Gespräche mit Kafka - Gustav Janouch - E-Book

Gespräche mit Kafka E-Book

Gustav Janouch

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Beschreibung

'Janouch war der Sohn eines Kollegen Kafkas in der Arbeiter-Versicherungs-Anstalt, der seinen Sohn, weil er dichtete, einmal zu Kafka brachte. Kafka nahm den jungen Mann mit großer Liebenswürdigkeit auf; er traf öfter mit ihm zusammen und sprach mit ihm über die verschiedensten literarischen Gegenstände. Nach einem Vierteljahrhundert hat nun Janouch nach den Notizen, die er sich über diese Gespräche machte, ein Erinnerungsbuch geschrieben. Er sandte das Manuskript an Max Brod, der es - nach Inhalt und Form der Gespräche - für authentisch erklärte. Es steht wohl außer Frage, dass die veröffentlichten Gespräche auf wirklich stattgefundenen Unterredungen beruhen, wenn auch ihre Formulierung bei der nachträglichen Stilisierung vermutlich eine etwas entschiedenere Fassung erhielt, als Kafka sie ihr ursprünglich gegeben haben mag. Dennoch ist Janouchs Buch als eine wertvolle biographische Quelle zu betrachten.' (Felix Weltsch)

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Gustav Janouch

Gespräche mit Kafka

Aufzeichnungen und Erinnerungen

onomato

Impressum

© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Umschlagentwurf und Satz: Hanna Koch

isbn 978-3-944891-31-6

Vorbemerkung

Ich habe den Dichter Franz Kafka im Jahre 1920 kennengelernt.

Im Jahre 1926 beteiligte ich mich mit Ratschlägen an der tschechischen Ausgabe der Erzählung Die Verwandlung, welche Ludwig Vrána übersetzte und Josef Florian herausgab.

Für Josef Florian übersetzte ich in den Sommermonaten 1926 sechs Erzählungen aus dem Buche Ein Landarzt. Von diesen tschechischen Übersetzungen erschien im Druck aber nur eine, und zwar Ein Traum, im Jahre 1929 als Einleitung zu dem Zyklus von sechs Originalradierungen, welche der deutsche Maler Otto Coester über das Thema Die Verwandlung schuf.

In dieser Zeit forderte mich Josef Florian auf, meine Tagebucheintragungen und Notizen über Franz Kafka zu ordnen und für eine Herausgabe in tschechischer Sprache vorzubereiten.

Ich schrieb also die in Betracht kommenden Tagebuchstellen aus den verschiedenen Heften auf einzelne Blätter, deren tschechische Reinschrift ich Josef Florian übergab. Zu einer Herausgabe meiner Eintragungen kam es aber damals nicht, da ich von Josef Florian abfiel.

Es kamen dann lange Jahre unruhigen Wanderns über mich, welche in das Elend des Zweiten Weltkrieges und die Verwirrung und Unruhe der Gegenwart mündeten. Ich erlebte tödliche Angst, Verfolgung und Kerkerung, tierischen Hunger, Schmutz und Kälte, dumme amtliche Rohheit, das Chaos als Prinzip einer scheinbar verständig organisierten Welt: Kafkas dämmeriges Schattenreich wurde ganz gewöhnliches persönliches Erlebnis des Alltags.

Ich erinnere mich daran, wie er mir einmal sagte: „Es müssen oft sehr lange Jahre vergehen, ehe das Ohr für eine bestimmte Geschichte reif wird. Die Menschen aber müssen – so wie unsere Eltern und überhaupt alles, was wir lieben und fürchten sterben, damit wir sie richtig begreifen.“

Ich hörte wieder Franz Kafkas Stimme, sah seine Kanzlei, den Schreibtisch, die gelbe Wand des alten Prager Hotels Zum goldenen Fasan hinter dem Fenster.

Ich erinnerte mich meiner Handschrift, die ich vor Jahren Josef Florian übergab, suchte zwischen meinen Papieren und Büchern daheim und bei Freunden und fand das tschechisch-deutsche und deutsch-tschechische Konzept der längst schon verlorenen Reinschrift. Aus den seltsam fremden und doch so bekannten Zeilen trat mir mein mehr als zweiundzwanzig Jahre altes Bild entgegen. Vieles war noch unentwickelt. Gerne hätte ich diesen oder jenen Federzug geändert, doch ruhte in den knabenhaft eingebildeten Augen der leicht vorgebeugte Schatten der hohen Gestalt Franz Kafkas.

Daher beschränkte ich mich bloß auf eine Sichtung, Ordnung und Übertragung der alten Erinnerungen.

Prag, Juni 1947 Gustav Janouch

Gespräche mit Kafka

Eines Tages gegen Ende März 1920 sagte mir mein Vater beim Abendessen, ich solle ihn im Laufe des nächsten Vormittags in seiner Kanzlei besuchen.

„Ich weiß, wie oft du die Schule schwänzt, um in die städtische Bibliothek zu gehen“, bemerkte er. „Komme morgen also zu mir. Und ziehe dich anständig an. Wir werden jemanden besuchen.“

Ich fragte, wohin wir zusammen gehen würden. Es schien mir so, als hätte ihn meine Neugierde unterhalten. Doch eine Auskunft gab er mir nicht. „Frage nicht“, sagte er. „Sei nicht neugierig und lass dich überraschen.“

Als ich mich dann am nächsten Tage kurz vor Mittag in seiner Kanzlei im dritten Stock der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt 1 einstellte, musterte er mich sorgfältig vom Scheitel bis zur Sohle, öffnete die mittlere Schublade des Schreibtisches, entnahm ihr eine grüne Mappe mit der kalligraphischen Aufschrift Gustav, legte sie vor sich hin und betrachtete mich lange.

„Warum stehst du?“ fragte er nach einer Weile. „Setz dich.“ Der gespannte Ausdruck meines Gesichtes verursachte ein leichtes, schelmisches Zusammenziehen seiner Augenlider. „Fürchte dich nicht, ich will dich nicht ausschimpfen“, begann er freundschaftlich. „Ich will mit dir sprechen wie ein Kamerad mit einem Kameraden. Vergiss, dass ich dein Vater bin, und hör mich an. Du schreibst Gedichte.“

Er sah mich an, als würde er mir eine Rechnung vorlegen.

„Wieso weißt du das?“ stotterte ich. „Wie hast du das erfahren?“

„Das ist einfach“, sagte der Vater. „Jeden Monat kommt eine große Rechnung für das Licht. Ich forschte nach der Ursache dieses erhöhten Verbrauches, und so entdeckte ich, dass du in deinem Zimmer bis spät in die Nacht hinein Licht hast. Ich wollte wissen, was du da eigentlich treibst, also passte ich auf. Ich stellte fest, dass du schreibst und schreibst und immer wieder das Geschriebene zerreißt oder schamhaft unten im Pianino versteckst. Ich habe mir die Sachen also eines Vormittages, als du in der Schule warst, angesehen.“

„Und?“

Ich schluckte den Speichel.

„Und nichts“, sagte der Vater. „Ich entdeckte ein schwarzes Heft mit der Aufschrift Buch der Erfahrungen. Das interessierte mich. Als ich jedoch feststellte, dass das dein Tagebuch war, legte ich es zur Seite. Ich will dir nicht die Seele ausplündern.“

„Aber die Gedichte hast du gelesen.“

„Ja, die habe ich gelesen. Sie waren in einer dunklen Aktenmappe mit der Aufschrift Buch der Schönheit. Vieles war mir unverständlich. Etwas davon muss ich als dumm bezeichnen.“

„Warum hast du es gelesen?“

Ich war siebzehn Jahre alt, und darum war jede Berührung eine Majestätsbeleidigung.

„Warum soll ich es nicht lesen? Warum soll ich deine Arbeit nicht kennenlernen? Einige von den Gedichten haben mir sogar gefallen. Ich hätte gern ein fachliches Urteil aus berufenem Munde gehört. Also habe ich sie abstenographiert und in der Kanzlei auf der Schreibmaschine abgeschrieben.“

„Welche Gedichte hast du abgeschrieben?“

„Alle“, antwortete mein Vater. „Ich achte nicht nur das, was ich verstehe. Ich wollte doch nicht meinen Geschmack, sondern deine Arbeit beurteilen lassen. Darum habe ich alles abgeschrieben und Doktor Kafka zur Beurteilung vorgelegt.“

„Was ist das für ein Doktor Kafka? Du hast nie von ihm gesprochen.“

„Er ist ein guter Freund von Max Brod“, erklärte der Vater. „Max Brod widmete ihm sein Buch Tycho Brahes Weg zu Gott.“ 2

„Das ist also der Dichter der Verwandlung“, rief ich aus. „Eine phantastische Erzählung! Du kennst ihn?“

Mein Vater nickte.

„Er ist in unserer Rechtsabteilung.“

„Was sagte er über die Sachen von mir?“

„Er lobte sie. Ich dachte, dass er das nur so meint. Dann ersuchte er mich aber, ich solle ihn mit dir bekannt machen. Ich sagte ihm also, dass du heute kommst.“

„Das ist also der Besuch, von dem du gesprochen hast.“

„Ja, das ist der Besuch, du Kritzler.“

Der Vater führte mich in den zweiten Stock hinunter, wo wir in eine ziemlich große, gut eingerichtete Kanzlei eintraten.

Hinter einem von zwei nebeneinander stehenden Schreibtischen saß ein hoher, schlanker Mann. Er hatte schwarzes, zurückgekämmtes Haar, eine höckerige Nase, wunderbare graublaue Augen unter einer auffallend schmalen Stirn und bittersüß lächelnde Lippen.

„Das ist sicher derjenige“, sagte er an Stelle einer Begrüßung.

„Das ist er“, sagte mein Vater. Doktor Kafka reichte mir die Hand.

„Vor mir brauchen Sie sich nicht zu schämen. Ich habe auch eine große Lichtrechnung.“

Er lachte, und meine Schüchternheit schwand.

‚Das ist also der Dichter der geheimnisvollen Wanze Samsa‘, sagte ich mir, enttäuscht davon, einen einfachen, zivilen Mann vor mir zu sehen.

„In Ihren Gedichten ist noch viel Lärm“, sagte Franz Kafka, als uns der Vater allein in der Kanzlei zurückließ. „Das ist eine Begleiterscheinung der Jugend, die auf einen Überschuss von Lebenskräften hinweist. Es ist also selbst dieser Lärm schön, obwohl er mit der Kunst nichts gemeinsam hat. Im Gegenteil! Der Lärm stört den Ausdruck. Aber ich bin kein Kritiker. Ich kann mich nicht rasch in etwas verwandeln, dann zu mir zurückkehren und die Entfernung genau abmessen. Wie gesagt – ich bin kein Kritiker. Ich bin nur Gerichteter und Zuschauer.“

„Und der Richter?“ fragte ich.

Kafka lächelte verlegen.

„Zwar bin ich auch der Gerichtssaaldiener, doch kenne ich die Richter nicht. Wahrscheinlich bin ich ein ganz kleiner Aushilfsgerichtsdiener. Ich habe nichts Definitives.“ Kafka lachte. Ich lachte mit ihm, obwohl ich ihn nicht verstand.

„Definitiv ist nur das Leid“, sagte er ernst. „Wann schreiben Sie?“

Ich war durch diese Frage überrascht, darum antwortete ich schnell: „Abends, in der Nacht. Während des Tages sehr selten. Ich kann während des Tages nicht schreiben.“

„Der Tag ist ein großer Zauber.“

„Es stört mich das Licht, die Fabrik, die Häuser, die Fenster gegenüber. Hauptsächlich aber das Licht. Das Licht lenkt die Aufmerksamkeit ab.“

„Vielleicht lenkt es vom Dunkel des Inneren ab. Es ist gut, wenn das Licht den Menschen überwältigt. Wenn es nicht diese grauenvollen, schlaflosen Nächte gäbe, so würde ich überhaupt nicht schreiben. So wird mir aber immer wieder meine dunkle Einzelhaft bewusst.“

‚Ist er nicht selbst die unglückliche Wanze aus der Verwandlung?‘ fiel mir ein.

Ich war froh, dass sich die Tür öffnete und mein Vater eintrat.

Kafka hatte große graue Augen unter dichten dunklen Brauen. Sein braunes Gesicht ist sehr lebhaft. Kafka spricht durch sein Gesicht.

Wo er das Wort durch eine Bewegung der Gesichtsmuskeln ersetzen kann, tut er es. Ein Lächeln, Zusammenziehen der Augenbrauen, Kräuseln der schmalen Stirne, Vorschieben oder Spitzen der Lippen – das sind Bewegungen, die gesprochene Sätze ersetzen.

Franz Kafka liebt Gesten und darum geht er mit ihnen sparsam um. Seine Geste ist keine das Gespräch begleitende Verdoppelung des Wortes, sondern Wort einer gleichsam selbständigen Bewegungssprache selbst, ein Verständigungsmittel, also keineswegs passiver Reflex, sondern zweckmäßiger Willensausdruck.

Falten der Hände, ausgebreitetes Hinlegen der Handflächen auf die Schreibunterlage des Schreibtisches, behagliches und dabei doch gespanntes Zurückbeugen des Oberkörpers im Stuhl, Vorbeugen des Kopfes in Verbindung mit Hochziehen der Schultern, Pressen der Hand ans Herz – das ist ein kleiner Teil seiner sparsam angewendeten Ausdrucksmittel, die er immer mit einem entschuldigenden Lächeln begleitet, als wollte er sagen: ‚Es ist wahr, und ich gestehe, dass ich spiele; doch hoffe ich, dass euch mein Spiel gefällt. Und dann – dann mache ich das ja nur, um euer Verständnis auf eine ganz kleine Weile zu gewinnen.‘

„Doktor Kafka hat dich sehr gern“, sagte ich zu meinem Vater. „Wie seid ihr eigentlich miteinander bekannt geworden?“

„Wir kennen einander aus der Kanzlei“, antwortete mein Vater. „Näher zusammengekommen sind wir erst nach meinem Entwurf der Kartothekschränke. Doktor Kafka hat das Modell, welches ich verfertigte, sehr gefallen. Wir kamen ins Gespräch, und er gestand mir, dass er nachmittags nach den Kanzleistunden bei dem Tischler Kornhäuser in der Poděbradgasse in Karolinenthal 3 ‚Stunden nehme‘. Von der Zeit an sprachen wir öfter über persönliche Dinge. Dann gab ich ihm deine Gedichte, und so wurden wir – gute Bekannte.“

„Warum nicht Freunde?“

Mein Vater schüttelte den Kopf. „Für eine Freundschaft ist er zu scheu und zu verschlossen. “

Während meines nächsten Besuches bei Kafka fragte ich: „Gehen Sie noch zu dem Tischler nach Karolinenthal?“

„Sie wissen davon?“

„Mein Vater hat es mir gesagt.“

„Nein, ich gehe schon lange nicht mehr hin. Mein Gesundheitszustand erlaubt es nicht mehr. Seine Majestät der Körper.“

„Das kann ich mir vorstellen. Die Arbeit in der verstaubten Werkstätte ist nichts Angenehmes.“

„Da irren Sie aber. Ich liebe die Arbeit in der Werkstätte. Der Geruch des gehobelten Holzes, das Singen der Säge, die Hammerschläge, alles bezauberte mich. Der Nachmittag schwand nur so dahin. Der Abend setzte mich immer in Erstaunen.“

„Da waren Sie sicherlich müde.“

„Ich war müde, aber auch glücklich. Es gibt nichts Schöneres als so ein reines, greifbares, allgemein nützliches Handwerk. Außer der Tischlerei habe ich schon in der Landwirtschaft und in der Gärtnerei gearbeitet. Das war alles viel schöner und wertvoller als der Frondienst in der Kanzlei. Anscheinend ist man da etwas Höheres, Besseres; aber das ist eben nur Anschein. In Wirklichkeit ist man bloß einsamer und darum unglücklicher. Das ist alles. Intellektuelle Arbeit reißt den Menschen aus der menschlichen Gemeinschaft. Das Handwerk dagegen führt ihn zu den Menschen. Schade, dass ich nicht mehr in der Werkstatt oder im Garten arbeiten kann.“

„Sie möchten doch nicht Ihren Posten hier aufgeben?“

„Warum nicht? Ich träumte davon, dass ich als Landarbeiter oder Handwerker nach Palästina gehe.“

„Sie würden alles hier zurücklassen?“

„Alles, um ein sinnvolles Leben in Sicherheit und Schönheit zu finden. Kennen Sie den Dichter Paul Adler?“ 4

„Ich kenne nur sein Buch Zauberflöte.“

„Er ist in Prag. Mit seiner Frau und den Kindern.“

„Was hat er für einen Beruf ?“

„Gar keinen. Er hat keinen Beruf, sondern nur seine Berufung. Mit seiner Frau und den Kindern fährt er von einem Freund zum anderen. Ein freier Mensch und Dichter. Ich bekomme in seiner Nähe immer Gewissensbisse, dass ich mein Leben in einer Kanzleiexistenz ertrinken lasse.“

Im Mai 1921 schrieb ich ein Sonett, das Ludwig Winder5in der Sonntagsbeilage derBohemiaveröffentlichte.

Kafka sagte bei dieser Gelegenheit: „Sie beschreiben den Dichter als einen wunderbar großen Menschen, dessen Füße sich auf der Erde befinden, während der Kopf in den Wolken schwindet. Das ist natürlich ein ganz gewöhnliches Bild im Vorstellungsrahmen der kleinbürgerlichen Konvention. Es ist eine Illusion verborgener Wünsche, die mit der Wirklichkeit nichts Gemeinsames hat. In Wirklichkeit ist der Dichter immer viel kleiner und schwächer als der gesellschaftliche Durchschnitt. Er empfindet darum die Schwere des Erdendaseins viel intensiver und stärker als die anderen Menschen. Sein Gesang ist für ihn persönlich nur ein Schreien. Die Kunst ist für den Künstler ein Leid, durch das er sich für ein neues Leid befreit. Er ist kein Riese, sondern nur ein mehr oder weniger bunter Vogel im Käfig seiner Existenz.“

„Sie auch?“ fragte ich.

„Ich bin ein ganz unmöglicher Vogel“, sagte Franz Kafka. „Ich bin eine Dohle – eine kavka. Der Kohlenhändler im Teinhof hat eine. Haben Sie sie gesehen?“

„Ja, sie läuft vor dem Geschäft herum.“

„Ja, meiner Verwandten geht es besser als mir. Es ist zwar wahr, sie hat die Flügel beschnitten. In meinem Falle war es aber überhaupt nicht notwendig, da meine Flügel verkümmert sind. Aus diesem Grunde gibt es für mich keine Höhen und Weiten. Verwirrt hüpfe ich zwischen den Menschen herum. Sie betrachten mich voller Mißtrauen. Ich bin doch ein gefährlicher Vogel, ein Dieb, eine Dohle. Das ist aber nur Schein. In Wirklichkeit fehlt mir der Sinn für glänzende Dinge. Aus dem Grunde habe ich nicht einmal glänzende schwarze Federn. Ich bin grau wie Asche. Eine Dohle, die sich danach sehnt, zwischen den Steinen zu verschwinden. Aber das ist nur so ein Scherz, damit Sie nicht merken, wie schlecht es mir heute geht.“

Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie oft ich bei Franz Kafka in der Kanzlei war. An eines erinnere ich mich jedoch ganz genau: An seine Körperhaltung, wenn ich – eine halbe oder eine ganze Stunde vor Schluss der Amtsstunden – die Tür im zweiten Stock der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt öffnete.

Er saß hinter dem Schreibtisch, den Kopf nach rückwärts gebeugt, die Beine ausgestreckt, die Hände lose auf der Tischplatte.

Fillas Bild Dostojewskis Leser erfasst ein wenig die Pose, welche er einnahm. Es war hier eine große Ähnlichkeit zwischen Fillas Bild und Franz Kafkas Körperhaltung. Doch das war nur etwas rein Äußerliches. Hinter der formalen Ähnlichkeit war eine große innere Verschiedenheit.

Fillas Leser war durch etwas überwältigt, wogegen Kafkas Körperhaltung eine gewollte, und darum sieghafte Hingabe ausdrückte. Die schmalen Lippen umgab ein dünnes Lächeln, welches viel mehr der rührende Abglanz einer entfernten fremden Freude als ein Ausdruck eigenen Frohseins war. Die Augen sahen den Menschen immer ein wenig von unten an. Franz Kafka hatte so eine seltsame Haltung, als möchte er seine schlanke Größe entschuldigen. Seine ganze Gestalt sah aus, als möchte sie sagen: ‚Ich bin, bitte, ganz unwichtig. Sie machen mir eine große Freude, wenn Sie mich übersehen.‘

Er sprach mit einer schütteren, verschleierten Baritonstimme, welche bewunderungswürdig melodiös war, obwohl sie nie die Mittellage von Kraft und Höhe verließ. Stimme, Gebärde und Blick, alles strahlte die Ruhe des Verstehens und der Güte aus. Er sprach tschechisch und deutsch. Jedoch mehr deutsch. Dabei hatte sein Deutsch einen harten Akzent, ähnlich demjenigen, der das Deutsch der Tschechen charakterisiert. Aber das ist nur eine entfernte, ungenaue Ähnlichkeit. In Wirklichkeit war es doch ganz anders.

Dieser tschechische Akzent des Deutsch, an den ich denke, ist scharf. Die Sprache klingt zerhackt. Diesen Eindruck machte aber Kafkas Sprache nie. Sie wirkte eckig durch die innere Spannung: jedes Wort ein Stein. Seine Härte der Sprache wurde durch die Sehnsucht nach Abgemessenheit und Genauigkeit verursacht. Sie wurde also durch aktive persönliche Eigenschaften und nicht durch passive Gruppenmerkmale bedingt.

Seine Sprache ähnelte seinen Händen.