Gepäckschein 666 - Alfred Weidenmann - E-Book + Hörbuch

Gepäckschein 666 E-Book und Hörbuch

Alfred Weidenmann

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Beschreibung

Der Klassiker unter den Jugendkrimis jetzt endlich auch als eBook! Als Peter, der neue Page im Hotel Atlantic, einen Koffer aus Amerika vom Bahnhof abholen soll, kommt es zu einer folgenschweren Verwechslung: Der Beamte hält den Gepäckschein falsch herum – und so ist Peter auf einmal im Besitz eines Koffers, in dem die Beute eines Bankraubs versteckt ist! Mit der Hilfe sämtlicher Schuhputzerjungen der Stadt kommt er dem Bankräuber auf die Spur. Allerdings ist der ihnen selbst schon auf den Fersen ...

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Seitenzahl: 382

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Zeit:4 Std. 49 min

Sprecher:Martin Baltscheit

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Einem Bankdirektor vergeht das Lachen

»Schuhe putzen gefällig?«, fragte Peter Pfannroth höflich, als ein ziemlich dicker Mann in einem Regenmantel auf ihn zukam.

»Was denn sonst? Wenn ich Hustensaft will, geh ich in die Apotheke«, brummte der Dicke und setzte sich umständlich in einen der beiden Drehstühle, der noch frei war.

»Dass du mir mit deiner verdammten Schuhcreme nicht auf meine Socken kommst!« Der Dicke stellte jetzt seine Füße wie zwei Handkoffer vor sich auf den Schemel und zündete sich eine Zigarre an.

»Gestatten Sie, dass ich Ihre Hosenbeine hochkremple?«

Der Dicke gab keinen Ton von sich. Er hüllte sich in dichte Rauchwolken und sah zu dem freien Platz hinüber, der vor dem Bahnhof lag.

»Danke schön«, sagte Peter trotzdem und schlug die Hosenenden nach oben. Dabei sah er neben sich zu einem zweiten Jungen. Dieser zweite Junge hatte strohblonde Locken, war dünn wie ein Brett und hieß Emil Schlotterbeck. Er polierte gerade die Schuhe eines Taxichauffeurs.

»Natürlich wieder eine Baustelle! Als ob wir nicht schon genug davon hätten! In dieser Stadt fällt man ohnehin nur noch von einem Loch ins andere. Lauter Baustellen!« Der Dicke kaute grimmig an seiner Zigarre, paffte den Rauch aus wie eine alte Dampflokomotive und sah immer noch zum Bahnhofsplatz hinüber.

Tatsächlich waren dort zwei große Lastwagen angefahren, direkt vor dem Eingang der U-Bahn und gegenüber dem neuen Gebäude der Internationalen Handels- und Creditbank.

Vorerst wurden allerdings nur eine Menge Bretter und Holzplatten abgeladen.

»Jetzt dauert’s nicht mehr lange, und sie reißen die alten Pflastersteine raus, als ob’s Unkraut wäre«, brummte der Dicke.

»Vielleicht ist’s aber auch nur Brennholz für die Handels- und Creditbank«, wagte Emil einzuwerfen. Sein Taxichauffeur, den er gerade fertig bedient hatte, war in seinem Drehstuhl eingeschlafen. Vermutlich hatte er Nachtdienst gehabt. »Von wegen Brennholz. Mach doch die Augen auf!« Der Dicke zeigte mit seiner Zigarre zu den beiden Lastwagen hinüber.

Und dort wuchsen jetzt wirklich schon regelrechte Gerüste in die Luft. Gerüste wie kleine Türme.

»Sie haben recht«, gab Emil zu. »Es handelt sich wohl doch um eine Baustelle.«

»Ich hab so ziemlich immer recht«, sagte der kleine Dicke kurz und zog an seiner Zigarre. Dabei sah er jetzt auf seine Schuhe und sein Gesicht wurde immer freundlicher dabei.

»Nicht schlecht«, lobte er, »die glänzen wie neu.«

»Dabei kriegen sie erst noch den letzten Schliff!«, stellte Emil fest. Er hatte sich gemütlich zurückgelehnt, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, und sah zu, wie Peter jetzt Schwung holte. Ein paarmal ging es blitzschnell über die linke, dann über die rechte Schuhspitze. Und dann kam es zum Schluss und als Höhepunkt sozusagen: Das Poliertuch flog in die Luft, schlug einen regelrechten Salto und landete mit einem deutlichen Knall wieder in Peters Händen.

»Das war’s, mein Herr«, Peter grinste und verneigte sich.

»Wirklich – nicht schlecht – vor allem der Knall am Schluss. Was habe ich zu bezahlen?«

»Einen Groschen pro Schuh. Macht zwanzig Pfennige«, sagte Peter.

»Und für den Knall einen Groschen dazu, macht dreißig«, lachte der Dicke jetzt und zahlte.

»Es freut uns sehr, dass Sie zufrieden sind«, bedankte sich Peter.

»Beehren Sie uns bald wieder!«, fügte Emil Schlotterbeck hinzu.

»Aha, die Herren sind Kompagnons?«, fragte der Dicke und knöpfte an seinem Regenmantel.

»Sehr richtig. Und das hier ist unsere gemeinsame Kasse, wenn’s beliebt«, grinste Peter und warf die drei Groschen in eine Zigarrenkiste. »Uruguay Brasil« stand in Goldbuchstaben auf ihrem Deckel.

»Na, dann wünsche ich gute Geschäfte«, meinte der Dicke noch, dann tauchte er im Menschenknäuel der Bahnhofstraße unter.

»Ob ich ihn nicht doch wecke?«, fragte Emil und sah zu seinem schlafenden Taxichauffeur. »Vielleicht versäumt er was…«

»Lass ihm noch zehn Minuten«, schlug Peter vor und holte eine Rolle Orangenbonbons aus der Tasche. »Willst du?«

Emil bediente sich.

Jetzt standen die beiden, ihre Orangenbonbons lutschend, an die zwei Steinsäulen gelehnt, zwischen denen sie ihre Drehstühle platziert hatten. Das war gleich links am Eingang der Bahnhofshalle, einen halben Meter über dem Bürgersteig auf einem breiten Treppenabsatz.

Es gab genau fünfundzwanzig Schuhputzerjungen in der Stadt, weil es genau fünfundzwanzig Ecken gab, an denen gearbeitet werden durfte.

Damit es keinen Streit gab, hatten sich die fünfundzwanzig regelrecht organisiert. Neuaufnahmen gab es nur, wenn einer der Jungen eine Lehrstelle antrat oder aus irgendeinem anderen Grunde ausschied. Das war dann auch die einzige Möglichkeit, um einen weniger günstig gelegenen Arbeitsplatz gegen einen besseren einzutauschen. Denn ein Neuer musste sich natürlich erst mal mit der schlechtesten Ecke zufriedengeben.

Das Revier am Hauptbahnhof war natürlich das beste, schon weil dieser Hauptbahnhof mitten im Zentrum der Stadt lag. Aber schließlich war Peter Pfannroth ja auch der Chef der Jungen und Emil Schlotterbeck sein Stellvertreter.

Auf dem Bahnhofsplatz fuhr jetzt ein dritter Lastwagen vor. Ein paar Männer machten sich sofort an der Laderampe zu schaffen und turnten dann hoch. Sie schienen es höchst eilig zu haben.

»Aber mit Baustelle hat das nichts zu tun«, überlegte Emil Schlotterbeck.

»Ganz deiner Meinung, Sheriff. Noch ’nen Orangenbonbon?«

Emil griff zu, ohne seinen Blick von dem neuen Lastwagen zu lassen.

»Mal abwarten, was sie ausladen«, sagte Emil. Unter den Jungen hieß er Sheriff, so, wie Peter ihn gerade genannt hatte. Das kam von Emils Begeisterung für Wildwestfilme.

Allerdings musste der Held dieser Filme immer ein Sheriff sein. Ein Mordskerl, vor dem die gefährlichsten Gangster schon türmten, wenn nur sein Schatten um irgendeine Ecke bog. »Du, das sind Scheinwerfer«, sagte Peter.

»Sieht so aus«, bestätigte der Sheriff.

Tatsächlich wurden drüben aus dem neuen Lastwagen jetzt sehr vorsichtig riesige schwarz lackierte Leuchten ausgeladen und auf dem Boden abgestellt.

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe«, sagte in diesem Augenblick eine Stimme. Die Stimme gehörte Herrn Schimmelpfeng, der nebenan in der Bahnhofshalle das kleine Blumengeschäft hatte. Er war Junggeselle, kam jeden Morgen so um die gleiche Zeit und las, während ihm die Schuhe geputzt wurden, immer die Sportseite vom 8-Uhr-Blatt.

Aber heute musste Herr Schimmelpfeng zuerst eine Neuigkeit loswerden. »Interessiert euch wohl auch, was das da drüben zu bedeuten hat?«

Er nahm grinsend Platz und Peter krempelte ihm sorgfältig die Enden seiner Hosenbeine hoch.

»Wenn Sie es nicht wissen, weiß es niemand«, sagte Emil und kam einen Schritt näher. Der Sheriff wusste ganz genau, wie empfänglich Herr Schimmelpfeng für Schmeicheleien war. Der Blumenhändler ging auch prompt darauf ein. Er machte allerdings noch eine eindrucksvolle Pause, holte tief Luft, aber dann sprudelte er los: »Es soll gefilmt werden! Einer von den Leuten, die drüben die Lastwagen abladen, hat es vorhin am Kiosk erzählt, als er sich eine Packung Zigaretten holte.«

So, das war’s. Herr Schimmelpfeng lehnte sich in seinen Drehstuhl zurück und sah die Jungen an, als habe er gerade einen doppelten Salto geschlagen.

Drüben auf dem Bahnhofsplatz hielt in diesem Augenblick ein geschlossener Lieferwagen. Er war rundum himmelblau lackiert. Auf seinen Seiten stand in zitronengelber Schrift »Global-Film«.

Peter und der Sheriff waren sprachlos, zumindest für einen Augenblick. Natürlich ließen sie jetzt kein Auge mehr von den Filmleuten drüben. Dort war man gerade dabei, die ausgeladenen Scheinwerfer an dicken Tauen auf die Holzgerüste zu heben.

»Und – und um was geht es?« Peter hatte sich zuerst wieder gefasst.

»Vermutlich handelt es sich um einen Kriminalfilm. Man will einen Banküberfall drehen. Drüben vor der Internationalen Handels- und Creditbank. So etwas Ähnliches will wenigstens der Würstchenverkäufer gehört haben. Wenn es so weit ist, komme ich mal rüber. Von hier aus übersieht man das Ganze ja wie vom besten Tribünenplatz aus.«

»Tribüne« war vermutlich so etwas wie ein Stichwort für Herrn Schimmelpfeng. Er erinnerte sich an die Sportseite vom 8-Uhr-Blatt und fing auch schon an zu lesen. Was er an Neuigkeiten zu vermelden hatte, war ja ohnehin gesagt.

»Natürlich der Schiedsrichter–«, brummte es schon nach zwei, drei Minuten hinter Herrn Schimmelpfengs Zeitung, »jetzt soll ausgerechnet der Schiedsrichter schuld gewesen sein. So ein Unsinn! Aber die Zeitungsschreiber haben ja von Tuten und Blasen keine Ahnung!«

Peter und Emil grinsten sich an und wiederholten im Chor: »Von Tuten und Blasen keine Ahnung! Sehr richtig, Herr Schimmelpfeng!«

Dabei wachte der Taxichauffeur auf. Er blinzelte kurz nach links und rechts, nach oben und unten, dann zahlte er sehr schnell seine zwei Groschen und rannte los, ohne ein Wort zu sagen.

Herr Schimmelpfeng war beim Bericht über die gestrige Boxmeisterschaft im Schwergewicht angelangt, als Peter mit seinem Poliertuch knallte.

»Der Tiefschlag in der sechsten Runde setzt dem Fass die Krone auf!«, schimpfte Herr Schimmelpfeng noch und ging mit blitzblanken Schuhen zu seinen Hyazinthen und Maiglöckchen zurück.

Die nächste halbe Stunde war ziemlich ruhig.

Kurz vor zehn Uhr kamen zwei japanische Matrosen. Sie sprachen kein Wort Deutsch und streckten nur grinsend ihre Füße von sich, als sie in den Drehstühlen saßen.

Am Bahnhofsplatz lag jetzt schon ein Gewirr von dicken Kabeln auf dem Asphalt und die Arbeiter der Filmgesellschaft bauten immer mehr Scheinwerfer auf. Die Leute blieben stehen und bildeten bereits einen Kreis um all die Gerüste und Lkws. Auf dem Dach des himmelblauen Lieferwagens war ein breitbeiniges Stativ aufgebaut worden und vier Arbeiter wuchteten an einem großen schwarzen Kasten, der offenbar ziemlich schwer war. Dieser Kasten wurde jetzt sehr vorsichtig auf das Stativ gehoben.

»Das ist bestimmt die Kamera«, sagte Peter ziemlich aufgeregt. Aber der Sheriff hörte ihn gar nicht. Er war nämlich mit dem Auftragen der flüssigen grünen Tinktur auf die Wildlederschuhe einer Dame beschäftigt. Das war eine heillos knifflige Sache und er biss sich dabei auf seine Zungenspitze.

Und jetzt bekam auch Peter wieder Arbeit.

Ein sehr eleganter Herr in dunklem Anzug und mit angegrauten Haaren setzte sich in den freien Drehstuhl. Er nahm seinen schwarzen Hut ab und grüßte so höflich, als betrete er das Finanzamt.

»Guten Morgen, die Herren.«

»Guten Morgen, Herrrr«, antworteten Peter und der Sheriff.

Dabei zogen sie das »Herr« am Ende ziemlich in die Länge und hängten ihm noch irgendeinen unverständlichen Nachlaut an. Das sollte einen Namen ersetzen, den sie leider immer noch nicht in Erfahrung gebracht hatten.

Dabei war dieser grauhaarige Herr sozusagen ein Dauerkunde, der zuweilen sogar mehrmals am Tage kam und jedes Mal mit einem Fünfzigpfennigstück bezahlte. Da er auch bei strahlender Sonne immer einen Regenschirm bei sich trug, hieß er bei den Jungen ganz einfach »Regenschirm«. Irgendwie mussten sie doch eine Bezeichnung für ihn haben.

»Stell mal das Ding so lange in die Ecke«, sagte der Herr; denn selbstverständlich hatte er auch jetzt wieder seinen Regenschirm bei sich. Peter war schon eine ganze Weile beim Putzen und Bürsten, da machte er plötzlich eine Pause und sah auf. »Wenn Sie kommen, freu ich mich immer!« So ganz aus heiterem Himmel und ohne sich etwas dabei zu denken, sagte er das.

Regenschirm hielt den Kopf ein wenig schief und lächelte. »Das ist nett«, meinte er nur.

Peter machte sich schon wieder mit seiner Bürste zu schaffen, da fiel ihm erst ein, dass man das, was er gesagt hatte, ja vielleicht auch missverstehen könnte. Bei diesem Gedanken wurde er rot im Gesicht wie ein kleines Mädchen, das beim Vorsingen plötzlich die zweite Strophe des Liedes vergessen hat.

»Verstehen Sie mich nicht falsch«, versuchte Peter zu erklären, »das hat nichts mit den fünfzig Pfennigen zu tun, die Sie uns jedes Mal geben. Es ist wegen Ihrer Schuhe. Wenn man immer nur Schuhe putzt, dann bekommen Schuhe regelrecht Gesichter. Mir geht es wenigstens so. Aber das finden Sie bestimmt zum Lachen.«

Regenschirm fand das gar nicht zum Lachen. Das sagte er aber nicht. Im Augenblick sagte er überhaupt nichts. Zuerst schaute er Peter eine Weile zu. Dann hielt er wieder den Kopf ein wenig schief und sah auch zum Sheriff hinüber, der gerade sehr sorgfältig mit einer Gummibürste an den giftgrünen Wildlederschuhen herumhantierte. Der lange Kerl hatte dabei sein Gesicht ganz dicht über den Schuhen und den Rücken gekrümmt wie eine Katze, die eine Maus entdeckt hat.

»Das geht dir mit deinen Schuhen nicht allein so«, sagte jetzt Regenschirm. »Ich kann mir denken, dass für einen Tischler Stühle und Schränke Gesichter haben, für einen Schneider Hosen und Röcke und für einen Mechaniker vielleicht sogar Autos. Wenn man seinen Beruf liebt, ist das so. Dann bekommen die Dinge, mit denen man zu tun hat, so etwas wie Leben, eben Gesichter.«

Peter dachte über das, was Regenschirm gesagt hatte, noch eine Sekunde nach. Die Unterlippe zwischen den Zähnen, wie er es immer tat, wenn ihm eine Sache nicht gleich verständlich war. Dabei ging er bereits wieder mit seinem Polierlappen über die schmalen Spitzen von Regenschirms Lackschuhen. Der freundliche, grauhaarige Herr sah ihm zu. Er suchte dabei allerdings schon in der Seitentasche seiner Weste nach einem Fünfzigpfennigstück.

Bei der Global-Film auf dem Bahnhofsplatz drängten sich die Menschen, als ob in den nächsten zehn Minuten Hundertmarkscheine ausgeteilt würden. Selbstverständlich dachte niemand daran, sich ausgerechnet jetzt die Schuhe putzen zu lassen.

Wachtmeister Blunk, der um diese Zeit Dienst hatte und bisher eigentlich immer recht gut allein ausgekommen war, bekam es heute doch mit der Angst zu tun und forderte von seinem Polizeirevier Verstärkung an. Es dauerte auch nicht lange, da eilten schon vier seiner Kollegen im Laufschritt von der Alexanderstraße her. Sie hielten mit der rechten Hand ihre Mützen und mit der linken ihre Gummiknüppel.

Der eine von den Filmleuten, mit dunkler Sonnenbrille, einer ziemlich auffallenden teuren Kaschmirjacke, einer Baskenmütze und einem sehr bunt gemusterten Wollschal, lief den Polizisten gleich entgegen und redete auf sie ein.

Peter und der Sheriff verstanden nur einzelne Worte, darunter vor allem »Kabel«, »nasses Pflaster«, »Stolpern« und so weiter.

»Bitte zurücktreten!«, riefen die Beamten und drängten die Neugierigen, deren Zahl von Minute zu Minute immer noch zunahm, gute fünf Meter zurück.

»Und bitte Vorsicht bei den Kabeln. Es besteht Stolpergefahr. Unsere Gesellschaft betont ausdrücklich, dass sie für irgendwelche Schäden nicht aufkommen wird!«, rief ganz laut und aufgeregt der Mann in der Kaschmirjacke und mit dem knalligen Wollschal. Dabei kletterte er jetzt auf das Dach des himmelblauen Lieferwagens, stellte sich allgemein sichtbar hinter das Monstrum von Kamera und brüllte ganz einfach nur: »Licht!« Hinterher pfiff er noch kurz auf einer Trillerpfeife.

Das war offenbar das gewohnte Zeichen für die Beleuchter und die anderen Filmleute, die jetzt auf den Holzgerüsten saßen. Sie schalteten an ihren Scheinwerfern herum und schon nach zwei oder drei Sekunden schoss ein Lichtstrahl nach dem anderen von der Höhe der Holzgerüste herunter. Lichtstrahl um Lichtstrahl wurde in die gleiche Richtung gebracht, bis ein großes, helles Strahlenbündel entstand. Genau im Brennpunkt dieses Strahlenbündels lag dann der Eingang zur Internationalen Handels- und Creditbank.

»Das ist Wahnsinn«, sagte Peter anerkennend. »Ob wir mal kurz–?« Peter sah seinen Kompagnon fragend an. Er hätte sich diese Filmerei doch gerne aus nächster Nähe angeguckt. So etwas gab es nicht alle Tage.

Aber da kam ein ziemlich langer und breit gewachsener Kerl in einem dunkelbraunen Ledermantel beinahe im 100-Meter-Tempo über die drei Treppenstufen herauf. Er trug eine schwarz-weiß gesprenkelte Sportmütze und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen, in Peters Drehstuhl. Dabei japste er nach Luft, als käme er nach fünf Minuten Unterwasserschwimmen in diesem Augenblick wieder an die Oberfläche.

»Die Füße hier auf den Schemel, wenn ich bitten darf«, sagte Peter so freundlich wie möglich.

Der Kerl in seinem Ledermantel saß nämlich da und ließ seine Füße baumeln, als ob er gar keinen Wert darauf legte, sich die Schuhe putzen zu lassen. Er hatte auch Peter und den Sheriff bisher kaum eines Blickes gewürdigt. Sein ganzes Interesse galt allein drüben den Vorgängen auf dem Bahnhofsplatz. Jetzt allerdings wandte er sich kurz um.

»Ja – ja – natürlich«, sagte der Ledermantel-Typ gedankenlos und stellte seine Schuhe auf den Schemel. Hellbraune Schuhe aus Schlangenleder mit Gummisohlen.

»Ich beeile mich«, sagte Peter und fing schon an zu bürsten.

»Hat Zeit«, erwiderte der Ledermantel kurz. Dabei ließ er die Filmleute und die hell angestrahlte Fassade der Internationalen Handels- und Creditbank nicht aus den Augen. Peter und der Sheriff sahen sich an. Eben hatte es der Kerl doch noch so eilig gehabt.

Aber da es offenbar doch nicht mehr auf jede Minute ankam, ließ sich Peter wirklich Zeit und sah auch immer wieder zum Aufnahmeplatz der Global-Film hinüber. Der Sheriff tat natürlich überhaupt nichts anderes mehr. Um besser sehen zu können, stellte er sich sogar auf seine Kiste mit den Bürsten, Lappen und verschiedenen Schuhcremes.

Auf dem Dach des himmelblau lackierten Lieferwagens hielt der Mann in der Kaschmirjacke gerade seinen ausgestrecktem Arm in die Luft.

»Achtung – Probe – los!«, war zu hören und dann sauste der ausgestreckte Arm nach unten.

Ganz plötzlich war es auf dem weiten Platz ruhiger als sonst. Es schien wenigstens so. Man hörte kaum noch etwas von den Straßenbahnen und den Autos. Und auch die Menschen, die dicht gedrängt standen, waren verstummt.

Alle Blicke richteten sich auf den Eingang der Internationalen Handels- und Creditbank, der im Licht der vielen Scheinwerfer aussah, als schiene die heißeste Augustsonne. Dabei war der Himmel doch bedeckt und es konnte jeden Augenblick wieder zu regnen anfangen.

Und jetzt geschah es: Eine schwere schwarze Limousine, die wohl mit laufendem Motor etwas abseits auf das Zeichen gewartet hatte, kam in einem Höllentempo angebraust. Direkt vor der Drehtür der Bank stoppte sie, dass die Bremsen nur so quietschten. Vier Männer, die schon kurz vorher die Wagentüren aufgerissen hatten, stürzten ins Freie. Sie trugen schwarze Masken und hatten natürlich schussbereite Pistolen in den Händen. In einem Sprung waren sie über den Gehsteig hinweg in der Drehtür der Bank verschwunden.

Es sah alles so echt aus, dass den Zuschauern für mehrere Sekunden die Luft wegblieb.

In diesen Sekunden schalteten die Filmleute bereits wieder ihre Scheinwerfer ab.

»Das ist der Wahnsinn!«, sagte der Sheriff.

»Wie im verrücktesten amerikanischen Gangsterfilm«, meinte Peter.

Er war für einen Augenblick aufgestanden und hatte ebenfalls zugeschaut.

»Vielleicht spielt das Ganze auch gar nicht hier, weil der Wagen eine ausländische Nummer hat.«

Da wandte sich der Kerl im Ledermantel um. Fast ruckartig. Aber er sagte nichts. Er holte sich nur eine Zigarette aus der Tasche, zündete sie an und sah dann wieder zu den Scheinwerfern und den Menschen hinüber. »Ziemlich nervös, dieser Herr im Ledermantel«, dachte Peter. Beim Anzünden seiner Zigarette hatte der Kerl zwei Streichhölzer abgebrochen. Aber was kümmerten Peter die Nerven seiner Kunden? Ihn hatten nur diese Schlangenlederschuhe zu interessieren.

Hübsche Schuhe übrigens, allerdings ziemlich verkommen. Es fehlte an der nötigen Pflege. Die Absätze waren an der Außenseite schon abgetreten und links war am gezackten Profil der Gummisohle ein ganzes Stück herausgebrochen. Ein Stück so groß wie eine Schuhcremeschachtel.

Aus der Drehtür der Internationalen Handels- und Creditbank traten die vier Männer mit ihren schwarzen Gesichtsmasken wieder ins Freie. Jetzt allerdings wie Sonntagsspaziergänger und so, als ob sie sich soeben nur ein kleines Sparkonto angelegt hätten. Sie wurden sogar von einem Herrn im schwarzen Anzug begleitet. Dieser Herr gehörte wohl zur Geschäftsleitung der Bank oder war gar ihr Direktor. Er wollte sich fast ausschütten vor Lachen, als der Mann in der Kaschmirjacke auf ihn zukam und offenbar eine sehr witzige Bemerkung machte. Zugleich gab die Kaschmirjacke dem Chauffeur irgendwelche Anweisungen und der ließ seine Limousine dann im Rückwärtsgang wieder auf ihre Anfangsstellung zurückfahren.

Der Herr von der Bank wollte sich jetzt die Aufnahme der Szene von außen mit ansehen. Er kletterte also zusammen mit dem Filmmann auf das Dach des himmelblauen Lieferwagens, immer noch sichtlich vergnügt.

»Achtung – wir drehen!«, rief jetzt eine Stimme und die Scheinwerfer flammten auf wie vorher, einer nach dem anderen, bis das Strahlenbündel wieder vollständig war. »Kamera ab!«, rief es jetzt von einem Gerüst.

»Kamera läuft!«, antwortete irgendjemand.

Und jetzt hatte der Mann in der Kaschmirjacke das letzte Wort, das heißt, eigentlich sein ausgestreckter Arm.

Der Arm sauste wieder senkrecht durch die Luft und los ging es. Wie vorhin bei der Probe kam auch jetzt wieder die schwarze Limousine im Höllentempo angerast und wieder stürzten die vier maskierten Männer durch die Drehtür der Bank.

Allerdings dauerte es dieses Mal zwei oder drei Minuten länger, bis die »Gangster« wieder ins Freie kamen. Jetzt, bei der eigentlichen Aufnahme, schienen die Filmleute ihre Sache noch ernster zu nehmen als vorher bei der Probe. Man hörte sogar ein paar Schüsse, und als kurz danach die vier Maskierten wieder sichtbar wurden, splitterte auch noch eine der großen Scheiben der Drehtür.

Dieses Mal gingen die »Bankräuber« auch nicht im Spaziergänger-Tempo, was ja wohl auch nicht der Wirklichkeit entsprochen hätte. Sie hielten sich vielmehr an ihre Rolle, die sie zu spielen hatten, und stürzten genauso schnell in ihre schwarze Limousine, wie sie kurz zuvor herausgestürzt waren. Der Chauffeur gab Gas und fast im gleichen Augenblick jagte der schwere Wagen auch schon davon.

»Aus!«, rief jemand. Das galt für die Kamera.

»Auch Scheinwerfer aus!«, rief ebenfalls jemand.

Das Licht der Strahlenbündel fiel in sich zusammen.

Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis wieder Bewegung in die Zuschauer kam. Sie hatten ja zuvor schon die Probe gesehen. Aber man war allgemein der Überzeugung, dass die eigentliche Aufnahme bestimmt noch besser gelungen war.

Als jetzt in der zersplitterten Drehtür auch noch ein Angestellter der Bank erschien und noch einer und noch einer, und als die alle zusammen laut Zeter und Mordio schrien, schlug ihnen allgemeines Gelächter entgegen. Noch echter ging’s nicht mehr! Aber wenn schon, dann hätten diese Bankleute früher kommen müssen. Jetzt waren ja Scheinwerfer und Kamera längst abgeschaltet.

Etwa in diesem Augenblick stand drüben bei Peter und dem Sheriff der Kerl im Ledermantel von seinem Drehstuhl auf. »Schon gut«, sagte er nur. Er warf Peter ein Markstück zu und rannte los.

»Ich hab ja noch gar nicht poliert!«, rief Peter ihm nach. Er hatte jetzt doch ein schlechtes Gewissen, weil er über dem Zusehen bei der Filmerei den Kunden ziemlich vernachlässigt hatte.

Aber dem Kerl im Ledermantel schien das gleichgültig zu sein. Für einen kurzen Augenblick war seine gesprenkelte Mütze noch zwischen den Menschen vor der Bahnhofshalle zu sehen, dann sprang er auf ein Taxi zu und verschwand darin.

»Komisch!«, sagte Peter und sah sich das Markstück an, das er noch in der Hand hatte.

»Prima!«, sagte der Sheriff und hielt die Zigarrenkiste auf. Da kam Herr Schimmelpfeng angerannt.

»Ist es schon so weit?«

»Mehr als das«, sagte der Sheriff seelenruhig, »sie sind gerade fertig!«

Herr Schimmelpfeng konnte es zuerst gar nicht fassen. Als er aber sah, wie man drüben die Filmgeräte schon wieder abbaute, platzte er los.

»O diese Pimpeltante!«, fauchte er wütend. Peter und der Sheriff sahen sich an. Das hatten sie noch nie gehört. Wer war das nun wieder?

»Wenn diese Person schon in meinen Laden kommt! Im Dezember verlangt sie Kornblumen und im April Winterastern. Eine halbe Stunde lang steckt sie ihre Nase von einer Rose in die andere, nur um nachher zu behaupten, es sei nichts zu riechen und man merke eben, dass alles aus dem Gewächshaus komme. Das sei bei Blumen genauso wie bei Gemüse in Dosen. Das schmecke auch immer nur nach Blech. Diese Person! Am Ende, wenn sie alles durchgerochen und schlechtgemacht hat, nimmt sie für fünfzig Pfennig eine Nelke und rauscht ab!«

Herr Schimmelpfeng war außer sich.

Aber es zeigte sich, dass er doch nicht alles versäumt hatte. Draußen auf dem Bahnhofsplatz wurde es nämlich bei den Lastwagen der Global-Film-Gesellschaft und zwischen den Holzgerüsten mit den Scheinwerfern von Minute zu Minute lebhafter. Die Menschen drängten und schoben sich plötzlich durcheinander wie ein Ameisenhaufen.

Jetzt heulte auch noch die Sirene eines Einsatzkommandos dazwischen und es dauerte nicht lange, da stoppten gleich drei Polizeiwagen an der Stelle vor dem Eingang der Internationalen Handels- und Creditbank, an der kurz zuvor noch jene schwarze Limousine gehalten hatte.

Schwupp – sprangen die Polizisten ab, rissen sich die Sturmriemen unters Kinn und zogen die Pistolen. Ein Teil verschwand durch die zersplitterte Drehtür im Innern der Bank und die übrigen verteilten sich sofort über den Platz und besetzten das Gewirr der Kabel, die Holzgerüste mit den Scheinwerfern und die Lastwagen der Global-Film, natürlich auch den himmelblauen Lieferwagen samt Stativ und Kamera.

»Zurücktreten!«

Die Menge der Neugierigen wurde nicht gerade höflich zurückgedrängt und gleich so weit, dass sich jetzt das ganze Aufnahmegerät der Filmleute mit den paar Arbeitern, die dazugehörten, ziemlich verlassen und einsam vorkommen musste. Da stimmte irgendetwas nicht! »Auf – rüber!«, sagte Herr Schimmelpfeng und rannte los.

Peter und der Sheriff sagten nichts, aber sie rannten hinterher.

Es war nicht leicht, durch die Menschenmauer nach vorn zu kommen. Aber Peter und der Sheriff schlängelten sich durch wie Aale und zogen Herrn Schimmelpfeng einfach hinter sich her. Wollte es überhaupt nicht weitergehen, sagte Herr Schimmelpfeng ganz einfach nur: »Presse!« und fuchtelte mit einer Hundesteuerkarte durch die Luft, als ob das der Ausweis des Berichterstatters einer Zeitung wäre.

Die drei hatten sich gerade bis zur ersten Reihe und bis dicht hinter den Rücken eines der absperrenden Wachtmeister durchgearbeitet, da fuhr ein schwarzer Volkswagen vor und hielt so ziemlich in der Mitte des frei gemachten Platzes. Ein kleiner, dicklicher Herr mit schwarzem Anzug und schwarzem Hut stieg aus. Er rauchte eine Zigarre und sah sich so interessiert nach allen Seiten um, dass es fast aussah, als stiege er nicht aus einem Auto, sondern aus einem Flugzeug und wisse nicht recht, ob er nun in Trinidad oder am Nordpol gelandet sei.

Der Leiter des Einsatzkommandos stürmte auf ihn zu und gab dem Herrn ganz offensichtlich Auskunft über das, was hier los war.

Herr Schimmelpfeng, Peter und der Sheriff hörten allerdings nur immer wieder, wie der Kommandoleiter ihn mit »Herr Kriminalkommissar« ansprach. Dabei nahm er gelegentlich seine rechte Hand an den Mützenrand.

Dieser Kriminalkommissar war offenbar ein sehr freundlicher Herr. Er kam jetzt immer näher auf die drei zu. Vermutlich dachte er sich im Stillen, dass Herr Schimmelpfeng, Peter und der Sheriff und wohl auch die anderen Leute ganz gern etwas von dem gehört hätten, was er jetzt mit dem Polizeioffizier besprach.

»Jawohl, Herr Kriminalkommissar, genau elf Uhr dreiundvierzig«, das waren die ersten Worte, die jetzt ganz einwandfrei zu verstehen waren.

»Alles bleibt so, wie es steht und liegt«, sagte jetzt der Kommissar. »Keiner der Angestellten dieser Filmgesellschaft verlässt vorerst den Platz. Wo ist der Chef dieser Leute?«

»Bedaure, Herr Kommissar«, der Leiter des Einsatzkommandos hatte schon wieder seine rechte Hand an der Mütze, »der … der Leiter des Ganzen soll sich Filmregisseur Müller genannt haben.«

»Müller ist immer gut«, bemerkte der Kommissar.

»Aber dieser Müller, Herr Kommissar«, fuhr der Uniformierte fort, »ist spurlos verschwunden. Allerdings liegt eine genaue Personenbeschreibung vor. Sonnenbrille, braune Kaschmirjacke–«

Der Kommissar winkte ab. Er warf den Stummel seiner Zigarre aufs Pflaster und zertrat ihn mit dem rechten Fuß. Dabei sagte er nur: »Am helllichten Tag. Eine bodenlose Frechheit!«

»Und eine unglaubliche Blamage!«, ergänzte in diesem Augenblick jener Herr von der Bank, der sich noch vor einer knappen halben Stunde vor Lachen fast ausschütten wollte. Das Lachen war ihm inzwischen allerdings vergangen.

»Ich bin ruiniert!«, klagte er jetzt und stellte sich anschließend vor. »Direktor Degenhart von der Internationalen Handels- und Creditbank. Wenn ich richtig informiert wurde, habe ich es mit Herrn Kriminalkommissar Lukkas zu tun?«

»Stimmt. Lukkas ist mein Name«, sagte der Kriminalkommissar und holte sich eine neue Zigarre aus der Tasche, eine sehr schwarze und dicke Brasil.

»Ich flehe Sie an, Herr Kriminalkommissar, kommen Sie sofort in unseren Schalterraum. Der Hauptkassierer hat soeben den Verlust zusammengezählt. Wir haben gerade Monatsende, wie Sie wissen, und sämtliche Gelder für die Lohn- und Gehaltszahlungen lagen für unsere Kunden bereit. Dieser Zufall hat der Bande–«

»Sie leben wohl auf dem Mond, Herr Direktor? Von wegen Zufall!«, brummte der Kriminalkommissar.

»Sie glauben doch etwa nicht–«, wollte der Bankdirektor aufbegehren. Aber da stockte er plötzlich und stellte kleinlaut fest: »Einhundertzweiundvierzigtausend – Sie werden es kaum für möglich halten!«

»Ich fürchte, dass ich heute noch ganz andere Dinge für möglich halten muss«, sagte Kriminalkommissar Lukkas nur. Er ließ sich von dem Polizisten, der mit seinem Rücken dicht vor Herrn Schimmelpfeng und den beiden Jungen stand, Feuer geben, dann wandte er sich dem Gebäude der Bank zu. »Gehen wir, meine Herren.«

Bis zu diesem Augenblick waren die Menschen, die diesem Gespräch folgen konnten, mäuschenstill gewesen, um ja jedes Wort aufzuschnappen.

Aber als jetzt der Kriminalkommissar mit dem Leiter des Einsatzkommandos und dem Bankdirektor über den Platz zurückging, machte sich die Spannung ganz plötzlich Luft.

Auch Herr Schimmlpfeng ließ sich sofort vernehmen.

»Für mich liegt der Fall völlig klar, meine Herrschaften…«

Peter und der Sheriff hörten eine Weile zu, dann sahen sie sich nur kurz an und tauchten ganz einfach unter. Schließlich kamen sie im Rücken der Menschenmauer wieder ins Freie, wie zwei Unterseeboote.

Jetzt dachte natürlich erst recht niemand daran, sich seine Schuhe putzen zu lassen.

Peter und der Sheriff konnten sich also getrost selber in ihre Drehstühle setzen. Sie taten es auch und streckten ihre Beine von sich.

»Willst du?«, fragte Peter mal wieder und hielt dem Sheriff den Rest seiner Orangenbonbons hin.

Der Sheriff griff zu.

Drüben in der langen Halle und draußen über dem Bahnhofsplatz lagen eine Luft und eine Stimmung wie vor einem Gewitter. Überall standen die Menschen in kleinen und größeren Gruppen beisammen und sprachen aufeinander ein.

»Das ist der–«, wollte Peter gerade sagen, da sagte der Sheriff genau das Gleiche.

»Der Wahnsinn!«, sagten sie also zusammen.

Es verging etwa eine Minute, da gab Peter seinem Drehstuhl einen Schubs, sodass er dem Sheriff gegenübersaß wie in einer Straßenbahn.

»Der Kerl mit dem Ledermantel–«, sagte Peter.

»–und mit den Schlangenlederschuhen«, sagte der Sheriff. Das war wieder so, als hätten sie das Gleiche gesagt, weil sie im Grunde schon eine ganze Weile das Gleiche dachten.

Es brauchte also gar nichts gesagt zu werden.

Jetzt sind schon die Zeitungen hinter der Sache her

In dem roten Backsteinbau der Kriminalpolizei am Sternplatz war der Teufel los, und zwar im Seitenflügel A, zweiter Stock, Zimmer 247.

Dieses Zimmer gehörte Kriminalkommissar Lukkas und die Tür zu ihm wurde bereits seit drei Stunden von den Lokalreportern sämtlicher Zeitungen förmlich belagert. Sie standen oder saßen auf den wenigen Stühlen im Treppenflur, rauchten eine Unmenge Zigaretten und unterhielten sich im Übrigen, als säßen sie in irgendeinem Café oder in ihren Redaktionsbüros.

Aber ihre Gleichgültigkeit war gespielt. In Wirklichkeit schielten sie ununterbrochen zu jener Tür mit der Nummer 247 und die Fotografen hatten ihre Apparate mit den Blitzlichtern pausenlos schussbereit, als ob jeden Augenblick der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika durch diese Tür treten könnte.

Aber die Tür öffnete sich nicht und mehr noch: Sie war von innen verschlossen.

»Jetzt sind Sie dran«, sagte gerade einer der Zeitungsleute zur Redakteurin der Morgenpost.

Man war übereingekommen, dass jede halbe Stunde ein Reporter von einer anderen Zeitung an die wartenden Berichterstatter hier draußen zu erinnern habe. Zuletzt war das Abendblatt an der Reihe gewesen.

Die Morgenpost wurde von einer hellblonden Dame in engem Kostüm vertreten. Sie ging jetzt auf die Tür 247 zu und klopfte. Nichts rührte sich.

»Es ist eine Doppeltür. Sie müssen stärker klopfen«, sagte der Lokalredakteur vom Echo.

Die Morgenpost-Dame nahm also jetzt ihre ganze zierliche Faust.

Nach zwei oder drei Sekunden hörte man, wie von drinnen aufgeschlossen wurde, und dann öffnete sich die Tür, allerdings nur zu einem schmalen Spalt. In diesem Spalt erschien ein länglicher Beamtenkopf mit einer randlosen Brille, der Kopf des Kriminalassistenten Kühnast.

»Der Herr Kommissar bittet Sie, sich noch eine Weile zu gedulden. Er wird Ihnen aber bald auf alle Fragen Rede und Antwort stehen«, sagte der noch ziemlich junge Assistent und beeilte sich hinzuzufügen: »Selbstverständlich nur, soweit es die im Gange befindliche Untersuchung des Falles gestattet.«

»Wir warten schon seit fünf Stunden!«, rebellierte der Vertreter des Nachtexpress. Er und seine Zeitung waren dafür bekannt, dass sie gerne ein wenig übertrieben.

Aber da in diesem Augenblick einer der Fotografen sein Blitzlicht abschoss, machte der Kriminalassistent ganz schnell den Spalt der Tür wieder zu. Allerdings zog er vorher seinen Kopf mit der randlosen Brille noch rechtzeitig zurück. Man konnte hören, wie von innen wieder abgeschlossen wurde.

»Wir werden hier behandelt, als wollten wir den Herren von der Kriminalpolizei Staubsauger verkaufen!«, schimpfte der Reporter des Nachtexpress.

»Sehr richtig«, sagte die Dame von der Morgenpost. Aber das nützte alles nichts.

Der Verschluss der beiden Polstertüren zu Zimmer 247 war nämlich so dicht und undurchlässig wie der Verschluss auf einem Einmachglas.

Das kann nicht wahr sein!

Wenn Kriminalkommissar Lukkas die Presseleute vorerst noch warten ließ, hatte das seinen guten Grund.

Er war ganz einfach noch viel zu perplex.

Wie sollte er den Zeitungen eine Sache glaubhaft machen, die für ihn selber völlig unglaubhaft war?

»Meine Herren, das kann nicht wahr sein! Mein klarer Menschenverstand weigert sich zu glauben, dass so viel Leichtsinn und – ich muss es schon so nennen – Dummheit auf einem Haufen möglich sind!«

Kriminalkommissar Lukkas schlug mit der flachen Hand auf die zwanzig Papierblätter, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Auf diesen Papierblättern hatte er fein säuberlich mitgeschrieben, was ihm die Zeugen bisher im Laufe der Vernehmung erzählt hatten.

Jetzt stand Kriminalkommissar Lukkas auf, nahm seine Arme auf den Rücken und sah um sich wie ein Studienrat, wenn er nach einer miserablen Lateinarbeit vor seiner Schulklasse steht.

»Meine Herren, Sie sind doch erwachsene Menschen, zum Teil in sehr verantwortlichen Positionen und wohl alle mit einiger Lebenserfahrung. Wenn ich Sie so der Reihe nach ansehe–«, Kriminalkommissar Lukkas sprach plötzlich nicht weiter und sah sich wirklich einen der Zeugen nach dem anderen an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Dabei saßen sie doch alle schon über drei Stunden vor ihm.

Da war vor allem Direktor Degenhart von der Internationalen Handels- und Creditbank. Er saß auf dem Stuhl direkt vor dem Schreibtisch des Kommissars, blickte jetzt zu Boden und biss sich wie ein kleiner Junge auf die Unterlippe.

Daneben der Hauptkassierer der Bank. Ein Mann im Alter von etwa fünfzig Jahren. Auch er sah auf den Fußboden, als sei da irgendetwas nicht in Ordnung.

In einer Reihe für sich saßen drei Beleuchter der Global-Film-Gesellschaft.

Ihren Chef, einen gewissen Herrn Michalsky, der bei den Aufnahmen gar nicht anwesend gewesen war, hatte Kriminalkommissar Lukkas im Polizeiwagen aus seinem Büro holen lassen.

Dieser Herr Michalsky hatte weißes Haar, war ziemlich klein und trug zu seinem dunkelblauen Anzug eine sehr elegante cremefarbige Weste. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und fühlte sich eigentlich ziemlich unbeteiligt. Entweder sah er auf seine blütenweißen Hemdmanschetten oder er zog gerade seine silbergraue Krawatte zurecht. Weiter hatte er im Augenblick scheinbar keine Sorgen.

In der Ecke unter einem Landschaftsgemälde standen der Chef des Einsatzkommandos, zwei Polizisten der Absperrung und ein Straßenbahnschaffner, der den ganzen Vorgang von A bis Z mit angesehen hatte.

An der Tür lehnte noch Kriminalassistent Kühnast.

»Also – Sie bleiben dabei«, sagte jetzt Kriminalkommissar Lukkas und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, »dass Sie ganz einfach auf den Trick der Bande hereingefallen sind. Ohne sich irgendetwas zu überlegen, ohne Rückfragen zu stellen, überhaupt ohne alles?«

»Die Global-Film war mir dem Namen nach bekannt«, setzte sich Direktor Degenhart zur Wehr, »und es ist ja nichts Ungewöhnliches mehr, dass man vor irgendwelchen Gebäuden Filmaufnahmen macht. Erst in der vergangenen Woche las ich in der Zeitung, dass sogar vor dem Rathaus gedreht worden ist.«

»Aber ausgerechnet einen Überfall. Hätte Sie das nicht zumindest ein wenig misstrauisch machen müssen?«, fragte Kriminalkommissar Lukkas.

»Finden Sie das gerade vor einem Bankgebäude so ungewöhnlich?«

Direktor Degenhart wagte es endlich einmal wieder, den Kopf zu heben. »So ziemlich in jedem zweiten Kriminalfilm wird eine Bank ausgeraubt.«

»Wenn ich ins Kino gehe, sehe ich mir keine Gangsterfilme an«, sagte Kriminalkommissar Lukkas und sah vor sich auf den Schreibtisch. Da saßen Peter und Paul hinter ihrer Glasscheibe und guckten ihn mit großen Augen an. Mit großen runden Froschaugen. Peter und Paul waren nämlich zwei Laubfrösche.

»Und was die Global-Film betrifft«, sagte jetzt Herr Michalsky, »so ist es durchaus üblich, dass sich fremde Produzenten bei uns Aufnahmegeräte ausleihen. Die Global-Film stellt dann selbstverständlich auch ihr Personal zur Verfügung. Ansonsten interessieren wir uns lediglich für die Zahlungsfähigkeit unserer Kunden. In diesem Falle erübrigte sich jede Rückfrage, da wir bereits bei Auftragserteilung unser Geld bekommen hatten.«

»Und was man mit Ihren Geräten aufnimmt, ist Ihnen gleichgültig?«, fragte Kriminalkommissar Lukkas.

»Völlig.« Herr Michalsky zog mal wieder an seiner silbergrauen Krawatte. »Sie müssen sich vorstellen, dass wir etwa wie eine Autovermietung arbeiten. Eine solche Firma würden Sie ja wohl auch nicht zur Verantwortung ziehen, wenn einer ihrer Wagen, anstatt ins Grüne zu fahren, von einem Kunden – sagen wir … zum Transport einer Zeitzünderbombe missbraucht würde. So etwas ist unerfreulich, selbstverständlich, aber leider nicht zu kontrollieren – wozu wir ja schließlich eine so glänzend funktionierende Kriminalpolizei besitzen.« Herr Michalsky verneigte sich ein ganz klein wenig und lächelte höflich über den Schreibtisch hinüber. In diesem Augenblick klopfte es wieder einmal von draußen an die Tür.

»Was soll ich den Presseleuten nun sagen, Herr Kommissar?«, fragte Herr Kühnast etwas hilflos und fasste nervös an seine randlose Brille.

Kriminalkommissar Lukkas nahm einen langen Zug aus seiner Zigarre und sah noch einmal nachdenklich von einem zum anderen. Schließlich kam sein Blick wieder zu den eng beschriebenen Blättern zurück, die vor ihm lagen, und blieb ganz am Ende auf dem Glas mit den Laubfröschen hängen. Peter und Paul saßen auf der höchsten Stufe ihrer kleinen Leiter.

»Es wird schönes Wetter geben«, bemerkte der Direktor der Internationalen Handels- und Creditbank. Dabei sah er wie aus großen bittenden Hundeaugen auf den Beamten hinter seinem Schreibtisch.

»Vielleicht später«, sagte Kriminalkommissar Lukkas und gab dabei seinem Assistenten ein Zeichen. »Aber zuvor, fürchte ich, müssen Sie sich wohl noch auf ein ziemliches Gewitter gefasst machen.«

In diesem Augenblick blitzte es auch schon.

Von der Tür her.

Sämtliche Zeitungsleute standen plötzlich im Zimmer und die Fotografen schossen Aufnahmen, was das Zeug hielt, ein Blitzlicht nach dem anderen.

Herr Michalsky war der Einzige, der den Ansturm lächelnd über sich ergehen ließ.

Eine solche Reklame für die Global-Film war unbezahlbar. Die Konkurrenz würde auf die Bäume klettern vor Neid.

Vater Winkelmann verteilt Schweinskoteletts und meint, am Sonntag gehe es um die Wurst

Zwei Abende in der Woche waren die Jungen bei Kuhlenkamp. Vor Jahr und Tag hatte man in dem niedrigen Gebäude Warburgstraße 12, Hinterhaus, noch Hustenbonbons fabriziert. Aber dann hatte der Hustenbonbonfabrikant Pleite gemacht und seine Räume hatten leer gestanden, über ein halbes Jahr lang, bis Paul Kuhlenkamp eingezogen war und mit ihm gleich ein Dutzend Handwerker, die sich über die Wände, Fußböden, Fenster und Türen hergemacht hatten.

In der Mitte des größten Raumes wurde ein Boxring aufgebaut und rund um ihn herum Sandsäcke, Sprossenwände und Geräte fürs Krafttraining.

Die drei Zimmer links neben dem Eingang bekamen kleine Schilder mit der Aufschrift »Privat« an ihre Türen und die gegenüberliegenden Räume wurden zu Umkleiden oder zu Duschräumen. Das alles kostete natürlich eine Menge Geld und mit dem, was Paul Kuhlenkamp auf der Sparkasse liegen hatte, wären vielleicht gerade die fünf Sandsäcke zu bezahlen gewesen, die jetzt an ihren Stricken nagelneu von der Decke hingen.

Gott sei Dank gab es da noch Herrn Winkelmann, dem die Großschlächterei Winkelmann gehörte samt ihren sieben Filialen in der Stadt.

Seine große Leidenschaft war das Boxen. Und da es auch seine einzige Leidenschaft war, stürzte er sich jeden Tag von neuem Hals über Kopf in sie hinein.

»Ist gemacht. Ich finanziere Ihnen Ihre Sportschule«, hatte Herr Winkelmann gesagt, als Peter Kuhlenkamp ganz zu Anfang zu ihm gekommen war. »Allerdings nur unter der Bedingung, dass die Räume, einschließlich Ihnen, Herr Kuhlenkamp, jeden Abend ab sieben Uhr meinen Astorianern zur Verfügung stehen!« Herr Winkelmann war nämlich beim Boxverein Astoria Erster Vorsitzender.

Tagsüber quälten sich dicke Fabrikdirektoren und Rechtsanwälte an den Sprossenwänden. Sie kamen mit ihren breiten Wagen in den Hinterhof gefahren und nahmen ihre Liegestütze und Rumpfbeugen genauso wichtig wie irgendwelche Konferenzen und Vorstandssitzungen.

Die Abende gehörten, wie vereinbart, den Astoria-Leuten, die allerdings in der Mehrzahl mit der Straßenbahn oder zu Fuß zur Warburgstraße kamen, höchstens auf Fahrrädern. Montags und donnerstags war die Jugendmannschaft an der Reihe.

Diese Jugendmannschaft von Astoria bestand fast nur aus Schuhputzerjungen. Und wer von ihnen nicht »aktiv« war, kam wenigstens als Zuschauer mit, auch heute wieder. Es war Montagabend.

Im Umkleideraum ging es drunter und drüber. Kein Wunder, wenn man sich vorstellt, dass sich siebenundzwanzig Jungen so ziemlich gleichzeitig die Schuhe ausziehen und Kleiderhaken für ihre Hemden, Hosen und Pullover suchen. In einem Raum, der nur für fünfzehn Menschen hergerichtet ist.

»Eigentlich ist das Ganze ein Witz«, sagte gerade ein Rothaariger und stieg dabei in seine Sporthose.

Natürlich war von dem Banküberfall auf dem Bahnhofsplatz die Rede. »Über hunderttausend Mark!« Ein kleiner Junge, der vorne rechts eine Zahnlücke hatte, saß auf einmal ganz still da und sah mit großen Augen hinauf zu einer der Glühlampen, die an der Decke hingen.

»Wenn ich mir das vorstelle, so wie wir unser Geld verdienen, hundertvierzigtausend Mark in lauter Zehnpfennigstücken, alles in Groschen–!«

»Das wäre ein Möbelwagen voll Geld, womöglich noch mit Anhänger«, sagte der Sheriff. Er zog sich gerade sein ärmelloses Astoria-Trikot über den Kopf.

»Die Herren werden erwartet!«, rief jetzt eine helle Stimme. Diese Stimme gehörte Fanny Kuhlenkamp. Sie war etwa vierzehn Jahre alt und hatte eine Menge heller Locken.

»Wir kommen, Admiral!«, riefen die Jungen.

Fanny und ihre Freundinnen hatten nämlich so etwas wie einen Marine-Tick und die ganze Schulklasse war aufgeteilt wie eine Schiffsmannschaft. Vom »Smutje« angefangen, hatte jedes Mädchen seine Aufgabe und seinen Rang. Dass Fanny Kuhlenkamp der »Admiral« des Ganzen war, hatte der Sheriff in Erfahrung gebracht. Er ging gelegentlich mit einer von Fannys Freundinnen Himbeereis essen, in der Eisdiele am Gänsemarkt.

Vater Kuhlenkamp wartete bereits im Trainingsraum.

»Auf Zeit!« Das war das Kommando für die erste Trainingsrunde. Die Jungen hatten sich im ganzen Raum verteilt und begannen mit Seilspringen. Man hörte jetzt nur noch das Geräusch der Seile und den Atem der Jungen, dazu allerdings noch das Ticken der Zeituhr. Jedes Mal, wenn nach drei Minuten eine Runde zu Ende war, klingelte sie. Dann gab es eine Minute Pause. Nach der Seilspringerei kam das Krafttraining an die Reihe. Jeweils eine Runde lang ging es an die Sprossenwand, an einzelne Geräte oder auf das in den Boden zementierte Fahrrad.

Vater Kuhlenkamp war früher einmal Amateurmeister im Mittelgewicht gewesen und nahm das Training verteufelt ernst. Er hatte seine Augen überall, auch in der hintersten Ecke. Allerdings, die Jungen nahmen diese zwei Abende in der Woche genauso ernst. Sonst hätten sie ja gleich zu Hause bleiben oder ins Kino gehen können.

»Handschuhe anziehen!«, kam jetzt das Kommando.

Peter stand wartend am Sandsack und der Sheriff vor einer Maisbirne.

»Auf Zeit!«

Links, links – rechts.

Links, links – rechts.

Peter schlug hintereinander linke und rechte Haken.

Endlich kam der Sandsack mit seinen zwei Zentnern in Bewegung.

»Zeit!«

»Aber Sheriff«, piepste Fanny, der Admiral, »du pustest ja schon wie der Seifenfritze!«

Der »Seifenfritze« war allgemein bekannt. Er kam jeden Montagvormittag, war der Besitzer der Bella-Gesichtsseifen-Fabrik in Lockstedt und im Übrigen so dick, dass er sich als Attraktion im Zirkus hätte zeigen können.

Der Sheriff wischte sich statt einer Antwort nur mit dem ein wenig zu großen Daumen seines Lederhandschuhs so unter der Nase vorbei.

»Man wird eben älter«, piepste die helle Stimme des Admirals noch. Dann verschwand das Mädchen hinter der Tür mit der Aufschrift »Privat«. Von dort hatte Frau Kuhlenkamp gerade nach ihr gerufen.

Keiner der Jungen hatte bisher Frau Kuhlenkamp zu Gesicht bekommen. Sie musste sehr krank sein und lag immer zu Bett. Man hörte sie nur, wenn sie einmal etwas durch die Zimmertür rief. Aber das kam sehr selten vor.

»Auf Zeit!«

Noch vier Runden, eine nach der anderen. Dann war der erste Teil des Trainings vorbei. Die Jungen legten sich ihre Handtücher über die Schultern und zogen Pullover oder Bademäntel an, was sie eben hatten.

In diesem Augenblick kam Herr Winkelmann.

Fleischermeister Winkelmann war groß und breit wie ein Kleiderschrank. Er hatte seitlich an den Schläfen und in seinem Bart schon ein paar weiße Haare.

»Ring frei!«, sagte Herr Winkelmann mit seiner lauten Stimme, lachte und schlug schallend seine Hände zusammen. Dabei gab es einen kräftigen Knall, denn jede Hand von Herrn Winkelmann war so groß wie ein zwei Pfund schweres Kalbsschnitzel. »Wie geht’s, wie steht’s?«

»Guten Abend, Herr Winkelmann«, sagten die Jungen.

»Guten Abend«, antwortete Herr Winkelmann und gab allen nacheinander die Hand, zum Schluss auch Vater Kuhlenkamp.

»Schon im Ring?«

»Wir fangen gerade an damit«, antwortete Vater Kuhlenkamp.

»Also los!«, sagte Herr Winkelmann und setzte sich mitten unter die Jungen. Die Bank quietschte etwas.

Zuerst boxte ein Lehrling von der Elektrofirma Telefunken gegen den kleinen Horst Buschke, der am U-Bahn-Eingang Mönckebergstraße Schuhe putzte.

»Auf Zeit!« sagte Vater Kuhlenkamp wieder einmal und kletterte zu den zwei Jungen als Schiedsrichter in den Ring.

Kampf für Kampf ging es dann aufwärts durch alle Gewichtsklassen. So kam es, dass die Jungen, die sich im Ring gegenüberstanden, immer schwerer und größer wurden. Im Mittelgewicht holte sich der Sheriff den Sieg. Allerdings erst in einer wilden dritten Runde. Bis dahin war sein Gegner ziemlich gleichwertig gewesen.

Auch Peter Pfannroth hatte es nicht leicht.

Bis zum vergangenen Jahr war Peter noch in der Gewichtsklasse des Sheriffs angetreten. Aber inzwischen war er älter und größer geworden und natürlich auch schwerer. Aber noch nicht schwer genug. Er lag mit seinem Gewicht jetzt sozusagen zwischendrin. Das hieß, dass er im Halbschwergewicht boxen musste. Und zwar mit dem Nachteil, dass er meist Gegner hatte, die mehr an der oberen Grenze seiner neuen Gewichtsklasse lagen und ihm deshalb körperlich mit einigen Kilo überlegen waren. Aber Peter war sehr gewandt. Dazu kam, dass er sehr hart schlagen konnte, vor allem mit seiner Rechten. Und mit dieser Rechten schaffte er es dann auch.

Peters Gegner, ein stämmiger, etwas untersetzter Bursche mit kurzen, roten Haaren, lief ihm mit seiner Kinnspitze direkt in einen Aufwärtshaken. Das war natürlich Pech.

Als Vater Kuhlenkamp bereits bis zum Aus gezählt hatte, sah der Junge immer noch verwundert um sich. Peter half ihm wieder auf die Beine und erst jetzt wurde dem Rothaarigen klar, was in den letzten zwanzig Sekunden passiert war.

Er grinste und legte Peter seine rechte Hand mit dem Boxhandschuh auf die Schulter.