Glühwein, Schnee und Harzer Knüppel -  - E-Book

Glühwein, Schnee und Harzer Knüppel E-Book

4,8

Beschreibung

Dreizehn spannende, kuriose, witzige und besinnliche Weihnachtskrimis von Christian Amling, Hardy Crueger, Wolf S. Dietrich, Helmut Exner, Rüdiger Glässer, Albrecht Gralle, Andrea Illgen, Corina Klengel, Roland Lange, Sabine Prilop, Mick Schulz, Astrid Seehaus.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 342

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (14 Bewertungen)
11
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalte

Roland Lange (Hrsg.)

Glühwein, Schnee und Harzer Knüppel

Kriminelle Weihnachtsgeschichten aus dem Harz

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren dieser Anthologie entspringen der Phantasie der Autoren. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Authentisch sind hingegen Institutionen, Straßen und Schauplätze im Harz.

Alle Rechte vorbehalten,

auch die des auszugsweisen Nachdrucks

und der fotomechanischen Wiedergabe

sowie der Einspeicherung und Verarbeitung

in elektronischen Systemen.

© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2016

Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

Titelbild: © Daniel Stieglitz, Kassel

E-Book: Prolibris Verlag

E-Book ISBN: 978-3-95475-143-3

Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.

ISBN: 978-3-95475-131-0

www.prolibris-verlag.de

Roland Lange - Harzer Knüppel - Osterode

Es war an einem Nachmittag Anfang Dezember. Die festlich dekorierte Stadt und eine Decke frischgefallenen Schnees ließen erste zaghafte Weihnachtsstimmung aufkommen. Auf der Osteroder Sösepromenade hielten zwei Frauen ungeachtet der Temperaturen ein Schwätzchen miteinander. An die Hand einer der beiden Frauen klammerte sich ein Kind, ihr knapp sechsjähriger Sohn. Der Junge trat von einem Fuß auf den anderen und blickte gelangweilt um sich.

»Mama! Mama! Kuck mal, da!« Plötzlich griff der Bengel seiner Mutter an den Jackensaum, zerrte daran und forderte laut krakeelend ihre Aufmerksamkeit ein.

»Hör sofort damit auf, Niklas! Du siehst doch, dass ich mich unterhalte.« Die Mutter war nicht bereit, den Straßentratsch mit ihrer Bekannten und den Austausch der Rezepte für den Weihnachtsbraten zu unterbrechen.

»Mama, da oben! Der Weihnachtsmann! Was macht der denn da?«

»Niklas, bitte, sei endlich ruhig!«

Klein-Niklas dachte gar nicht daran, der Aufforderung seiner Mutter Folge zu leisten. »Der Weihnachtsmann klettert die Burg rauf«, lärmte der Sohnemann.

Die Burg, die Niklas meinte, ist das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt, die sogenannte Alte Burg. Inmitten des städtischen Friedhofs ragen die beiden steinernen Spitzen des ehemaligen Bergfrieds wie ein Mahnmal in die Höhe. Seit den Mauerresten eine Betonhaube übergestülpt worden ist, um der Erosion Einhalt zu gebieten, kann man, je nach Standort und Betrachtungsweise, in dem linken und kleineren der zwei Zinken durchaus ein Phallussymbol sehen. Und das umso mehr, wenn er in schneereichen Wintern zusätzlich ein weißes Mützchen trägt.

Ganz selbstverständlich thront die Ruine über der Stadt und kaum ein Einheimischer schenkt ihr noch Beachtung. Es ist ja ohnehin so, dass der Blick des Menschen eher nach unten gerichtet ist. Was oben, über seinem Kopf, geschieht, nimmt er meist nicht wahr.

»Herrgott noch mal!«, stieß Mutter einen wenig weihnachtlichen Fluch aus und wandte sich endlich ihrem Sohn zu. »Wenn du nicht gleich den Mund hältst, dann ...« Sie ließ die Drohung unausgesprochen in der Luft hängen, als sie sah, was den Kleinen derart in Erregung versetzte.

An den Mauern der Alten Burg hing der Weihnachtsmann! Genauer gesagt, am linken Zinken, dem Phallussymbol. Ziemlich weit oben, dicht unter der Betonkuppe mit dem Schneehäubchen.

»Das glaube ich jetzt nicht«, murmelte sie perplex.

Ihre Bekannte, eben noch mit den Gedanken bei Bratenrezepten, stimmte mit entsetztem Blick zu: »Das ist ja ...«, stieß sie empört aus. »Wer macht denn so einen Blödsinn?«

»Ziemlich großer Blödsinn«, fand Niklas’ Mutter. Sie meintedamit weniger das Ausmaß des Unfugs, sondern eher die Größe des Weihnachtsmannes, der an dem Gemäuer klebte. Mannsgroß, schätzte sie, mindestens.

Es ist durchaus gang und gäbe, dass Zeitgenossen in der Adventszeit Gärten und Eigenheime recht verschwenderisch mit überaus kitschigem Krempel schmücken, von bunten Lichterketten bis hin zu Plastik-Rentieren mit blinkenden roten Nasen. Auch Weihnachtsmänner in unterschiedlichen Abmessungen und Materialien hängen an Balkonen und Fassaden. Aber an der Alten Burg? Und dann so groß? Das ging gar nicht, fanden die beiden Frauen. Das war Frevel. Das schadete dem Image der Stadt.

»Du musst das sofort deinem Mann melden, Anke«, forderte ihre Bekannte sie empört auf.

Ankes Mann, Niklas’ Vater also, war nicht nur Streifenpolizist, sondern auch verärgert, als sein Privathandy läutete und er die Nummer auf dem Display erkannte.

»Du sollst mich doch nicht im Dienst anrufen, wenn es nicht wichtig ist«, fauchte er in das Gerät. Wie oft hatte er seiner Frau das schon erklärt.

»Ist aber wichtig«, widersprach die. »An der Alten Burg hängt der Weihnachtsmann.«

»Wie bitte? Anke! Was soll das?« Er wurde laut und riss den Kollegen auf dem Beifahrersitz des Streifenwagens aus seinem Schlummer. »Willst du mich verscheißern? Ich bin im Einsatz und wir haben Dezember! Bis zum ersten April ist es noch ein Weilchen hin!«

»Der hängt da wirklich«, beharrte Anke energisch, »und jetzt weck Bernie auf und kommt endlich in die Strümpfe! Seht zu, dass ihr das Ding da wieder wegmacht! Wenn das ein Fremder sieht, der lacht sich ja kaputt.« Sollte ihr Volker ruhig mal was für sein Geld tun und nicht den ganzen Tag mit seinem Partner an irgendeiner entlegenen Ecke stehen und auf das Schichtende warten.

»Weihnachtsmann an der Burg ... Ich fass es nicht«, brabbelte Polizeiobermeister Volker. Laut sagte er ins Handy: »Okay, Anke, wir kümmern uns drum.«

Das Objekt des Anstoßes war keine Puppe, sondern ein echter Mensch. Ein Bayer, wie sich kurz darauf herausstellte. Er war tot. Und fast nackt. Außer schwarzen Gummistiefeln an den Füßen und einer Art Wolpertinger-Maske, die sein bestes Stück bedeckte, trug er nichts unter dem roten Mantel mit weißem Saum, der ihn umhüllte. Er hing in einem Bergsteiger-Geschirr, professionell oben an der Mauer der Alten Burg gesichert mit Seil, Haken und Ösen. Trotzdem schien er den Ruinen-Gipfel nicht selbst erklommen zu haben. Weder fanden sich entsprechende Spuren an den Stiefeln, noch an seinen bloßen Händen oder anderen Körperteilen. Abschürfungen zum Beispiel. Also hatte ihn jemand dort oben hingehängt. Unbemerkt. Weil ja die meisten Menschen nach unten und nicht in die Höhe blickten.

Als Volker seiner Anke abends die Faktenlage schilderte, erhob sich draußen, hinter der angelehnten Wohnzimmertür ein jämmerliches Geschrei. Der Sohnemann hatte gelauscht.

»Niklas, was ist denn?«, rief Mutter Anke erschrocken und holte den Jungen ins Zimmer, um ihn zu trösten.

»Tot? Der ... der Weihnachtsmann ist ... tot?«, stammelte Klein-Niklas schluchzend, als er sich ein wenig beruhigt hatte. »Aber ... aber dann bekomme ich ja ... gar keine Geschenkääääh ...«

Anke und Volker blickten sich hilflos an. Völlig unerwartet standen sie vor einem Problem. Wie sollten sie ihrem Sohn so kurz vor dem Fest beibringen, dass die Sache mit dem Weihnachtsmann eine Lüge war?

Ingo Behrends, Kriminalhauptkommissar in der Polizeiinspektion Northeim-Osterode und Leiter des Fachkommissariats für Gewaltdelikte hatte ganz andere Sorgen. Er musste den Mord an einem nackten Bayern aufklären. Und das möglichst noch vor Heiligabend. Niemand wollte das Fest begehen und dabei Angst haben müssen, draußen könne ein Mörder durch den Schnee ums Haus stapfen, während man sich drinnen mit Bockwurst und Kartoffelsalat den Bauch vollschlug.

Angestrengt brütend versuchte Behrends, sich seinen Reim auf die Tat und ihre Hintergründe zu machen. Er wusste mittlerweile, dass man dem Opfer mit dem Schlag eines sehr harten Gegenstandes in Form einer Stange das Genick gebrochen hatte. Weiterhin war bekannt, dass der bayerische Junggeselle ein in Osterode und Umgebung berüchtigter Frauenversteher gewesen war, den es vor einigen Jahren in den Harz verschlagen hatte. Daraus ergab sich ganz logisch die Frage, ob dem Mann sein guter Draht zur einheimischen Damenwelt zum Verhängnis geworden war. Das war durchaus möglich, musste sich Behrends eingestehen, auch wenn es für ihn unverständlich war, wie man oder besser eine Frau oder noch genauer etliche Frauen auf einen krachledernen Ur-Bayern hereinfallen konnten. Was war an diesen Mia-san-mia-Typen bloß dran, was die norddeutschen Männer nicht hatten?

Eine weit interessantere Frage jedoch war diejenige, die sich aus den Spuren im Bereich der Nackenwirbelsäule des Toten ergab. Dort, wo man metallische oder auch hölzerne Ablagerungen hätte vermuten können, die von der Tatwaffe stammten, hatten die Gerichtsmediziner organische Rückstände tierischen Ursprungs gefunden. Und kleinste Gewürzpartikel. Pfeffer, Salz, Thymian, solche Sachen. Was um alles in der Welt hatten die im Nacken des Opfers zu suchen? Und wie waren sie dahingekommen? Irgendeine spezielle Salbe? Ein extravagantes Deo mit einer besonders männlichen Note? Etwas, mit dem er sich eingerieben hatte, weil die Frauen davon weiche Knie bekamen? Aber warum dann nur hinten unter dem Haaransatz, dort, wo die Wirbel gebrochen waren? Das hätte an anderen Stellen doch viel mehr Sinn gemacht.

Für Behrends stand fest, er musste so viel wie möglich über das Opfer herausfinden. Nur so würde er dem Mörder oder der Mörderin auf die Spur kommen. Hoffte er. Und er wusste auch, welche seiner Informationsquellen er als Erste anzapfen wollte: seine Freunde vom Handwerker-Stammtisch. Die wussten immer über alles und jeden Bescheid. Schon am Abend trafen sie sich wieder in Förste im Schwarzen Bären.

Wie erwartet, konnten ihm die Stammtischbrüder einiges über Florian Stadler, den toten Bayern, erzählen. Und einiges, das hieß übersetzt: nur Schlechtes.

»Ein Großmaul war der! Ein Aufschneider! Ein Kameradenschwein, Abstauber, Weiberheld. Kurz, ein Arschloch!« Das war die einhellige Meinung aller am Tisch. Niemand fand auch nur ein gutes Wort für ihn. »Schön, dass ihm mal einer die Lederhosen ausgezogen hat. Ist echt nicht schade um den Alpendödel.«

»Wisst ihr eigentlich, dass ihr euch gerade allesamt verdächtig macht?«, fragte Behrends augenzwinkernd. »Also, wer von euch war’s?«

»Mensch, das könnte jeder gewesen sein«, tönte es unisono aus der Runde. »Alle, die ihn kannten, hatten einen Rochus auf ihn. Jedenfalls die Männer. Und das waren verdammt viele. Nicht nur, weil er hinter ihren Frauen, Freundinnen und Töchtern her war. Mindestens genauso schlimm war, dass er sich über uns lustig gemacht hat. Bei jeder Gelegenheit. Harzer Hinterwäldler waren wir für den. Ohne eigene Kultur und Lebensstil. Weder vernünftiges Bier, noch anständiges, deftiges Essen. Nichts hat ihm gepasst. Und wenn er doch mal was gut fand, dann war es sowieso Importware aus seiner Heimat. Bei uns in Bayern, so fing er jeden Satz an, um uns die Überlegenheit der Erzeugnisse und Leistungen seiner bajuwarischen Landsleute unter die Nase zu reiben.«

»Aber die Frauen, die hat das anscheinend nicht gestört, oder?«, wunderte sich Behrends. »Die scheinen ja im Gegenteil voll auf ihn abgefahren zu sein, was man so hört.«

Seine Stammtischbrüder bestätigten das, auch wenn es ihnenschwerfiel, das nachzuvollziehen. Sie waren eben keine Frauenversteher.

»Vielleicht hat er ja ein besonderes Deo benutzt«, gab Behrends zu bedenken. »So eins, das eine ganz starke animalische Ausdünstung hatte.« Er dachte dabei an die Spuren im Nacken des Opfers. »Dieses Archaische, was man nicht mit dem Verstand fassen kann. Ihr wisst schon ...« Er blickte in die Runde. »Kann mir einer was dazu sagen?«

Niemand konnte. Und es wollte auch keiner. Die Zeit war ihnen zu schade, sich über ein totes Arschloch zu unterhalten, eins, das in ihren Augen den Tod mehr als verdient hatte.

Die Tage vergingen, die Ermittler traten auf der Stelle. Ehe sich Frust breitmachte, lud Behrends sein Team kurzerhand für den kommenden Freitagabend auf den Osteroder Weihnachtsmarkt zum Glühweintrinken ein. Für ihr Treffen ordnete er einheitliche Kleidung an, was in diesem Fall bedeutete, dass sie ihre Beanies tragen mussten, die er für alle bei Harzkind geordert hatte. Er bewunderte die Kreativität des Dreigestirns, das sich zusammen mit einigen Mitstreitern unter diesem Namen aktiv für ein besseres, moderneres Image des Harzes einsetzte. Mit dem Erwerb der Mützen hatte er das Engagement der Gruppe unterstützen und gleichzeitig Flagge für seine Heimat zeigen wollen. Die dunkelblauen Beanies, auf die er in weißer Farbe das Wort »Harz-Cop« hatte sticken lassen, waren eigentlich für später gedacht, als Weihnachtsgeschenk für seine Leute. Aber die Gelegenheit war ideal, und er fand es sehr verlockend, gemeinsam auf dem Weihnachtsmarkt als Harz-Cops aufzutreten.

Keiner aus Behrends’ Team machte einen Rückzieher. Alle waren sie dabei – Maike de Baer, Jutta Engelke, Tim Seidel. Sogar Richard Unrein, der eher schwer zu motivieren war, sobald es um anderes, als um die Arbeit ging.

Um zwanzig Uhr trafen sie sich auf dem Kornmarkt vor dem Winterwald und stürzten sich dann gemeinsam ins Vergnügen. Schon nach dem dritten Becher Glühwein hatten sie den Alltag hinter sich gelassen. Kein Gedanke wurde mehr an Mord und Totschlag, an erfolglose Zeugenbefragungen oder rätselhafte Tatmotive verschwendet. Es war Adventszeit, und auch wenn der Schnee der vergangenen Tage längst geschmolzen war und die Temperaturen ins Frühlingshafte strebten, so konnte man sich die Jahreszeit ja immer noch so hintrinken, wie man sie brauchte. Und genau das taten Behrends und seine Harz-Cops.

Behrends führte gerade seinen vierten Glühweinbecher zum Mund, als ihn etwas Hartes von hinten an der Schulter traf. Er zuckte unter dem Schlag erschrocken zusammen. Der Glühwein platschte aus dem Becher auf seine Hand und den Ärmel seiner Wetterjacke.

»Aua! Scheiße, was ...?« Er fuhr herum und blickte in Holger Diekmanns breit grinsendes Gesicht.

»Na, Alter, nix Mordermittlung heute?«, rief der aufgekratzt und winkte den anderen zu, die mit Behrends am Tisch standen. »Stattdessen so richtig die Sau rauslassen, wie? Na, muss ja auch mal sein.«

»Hast du mir eben den Schlag verpasst?«, knurrte Behrends wütend.

Diekmann nickte. »Klar doch. Hier, kuck mal. Damit.« Er zog etwas aus einem Plastikbeutel, das auf den ersten Blick einer kurzen, braunen Stange glich. Ähnlich einem Polizei-Schlagstock. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Behrends, was es war: »Eine Wurst?«, rief er erstaunt aus.

»Nicht irgendeine«, klärte ihn Diekmann auf. »Das, mein Lieber, ist ein Harzer Knüppel. Schmeckt nicht nur saugut, sondern wird auch knüppelhart, wenn du ihn lange genug hängen lässt. Wie der Name schon sagt. Damit kannst du einen Ochsen erschlagen.« Zur Bestätigung ließ er die Wurst mit aller Kraft auf den Tisch hinabsausen. Zwar überstand der Harzer Knüppel den Schlag nicht völlig unbeschadet, dennoch setzte die Demonstration bei Behrends einen Gedanken frei, der sich in Windeseile durch sein vernebeltes Gehirn vorarbeitete und in einer scharfen Frage Gestalt annahm: »Woher hast du den?«

»Wen? Meinst du den Knüppel?«

»Ja, rede ich denn Chinesisch? Na sicher meine ich den Knüppel!«

Diekmann beschrieb ihm den kurzen Weg zu einem Verkaufsstand mit Harzer Spezialitäten. Behrends erreichte die Holzhütte etliche Minuten und einige Umwege später. Der Tresen war vollgepackt mit Tannen- und Wildblütenhonig, Bienenwachskerzen, Griebenschmalz und Harzkäse. Kälberblasen, Schmorwurst und Harzer Knüppel hingen an einer Leiste mit Haken an der Hüttenrückwand. Vor den Würsten stand ein stämmiger, rotgesichtiger Kerl mit schütterem Blondhaar und wartete auf Kundschaft: Bauer Schulz vom Schulzenhof. Eigener Hofladen, eigene Hausschlachterei. So konnte es Behrends auf dem Schild links an der Hüttenwand lesen.

Bauer Schulz vom Schulzenhof hatte eine Tochter. Etwas korpulent. Nicht gerade eine Schönheit, aber immer noch attraktiv genug für einen Bayern namens Florian Stadler. Bei ihr hatte der ausprobieren wollen, ob sich die alte bajuwarische Tradition des Fensterlns auch im Harz etablieren ließ. Der Versuch ging schief, und der Lustmolch landete in den Fängen der zwei Bauernsöhne, die nach Jahren fern der Heimat ihren Weihnachtsurlaub auf dem elterlichen Hof verbrachten. Die beiden jungen Männer waren passionierte Bergsteiger und wussten seit jeher den guten Geschmack und die Konsistenz des Harzer Knüppels zu schätzen. Besonders gut aber verstanden sie sich auf den Umgang mit den anderen Harzer Knüppeln, den Eichenrundhölzern, an denen die frischen Harzer Wurst-Knüppel zum Trocknen aufgehängt wurden. Nach jahrelangem Gebrauch waren sie mit einer dünnen Schicht aus Fett, Kräutermischungen und Gewürzen überzogen.

Das letzte Wort in der späteren Gerichtsverhandlung hatte der Mitangeklagte, Bauer Schulz vom Schulzenhof. Der erhob sich würdevoll, räusperte sich kurz und sagte: »Hohes Gericht, bevor meine Söhne und ich heute verurteilt werden, möchte ich noch Folgendes zu Protokoll geben: Schuld an seinem Schicksal ist dieser überhebliche bayrische Gockel selbst. Warum musste er auch immer behaupten, wir im Harz hätten nichts zu bieten, von unseren Frauen und Töchtern einmal abgesehen? Wir wollten ihm nur das Gegenteil beweisen und ihm eine echte Harzer Spezialität schmackhaft machen. Aber die bekommt halt nicht jedem, werter Herr Vorsitzender. So ein Harzer Knüppel kann einem schon mal das Genick brechen und man taugt danach nur noch als Weihnachtsdekoration für die Alte Burg.«

Er machte eine Verbeugung zum Richtertisch hin und nahm kurz darauf aufrechten Hauptes seine Strafe entgegen.

~~~~~

Roland Lange

geboren 1954, hat ab 1990 neben seinem Hauptberuf als Vermessungsingenieur mehrere Bücher in unterschiedlichen Genres veröffentlicht. Seit 2014 arbeitet er als Vollzeit-Schriftsteller. In den letzten Jahren schrieb er hauptsächlich Regionalkrimis. Mittlerweile sind sechs Harz Krimis von Roland Lange im Prolibris Verlag erschienen.

Mehr Informationen gibt es hier: www.roland-lange-autor.de

Astrid Seehaus - Und morgen kommt der Weihnachtsmann - Braunlage

Es war ein Fehler, dass er hier war. Er wusste es in dem Moment, als der Lieferwagen von der 242 herunterkam und in den Kegelbahnweg einbog, um hier Pause zu machen, eigentlich alles wie immer. Aber der Wagen hatte das falsche Kennzeichen und der Mann, der ihn fuhr, war nicht Eddi.

Benni und seine Tipps. Wieso hatte er sich überhaupt darauf eingelassen, sich mit Benni zu treffen? Ihm hatte er doch die drei Jahre im Bau zu verdanken. Ihm und seinen sicheren Tipps. Hach! Dass er nicht lachte. Bennis Tipps waren einen Dreck wert.

Klaas hockte in den tropfnassen Blaubeersträuchern hinter einer Tanne und hoffte, dass nicht gerade jetzt eine alte Dame auf die irrsinnige Idee gekommen war, bei dem lausigen Wetter mit ihrem Hund Gassi zu gehen. Er musste wie ein Exhibitionist wirken, der auf seinen Auftritt wartete. Und zu Hause saß Gabi mit dem Essen.

Es zog wie Hechtsuppe. Er fror, besonders am Kopf, wo sich sein rötlich-blondes Haar lichtete. Die Sturmhaube hatte er vergessen. Und die Ronald Reagan-Maske schloss nicht dicht genug um seine Ohren und würde ihn verdächtig erscheinen lassen. Was für ein lächerlicher Gedanke! Alles an ihm war momentan verdächtig, bis hin zu den neongrünen Turnschuhen, die eventuellen Zeugen sofort ins Auge fallen würden.

Klaas sah sich um, noch schienen er und der Fahrer des Lieferwagens allein auf dem Parkplatz. Der Fahrer machte wie Eddi seine Mittagspause an diesem ruhigen Plätzchen, nachdem er die Lieferungen in Sankt Andreasberg erledigt hatte. Da es nur noch zwei Tage bis Weihnachten und die Liefermengen auf dem Höhepunkt waren, fand Klaas es aber unbegreiflich, dass sich der Fahrer diese Auszeit nahm. Klaas wusste von Eddi, der für diese Lieferfirma arbeitete, dass es vor den Feiertagen überhaupt keine Pause gab, deshalb war es ja so schwierig, die Lieferwagen zu überfallen. Und dabei waren die lukrativsten Raubzüge die vor Weihnachten. Bis auf den vor vier Jahren. Seit elf Monaten erst war er raus aus dem Knast. Benni hatte von einem heißen Tipp geschwafelt. Als Mittelsmann gehörte er zu einer Bande, die Fernseher in den Osten verschob. LED-Bildschirme waren damals der Renner, und Benni hatte gemeint, wenn er, Klaas, mitmachen würde, müsste er für ein Jahr nicht arbeiten und darüber hinaus könnte er seiner Gabi endlich den fetten Verlobungsring kaufen.

Stattdessen war seine Libido im Knast verschrumpelt, und Gabi hatte ihn drei Jahre später ziemlich schlecht gelaunt am Gefängnistor abgeholt. Na ja, ziemlich war recht untertrieben, Klaas wäre am liebsten umgekehrt und hätte beim Vollzugsbeamten um Verlängerung seiner Knastzeit gebeten. Aber nun hatte sie sich beruhigt, war wieder das liebende Frauchen, das er wollte. Ja, er gab es zu. Er brauchte sie. Seit der ersten Klasse, wo er schon den Blick nicht von ihr hatte wenden können, hatte er das Gefühl gehabt, sie wären ein einzig schlagendes Herz.

Natürlich hatte Benni ihn auch dieses Mal zu einem Pokerspiel überreden können. Und dabei war es um Geld gegangen, um was sonst, aber Klaas konnte nun mal nicht gut pokern. Er sollte einfach die Finger davon lassen. Statt des Verlobungsrings hatte er Schulden bei Benni, tausend Kröten. Eine Verlobung unter dem Weihnachtsbaum würde wieder nicht stattfinden. Oder vielleicht doch. Mann, wie würde sie ihn anhimmeln, wenn dieses Ding klappen würde. Mit dem Anhimmeln hatte sie es in letzter Zeit nicht mehr so gehabt. Vielleicht spielten die Jahre eine Rolle, sie waren nun beide über dreißig, und da war die erste heiße Liebe ein wenig abgenutzt, deswegen hatte er ja auch handeln müssen. Sollte die Polizei ihn erwischen, würde Gabi das einfach verstehen müssen.

Der Fahrer hatte es sich nach seiner Stulle bequem gemacht und die Augen geschlossen. Er war jung, das konnte Klaas von seinem Standort aus sehen. Jung und unerfahren, vermutete er, vielleicht ein Aushilfsfahrer, ein Student, der in Clausthal-Zellerfeld zur Uni ging. Davon gab es einige, die sich was dazu verdienten. Das würde ein Klacks werden, dachte Klaas, zog seine Ronald Reagan-Maske über den Schädel und umklammerte die Waffe.

Er schlich sich von der Seite an den Lieferwagen heran, so dass der junge Mann, falls er doch plötzlich die Augen aufschlüge, ihn nicht bemerken würde, und gelangte unentdeckt an die Fahrertür. Er riss die Tür auf.

»Überfall«, schrie er dumpf durch die Maske, die ihn wegen des starken Gummigeruchs zum Husten reizte, und fuchtelte mit der Waffe vor dem Gesicht des jungen Fahrers herum.

Der Junge stierte ihn mit großen Augen an.

»Komm schon! Raus mit dir! Siehst du nicht, dass ich eine Knarre habe?«, krächzte Klaas, steckte dieselbe in die rückseitige Hosentasche und zog mit beiden Händen den Jungen vom Sitz, so dass dieser aus dem Wagen kullerte und zu Boden stürzte.

»Mach keine Mätzchen, das ist nicht mein erster Überfall. Ich kenne mich aus«, tönte Klaas, wobei ihm die Regel, nicht zu viel zu quatschen, in den Sinn kam. Er hatte doch zu lange gesessen. Es schien, er müsse wieder alles von Neuem lernen.

»Also, Kleiner, werd nicht übermütig! Ich will nicht dein Leben, sondern nur das Zeug in deinem Wagen.«

»Äh … was?«, stieß der Fahrer aus.

»Komm schon! Ich brauche die Schlüssel, oder du öffnest selbst.«

»Ja, sicher, ich … aber Sie werden mir nicht wehtun.«

»Habe ich nicht vor, muss dich nur fesseln.«

»Natürlich«, ächzte der Junge und streckte beide Arme vor.

»Doch nicht jetzt, du Depp! Erst einmal sollst du die Tür hinten aufschließen.«

Der blonde Schlacks blinzelte ihn an und fragte: »Wäre es nicht besser, Sie würden gleich den ganzen Wagen mopsen?«

Mopsen? Klaas stutzte. Was war denn das für ein Vokabular. (Den Begriff Vokabular kannte er von Gabi. Sie war Deutschlehrerin, leider nur mit halber Stelle, und unermüdlich in ihrem Bestreben, ihm wenigstens ein bisschen Bildung beizubringen.) Oder sollte das hier wieder eine Finte sein, und Benni hatte ihn erneut reingelegt, um sich bei der Polizei lieb Kind zu machen? Doch für einen Lockvogel wirkte der Junge zu einfältig.

»Lass deine Ideen stecken. Ich will nur das, was du da hinten auf der Ladefläche hast. Du machst auf, ich mache den Rest.«

»In der Zwischenzeit müssen Sie mich aber fesseln, sonst könnte ich ja abhauen und die Polente rufen.«

»Seit wann sagt man Polente? Du meinst die Bullen.«

Der junge Mann nickte eifrig. »Jaja, klar, die Bullen.«

Mann, dieser Junge hatte von nichts eine Ahnung. Schien wirklich ein Student zu sein. Und man wusste ja, so richtig lebenstüchtig waren die nicht.

»Halt einfach den Mund. Du redest zu viel.«

»Entschuldigung, aber das ist mein erster Überfall und ich dachte ...«

»Klappe!«, zischte Klaas, und versuchte, dem anderen seine Nervosität nicht zu zeigen.

Er hatte schon zu viel Zeit verloren. Mit Eddi war das immer eine reibungslose Sache gewesen. Eddi hielt an dem vereinbarten Punkt an, nahm den Kasten Bockbier und besoff sich bis zur Besinnungslosigkeit. Später behauptete er, man habe ihn dazu genötigt. Und so betrunken, wie er war, war er als Zeuge für die Ermittler unbrauchbar. Nachdem Klaas und Eddi dieses Spielchen mehrmals erfolgreich durchgezogen hatten, hatte Benni gemeint, zu oft dieselbe Masche würde Nachahmer verleiten, in seinem Revier zu wildern. Klaas war es recht, er hätte sofort mit den Überfällen aufhören können, aber Benni hatte seine Meinung geändert. Bei einem Pokerspiel hatte er Klaas (verbunden mit ein wenig Gehirnwäsche seitens seiner Schläger) überzeugt, dass es ein weiteres Mal geben sollte, und genau dieses eine Mal war Klaas dann zum Verhängnis geworden. Weil Benni ihn verraten hatte. Klaas hatte drei Jahre Urlaub auf Staatskosten bekommen, Benni war die Spürhunde der Polizei erst einmal losgeworden und hielt derweil Siesta in seiner Luxushütte an der Adria. Klasse!

Wie Klaas das stank, so reingelegt worden zu sein. Er hätte sich nicht wieder auf Benni einlassen sollen.

»Natürlich nicht«, murmelte er, als er den Jungen zur Seite dirigierte und ihn aufforderte, die Tür zu öffnen.

Mit zittrigen Händen schob der Fahrer die Seitentür auf.

»Die war gar nicht abgeschlossen?«, fragte Klaas erstaunt.

Der andere zuckte die Achseln. »Nö, warum auch?«

Klaas runzelte die Stirn. Er sah hinein und leckte sich über die Lippen. Oha, da hatte er ja heute eine echte Glückssträhne. Die Pakete, die wie für ihn ausgebreitet dalagen, sahen gut und teuer aus. Sie rochen regelrecht nach Geld.

»Sehr schön«, meinte Klaas und unterdrückte einen erleichterten Seufzer.

»Und was nun?«, fragte der junge Fahrer.

»Wie viel verträgst du?« Klaas ließ den Blick noch einmal über die Schätze gleiten.

»Ich dachte, Sie wollten mich nicht verprügeln.« Entsetzt hob der junge Mann die Hände.

»Quatsch nicht! Wie viel Bier verträgst du?«

»Was?«

»Du bist vielleicht schwer von Begriff.« Klaas packte den jungen Mann. »Du sollst saufen, verstehst du das wenigstens?«

Der andere nickte stumm. Ehe er sich versah, wurde er hinter die Tannen gezerrt und so an einen Baum gebunden, dass er die Arme bewegen konnte, ohne an die Knoten zu kommen. »Ich bring dir das Bier, und du besäufst dich. Klar?«

»Klar«, sagte der Junge ergeben.

Gesagt, getan. Klaas hievte den vollen Kasten Bockbier aus dem Kofferraum seines Wagens und stellte ihn vor den jungen Kerl.

»Und wie kriege ich die Flaschen auf?«

»Oh Mann, ihr Weicheier«, knurrte Klaas. Er marschierte zum Auto zurück, holte einen Flaschenöffner und drückte ihn dem Jungen in die Hand. »Und du schreist hier jetzt nicht blöd herum. Kapiert!«

»Kapiert, Chef!«, antwortete der andere und langte nach der ersten Flasche. Plötzlich hielt er inne und starrte Klaas unterwürfig an »Ich darf doch schon anfangen, oder?«

Klaas verdrehte die Augen und überließ den Jungen sich selbst. Innerhalb weniger Minuten hatte er die Fracht umgeladen und war verschwunden.

Es war der 23. Dezember. Erschöpft vom Weihnachtstrubel in der Stadt stellte Gabi ihre Einkaufstaschen auf die Küchenstühle und musterte die seltsamen Pakete, die auf dem Tisch herumstanden und drumherum. Die meisten von ihnen waren aufgerissen. Kartonreste und Weihnachtspapier, in Fetzen oder zu Bällen verknüllt, verteilten sich auf dem Küchenboden. Im Radio sagte der Sprecher das Lied an »Morgen kommt der Weihnachtsmann«.

Gabi sah Klaas mit einer Falte in der Stirn an und wies mit einem Kopfnicken auf die Unordnung. »Was ist das?«

Er versuchte, seinem Gesicht einen Ausdruck von Unschuldslamm zu verleihen und scheiterte. Seine Mimik verriet mehr, als ihm lieb war, Gabi kam sofort auf den Punkt.

»Sag mir nicht, du hast wieder damit angefangen?«

Klaas schüttelte vehement den Kopf, wobei er ihr nicht in die Augen sah.

Mit spitzen Fingern griff sie in einen Karton und wedelte mit einem Teddy vor seinem Gesicht herum. »Du hast sicherlich eine Erklärung dafür, warum du auf Spielsachen umgestiegen bist. Ist das eine Art versteckter Botschaft? Fragt sich dabei nur, welche. Oder heißt es, du bist ein Idiot und hast dich geirrt.«

»Letzteres«, gab Klaas kleinlaut zu.

Sie ließ den Teddy zurück in den Karton fallen und langte nach einem anderen Spielzeug. Sie betrachtete es bestürzt.

»Wer schenkt denn einem Kind so etwas? Ein täuschend echter Revolver.« Mit ihrem lachsfarben lackierten Fingernagel tippte sie mehrfach dagegen. »Aus Holz! Wow, sicher ein chinesisches Produkt mit bedenklichen Farben. Das würde ich ganz bestimmt keinem Kind geben. Die Leute spenden manchmal wirklich das Letzte.«

»Das ist meine«, druckste Klaas.

Gabi hielt die Attrappe hoch. »Du hast den Überfall mit einer Laubsägearbeit begangen?«

»Laubsägearbeiten macht man mit weichem Pappelholz. Aber das da war schwere Arbeit, die Pistole ist doch aus Buche.«

Sie sah davon ab, das zu kommentieren. Ihr Gesicht sprach bereits Bände.

Verärgert stieß sie hervor: »Du hast dich tatsächlich wieder von Benni einwickeln lassen.« Sie zischte: »Ich weiß nicht, was du von dem, was ich dir bei meinen Gefängnisbesuchen gesagt habe, nicht kapiert hast. Dass ich dich verlasse, wenn du noch einmal damit anfängst, oder dass ich dich entmanne, wenn du dich wieder mit Benni einlässt.«

»Doch, ich weiß.« Klaas schluckte. Er sah sie mit tränenumflorten Augen an. »Aber bitte, darf ich wählen? Lieber wäre mir, als Eunuch mit dir weiterzuleben.«

»Du Schafskopf«, seufzte sie und ließ sich auf den einzigen freien Stuhl fallen.

Die Musik im Radio verklang, und Stille breitete sich zwischen ihnen aus.

Eine Stille, in der sich Klaas nicht zu bewegen wagte, denn das hätte möglicherweise bedeutet, dass Gabi auf ihn aufmerksam geworden wäre und ihre Drohung wahr gemacht hätte. Ihn verließ, wo er sie doch so gern hatte. Und er hatte es schließlich nur getan, um ihr einen Verlobungsring zu kaufen. Wie hatte er ahnen können, dass statt teurer Fernseher und Computer Kinderspielsachen in den Kartons sein würden. Früher war immer alles gutgegangen. Er hatte Sachen gestohlen, die ohnehin versichert waren und deren Verlust wohl niemanden wirklich schmerzen konnte, Benni hatte sie nach Osten verschoben, und Klaas und Gabi hatten für einige Wochen ein bisschen Luxus gehabt. Gabi hatte nicht gewusst, woher das Geld war. Das bekam sie erst mit, als die Polizei vor der Tür gestanden und ihn verhaftet hatte. Das eine Mal, als nicht alles gutgegangen war.

Die Stille dehnte sich aus. Klaas überlegte fieberhaft, wie er Gabi bloß beruhigen konnte. So wütend wie sie war, sah es nach einer massiven Gewitterfront aus, die nicht so rasch abziehen würde. Und das ausgerechnet vor Weihnachten!

Unterbrochen wurden seine Überlegungen durch die Stimme des Nachrichtensprechers.

»… dass die Polizei seit gestern, nach dem Überfall auf einen Geschenketransporter für das Kinderheim in Braunlage noch immer nach dem Täter fahndet. Der Fahrer des ausgeraubten Lieferwagens, ein junger Student der Universität in Clausthal-Zellerfeld, beschrieb ihn als einen etwa sechzig Jahre alten Mann mit stechendem Blick und zerfurchtem Gesicht, das ihm vage aus dem Fernsehen bekannt vorgekommen war. Leider fiel ihm nicht ein, an wen es ihn erinnerte. Der Bockbierkasten weist auf Nachahmer des Bockbierräubers von vor vier Jahren hin. Der Student betonte, dass sich in dem Kasten nur eine volle Flasche befunden habe, die anderen seien leer gewesen …«

»Das ist nicht wahr!«, begehrte Klaas auf.

Gabi bedeutete ihm, nicht dazwischenzureden.

»Oh du traurige wird es morgen im Kinderheim heißen, wenn die Kinder unter dem Weihnachtsbaum keine Geschenke vorfinden. Daher bittet die Heimleitung um Spenden, damit der Weihnachtsmann nicht mit einem leeren Sack vor die Kinder treten und in unglückliche Kinderaugen schauen muss.«

Gabi verbarg ihr Gesicht in den Händen und stöhnte: »Wie kam man nur so dämlich sein.«

Klaas schwieg betreten. Seine Finger befummelten das Geschenkpapier, ergriffen, rollten und zerknüllten es. Er schnippte die Bällchen vom Tisch und seufzte: »Es tut mir leid.«

Sie sah auf. »Das sollte es auch. Du kannst froh sein, dass er dich nicht erkannt hat. Irgendwann werden sie aber auf dich kommen, und was dann?« In plötzlicher Eingebung sprang sie auf. »Du bringst die Sachen zurück.«

Entsetzt starrte er sie an. »Was?«

»Du hast mich schon verstanden. Nimm die Sachen und zurück damit.«

Bestürzt betrachtete Klaas die aufgerissenen Pakete und Kartons und biss sich auf die Unterlippe. »Soll ich sie in Müllsäcke tun?«

»Nein, du sollst sie zurückbringen.«

»Ich meine ja, soll ich sie in Müllsäcke tun und vor die Tür des Kinderheims legen?«

Gabi dachte nach.

Klaas starrte sie an.

»Nein.«

»Nein?«

»So geht das nicht. Es ist Weihnachten. Die Kinder freuen sich schon seit Wochen auf den Weihnachtsmann. Ich merke das doch in der Schule. Die Aufregung, die Freude. Da kannst du doch die Geschenke nicht einfach so in Plastiksäcke tun und vor die Tür legen. Wie sieht das denn aus?«

Er wusste, dass es sie schmerzte, selbst keine Kinder bekommen zu können. Für ihn war das niemals ein Thema gewesen. Er wollte keine Kinder.

Um sie abzulenken, warf er ein: »Mir hast du das letzte Mal erzählt, ein Mädchen hätte dir an Nikolaus auf die Füße gekotzt.«

»Weil sie aufgeregt war.« Gabi schnaufte genervt. »Aber diesen Schlamassel hier hast du uns eingebrockt.«

»Ich weiß«, flüsterte er.

Sie funkelte ihn böse an. »Sieh zu, dass du das da«, mit einer knappen Handbewegung wies sie auf das Chaos in der Küche, »auf die Reihe bekommst. Und wenn sie dich ein weiteres Mal einknasten, werde ich nicht mehr so geduldig sein und auf dich warten.«

Klaas nickte ergeben und schlurfte zur Speisekammer, wo die Mülltüten gelagert wurden.

»Eddi, ich muss mit dir reden«, flüsterte er ins Smartphone, als er seinen Kumpel endlich an der Strippe hatte. Er hatte den Verdacht, dass Eddi nicht mit ihm reden wollte.

Eddi blaffte dann auch sofort los, als er das Gespräch schließlich annahm: »Die Suppe löffelst du ganz alleine aus.«

»Wie kommst du denn darauf, dass ich es war und dass ich was von dir will?«

»Die Ronald Reagan-Maske: stechender Blick, zerfurchtes Gesicht, jau, alles klar. Und sonst hast du doch niemanden, der dir aus der Patsche hilft, Kumpel. Tauch lieber unter, bevor Benni dich erwischt.«

»Als ob mich das kratzen würde«, konterte Klaas sicherer, als er sich fühlte. »Der will sicher kein Spielzeug. Der denkt wie die Polizei, dass es sich um Nachahmer handelt. Und wenn ich es nicht tue, klaut die Fernseher sowieso ein anderer.«

»Wie auch immer, du steckst tief in der …«

»Ich will nur, dass die Sachen zum Kinderheim kommen«, unterbrach Klaas Eddis Redeschwall.

»Ich verstehe nicht.«

»Das tust du wohl. Hilfst du mir jetzt oder nicht?«

»Nein«, sagte Eddi.

»Du brauchst die Pakete nur zu liefern.«

»Ohne Lieferschein geht gar nichts.«

»Du kannst da doch sicherlich etwas machen«, versuchte es Klaas weiter.

»Nein. Und du kannst sie auch nicht offiziell bei der Annahmestelle aufgeben, denn dann werden sie erst nach Weihnachten ausgeliefert.«

»Ihr fahrt doch Extratouren. Eddi, lass mich nicht im Stich.«

»Klaas, hör mal zu! Ich will meinen Job nicht riskieren. Nach den Überfällen vor vier Jahren war es schwer, die da oben zu überzeugen, dass ich nicht mit dir zusammenarbeite, aber es ist mir gelungen. Ich habe mein Auskommen, meine Frau ist zufrieden, meine Kinder sind glücklich, und Benni lässt mich in Ruhe. Ich bin nicht dumm genug, das alles aufs Spiel zu setzen.«

»Meinst du damit, ich bin dumm?«, fragte Klaas.

»Schlau war das bestimmt nicht. Du hättest dir doch denken können, dass alles, was mit Weihnachten und Kindern zu tun hat, groß in die Presse kommt.« Eddi verstummte. Nach einer langen Pause setzte er hinzu: »Wenn du eine wirklich gute Idee hast und diese Idee nichts mit Benni zu tun, helfe ich dir. Versprochen, Kumpel. Aber es darf nichts Kriminelles sein. Abgemacht?«

Klaas murrte ein »Von mir aus« und hängte ein.

Als Gabi nach ihm sah, schaute Klaas sie ratlos an und zuckte die Achseln.

»Das hätte ich dir gleich sagen können, dass Eddi in Ruhe gelassen werden will. Und was jetzt?« Sie setzte sich neben ihn und legte ihren Arm um seine Schultern.

Er lehnte sich an sie. »Ich wollte dir doch nur einen Verlobungsring schenken.«

»Mit geklauten Kinderspielsachen.«

»Mit geklauten Fernsehern.«

»Warum verloben? Wir leben doch ohnehin zusammen.«

»Damit ich weiß, du meinst es wirklich ernst und läufst mir nicht davon, solange wir nicht genügend Geld für eine große Hochzeitsfeier haben.« Ein rauschendes Fest, oder es wird nicht geheiratet, davon wich Gabi nicht ab.

»Das mit der Verlobung können wir uns ja mal überlegen, dafür ist Zeit, doch die Kinderspielsachen müssen noch vor Weihnachten verschwinden.«

»Wir könnten sie wegwerfen.«

»Klaas, also wirklich! Du weißt genau, dass ich etwas dagegen hätte. Ich bin bei der Tafel und rette Lebensmittel. Da schmeiße ich keine neuwertigen Spielsachen weg.«

»Kannst du nicht in der Schule …?«

»Das ist zu spät. Heute war der letzte Schultag.«

»Dann deine Freundinnen. Es weiß doch niemand, wo die Sachen her sind.«

Ungeduldig riss sie sich von ihm los und erhob sich. »Ich denke, du wirst einen Weg finden. Einen anständigen Weg. Sonst feierst du Weihnachten alleine.«

Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, rauschte sie aus dem Zimmer. Klaas hörte die Haustür zuschlagen. Er wusste, dass sie zu ihren Eltern ging. Sie ließ ihn schmoren. Nicht nur das, sie würde Ernst machen und ihn verlassen, wenn er nicht spurte.

»Ach, du heiliger Bimbam. Sie?«, schrie der blonde Schlacks, der Fahrer des Geschenketransporters, als er seine Wohnungstür öffnete und Ronald Reagan vor ihm auftauchte. »Inzwischen habe ich rausbekommen, woher ich den Typen kenne. Was wollen Sie, Herr Präsident?«

Klaas, versteckt hinter der Politikermaske und gekleidet mit dunklem Regenmantel und alten Stiefeln hielt ihm eine der vier mit Spielsachen gefüllten Mülltüten entgegen. »Sie müssen die Sachen zum Kinderheim bringen, Kevin.«

Verärgert versuchte Kevin, die Tür zuzuschieben. »Wie haben Sie mich gefunden?«

»Ihr Name steht in jeder Zeitung.«

Kevin stemmte sich gegen die Tür, die sich, da Klaas dazwischensteckte, nicht schließen ließ. »Hauen Sie ab! Ich hatte wegen Ihnen schon genug Ärger.«

Klaas empörte sich zusehends. »Jetzt seien Sie nicht so querköpfig. Bringen Sie die Tüten zum Kinderheim. Sagen Sie denen einfach, die hätten vor Ihrer Tür gestanden.« Er wendete alle Kraft auf, um sich nicht von der Türschwelle schieben zu lassen.

»Halten Sie mich für blöd? Das mache ich nicht. Dann würde es ja heißen, ich wäre der Lügner und hätte jetzt ein schlechtes Gewissen. Hauen Sie ab mit Ihren Mülltüten!«

»Das geht nicht. Ich bekomme Ärger mit meiner Freundin, wenn ich mit den Spielsachen wieder nach Hause komme.«

»Dann werfen Sie das ganze Zeug in den Müll. Aber nicht hier. Woanders. Von mir aus in Andreasberg.«

»Was sind Sie denn für ein helles Köpfchen, als ob man mich dort nicht erkennen würde.«

»Mann, fahren Sie nach Bad Harzburg. Oder nach Timbuktu. Mir doch egal«, schnaubte Kevin.

»Geht nicht, es schneit, ich komme mit den abgefahrenen Reifen nicht über den Berg.«

»Gehen Sie weg von meiner Tür!«, schrie der Junge in einem letzten Aufbäumen.

»Erst wenn Sie die Spielsachen nehmen.«

»Ich will aber nicht! Verschwinden Sie endlich!«

»Nein! Ich weiche nicht«, schrie Klaas ebenso verzweifelt.

Plötzlich schoss eine Faust durch die Luft und landete einen sauberen Kinnhaken auf Klaas’ unterer Gesichtshälfte. Klaas war ausgeknockt. Hastig schob der Jüngere den ungebetenen Besucher hinaus in den Flur, knallte die Tür zu und verriegelte sie mehrfach von innen.

»Wenn Sie in fünf Minuten nicht weg sind, rufe ich die Polizei.«

Das Gesicht vor Schmerz verzerrt, saß Klaas in seinem Wagen und versuchte nachzudenken. Er könnte die Sachen durchaus in die Mülltonne werfen und behaupten, er habe sie diesem Kevin gegeben, der sich ausgesprochen kooperativ gezeigt hätte, aber Gabi würde ihm das niemals glauben. Er würde sich dann doch irgendwann verraten. Spätestens wenn sie ihn fragte, ob er ihr auch die Wahrheit sagte. Er konnte so schlecht lügen.

Eine halbe Stunde später schlich er ins Haus und sah sich einer Blitze schleudernden Freundin gegenüber, die auf die Müllsäcke starrte, als ob es sich um Nuklearwaffen handelte.

»Raus!«, schrie sie. Mit dem ausgestreckten Arm wies sie auf die Haustür. »Du kannst gleich wieder gehen.«

»Heute ist Heiligabend. Wo soll ich denn hin?«

»Meinetwegen fahr zu deinen Eltern, aber hier bleibst du nicht.«

»Du weißt doch, dass die mir noch böse sind. Die wollen mich nicht sehen«, jaulte Klaas.

Unbeeindruckt wandte sie sich ab und marschierte in die Küche. »Ich will dich auch nicht sehen. Jedenfalls nicht, solange du das Diebesgut nicht zurückgebracht hast.«

Er ließ die Tüten fallen und folgte ihr. Schnuppernd hob er das Gesicht und grinste. »Hier duftet es aber lecker.« Er tätschelte unbeholfen ihre Hüfte. »Ach Gabilein, sei doch nicht so.«

»Lenk bloß nicht vom Thema ab«, raunzte sie kratzbürstig. Sie sah auf die Küchenuhr. »Es ist noch keine elf. Also bleiben dir gut drei Stunden Zeit, das Problem zu lösen.« Sie drehte sich zu ihm um. »Und ich werde dir dabei helfen. Alleine schaffst du das ja nicht.«

»Wirklich?«, rutschte es ihm heraus.

»Wirklich, mein Schatz. Ich habe nämlich eine Idee.« Sie zupfte an seinem abgetragenen T-Shirt herum und wischte ein imaginäres Staubkorn vom Stoff. »Du wirst jetzt duschen gehen, damit du dich allem gewachsen fühlst, mein Lieber, und dann wird alles gut.«

»Echt?«

»Vertrau mir. Gabis Pläne funktionieren. Immer.«

Sie fing Klaas’ zweifelnden Blick auf und drohte gespielt: »Oder glaubst du mir etwa nicht? Das solltest du aber. Und wenn du das heute wieder vergeigst, bin ich weg. Ist das klar?«

»Ist klar«, hauchte er überwältigt und trottete in Richtung Bad.

»Eddi, was machst du denn hier?«, fragte Klaas, als er frisch geduscht im Wohnzimmer erschien. Er roch appetitlich nach einem teuren Aftershave, das Gabi ihm geschenkt hatte. »Und was hast du denn da an?«

Gabi trat aus dem Nebenzimmer, und Eddi fielen fast die Augen aus dem Kopf.

Mit verruchtem Hüftschwung glitt Gabi durchs Zimmer und gurrte: »Bin ich nicht ein Engel?«

»Zum Anbeißen«, schnurrte Eddi, und Klaas ätzte: »Du wirst schön deine Pfoten von Gabi lassen. Abgesehen davon siehst du aus wie ein Clown.« Dann starrte er Gabi in ihrem Engelskostüm an und schnauzte: »Und das da ziehst du sofort wieder aus!«

»Und du hältst die Klappe, Klaas Reginald Behrens! Kapiert?«, giftete sie zurück. »Hier wird jetzt das gemacht, was ich sage! Doppelt kapiert?«

»Jawoll«, schrie Eddi beherzt, und Klaas verstummte.

»Ich gebe hier den Takt an!«, wiederholte Gabi streng.

»Und wie geht der?«, fragte Klaas und hoffte, dass seine Liebste nicht an einen Überfall auf einen Geldtransporter dachte. Sie würden die Fahrer gemeinsam in Schach halten, er mit seiner Holz-Waffe und Gabi mit ihrem Dekolleté? Oder wie hatte sie sich das vorgestellt?

»Ich weiß, was du denkst«, blitzte Gabi ihn an.

»Ich habe doch gar nichts gesagt.«