefoniere nie gerne, am wenigsten aber, wenn ich gerade bei Wind und Wetter meinen Großeinkauf nach Hause tragen muss.

Es ist nämlich der 23. Dezember, der heilige Tag vor dem Heiligen Abend, an dem überall in der Stadt die Hölle losbricht und die Leute in die Geschäfte stürmen, um sich für die nächsten drei Tage mit genug zu fressen und zu saufen einzudecken. Von der Besorgung der dämlichen Geschenke auf den letzten Drücker brauch ich gar nicht erst anzufangen.

Es ist wie gesagt Schmuddelwetter, ich habe diesen ätzenden Einkauf hinter mir, schleppe ordentlich Gewicht auf dem Rücken, will den Schirm schließen, als der verdammte Anruf kommt.

Ich frage mich manchmal, ob Tante Martha mit Absicht zu den unpassendsten Zeiten anruft, wohl wissend, dass ich immer rangehen würde. Das ist ein Impuls, den ich nicht unterdrücken kann, weil ein Anruf immer bedeuten kann, dass jemand tot ist. Aber es ist wieder mal niemand tot.

»Nein, Tante Martha, ich werde dieses Jahr wirklich nicht kommen«, sage ich, während ich schräg unter dem Schirm hervorschaue und darauf warte, nach den letzten Rechtsabbiegern rüberrennen zu können, bevor die Linksabbieger kommen. Diese kurze Pause in der Schaltung der Ampel zu nutzen, gibt mir ein gutes Gefühl. Eigentlich brauche ich noch nicht einmal auf die Straße zu schauen, um zu wissen, wann ich rüberrennen muss. Ich weiß es auch so. Ich kann die Impulse dieser Schaltung in meinem Körper fühlen.

»Aber, Philipp, an Weihnachten sollte niemand allein sein«, sagt Tante Martha.

Ja, und Mitglied in der katholischen Kirche sollte auch niemand sein, will ich ihr am liebsten antworten, sage aber stattdessen: »Ist mir egal.«

Ich höre, wie sie am anderen Ende scharf einatmet, und weiß, dass sie sich gerade an den Kreuzanhänger fasst.

»Deine Mutter, möge ihre Seele in Frieden ruhen, hätte bestimmt nicht gewollt, dass du an Weihnachten einsam bist.«

Jetzt atme auch ich scharf ein. Sie braucht mir nicht zu erzählen, was Mutter gewollt hätte und was nicht. Aber den Gefallen, jetzt wieder auszurasten, tue ich ihr nicht. Sie kann sich gerne ein neues Sorgenkind suchen, an dem sie ihre Güte auslassen kann. Ich bin jetzt erwachsen.

Der arme Schirm biegt sich unter dem Wind mehr, als es für ihn gesund ist. Gleich brechen seine Streben.

»Danke für den Anruf, muss auflegen«, sage ich. Bevor ich aber wirklich auflegen und das Handy zurück in die Hosentasche schieben kann, hat sie schon ihre Drohung ausgesprochen:

»Ich rufe dich morgen an, Junge!«

Endlich kann ich den Schirm schließen. Der Wind peitscht mir Eiswasser ins Gesicht. Ich stelle meine Augen bewusst unscharf, was mich schon als Kind beruhigt hat.

Das Rot der Ampel und das Gelb der Laternen zerfließen noch weicher und breiter auf der nassen Fahrbahn, bis an den Rand der großen schwarzen Pfütze, die von den meisten Autofahrern gemieden wird.

Ich ziehe die Gummikordel meiner Kapuze enger, klemme die Daumen unter die Träger meines Rucksacks und bringe meine Füße in Startposition. Der letzte Rechtsabbieger fährt vorbei, ich renne los, stoße mich mit dem linken Fuß ab und springe über die tiefe Pfütze auf den Bürgersteig. Diese Pfütze kenne ich schon seit meiner Kindheit, und während der Wintermonate ist sie noch nie ausgetrocknet. Auf sie ist echt Verlass.

Ich laufe weiter, über die Wiese statt auf dem Bürgersteig. Ich habe schon immer versucht, jedes Fleckchen Natur zu nutzen, das in der Stadt zu finden ist.

Wenn ich eine feste Beziehung hätte, würde ich mit meiner Freundin irgendwo aufs Land ziehen, mit eigenem Haus und Tieren. Vielleicht sogar ganz abgeschieden als Selbstversorger. Wir würden zwei Kinder haben oder mehr, wenn sie will. Es gibt ja rational gesehen keine guten Gründe für mehr als zwei Kinder, aber Frauen sind bekanntlich selten rational.

Der einzige Grund, an Weihnachten zu Tante Martha zu gehen, wäre der Garten. Ich meine, es wäre schon sinnvoll nachzusehen, ob alles gut versorgt ist. Ob zum Beispiel der Baumanstrich an den zwei Apfelbäumen und dem Walnussbaum vor dem Winter durchgeführt wurde, wie ich es angeordnet habe. Ob die Oleander vernünftig eingepackt und auf Ziegel gestellt wurden. Ob der Trompetenbaum, die Fuchsienstämmchen und die zwei Kübelhortensien in ihrem Winterquartier gegossen wurden. Solche Dinge eben. Fast alles in dem Garten ist von mir angelegt worden, da will man eben nicht, dass es verkommt. Ist doch klar. Der Hund wäre natürlich auch einen Besuch wert. Obwohl es mittlerweile ein neuer Hund ist. Es gibt noch den Kater, und zwar den alten Kater, aber der verkriecht sich immer und will seine Ruhe haben. Kann ich ihm bei der Familie wirklich nicht verübeln.

Ich laufe quer über die matschige Wiese, auf der acht riesige Bäume leben. Als ich sechs Jahre alt war und wieder bei Mama wohnen durfte, fragte ich sie, welche Bäume das sind, und sie sagte, es seien Platanen. Zu Hause wollte ich mehr über Platanen wissen, aber wir hatten noch kein Internet und Bücher über Bäume auch nicht. Am nächsten Tag ging sie mit mir in die Bibliothek und las mir über Platanen vor.

Seitdem weiß ich, dass sie bis zu 30 Meter hoch und 300 Jahre alt werden können. Wenn es im Frühling viel regnet, wachsen sie schnell, sodass ihnen im Sommer die eigene Rinde zu eng wird und sie sich häuten. Ich wollte damals wissen, ob ihnen das wehtut, und Mama sagte: »Die Menschen glauben, dass Pflanzen nichts wehtut. Aber Wachstum ist generell nur selten frei von Schmerz.«

Immer fallen mir solche Dinge ein, wenn ich irgendwo entlanglaufe. Als wären sie im Boden der Stadt gespeichert, und wenn ich zufällig auf die richtige Stelle trete, geht eine Pop-up-Erinnerung in meinem Kopf auf.

Jetzt wieder so ein Pop-up: »Immer bei euch Regen.« Das hat Faina oft gesagt, als wir noch Kinder waren. Ich kann den Klang ihrer empörten Stimme und ihren russischen Akzent immer noch hören. Irgendwann war der lustige Akzent leider weg.

Damals hatte sie alle kurzen Vokale langgezogen, sodass aus Bitten Bieten wurde, aus einem Mal ein Mahl und aus der Hölle eine Höhle. Ich versuche mich daran zu erinnern, wann sie den Akzent verloren hat, doch es gelingt mir nicht. In der Oberstufe ist Fainas Deutsch jedenfalls schon ohne Akzent und grammatikalisch perfekt gewesen.

Vielleicht habe ich Faina so verloren wie sie ihren Akzent. Vielleicht lag es gar nicht an dem Streit. Vielleicht passierte es schleichend. Ein Tag reihte sich an einen scheinbar identischen Vortag. Die Veränderungen waren so klein, so unbedeutend, dass sie niemandem auffielen. Irgendwann hatte sie keinen Akzent mehr und war auch nicht mehr meine Faina.

Eigentlich ist es ihr Schirm. Sie hat ihn dagelassen, als sie vor anderthalb Jahren im Streit weggegangen ist. Es war im Sommer 2009. Zwei Jahre nach dem Abi. Ich war plötzlich reich und Faina war endlich Single und das Leben schien gut zu sein, bis sie alles zerstörte.

In den dreizehn Jahren hatte unsere Beziehung mehrere Krisen erlebt, doch am Ende war ich Faina doch immer wichtiger gewesen als alles, was für die Krise gesorgt hatte. Mit alles meine ich vor allem Menschen. Wir haben uns immer alles verziehen. Aber diese eine einzige Sache genügte ihr, um den Kontakt abzubrechen. Obwohl ich ihr nur helfen wollte.

Keine Frage, der Streit danach war mies und es sind von uns beiden fiese Dinge gesagt worden, und dann war mir aus Versehen die Hand ausgerutscht. Wenn ich den Impuls hätte unterdrücken können, hätte ich es getan. Konnte ich aber nicht, weil ich als Mörder bezeichnet wurde.

Allerdings kann ein Streit, auch wenn es ein heftiger Streit ist, doch nicht das Ende einer Seelenverwandtschaft bedeuten.

Als sie damals hektisch ein paar Dinge in ihren roten Koffer warf, ihren Schlüssel inklusive des Anhängers, den ich ihr geschenkt hatte, gegen die Wand schleuderte und die Tür hinter sich zuknallte, dachte ich nur, gute Show, morgen, wenn du zurückkommst, wirst du klingeln müssen, weil du nun keinen Schlüssel mehr hast.

Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass sie einfach verschwinden würde.

Zwei Tage lang war Funkstille, dann rief ich sie an. Mailbox. Ich schrieb die erste SMS, von wegen lass uns reden und so weiter. Keine Antwort. Nachdem sie zwei Monate lang alle meine SMS und E-Mails, es waren nicht gerade wenige, ignoriert hatte, hatte ich die Schnauze gestrichen voll. Ich schmiss all ihre Sachen in Umzugskisten und brachte sie zu ihren Eltern, die drei Straßen weiter wohnen.

Ein paar Dinge hatte ich aber übersehen, und nun sind sie immer noch bei mir. Der Schirm zum Beispiel, den ich eigentlich nicht brauche, da ich eine Funktionsjacke habe.

Seitdem sind wie gesagt anderthalb Jahre vergangen. Wer so eine Seelenverwandtschaft kennt, weiß, dass sie auch dann bestehen bleibt, wenn die Person nicht anwesend ist. Das ist das Blöde. Egal wie sehr ich es versuche, ich kann einfach nicht aufhören, an sie zu denken.

»Immer bei euch Regen«, sage ich leise vor mich hin, um mich in bessere Stimmung zu versetzen. Es funktioniert. Ich wiederhole es wieder und wieder, während ich in die Königsberger Straße einbiege. Jetzt muss ich richtig auflachen, und die alte Frau, die ein Stückchen vor mir in Zeitlupe ihren Rollator an der Häuserwand entlangschiebt, dreht sich misstrauisch nach mir um. Sie hat ordentliche weiße Löckchen unter ihrer transparenten Regenhaube. Faina nannte solche Frauen Pusteblume-Omas. Als ich nochmals laut auflache, bleibt die Frau stehen und wartet, bis ich sie überholt habe. Sie hält die Griffe des Rollators fest umklammert.

Seit ich ein ausgewachsener Mann bin, ist mir aufgefallen, dass ich als eine Bedrohung wahrgenommen werde. Das finde ich lustig.

Ich gehe vorbei an der Trinkhalle 04, in der Faina und ich damals unsere ersten Zigaretten gekauft haben. Marlboro Gold. Keine Ahnung, warum ausgerechnet die.

Letztes Jahr wurde an unserem Haus eine Plakette angebracht, die besagt, B. Traven, ein Schriftsteller, Schauspieler, Anarchist und sonst wie ein toller Typ, habe hier gewohnt.

Ich hatte ein Foto davon gemacht und Faina über Facebook geschickt. Nur damit sie sah, dass unsere Stadt doch mehr war als Schalke und Bergbaunostalgie. Ich hatte gesehen, dass sie es gesehen hatte, aber geantwortet hatte sie nicht.

Ich hätte vielleicht lieber googeln sollen, wer dieser Typ eigentlich genau war, und ein kluges Zitat finden können. Faina stand auf so intellektuelles Gehabe. Um vor ihr und ihren immer wieder neuen, immer intellektuelleren Freunden nicht doof dazustehen, musste ich mich früher für lauter Themen interessieren, die mich in Wahrheit nur gelangweilt haben.

Im obersten Stock angekommen, schließe ich meine Tür auf. Die Schuhe mit Gras und Erdklumpen an den Sohlen lasse ich im Treppenhaus stehen. Ich wohne als Einziger auf dem Stockwerk, dennoch wird Herr Schadenbein bestimmt wieder hochkommen, um sich darüber zu beschweren.

Ich betrete meine schöne Wohnung und schließe die Tür hinter mir. Weil es mein Eigentum ist, habe ich mir die Freiheit genommen, zwei Wände einzureißen. Eigentlich hatte es im Affekt begonnen, als Faina weg war, aber das Ergebnis war super geworden — ein riesengroßer Raum mit Schrägen und Balken. Ich habe die Wände mit Raufaser tapeziert und mit Alpinaweiß gestrichen, Bodenheizung und darüber neue Fliesen verlegt. Ich habe mir eine Eckbadewanne mit Jacuzzi-Funktion, ein Wand-WC und ein neues Waschbecken eingebaut. Nur die Elektrik habe ich machen lassen. Alles andere habe ich mit den eigenen zwei Händen gebaut, ohne jegliche Hilfe. Selbst die Einbauküche und den begehbaren Kleiderschrank. Ich habe unsere alten Möbel verschenkt oder auf Ebay versteigert und mir alles neu besorgt. Ein zwei mal zwei Meter großes Bett, einen schicken Esstisch mit Glasplatte und vier Freischwingern, ein Big Sofa, einen Flachbild-Fernseher und ein Surround-System. Alle Dinge in meiner Wohnung sind schwarz oder weiß. Nur die Pflanzen sind grün, und ich habe sehr viele davon.

Das alles zu renovieren und einzurichten, hat fast ein Jahr gedauert. Ich habe jeden Tag bis zu acht Stunden in der Wohnung gearbeitet und bin abends todmüde auf meine Matratze gefallen. Ich habe mich wie ein Bekloppter darauf gefreut, alles endlich fertig zu haben. Ich dachte, wenn alles neu ist und ich mir ein Zuhause nach eigenen Vorstellungen erschaffe, könnte ich vielleicht, wenn schon nicht glücklich, so doch wenigstens zufrieden sein.

Jetzt ist seit einer Weile alles fertig, und ich fühle mich kein Stück besser. Im Gegenteil, nun kann ich nicht mehr schlafen. Jede Nacht liege ich mit meinem Laptop bis fünf Uhr morgens wach und surfe im Internet rum. Es läuft immer gleich ab. Auf StudiVZ lese ich mir erst sämtliche Profile meiner ehemaligen Klassenkameraden durch, dann von Leuten, die ich nur vom Sehen kenne, dann von Leuten, die ich gar nicht kenne, und amüsiere mich über deren dämliche Fotos und Profilbeschreibungen. Dann wechsle ich zu Facebook. Weil sich dort neuerdings jeder einfach so anmelden kann, scheinen gerade alle rüberzuwechseln. Natürlich auch Faina. Sie hat ihren StudiVZ-Account schon seit einem Jahr nicht mehr aktualisiert. Wenn ich erst einmal auf ihrem Facebook-Profil bin, kann ich nicht mehr aufhören, alle Bilder, Kommentare und die dazugehörigen Profile durchzuschauen.

Wer unsere Beziehung nicht kennt, könnte den Eindruck bekommen, ich würde sie stalken. Es ist aber kein Stalking, weil ihr nämlich sehr bewusst ist, dass ich mir ihr Profil ansehe. Faina ist nicht dumm. Falls sie nicht wollen würde, dass ich ihre Bilder und Statusmeldungen lese, hätte sie mich entfreundet oder blockiert. Hat sie aber nicht gemacht, sondern lediglich ihre ganzen Passwörter geändert. Und warum hat sie mich nicht blockiert? Richtig, damit sie mir ihre tollen Reisen, Partys, Freunde, ja ihr ganzes tolles Leben unter die Nase reiben kann. Siehst du, Philipp, wie gut es mir ohne dich geht?

Ich weiß nicht, warum ich mir das immer und immer wieder antue.

Wenn ich dem Impuls widerstehen könnte, ihren Account mehrmals am Tag aufzurufen, würde ich es tun. Aber ich kann nicht.

Ich habe es Sergej erzählt. Nicht alles, aber genug, damit er versteht, worum es geht. Er sagt, ich soll Faina mit ihren eigenen Waffen schlagen. Ich soll auf meinem Account auch tolle Dinge posten, damit Faina sieht, dass mein Leben genauso spannend ist. Ich soll auf Dates gehen und Fotos mit heißen Frauen posten, damit Faina merkt, was sie verpasst.

»Und vielleicht«, sagte er, »findest du sogar eine Bessere.«

Das sagt er, weil er eine Freundin hat, die wie ein Model aussieht, und er in der Oberstufe selbst in Faina verknallt war. Weil ich Fainas bester Freund war, hat er damals versucht, über mich an sie heranzukommen. Halte deine Freunde nah bei dir, aber deine Feinde noch näher, pflegte mein Opa immer zu sagen. Wenn ich es nicht zu verhindern gewusst hätte, wären die beiden bestimmt ein Paar geworden. Er sah damals nämlich schon wie ein richtiger Mann aus, mit breitem Unterkiefer, Bartwuchs und Muskeln, während ich selbst noch mager und unfertig war.

Als wir nach dem Training unser Protein tranken, fragte er mich plötzlich, was er mich wohl schon lange fragen wollte, nämlich, ob Faina und ich eine richtige Beziehung gehabt hätten.

Ich bin nicht blöd, ich wusste, was er damit meinte. Wenn Leute das fragen, dann wollen sie wissen, ob man Sex hatte. Wer keinen Sex hat, hat auch keine richtige Beziehung. Solange man sich aber gegenseitig an den Geschlechtsteilen herumfuhrwerkt, braucht es weder Gemeinsamkeiten noch Loyalität, weder Liebe noch Treue, damit es eine richtige Beziehung ist. Im Gegenteil, die Probleme und Dramen scheinen die Beziehung nur noch richtiger zu machen. Über solche Beziehungen wird lang und breit geredet, sie werden ernst genommen und sie werden priorisiert. Das weiß ich aus Erfahrung. Als Faina beispielsweise ihre richtigen Beziehungen mit irgendwelchen Trotteln hatte, ist unsere Freundschaft auf der Prioritätenliste gleich nach unten gerutscht.

Ich will ehrlich sein, ich verstehe das große Tohuwabohu um Sex nicht. Jedes Tier kann sich paaren, daran ist wirklich nichts Besonderes.

Ich bin nicht schwul, falls das jetzt so rüberkommt, und impotent auch nicht. Nur ist mir Körperkontakt an sich in den meisten Fällen extrem unangenehm, und diese Nummer mit Genitalienineinanderstecken finde ich einfach nur eklig. Von Anfang an stimmte mit mir in dieser Hinsicht etwas nicht. Ich weiß nicht, was, aber etwas scheint anders zu sein.

Ich meine, ich konnte schon immer beurteilen, welche Mädchen hübsch waren und welche nicht. Aber geil machten mich ihre Körperteile nicht. Mein Bedürfnis nach solchen Dingen ist nie übers Knutschen und Kuscheln hinausgegangen. Und auch das nur, wenn ich die Person wahnsinnig gernhab. Zugegebenermaßen gab es bis jetzt nur eine solche Person, und ich brauche nicht zu sagen, wer, das ist vermutlich klar.

Im Sommer 2004, das war der verrückte Sommer, als Faina und ich heimlich per Anhalter nach Italien gefahren sind, da haben wir es getan. Ich weiß nicht, ob das in der Form jetzt zählt, aber es war eine Erfahrung, anhand derer ich damals endgültig gesagt habe, nein, das ist wirklich nichts für mich.

Das ist jetzt aber lange her. Ich bin nicht mehr achtzehn, sondern fünfundzwanzig, und wenn es jetzt nichts mehr wird, dann wird es nie was und ich werde wie mein verrückter Onkel Hauke, ein alter Junggeselle mit zu langen Nasenhaaren und Mottenlöchern in den Pullovern, den jeder in der Familie mit einer Mischung aus Ekel und Mitleid anschaut.

Mitleid ist generell das Schlimmste. Wenn ich daran denke, jemand könnte Mitleid mit mir haben, geht bei mir gleich die Wutflamme an.

Weil Sergej meine Beziehung zu Faina ernst nehmen sollte, sagte ich: »Ja, hatten wir.« Was ja an sich keine Lüge ist. Unsere Beziehung war eine richtige Beziehung.

Während ich meine Einkäufe einräume, fällt mir auf, was ich vergessen habe. Klopapier und Eier.

Ich überlege, nochmal schnell loszuziehen, aber es würde zu lange dauern. Egal. Ohne Klopapier komme ich zur Not aus, Taschentücher habe ich genug da. Aber ohne Eier wird es schwer. Gebratene Eier brauche ich für die Seele. Es ist ein Trostessen aus Kindertagen und das Einzige, was Mutter gut zubereiten konnte. Ansonsten schaffte sie es, sogar Fertiggerichte zu vermasseln. Irgendwann, in einer ihrer Absturzphasen, habe ich die Sache in die Hand genommen und sie aus der Küche verbannt. Ich glaube, da war ich dreizehn oder vierzehn.

Ich ziehe meinen dunkelblauen Fleecepulli und die Cargohose aus und gehe in T-Shirt und Boxershorts ins Bad, wo ich die Dusche aufdrehe und das Wasser warm werden lasse. Hier ziehe ich die restlichen Sachen aus und schmeiße sie in den Wäschekorb. Im Spiegel checke ich meinen Rücken und bin froh, keine Pickel zu entdecken. Nicht dass ich vorhabe, mich heute vor jemandem auszuziehen, aber dennoch. Ich stelle mich unter die Dusche und schließe die Augen. Die Duschkabine habe ich ganz klein bauen müssen, weil neben der großen Badewanne kein Platz mehr war. Jetzt ärgere ich mich jeden Tag, weil ich darin wie in einer Kapsel stehen muss und mich kaum bewegen kann. Das Blöde ist, dass ich ausschließlich dusche und nie bade. Ich habe das Ding nur einmal benutzt, nämlich ganz am Anfang, um zu testen, ob alles dicht ist. Die Wanne steigert aber in jedem Fall den Wert der Wohnung, daher sollte ich mich eigentlich nicht ärgern. Und falls ich hier demnächst eine Freundin habe, wird sie es lieben. Frauen lieben so was.

Ich halte meinen Scheitel genau unter die Brause, sodass das Wasser gleichmäßig an mir herunterfließt und in meinen Ohren so ein Rauschen entsteht. Duschen ist eines der angenehmsten Dinge der Welt.

Ich schaue an mir runter, lasse los, spüre fließende Wärme, Erleichterung, tiefe Befriedigung, während Urin aus meinem Teil fließt. Ich glaube, alle Leute pinkeln gerne unter der Dusche, nur redet keiner darüber.

Ich dusche so heiß und so lange, bis das kondensierte Wasser die Fliesen herunterläuft. Dann steige ich aus und rubble mich trocken. Mit einer Handtuchecke wische ich die Mitte des beschlagenen Spiegels frei, der jedoch seinen nassen Schleier sofort wieder vorzieht. Ich weiß, was du brauchst, sage ich, während ich den Föhn aus der Halterung nehme, sein Kabel entrolle, ihn an der Steckdose anschließe und aufheulen lasse. Nun halte ich ihn auf den Spiegel gerichtet und sehe zu, wie sich der Schleier unter der Wärme immer mehr an den Rand zurückzieht, bis der Spiegel mir die Welt wieder mit scharfen Konturen offenbart. Ich liebe diesen Trick. Das einzig Blöde an ihm: Er kommt von Faina.

Meine Haut ist stark gerötet wie nach jedem Duschen, ansonsten bin ich zufrieden mit dem, was ich sehe. Es gibt manche, die sehen besser aus als ich, die meisten aber eher schlechter. Eins steht in jedem Fall fest, ich bin besonders, denn es gibt auf der gesamten Welt nur ein bis zwei Prozent rothaarige Menschen. Ein ganz bestimmtes Gen ist für die roten Haare zuständig. Ich habe mehrmals nachgelesen, welches Gen das ist, und es jedes Mal vergessen. Irgendwelche drei Buchstaben und eine Eins dahinter. In Irland gibt es sogar Festivals, auf denen sich nur Rothaarige treffen. Wenn ich auf Festivals gehen würde, wäre das sicher meine erste Wahl, aber ich hab es ja nicht so mit Ansammlungen von Menschen.

Ich halte meinen Rasierpinsel unter den Wasserhahn, dann lasse ich ihn über die Seife kreisen, bis genügend dichter Schaum entsteht, den ich mir als einen cremigen Seifenbart ins Gesicht pinseln kann. Jetzt kommt der entscheidende Teil, das Rasieren selbst. Ich erledige das mit einem Rasierhobel, wie die echten Männer es früher getan haben, bevor man ihnen eingebläut hat, sie bräuchten Rasierer mit viel Plastik und mindestens fünf Klingen.

Ich ziehe meinen Mund nach links, während ich die rechte Wange rasiere, und nach rechts, solange die linke dran ist, dann recke ich das Kinn nach vorne, um die untere Partie straff zu halten, schließlich ziehe ich zuerst die Unterlippe über die unteren Zähne und dann die Oberlippe über die oberen. Und voilà, ich habe mich geschnitten. Ausgerechnet heute, wo ich mir ein Date organisiert habe. Schnell klebe ich ein Stückchen Klopapier auf die Stelle, um die Blutung zu stillen.

Ich schraube den braunen Deckel des weißen Tabac-Fläschchens ab, schüttele mir etwas Aftershave in die eine Handfläche und verteile es auf die andere. Es brennt und prickelt vertraut, während ich das Zeug in mein Gesicht klopfe. Dabei fliegt das Papierstückchen von meiner Oberlippe ab und die Stelle beginnt wieder zu bluten, sodass ich gezwungen bin, ein neues hinzukleben. Hoffentlich vergesse ich nicht, es runterzunehmen, bevor ich das Haus verlasse. Wäre nicht das erste Mal.

Jetzt sind meine Fingernägel dran. Einer der größten Vorteile, mit einer Frau zusammengelebt zu haben, ist das Wissen, das man sich aneignet. Eigentlich weiß ich so ziemlich alles über Frauen. Ich weiß beispielsweise, dass Frauen viel Wert auf gepflegte Hände legen, und das bedeutet wiederum, dass die Nägel so kurz sein müssen, dass man sich weder kratzen noch einen Knoten aufmachen kann. Ich meine, ich finde es im Allgemeinen schon gut, wenn Frauen weiblich sind und Männer männlich, aber dass man gleich ungepflegt ist, wenn die Nägel ein paar Millimeter zu lang sind, das ist übertrieben, wenn man mich fragt. Aber mich fragt ja keiner.

Ich halte meine linke und dann meine rechte Hand über das Waschbecken, knipse jeweils fünf dünne Monde ab und sehe sie mir eine Weile an, bevor ich sie vom Wasser wegschwemmen lasse. Das ist so eine Macke von mir. Alles, was mal zu meinem Körper gehört hat, muss ich erst einmal genau anschauen, bevor es wegkann. Hautschuppen, Ohrenschmalz, Sperma, Haare, Fingernägel, Kot, Urin und vor allem Popel. Ich leide richtig, wenn ich beispielsweise irgendwo in der Öffentlichkeit bin und ganz akkurat mit dem Taschentuch hantieren muss und mir die Popel nicht in Ruhe ansehen darf. Aber am schlimmsten finde ich Toiletten, bei denen man sich seine Ausscheidungen nicht ansehen kann, bevor man sie runterspült. Das macht mich regelrecht verrückt. Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, über so was redet ja keiner.

Jetzt knete ich etwas Schaum in meine Locken und bin dankbar, kein Teeny mehr zu sein. Total schwul, haben Jungs aus meiner Stufe gesagt, als sie meinen Schaumfestiger sahen. Sie selbst schmierten sich ganze Hände voll Gel in die Haare, was männlich aussehen sollte. Generell das ganze Gespött, manches davon steckt mir immer noch in den Knochen.

Ich mag meine Haare. Sie gehen mir in nassem Zustand bis zum Kinn und in trockenem enden sie irgendwo am Ohr. Bei Locken ist es so, du weißt nie, wie deine Haare morgen aussehen werden, die machen, was sie wollen.

Immer wieder hoffe ich, dass es an den Lichtverhältnissen in meinem Bad liegt, aber ich werde den Eindruck nicht los, dass meine Haare vorne und am Oberkopf stetig dünner werden. Mit fünfundzwanzig kann das ja eigentlich gar nicht sein, aber ich spüre es irgendwie.

Nun kommen wir zu der Kleiderfrage. Mit Kleidung ist es so: Wenn ich allein bin, ist es mir scheißegal, was ich anhabe. Dieses Getue vonwegen, das mache ich für mich selbst, kaufe ich sowieso niemandem ab, aber wenn ich unter Leute gehe, dann will ich gut angezogen sein. Und da bin ich ganz ehrlich, gut angezogen bedeutet für mich, dass die anderen mich sehen und sich denken: Ja, der weiß, was man heute trägt, der ist gut angezogen. Wenn es um jemand Neuen geht, ist es umso wichtiger. Der erste Eindruck hat ja bekanntlich keine zweite Chance.