Geraldine - Die Macht der Wölfin - Günter Rüffer - E-Book

Geraldine - Die Macht der Wölfin E-Book

Günter Rüffer

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Beschreibung

Friedlich, harmonisch, bieder – so präsentieren sich die Bewohner der kleinen Stadt der geheimnisvollen jungen Frau, die eines Tages zu ihnen kommt. Von da an ist nichts mehr wie vorher. Geraldine ist die personifizierte Wahrheit, sie durchbricht die scheinheilige Fassade, konfrontiert die Menschen mit ihren Lügen und ihren Schandtaten und fordert sie zur Läuterung auf, in der sie die einzige Rettung sieht. Denn längst hat das Böse in Form von Samiel seine gierigen Finger nach der Stadt gestreckt. Während Geraldines Bemühen missverstanden, sie angefeindet und angegriffen wird, wächst gleichzeitig Samiels Macht – Aggressionen und Gewalt nehmen verheerende Ausmaße an. Nur sechs unschuldige Kinder erkennen Geraldines wahre Bestimmung und ihre übernatürliche Kraft. Sie erkennen aber auch, dass Gutes und Böses sich gegenseitig bedingen, dass es das Eine nicht ohne das Andere geben kann. Wenn sie Samiel besiegen wollen, müssen sie auch Geraldine töten. Dennoch wagen sie ein schier auswegloses Vorhaben.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

1. Auflage Mai 2023

Copyright © 2023 by Ebozon Verlag

ein Unternehmen der CONDURIS UG (haftungsbeschränkt)

www.ebozon-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung:media designer 24

Coverfoto:pixabay.com

Layout/Satz/Konvertierung: Ebozon Verlag

ISBN 978-3-95963-821-0 (PDF)

ISBN 978-3-95963-820-3 (ePUB / Mobipocket)

ISBN der Printausgabe 978-3-95963-822-7

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors/Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Veröffentlichung, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Über das Buch

Friedlich, harmonisch, bieder – so präsentieren sich die Bewohner der kleinen Stadt der geheimnisvollen jungen Frau, die eines Tages zu ihnen kommt. Von da an ist nichts mehr wie vorher. Geraldine ist die personifizierte Wahrheit, sie durchbricht die scheinheilige Fassade, konfrontiert die Menschen mit ihren Lügen und ihren Schandtaten und fordert sie zur Läuterung auf, in der sie die einzige Rettung sieht. Denn längst hat das Böse in Form von Samiel seine gierigen Finger nach der Stadt gestreckt. Während Geraldines Bemühen missverstanden, sie angefeindet und angegriffen wird, wächst gleichzeitig Samiels Macht – Aggressionen und Gewalt nehmen verheerende Ausmaße an.

Nur sechs unschuldige Kinder erkennen Geraldines wahre Bestimmung und ihre übernatürliche Kraft. Sie erkennen aber auch, dass Gutes und Böses sich gegenseitig bedingen, dass es das Eine nicht ohne das Andere geben kann. Wenn sie Samiel besiegen wollen, müssen sie auch Geraldine töten. Dennoch wagen sie ein schier auswegloses Vorhaben.

Günter Rüffer

Geraldine

Die Macht der Wölfin

Ebozon Verlag

Donnerstag. Der Tag, bevor Geraldine kam.

Den ganzen Tag putzten sie das Haus und richteten den Garten her. Sie gingen dabei sehr sorgsam vor, so wie man mit etwas umgeht, das einem lange ans Herz gewachsen ist, und teilten sich die Arbeit ihren Neigungen entsprechend auf. Melanie Barr war für innen zuständig und Henrik für außen. Nur einmal rief sie ihren Mann ins Haus. Im Dachboden war eine Lampe kaputt. Henrik holte einen Schraubenzieher und Isolierband aus dem Keller und stieg die Ziehleiter hinauf unter das dunkle Dach. Er stellte sich auf einen wackligen Stuhl und begann die Fassung abzumontieren, während ihm Melanie mit einer Taschenlampe leuchtete. Als er so auf dem Stuhl stand, den seine Frau mit einer Hand besorgt festhielt, und er ein poröses Kabel ausbesserte, sagte sie: »Vielleicht ist es ein Fehler.«

»Ach, Mel«, antwortete er mitfühlend; sie hatten das Thema oft durchgekaut.

Melanie sah Henrik von unten an, wie er an der Fassung herumfummelte. Er ist ein stattlicher Mann, dachte sie, und vielleicht sorgte sie sich deshalb. Doch wenn sie ehrlich war, brauchte sie sich um Henrik in dieser Beziehung keine Sorgen machen. Nein, Henrik hatte nie Ambitionen gezeigt fremdzugehen. Und doch war dieses eigenartige Gefühl da, seit sie sich entschlossen hatten, ihr Haus wieder zu vermieten. Sie selbst war auf diesen Gedanken gekommen, nicht Henrik.

Henrik ging auf dem wackligen Stuhl in die Hocke und sah seine Frau verständnisvoll an.

»Das Haus kann nicht ewig leer stehen, Mel.«

Sie nickte stumm. Aber ihr Mann konnte ihr die Sorge nicht ganz nehmen.

Er richtete sich wieder langsam auf, balancierte sich aus und begann von Neuem, die Kabel zu verklemmen. Dann schraubte er die Lampenfassung wieder an den Firstbalken.

»Schalt jetzt ein.«

Sie ließ den Stuhl kurz los und drückte den Schalter, doch die Lampe blieb dunkel. Sie eilte zurück, um den wackligen Stuhl zu halten und Henrik mit der Taschenlampe zu leuchten, der ohne Murren begann, die Kabel wieder von der Fassung zu trennen.

Und wieder fing sie an. »Konrads Sohn Carsten wird bald zwanzig. Er hat schon eine feste Freundin. Das hier wäre das ideale Haus. Sie könnten sich hier eine Familie aufbauen. Eine ganze Familie hat hier Platz.«

Henrik zog die Augenbrauen hoch. Er steckte den Schraubenzieher in seine Hosentasche, kletterte vom Stuhl, fasste seine Frau an den Schultern und sah sie eine Weile stumm an. Sie war jetzt zweiundvierzig, seit drei Jahren färbte sie ihr Haar, und um die Augen hatten sich Falten eingeschlichen. Doch er sah sie noch mit den selben leuchtenden Augen an wie damals, als sie sich das erste Mal bei den Apfelbäumen am Fluss getroffen hatten. Es war Abend gewesen und der Mond hatte ihr Gesicht mit matter Helligkeit bemalt. Damals hatte er sie wie jetzt an den Schultern gefasst und zum ersten Mal geküsst.

Er küsste sie sanft auf die Stirn.

»Sie ist jünger als du, Mel. Das kann ich nicht ändern. Und wenn ich sage, sie ist nicht hübsch, dann würde ich lügen. Doch sie ist nur eine fremde Frau, eine x-beliebige Frau.«

Sie versuchte zu lächeln.

Er strich mit den Fingerspitzen sanft über ihre Wange. Sie hat noch dieselbe samtene Haut wie damals, dachte er. Sie hat sie nie mit Makeup zerstört, meine Mel. Und er dachte: Du ahnst nicht, wie viel du mir bedeutest, Mel.

»Ich sah mir heute früh nochmal den Mietvertrag an«, sagte sie ernst. »Es ist nur ein L eingetragen. Der Nachname, nur ein L.«

»Du hast dich getäuscht, Mel. Wir beide sahen, wie sie ihren vollständigen Namen eingetragen hat. Erinnerst du dich? Als sie weg war und wir den Vertrag durchlasen, stand ihr ganzer Name da. Wir konnten ihn nur nicht entziffern und rätselten, was es heißen soll. Wir nahmen uns vor, sie morgen danach zu fragen.«

»Ich weiß, Henrik. Und gerade das ist es. Ich kann mich genau erinnern, und doch stand heute morgen nur ein L dort.«

»Ein Name kann nicht so mir nichts, dir nichts verschwinden. Das ist unmöglich.«

»Henrik, es istso! Als ob ein böser Zauber im Spiel ist. Glaub mir, ich wollte dir zuerst nichts davon erzählen, weil du mich für verrückt halten musst, aber es ist so. Ihr Name ist aus dem Vertrag verschwunden.«

Henrik nahm zärtlich ihre Hand.

»Und wenn es so ist, Mel, dann irrten wir uns beide. Wir werden das klären. Sicher gibt es einen vernünftigen Grund.«

Er kletterte wieder auf den Stuhl, balancierte sich aus und langte hinauf zu der Lampe. Ein einziger Finger berührte das bloße Ende eines Kabels, und der Strom schoss in seinen Körper, durchflutete und durchzuckte ihn. Die Wucht der Elektrizität schleuderte ihn hart auf den Boden. Reglos blieb er liegen. Erschrocken kniete sie sich neben ihrem Mann nieder, mit rasendem Herzen drehte sie ihn zur Seite. Die Taschenlampe war ihr entglitten, doch sie erkannte im Dunkeln, dass seine Augen geöffnet waren. Er sah sie an, und sie atmete tief und erleichtert durch.

Henrik erhob seinen Oberkörper und stützte sich mit den Ellbogen ab. Sein Blick irrte durch den Dachboden, so als suche er an irgendetwas Halt, er fand Mel und klammerte sich in ihren Augen fest.

Als er sich mühsam auf die Beine brachte, stöhnte er leise. Er schwankte vorsichtig von einem Bein auf das andere, dann mit etwas heftigerem Druck, als wolle er die Stabilität seiner Knochen testen.

»Mir fehlt nichts«, bemerkte er sachlich.

»Du hättest tot sein können.« Der Schreck steckte ihr noch tief in den Knochen, ihre Stimme zitterte.

»Ach was!« wehrte er tapfer ab. Doch seine Knie wackelten wie der Stuhl, auf den er sich abermals stellte.

»Schalt diesmal den Strom ab«, sagte er, als er sich aufrichtete.

Melanie drückte den Schalter nach unten, hielt wieder den Stuhl fest und leuchtete ihm.

»Wir sollten den Elektriker holen«, meinte sie besorgt.

»Mir kann jetzt nichts geschehen, Mel«, beruhigte er sie. Um ihr zu demonstrieren, wie ungefährlich sein Tun war, packte er die bloßen Kabelenden mit den Fingerkuppen.

»Siehst du? Wir haben vorhin nur vergessen, den Strom abzuschalten.«

Sie schüttelte den Kopf. »Und alles wegen dieser Frau.«

Zwei Minuten später brannte die Lampe. Henrik sah Mel an, als wollte er sagen: »So einen Klacks kriege ich immer noch selber hin.« Er schwieg. Er küsste sie schmunzelnd auf die Stirn und ging wieder hinaus in den Garten, wo er weiter an der Hecke schnitt. Er sah sie im Haus am Fenster erscheinen, sah, wie sie in der Küche Tisch und Bank beiseite schob und die Bodenfliesen schrubbte. Sie ist das Beste, was mir je begegnet ist, dachte er. Er lächelte zufrieden.

Im hinteren Teil des Gartens stand früher ein schäbiger Kaninchenstall, den Henrik nach dem Tod seines Schwiegervaters abriss. Mit viel Können und viel Liebe erbaute er an selber Stelle einen hölzernen Pavillon. Er drechselte die Stützbalken selbst und verzierte sie mit kunstvollen Handschnitzereien. Innen vor der umlaufenden Bank baute er einen runden, wuchtigen Tisch, dessen Eichenplatte auf hölzernen Ringen ruhte, so dass man sie drehen konnte. Zum Schluss, als der Pavillon an sich schon fertig war, schnitt er eine dicke Bohle zurecht und arbeitete mit der Hand sieben Engel aus der Oberfläche heraus. Die Engel sahen alle verschieden aus und jeder trug seinen individuellen Charakter. Er schmirgelte sie fein und lasierte sie, bis sie aussahen wie glänzende Porzellanengel. Die Bohle hing er über den Eingang, und jeder der den Pavillon betrat und die Engel sah, spürte, wie viel Liebe in dieser Arbeit steckte. Ein paar Schritte entfernt, hatte Henrik einen Teich mit Schilf und Seerosen angelegt.

Während Mel im Haus wischte, wurden in ihr sentimentale Erinnerungen wach. Das Haus war in den Sechzigern erbaut worden und bot keine Extravaganzen. Schlichte Notwendigkeit eben. Mitten durch das Erdgeschoss schob sich ein schmaler Gang, von dem Türen zu Küche, Abstellraum, Esszimmer, Wohnzimmer und einem ehemaligen Kinderzimmer abgingen. Eine Holztreppe führte hinauf zum Elternschlafzimmer, zum Bad und zwei weiteren Kinderzimmern.

Mel hing noch immer an dem Haus. Sie kannte jeden Winkel und jede knarrende Diele. In der Küche, zwischen Arbeitsplatte und Oberschränkchen war eine Fliese ausgebrochen gewesen. Ihr Vater hatte sie damals neu eingesetzt. Die unterschiedliche Farbnuance der Fugen erinnerte noch daran. Oder die Zeichnung im Flur. Mel hatte ein Pferd mit Wachsmalkreide an die getünchte Wand gemalt. Trotz mehrmaligem Übertünchen war das Pferd noch immer schemenhaft zu erkennen. Zumindest für jemanden, der wusste, dass hier ein Kind leichtfertig gehandelt hatte. Wie alt sie damals wohl gewesen sein mochte? Vier, vielleicht fünf Jahre?

»Mel?«

Mel horchte auf. Sie hatte den Besen schräg in den Türrahmen zur Küche gestellt, sich an die Wand gelehnt und war ins Träumen versunken.

»Ich bin hier, Henrik.«

Henrik kam durch die Terrassentür ins Wohnzimmer.

»Bist du fertig, Mel?«

»Ja«, antwortete sie. »Wir können gehen.«

»Du hast geträumt, nicht wahr, Mel?«

Sie nickte schmunzelnd. Wenn sie hier im Haus war, ließ es sich nicht vermeiden, in Gedanken zurück in die Kindheit zu reisen. Aber auch in eine Zeit, in der sie mit Henrik hier gelebt hatte.

Beide gingen nochmal durchs Haus, sahen in die einzelnen Räume, dann verriegelten sie die Terrassentür von innen und gingen durch die Eingangstür nach draußen. Als Mel abschloss, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte den Besen zurück in die Abstellkammer zu bringen. Er lehnte noch immer in der Tür zur Küche. Da sie aber morgen früh sowieso wieder herkommen würde, wollte sie den Besen dann wegräumen.

Es war Abend geworden. Haus und Garten waren in Ordnung gebracht. Es waren nur Kleinigkeiten gewesen, die zu richten waren. Die Hauptarbeit hatte im Putzen gelegen. Vor vier Jahren verließen Henrik und Melanie das Haus, sie bauten sich nur wenige Parzellen weiter ein neues. All die Jahre hatten sie vergeblich auf Nachwuchs gehofft, und schließlich wollten sie nicht mehr in dem Haus mit den drei Kinderzimmern wohnen. Melanie konnte es einfach nicht mehr. Sie hatten etwas gespart und ein kleineres Haus gebaut. Seitdem war das alte dreimal kurzzeitig bewohnt gewesen. Seit einem halben Jahr stand es nun völlig leer. Ein Mieter ließ sich in dieser Stadt schwer finden. Ihre Stadt war klein und langweilig. Eine Stadt, in der es nur einen Supermarkt gab und nur alle vier Wochen eine Tanzveranstaltung im Löwen. Doch Melanie und Henrik fühlten sich hier wohl. Sie gehörten dem Schützenverein an und gingen jeden Freitag mit Freunden zum Kegeln. Im Sommer trafen sie sich zum Grillen oder zum Äpfel Pflücken am Fluss, wo Hunderte Apfelbäume auf Stadtgrund standen. Die Menschen hier pflegten ein freundschaftliches Einvernehmen, und wenn es doch zu Unstimmigkeiten kam, dann wurde sich rasch brüderlich geeinigt oder die Sache schlichtweg übergangen. Der Friede prangte wie eine ewig scheinende Sonne über der Stadt. Aber wer, der nicht hier geboren war, wollte schon hier leben.

Geraldine L. wollte es anscheinend. Vor einer Woche antwortete sie auf die Zeitungsannonce, und schon einen Tag darauf schaute sie sich das Haus an. Es gefiel ihr sofort. Sie stellte keine Ansprüche, wollte alles so lassen, wie es war. Sogar die Möbel sollten bleiben wie sie waren. Sie war eine junge Frau, eine sehr junge, sehr hübsche Frau, wie Mel etwas neidisch meinte, und trotzdem wollte sie mit Möbeln wohnen, die vor ihrer Geburt gekauft worden waren.

Melanie fand von Anfang an keinen Zugang zu Geraldine.

»Es ist alles bereit«, sagte Henrik, als sie am Abend im Garten standen und ihre Arbeit guthießen.

»Ja«, sagte Mel.

Vor dem Haus stand eine alte Linde mit einer Holzbank darunter, auf die sie sich müde setzten. Mels Vater hatte das Haus als junger Mann gebaut, und damals gab es die Linde schon. Sie war wuchtig geworden und trug ihre ausladenden Äste mit Stolz. Im Sommer bot sie Schutz vor der Hitze und im Herbst und im Winter vor den Stürmen, die, besonders wenn sie von Norden kamen, enorme Kraft entwickeln konnten. Doch die Linde trotzte dem Wetter, und sie schien auch der Zeit zu trotzen. Sie stand in vollem Saft und vermittelte ein Bild energischer Vitalität. Jetzt im Oktober trug sie goldenes Laub. Die Abendsonne blinzelte durch die kräftigen Äste und fiel schräg auf das Paar auf der Bank, das zufrieden den Garten und das Haus betrachtete.

»Weißt du noch, als du mich zum ersten Mal nach Hause gebracht hast?«, fragte Mel.

»Ja«, sagte Henrik.

»Vater wollte nicht, dass ich mit dir ausgehe. Und doch hast du mich nach Hause begleitet.«

»Dein Vater, ja«, murmelte Henrik sinnierend.

»Du hast mich bis unter die Linde gebracht. Vater sah oben vom Fenster herunter. Er wusste nicht, dass wir es bemerken. Er blieb die ganze Zeit am Fenster und beobachtete uns. Ich schickte dich heim, doch du bliebst, weil du Vater etwas beweisen wolltest. Fast eine Stunde standen wir unter der Linde. Es war März, es lag noch Schnee, und wir beide froren. Du hast dich dicht an mich gedrückt, und mir wurde ganz warm und wohlig. Erst als Vater vom Fenster weg war, bist du gegangen.«

»An all das erinnerst du dich noch?« Henrik sah sie mit liebenden Augen an.

»Ja«, sagte Mel. »Ich weiß noch jede Einzelheit. Ich werde es nie vergessen. Am Anfang war es für dich nicht einfach mit Vater. Ich habe das gleich bemerkt. Doch dann mochte er dich. Er holte dich aus Betzens muffiger Schreinerei in seine Zementfabrik. Und jetzt bist du deren Besitzer. Betzen ist längst tot. Jetzt hast du wenigstens Arbeit. Eine gute Arbeit. Ja, ich glaube, Vater mochte dich wirklich sehr.«

»Ja«, sagte Henrik.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite kam ein Radfahrer näher. Als er das Paar unter der Linde entdeckte, bremste er und lenkte herüber. Es war ein modernes, teures Rad, eines, wie es Radrennfahrer benutzen. Der Mann grüßte freundlich, dann fragte er: »Kommt sie morgen?«

Henrik grinste. »Kannst es wohl nicht erwarten.«

»Was so ein bisschen Putzen hermacht. Das Haus sieht wie neu aus. Gerade richtig für eine vornehme Dame.«

»Bilde dir ja nichts ein, Achim«, neckte Henrik. »Die ist zu jung für uns beide.«

»Was auf dich zutrifft, muss nicht auch für mich passen«, rief Achim munter und zwinkerte lustig mit den Augen.

»Was sagt denn Gerdi dazu?«, fragte Mel lauernd.

»Gerdi sieht das nicht so eng. Und solange ich mir nur Appetit hole, hat sie nichts einzuwenden. Im Gegenteil.«

Er lachte vergnügt.

Mel wurde verlegen. Das wurde sie immer, wenn es um ein bestimmtes Thema ging. Sie ärgerte sich deswegen.

»Morgen ist Apfelernte«, lenkte Henrik auf ein anderes Thema ab. »Du und Gerdi kommt doch zum Fluss?«

»Das haben wir noch kein Jahr verpasst. Du kannst ja die vornehme Dame einladen. Dann kann sie sich gleich eingewöhnen.«

»Mal sehen«, sagte Henrik.

»Als ihr Hausherr wirst du ihr den Zugang zu unserer ehrenwerten Gesellschaft doch nicht verweigern.«

»Ich werd` sie fragen«, sagte Henrik.

»Tu das. Also dann bis morgen.«

Er schob sich mit dem Fuß ab und trat kräftig in die Pedale. Mel hakte sich bei Henrik unter, beide verließen das Grundstück und schlenderten heimwärts. Sie sahen Achim mit schmunzelndem Kopfschütteln hinterher, wie er nochmal lachend die Hand hob und dann schnell die Straße hinunter fuhr.

Die Straße war hier sehr breit. Links und rechts standen gepflegte Häuser mit Reibeputz, sauberen Gärten umher und geschnittenen Hecken zur Straße hin. Jedem sein eingegrenztes, abgegrenztes Reich, sein Bau, in den er sich zurückziehen konnte, in dem er Ruhe fand. Und wenn es einen juckte, brauchte er nur zur Terrassentür hinaus auf den kultivierten Rasen und einen Plausch mit dem Nachbarn halten. Für alles war gesorgt. Mittelständische Kleinstadtidylle. Und niemand fragte, was es draußen noch gab, außerhalb von Ruhe, Ordnung und höflicher Freundlichkeit. Niemand wollte es wissen. Vielleicht, so sagte sich der eine oder andere, vielleicht gab es dort draußen etwas, das besser war als das hier. Etwas, das mehr versprach vom Leben. Aber im Grunde wollte es niemand wirklich wissen. Alle hier zeigten sich zufrieden. Und doch träumte jeder seinen Traum. Heimlich und nur für sich.

Achim trat kräftiger in die Pedale, sein Rad schnurrte leise dahin, wie ein Pfeil durch die Luft. Er bremste heftig, dass der Hinterreifen quietschend auf dem Asphalt drehte, und beschleunigte erneut. Mit einem Mal verzerrte er das Gesicht. Wie ein Geschoss war ihm der Schmerz in den linken Oberschenkel gedrungen. Er kniff die Augen zusammen und kämpfte gegen den quälenden Stich, indem er ihn zu ignorieren versuchte und hartnäckig das Rad vorantrieb. Der Schweiß perlte aus seinen Poren, doch er gab nicht auf. Er wollte, er musste stärker sein als der Schmerz. Er erreichte sein Grundstück, und als er abstieg, tat er es mit zweifelnder Zufriedenheit.

Er bog in eine mit rotem Granit gepflasterte Einfahrt. Sein Haus, das war sein ganzer Stolz. Wenn er nicht in der Fabrik war oder radelte, sah man ihn im Garten oder am Haus arbeiten. Erst vor drei Wochen strich er die Außenfassade neu, obwohl der letzte Anstrich keine zwei Jahre zurücklag. Die Garage nebenan hatte er letztes Jahr ohne fremde Hilfe gebaut, und sie war genauso korrekt und stabil wie das Haus. Mit den Händen konnte Achim umgehen. Eigentlich hätte er vieles anders machen wollen. Er hätte gern Dachgauben gehabt und ein Walmdach und an der Giebelseite einen Balkon mit wuchtiger Holzverkleidung. Doch die Stadtverwaltung schrieb ihm genau vor, wie sein Haus auszusehen hatte. Eigentlich sah sein Haus aus wie das Haus neben ihm und das von Mel und Henrik schräg gegenüber. Unten befanden sich die Wohnräume und oben im ausgebauten Dachstock hatten Schlafräume und Badezimmer ihren traditionellen Platz. Alle Häuser waren mit der Giebelseite zur Straße gerichtet, alle waren weiß, nur selten gesellte sich eines mit orangefarbenem Anstriche oder zartem Gelb dazu. Und alle Ziegel die Straße hinauf und hinunter waren rot. Nur durch Kleinigkeiten – hier eine Markise, dort eine Terrasse und da ein Wintergarten – unterschieden sich die Häuser. Doch eigentlich waren alle gleich. Achim nannte das genormte Biederkeit.

Erschöpft stellte er sein Rennrad in der Garage ab. Als er die Diele betrat, freute er sich auf ein sättigendes Abendbrot und eine kühle Flasche Bier. Seit die Kinder laufen konnten, hielten sie eine feste Zeit für das Abendbrot ein. Um achtzehn Uhr stand gewöhnlich das Essen auf dem Küchentisch, dann versammelte sich die Familie am Tisch. Das einzige Mahl am Tag, das sie gemeinsam einnahmen. Als er jetzt in die Küche trat, war es viertel nach achtzehn Uhr. Der Tisch war leer.

Achim rief nach seiner Frau.

»Ich komme«, wurde ihm von oben geantwortet.

Gerdi eilte die Treppe herunter. Sie hatte ein schickes Kleid an und war frisch frisiert. Sie trug ihr brünettes Haar offen; es wippte, als sie die Treppe herunter kam, und fiel ihr weich auf die Schulter. Es umrahmte ihr rundes freundliches Gesicht und hob ihre natürliche Schönheit hervor. Um ihre Lippen spielte ein geheimnisvolles Lächeln, das von innerem Glück rührte.

»Gibt es kein Essen?«, fragte Achim, und gleich darauf: »Wo sind die Kinder?«

»Meike ist beim Handballtraining und Toby ist drüben bei Benny. Aber das weißt du doch.« Dass er ihre neue Frisur nicht zur Kenntnis nahm, konnte sie heute nicht verstimmen.

Sie ging an ihm vorbei, lächelte ihn mit strahlenden Augen an, ging ins Wohnzimmer und ließ sich bequem auf die Couch fallen.

»Hab es vergessen«, sagte er. »Aber ich hab Hunger. Hast du keinen Hunger?«

»Und wie ich Hunger habe«, sagte sie. Sie lächelte immer noch.

Er setzte sich ihr gegenüber in den Sessel.

»Was hast du?«, fragte er. »Amüsiert dich etwas?«

»Ich bin einfach froh«, sagte sie. »Und du scheinst heute alles zu vergessen. Weißt du nicht mehr, dass ich beim Arzt war?«

»Schon«, murmelte er. »Gibt's was Besonderes?«

Gerdi lachte glücklich. Sie stand auf, setzte sich auf Achims Schoß und küsste ihn.

»Ich bin schwanger«, sagte sie mit leicht schwingender Stimme, die verriet, dass sie am liebsten himmelhoch gejauchzt hätte.

Achim sah sie lange an.

»Schwanger?«

»Nun tu nicht so, als sei ich noch nie schwanger gewesen. Wir redeten doch darüber. Letzte Woche erst sagte ich: Ich vermute, dass ich schwanger bin. Na, und heute hat es Dr. Keller bestätigt. Ich bin im dritten Monat. Wir wollten doch beide ein Kind.«

»Schon. Aber jetzt?«

»Vermies mir ja nicht meine Laune.«

Enttäuscht setzte sich Gerdi wieder auf die Couch.

»Tut mir leid, Schatz.« Er beugte sich über den Glastisch und fasste nach ihrer Hand. »Natürlich wollten wir noch ein Kind. Gleich nach Toby wollten wir eines, damit der Altersunterschied nicht zu groß ist. Dann klappte es nicht, und ich dachte, die Sache sei erledigt.«

»Die Sache? Du redest über ein Kind! Damals, als du wochenlang im Bett gelegen bist, als du wegen diesem blöden Unfall deine heiß geliebte Leichtathletik aufgeben musstest, sagte ich da: 'Schatz, das ist doch nur eine läppische Sache?' Ich pflegte dich und saß Tag und Nacht an deinem Bett. Für mich war das keine Sache, weil ich dich liebe, Achim. Ist es jetzt zu viel verlangt, wenn ich etwas Anteilnahme und vielleicht ein kleines Zeichen der Freude erwarte?«

Er streichelte ihre Hand, wie immer, wenn er sich schuldig fühlte. Und er erinnerte sich an den Tiger im Fernsehen, der Anzeichen von Aggressivität zeigte, und den der Dompteur durch Streicheln und gutes Zureden besänftigte. Er ließ ihre Hand los, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Er sagte: »Wir haben doch auch oft davon geredet, dass wir jetzt endlich unsere Freiheit haben. Meike ist zwölf und Toby ist zehn, sie sind aus dem Gröbsten. Wir wollten nächsten Sommer nach Australien. Seit Monaten planen wir das.«

Gerdi sah ihn giftig an.

»Jetzt sag bloß, ich allein hätte das Kind in meinen Bauch gezaubert.«

»Natürlich nicht. So war es auch nicht gemeint, Gerdi. Es kommt nur so überraschend.«

»Auch für mich«, sagte Gerdi und lächelte wieder. »Die ganze Zeit klappte es nicht. Und noch bin ich nicht zu alt. Ich bin siebenunddreißig. Achim, Australien läuft uns nicht weg.«

Sie machte eine kurze Bewegung, als stünde sie auf, um sich abermals ihrem geliebten Achim auf den Schoß zu setzen, um ihm eventuell das Haar zu streicheln und um ihn vielleicht mit netten Worten dazu zu bringen, an ihrer Freude teilzuhaben. Doch nichts von dem tat sie. Sie blieb sitzen, aufrecht, und lauerte auf eine Reaktion von ihm.

Achim stand auf und trat ans Fenster. Die Sonne war untergegangen, Wolken zogen auf. Sie waren grau und düster wie die Nacht, die jetzt rasch hereinbrach.

»Du hast Recht«, sagte Achim. »Australien läuft uns nicht weg.« Und er baute still darauf, dass irgendwann wieder Leichtathletikmeisterschaften in Sydney stattfanden. Irgendwann.

Er sah zu Gerdi und setzte ein Gesicht auf, das ihr glauben machen sollte, er wäre überzeugt von dem, was er sagte.

Die Wand hinter Gerdi war behangen mit allerlei Trödel, das ihm irgendwie gefallen hatte und das er von Flohmärkten billig zusammengetragen hatte. Kitschige Fotos, ein skurriles Schwert unbekannter Herkunft, eine mit Fell bespannte Trommel, afrikanische Masken und eine Ukulele. All das hatte ihn einst begeistert, jetzt widerte ihn der Plunder an.

Wieder sah er hinaus in die Nacht. Es gab keinen Mond, nur dunkle, träge Wolken, die die Stadt einhüllten wie ein erdrückendes Laken. Er sah Wind aufkommen, der in den Sträuchern vor seinem Haus rauschte. Er kommt von Westen, dachte er. Wenn er von Norden käme, wäre nicht mit ihm zu spaßen. Wenn wir Glück haben, dachte er, treibt er die Wolken weg und morgen scheint wieder die Sonne.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bemerkte er einen Jungen und ein Mädchen. Obwohl die nächste Laterne nur schwaches Licht auf beide warf, erkannte Achim sie. Carsten und Angelika gingen seit einem halben Jahr miteinander. Erst gestern hatte er Carsten während seiner Radtour unten am Fluss mit einem anderen Mädchen gesehen.

Er wollte sich abwenden, als er einen schwachen, schwankenden Lichtkegel die Straße herauf kommen sah. Erst als er näher kam, erkannte Achim dahinter das blaue Mädchenfahrrad, das Meike lenkte. Ihr Bruder saß auf dem Gepäckträger. Toby schaukelte hin und her, und Meike hatte Mühe, das Rad im Gleichgewicht zu halten. Vor dem Grundstück stieg sie ab und schimpfte mit ihrem jüngeren Bruder.

Achim setzte sich neben Gerdi auf die Couch. Er nahm ihre Hand und sah sie liebevoll an.

»Tut mir leid, Schatz. Natürlich freue ich mich auf das Baby.«

Er küsste sie auf den Mund, und Gerdi schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. In ihr Gesicht kehrte jener glückliche Ausdruck zurück, den sie vorhin ausgestrahlt hatte, als sie von ihrer Schwangerschaft gesprochen hatte, und der das Glück und das Vertrauen einer liebenden Frau und werdenden Mutter ihrem Mann gegenüber widerspiegelte.

Die Haustür wurde aufgestoßen und zwei Sekunden später stürmte Toby ins Wohnzimmer.

»Meike hat einen Geliebten! Meike hat einen Geliebten!«, rief er schelmisch.

Den kleinen Orkan übertönend, rief Achim: »Wann lernst du endlich, die Tür in die Hand zu nehmen!«

»Ich hab sie gesehen«, fuhr Toby unbeirrt fort. »Vor der Schulturnhalle. Mario hat auf sie gewartet, dann hat er ihre Hand genommen.«

»Gar nicht wahr«, protestierte Meike. Sie hatte ihr Fahrrad in die Garage stellen müssen und kam erst jetzt hinzu. Auf den dunklen langen Haaren trug sie eine blaue Wollmütze und auf dem Rücken einen Scout Rucksack, in dem sich ihr Handballtrikot und die Turnschuhe befanden.

»Doch wahr«, behauptete Toby felsenfest.

»Mario Duzcek?«, fragte Gerdi.

»Ja, Mario Duzcek«, gab Meike trotzig zu.

Toby spitzte die Lippen und ahmte das Geräusch eines Kusses nach.

»Wir haben nicht geküsst, nein, das ist nicht wahr!«

»Kuss, Kuss, Kuss, Kuss. Igitt!« Er tat, als speie er.

»Das ist doch der Sohn vom Zahnarzt?«, fragte Achim. Und im gleichen Atemzug: »Gute Wahl, Kleines.«

»Hör auf, Papa.«

»Wie dein Vater«, sagte Gerdi schmunzelnd. »Hat auch früh angefangen.«

»Mama, bitte. Wir haben uns nur an den Händen gehalten. Nichts weiter.«

»Das will ich auch hoffen, mein Mäuschen.«

Gerdi zog Meike an der Hand zwischen sich und Achim auf die Couch.

»Du magst Mario wohl?«

Meike sah sie mit glänzenden Augen an.

»Ich mag ihn sehr gern.«

»Meike liebt Mario, Meike liebt Mario«, jauchzte Toby.

»Sagt, er soll aufhören! Papa, sag, er soll aufhören!«

»Hör auf, Toby! Noch ein paar Jahre und du bist in derselben Situation.«

»Ich und Mario? Nie im Leben.«

»Dummer Kasperl. Du weißt, was ich meine. Und jetzt hör auf zu albern! Geh in die Küche und deck den Tisch! Wir wollen essen.«

Toby tat nichts lieber, als seine Schwester zu necken und nutzte jede Gelegenheit dafür. Dass er jetzt anstandslos der Anordnung seines Vaters folgte, lag wohl mehr an seinem Hunger als an seinem Sinn für Gehorsam. Eine Zeitlang hörten sie ihn noch aus der Küche singen: »Meike liebt Mario, ach wie sind sie froh«, dann schien er die Lust an seinen Albernheiten zu verlieren.

»Hast du nicht vor zwei Wochen für Johannes geschwärmt?«, fragte Gerdi ihre Tochter.

»Und einen Monat vorher für Raoul?«, fragte Achim.

»Das war doch nichts«, antwortete Meike etwas verlegen. »Mit Mario ist das ganz anders.« Ihr hübsches Gesicht strahlte wie die Sonne am ersten klaren Frühlingstag.

»Du hast noch soviel Zeit dich zu entscheiden, mein Mäuschen«, meinte Gerdi und streichelte Meike zärtlich über das lange Haar.

»Willst du mir etwas versprechen?«, fragte Achim.

»Ja.«

»Dann versprich mir, dass du nie bei einem bleibst, wenn du Zweifel hast oder aus einem Schuldgefühl heraus oder wenn du Mitleid für ihn empfindest. Nur wenn du ihn wirklich liebst geht es in Ordnung. Versprichst du mir das, Mäuschen?«

»Ich verspreche es. Und versprichst du mir auch etwas? Ihr beide, Mama und Papa? Nennt mich nicht mehr Mäuschen.«

Die Eltern schmunzelten, doch versprachen sie es gern.

»Du bist ja schon eine junge Lady«, meinte Achim augenzwinkernd, »und hast nun das Recht, Maus genannt zu werden.«

»Papa!«

»Schon gut – Meike.«

Sie stand auf und ging in die Küche, um ihrem Bruder beim Decken des Tisches zu helfen. Kaum waren die Geschwister wieder zusammen, ging das Geplänkel von Neuem los.

»Wie unbeschwert Kinder doch sind«, stellte Gerdi fest. »Und wie ehrlich. Noch kennen sie keine Falschheit.«

Achim stand auf und küsste sie auf die Stirn.

»Kinder sind etwas Wunderbares. Doch jetzt glaube ich, sie brauchen erst einmal einen Dompteur.«

»Achim?«, fragte sie. »Liebst du mich?«

Sie sah ihm lauernd in die Augen, und es schien ihr eine Ewigkeit zu vergehen, ehe Achim antwortete.

»Ja«, antwortete Achim.

Achim irrte sich. Der Wind dachte nicht daran, die Wolken zu vertreiben. Stattdessen schob er immer mehr über die Stadt. Und als eine dichte, undurchlässige, bedrohliche Decke über den Hausdächern hing, schien die Arbeit des Windes beendet zu sein. Wie auf ein geheimes Zeichen verstummte er. Es wurde still in den Straßen. Und finster. Wie zaghafte, eingeschüchterte Lämpchen wirkten die Lichter der Laternen, deren Masten wie Peitschen in die Nachtschwärze ragten.

Angelika streckte die Hand aus, um Carstens Hand und damit das Gefühl von Schutz zu ergreifen. Sie zögerte, zog ihre Hand zurück und schob sie in die Tasche ihres Parkas. Sie sah Carsten mit gesenktem Kopf von der Seite an. Zuerst hatte er es gemocht, wenn sie sich an den Händen gehalten hatten, jetzt war das anders. Carsten war so seltsam geworden, so abweisend und kühl. Und Angelika glaubte auch den Grund dafür zu kennen: Das andere Mädchen, von dem sie erfahren hatte, war hübscher als sie. Sie versuchte, die Andere aus ihren Gedanken zu drängen. Ging nicht Carsten mit ihr in der Nacht spazieren? Bekannte er sich nicht öffentlich zu ihr? Sollte ihr das eigentlich nicht genug sein? Ja, Carsten, der Fußballer, der Mädchenschwarm, er gehörte nur ihr. Mit fast schon seligem Blick himmelte sie ihn von der Seite an. Nein, es stand ihr nicht zu, über ihn zu urteilen. Und vermutlich hätte er das auch nicht zugelassen. Mit Aufdringlichkeit konnte sie sich alles verderben.

Nebeneinander schlendernd, erreichten sie die Innenstadt. Vor der Metzgerei Häckel blieben sie stehen.

»Ich muss gehen«, sagte Carsten.

»Ja«, antwortete sie und hoffte zumindest auf einen Abschiedskuss.

Er streichelte ihr übers Haar.

»Bist ein nettes Mädchen«, sagte er.

Dann ging er. Er ging, ohne sich nochmal umzudrehen und ohne sie zum Abschied zu küssen.

»Sehen wir uns morgen?«, rief sie ihm nach.

»Kann sein«, antwortete er und eilte davon.

Angelika blieb allein zurück. Bis nach Hause war es noch eine gute Viertelstunde. Die Stadt schien wie ausgestorben, doch die Nacht und die Stille ängstigten sie nicht. Nicht im Moment. In der erfüllenden Hoffnung, ihre große, ihre erste und einzige Liebe morgen wieder zu sehen, lief sie die Straße entlang, halb hüpfend, halb tanzend.

Während sich das Mädchen unbekümmert entfernte, ging im Rückgebäude der Metzgerei das Licht an. Die Tür wurde geöffnet und ein breiter, schwarzhaariger Schädel schob sich durch den Spalt hervor. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass sich niemand mehr auf der Straße befand, zwängte sich Karl Häckel nach draußen. Er schaltete das Licht aus und verriegelte die Tür.

Metzgermeister Karl Häckel trug einen langen, gewachsten Trenchcoat, der so schwarz war wie sein krauses Haar. Er schlug den breiten Kragen hoch, so dass nur noch das kantige Gesicht und die riesigen Hände, die Schaufeln ähnelten, hervor spitzten. Als er auf ausgetretenen, lautlosen Turnschuhen die Straße entlang lief oder mehr schlich, erinnerte seine vage Gestalt in der Dunkelheit an Quasimodo, den buckligen Glöckner. Sein eingezogener Kopf und der bullige Nacken erweckten den Anschein eines unliebsamen Zeitgenossen, jetzt in der Nacht, wirkte er geradezu bedrohlich.

Im Schein einer Laterne blieb er kurz stehen, zog den Kragen noch ein Stück höher, und wieder sah er sich um. Für einen Moment war sein Gesicht hell beleuchtet. Es war ein Gesicht, bei dem alle Teile schön geformt waren, doch keines mit dem anderen harmonierte, als wären sie aus verschiedenen Gesichtern zusammengesetzt worden. Das Kinn und die äußere Form des Kopfes waren eckig, die Lippen voll und rund, die Nase stumpf, klobig, und dazu die Augen einer sensiblen, verführerischen Frau, deren Blick die Sehnsucht nach unerfüllten Wünschen verriet. Die Brauen fehlten fast vollständig. Nur einzelne Härchen lagen auf der blassen, fettigen Haut wie verstreute Schokostreusel. Dagegen wirkte das Haupthaar wie ein schwarzer, undurchdringlicher Urwald. Es hing zottelig herab und verdeckte im linken Ohr ein kleines Gerät.

Fremde, die die aufragende, kräftige Figur und das unglücklich gestaltete Gesicht Karls zum ersten Mal sahen, reihten ihn ohne Überlegung in einen jener harten Berufe ein, zu denen der Schlachter zweifellos gehörte. In der Stadt jedoch war Karl jedem als gutmütiger, beinahe devoter Mann bekannt, ein Wesen, das so gar nicht ins Bild eines Menschen passte, der tagtäglich mit dem Tod und mit Blut zu tun hatte, und dessen Geschäft das Töten war. Dass ihn nachts manchmal die Unruhe aus dem Haus trieb, wurde ihm tolerant zugestanden, wenngleich damit unzüchtige Gedanken verbunden wurden. Was verleitete ihn zu seinen einsamen Gängen, welcher Trieb zwang ihn Nacht für Nacht hinaus? Aber auch niemand versuchte ihn aus seinem Elfenbeinturm zu holen, ihn in den Löweneinzuladenoder näheren Kontakt mit ihm aufzubauen. Der einzige Kontakt bestand aus ein paar freundlichen Worten, die man von Kunde zu Verkäufer über die Ladentheke hinweg wechselte. Und alles, was sie von Karl wussten, beschränkte sich auf diese flüchtigen Kontakte und die wenigen Auskünfte, die dem wortkargen Mittvierziger zwischen Salami, gekochtem Schinken und Steaks zu entlocken waren. Hätte sich jemand ernsthaft die Mühe gemacht, über Karl nachzudenken, dann hätte er feststellen müssen, sehr wenig, eigentlich gar nichts über den Schlachter zu wissen.

Nun, man hielt Karl im Grunde für harmlos. Begegnete man ihm allerdings unvermutet in der Nacht, so konnte man im ersten Moment schon erschrecken. Vor allem, wenn man verliebt war, wenn die Gedanken beim Liebsten weilten, wenn man tanzend durch die Straßen schwebte und einem das Glück Flügel verlieh und an alles Schöne glaubte, nur nicht ans Schlechte, ans Böse.

Der sehnsüchtige Blick des Schlachters sah sich prüfend um. Er war allein. Die Wolken hingen nicht mehr über der Stadt, sie senkten sich lautlos nieder und setzten sich auf den Asphalt. Der Nebel verschluckte die letzten Spuren von Geräuschen.

Karl lief ziellos weiter. An der kahlen Fassade von Barrs Zementfabrik vorbei, entlang der aufragenden gotischen Kirche, zu Krohns Gebrauchtwagenhandel, zum erst kürzlich renovierten Rathaus mit den Burg ähnlichen Portalen und durch den kleinen englischen Park wieder zurück in die Innenstadt. Karl lief nicht einfach dahin, immer wieder blieb er wahllos vor einem Fenster stehen und blickte unerkannt in ein Wohnzimmer, in eine Küche und dann und wann auch in ein Schlafzimmer.

Von Geburt an war er schwerhörig. Ein Makel, der nicht gleich bemerkt worden war. Karl musste so manchen Schlag von seinem Vater einstecken, weil er nicht hören wollte, bevor erkannt wurde, dass er nicht alles hören konnte.Karl lebte in einer stillen, versunkenen und verträumten Welt. Er entwickelte eine erstaunliche Fähigkeit, von den Lippen abzulesen, und manchmal war ihm, als verstünde er die Gedanken seiner Mitmenschen. Erst logopädische Bemühungen und später ein kleines Gerät im Ohr rissen ihn in eine andere, laute und grelle Welt, in der er nie so ganz zurecht kam. Seines unförmigen Gesichtes wegen und wegen diesem Fremdkörper im Ohr, hatte er einiges einzustecken und stand draußen vor, wo andere miteinander lebten.

Im Schutz der Dunkelheit schielte Karl in die beleuchteten Zimmer. Die Lippen der ahnungslosen Bewohner ließen teilhaben an einer Welt, zu der ihm selbst der Zugang verwehrt blieb. Er wusste deshalb viel von den Leuten, mehr, als ihnen lieb war. Doch er behielt es für sich. All die kleinen und großen Geheimnisse, die Lügen und Verfehlungen, die geisterhaft durch geschlossene Scheiben zu ihm schwebten, bewahrte er für sich. Sie verliehen ihm eine Art schützende Sicherheit, nein, mehr noch, sie verliehen ihm Macht.

Ein unbändiger Drang trieb Karl hinaus in die Nacht. Die Nacht, die Freundin der Schwachen, der Trostlosen, der Unterdrückten, der Belogenen. Wie süß ist die Nacht, denn sie schweigt. Die Nacht war Karl zur liebsten Gefährtin geworden, zur einzigen Gefährtin.

Im Löwenbrannte noch Licht. Karl lehnte sich wie ein Dieb an die Wand und lugte durchs Fenster. Nur noch ein einziger Tisch war besetzt. Er kannte sie alle, die dort bei rotem Wein saßen und sich unterhielten: den Autohändler Phillip Krohn und seine fettleibige Frau Agnes, neben ihnen Eugen Heller, der Priester, dessen jungenhaftes Gesicht eher an einen Pubertierenden erinnerte als an einen sechsundvierzigjährigen, promovierten Geistlichen. Auf der Bank zum Kachelofen hatte das Ehepaar Acker Platz gefunden. Helmut Acker, der Bürgermeister, unterstrich jedes seiner Worte mit gestenreichen Handbewegungen, während sich seine Frau Monika, eine ehemalige Jurastudentin und zudem eine äußerst attraktive Erscheinung, auf zustimmendes Kopfnicken beschränkte, nur hin und wieder ins Gespräch einfiel, aber stets im Sinne ihres Mannes. Der Bürgermeister befand sich in einer Phase der demonstrativen Darstellung – es ging auf die nächste Wahl zu – und dankte es Monika, dass sie ihm in der Öffentlichkeit nicht in den Rücken fiel und die schwere Zeit nicht noch schwerer machte.

Der Lehrer Maximilian Mitterteich schloss die Runde ab. Seine Schüler nannten ihn hinter vorgehaltener Hand 'Maximum', da Mitterteichs hervorstechendste Eigenart war, von allem und jedem das Äußerste, das Maximum zu erwarten und auch zu fordern. Das Maximum an Ausdauer, Leistung und Ehrlichkeit. Auch an sich selbst stellte der Junggeselle höchste Anforderungen, was die Wahl einer Lebenspartnerin einschloss und die Tatsache belegte, dass er noch keine Frau gefunden hatte, die diesen hohen Ansprüchen genügte.

Von seinem Posten aus konnte Karl sehr gut sehen, da er sich selbst im Dunkeln befand, während sich ihm dort eine beleuchtete Bühne bot. So entging ihm nicht, dass auf dem Tisch bedruckte Blätter lagen, die von Krohn, Mitterteich und Acker unterschrieben wurden und die der Bürgermeister anschließend sorgfältig faltete und in seine Jackeninnentasche schob. Der Umstand, dass die vier angesehensten und ehrenwertesten Bürger der Stadt zusammensaßen und berieten, verleitete zu der Annahme, es handle sich bei ihrem Gespräch um das Wohl der Stadt. Doch Gestik und Lippen sprachen jetzt lautlose Worte, die der Bevölkerung gar nicht gefallen würden.

Allerdings vereinnahmte jetzt etwas anderes Karls Interesse. Und das hing mit der Bedienung zusammen. Auch sie kannte er, denn sie stammte aus dieser Stadt. Sie hieß Alena. Sobald die adrette Blondine auf der Bildfläche erschien, wiederholten sich jedes Mal zwei Szenen. Die erste Auffälligkeit war die Unterbrechung des Gesprächs. Sooft Alena die Tür öffnete und in die Wirtsstube trat, schwenkten die Herrschaften auf ein anderes Thema.

Die zweite Besonderheit betraf die Frau des Bürgermeisters. Monika Acker saß an der Tischecke, so dass sie von Karl fast vollständig gesehen wurde. Sie trug einen wollenen Rollkragenpullover, einen knielangen schwarzen Rock, schwarze Nylonstrümpfe und Lackschuhe mit Plateausohlen. Das Gespräch der Männer schien sie zu langweilen, so lehnte sie meist desinteressiert an den Kacheln des Ofens, die Beine übergeschlagen. Hin und wieder rutschte ihr der Rock etwas zurück, und mit geziertem Gehabe zupfte sie den Stoff zurecht. Es machte den Anschein, als wäre Monika diese partielle Entblößung unangenehm, um so mehr wunderte sich Karl über ihr Verhalten, sobald Alena kam, um Wein nachzuschenken. Monika schlug dann jedes Mal die Beine wieder übereinander, und zwar so übertrieben, dass der Rock über das Ende der Nylons hinauf rutschte und einen Teil der nackten Schenkel freilegte. Gleichzeitig beugte sie sich geschickt nach vorne, damit ihr Gatte nichts davon mitbekam, tat aber im Übrigen gleichgültig, auch Alena gegenüber.

Monika Ackers sonnengebräunte Schenkel erinnerten Karl an Serena. Er war damals vierzehn gewesen, Serena, eine große, korpulente Frau Mitte Dreißig und Verkäuferin im Laden der Eltern. Serena kam in den Schlachtraum und zog Karl aus. Dann zog sie sich aus, und Karl sah zum ersten Mal in seinem Leben eine nackte Frau. Dann setzte sie sich auf ihn. Seine Mutter erwischte beide. Sie prügelte Serena zur Tür hinaus, dann prügelte sie Karl. Während sie mit dem Brühsieb auf ihn eindrosch, brüllte sie: »Du Verdammter! Du Elendiger! Du Gottloser!« Unablässig prügelte sie die Sünde aus ihm, bis Karl stürzte und mit der Schulter gegen den Kutter schlug. Sein Nacken stauchte dabei und entstellte ihn fortan. Seine Mutter sagte aber nur philiströs: »Gott straft dich damit!«

Karl hatte seitdem nie wieder etwas mit einer Frau gehabt.

Auf einmal fror er. Der Nebel kroch feucht unter seinen Mantel. Während er überlegte, ob er den Standort wechseln sollte, um woanders ein lohnendes Objekt seiner nächtlichen Aktivität zu suchen, erhoben sich drinnen in der Wirtsstube die Eheleute Acker und verabschiedeten sich. Karl musste sich erst einmal verbergen. Lautlos lief er über den gepflasterten Platz in den Park.

Bürgermeister Acker und seine Gattin Monika verließen den Löwen, fröstelten kurz, als sie in die Kälte traten, hakten sich unter und liefen dann in den Park. Ihre Schritte knirschten auf dem Kiesweg.

»Wartest du einen Moment?«, fragte Monika unvermutet.

»Wir kommen eben aus dem Gasthaus und sind in zwei Minuten zu Hause«, erwiderte er gereizt. Er wunderte sich nicht, weil seine Frau häufig diesen plötzlichen Drang verspürte, aber er verstand es auch nicht.

»Nur eine Sekunde«, versprach sie.

»Du weißt, ich mag das nicht. Du bist die Frau des Bürgermeisters. Wenn dich jemand sieht. Ich bin sicher, du kannst es bis in die Wohnung aushalten.«

Um ihrer Bitte Nachdruck zu verleihen, trat sie von einem Bein aufs andere und bewegte unruhig ihre Hüfte, als würde eine ganze Flut nach außen drängen.

»Bitte, Helmut, es ist notwendig.«

»Beeil dich!«, willigte er schließlich ein. »Es ist kalt.«

Monika eilte hinter einen Busch. In der Nähe stand eine altmodische Laterne, und in den Häusern am Rande des Parks brannten noch Lichter. Sie griff unter ihren Rock und zog das Höschen bis zu den Füßen herunter.

Etwa zwei Meter neben ihr traf das Laternenlicht auf den knorrigen Stamm einer Ulme, hinter der ein schwarzhaariger Schädel verschwand. Monika bemerkte ihn. Sie drehte sich etwas zur Seite. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie den Baumstamm. Zögernd erschien der Schädel wieder. Sie lüpfte den Rock, zog ihn mehr als nötig bis zur Brust hoch und entblößte dadurch ihren Unterkörper. Sie ging in die Hocke, den Rock dennoch nach oben haltend, und entspannte sich. Ihr Geschäft war schnell erledigt, doch blieb sie noch eine Weile in der Stellung hocken.

»Beeil dich!«, rief der Bürgermeister ungeduldig, während er nervös um sich blickte. Nicht auszudenken, wenn jemand seine Frau so sähe, und sei es es nur einen Handbreit ihrer Schenkel. Die nächste Wahl wäre damit verloren.

»Ich komme schon!«, antwortete Monika laut. Sie stand auf, biss in den Rocksaum, beugte ihren Rücken und zog das Höschen umständlich nach oben. Erst jetzt ließ sie den Rock nach unten fallen. Sie schmunzelte, als sie mit einer schnellen Bewegung zur Ulme blickte und gerade noch einen Haarbüschel dahinter verschwinden sah. Dann lief sie zurück zu ihrem Mann.

Während er sie eindringlich bat, künftig bedachter zu handeln, und sie versprach, den Arzt wegen der vermeintlichen Blasenschwäche zu konsultieren, entfernten sie sich. Sie verschwanden im Nebel und mit ihnen verklangen ihre Stimmen.

Karl wartete noch einen Moment. Erst dann trat er hinter der Ulme hervor. Er war sich sicher, nicht bemerkt worden zu sein. Auch er setzte nun seinen heimlichen, ziellosen Weg fort, nur begleitet von einer ungestillten Erregung, und auch ihn erfasste der Nebel und verwandelte ihn in eine verschwommene, unsichtbare Gestalt.

Angelika war noch kurz zum Stadtbrunnen gelaufen. Zwei bronzene, überdimensionale Tauben, die sich turtelnd in die metallenen Augen sahen, schimmerten im fahlen Licht. Der Brunnen war schon alt, doch nach wie vor zeugten die Tauben von der Eintracht und dem Frieden und auch von der Liebe. Attribute, die man gerne erwähnte, wenn man von dieser, seiner Stadt sprach.

Hier, unter den ausgebreiteten Flügeln der Bronzetauben, einem Ort, der symbolträchtiger nicht sein konnte, hatte Carsten sie vor einem halben Jahr zum ersten Mal geküsst. Wie viel Zeit sie vergeudet hatten, denn sie kannten sich schon als Kinder, er hatte sie da nur noch nicht wahrgenommen. Sie dagegen himmelte ihn schon damals an, wenn er Fußball spielte oder mit anderen Jungs zusammen stand und sie miteinander alberten. Und dann küsste Carsten sie eines Tages. Angelika fragte nie, wie es dazu kam, weshalb er ihr plötzlich zugeneigt war, doch sie hätte singen und tanzen und jauchzen wollen, so glücklich war sie.