Gute Nachrichten auf Papierfliegern - Juan Marsé - E-Book

Gute Nachrichten auf Papierfliegern E-Book

Juan Marsé

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Beschreibung

Papierflieger über Barcelona künden von nichts Geringerem als Leben, Liebe und Tod. Eine alte Dame mit Papagei und Kanarienvogel öffnet dem jungen Bruno die Augen: ein kleines Buch, das eine große Geschichte erzählt. Bruno, ein schüchterner, aber liebenswerter Junge, lebt allein mit seiner Mutter in Barcelona und arbeitet als Laufbursche in einer Konditorei. Doch jetzt, im August, beginnen die Ferien, und der fünfzehnjährige Bruno vertreibt sich die Urlaubszeit mit einem Nebenjob der etwas anderen Art. Er hilft der alten Señora Pauli, die mit ihrem blauen Papagei im oberen Stockwerk wohnt, Zeitungen zu sammeln. Aus diesen faltet Señora Pauli, die während des Krieges aus ihrer Heimat Polen geflohen war und sich in Barcelona als Variététänzerin durchschlug, Papierflieger und lässt sie Tag für Tag vom Balkon aus über das Viertel gleiten. Wieso sie alle Welt mit guten Nachrichten beglücken will, bleibt lange ein Geheimnis. Denn die Fotos in der Wohnung der alten Dame bergen, inmitten von Federboas, Stöckelschuhen und Lippenstiften, eine tragische Wahrheit … Selten war das Alterswerk eines großen Autors so leichtfüßig und ernsthaft, komisch und traurig-schön, jung und altersweise zugleich wie Juan Marsés kurzer Roman.

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Seitenzahl: 95

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Die spanische Originalausgabe erschien erstmals 2014 unter dem Titel Noticias felices en aviones de papel bei Lumen in Barcelona, die deutsche Erstausgabe 2016 als SALTO bei Wagenbach.

E-Book-Ausgabe 2022

© 2014 Juan Marsé and Heirs of Juan Marsé

© 2022 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung des Gemäldes »Dame mit Fächer« (1917/1918) von Gustav Klimt.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803143464

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2849 2

www.wagenbach.de

Zum Gedenken an Paulina Crusat, die mir die Tür öffnete.

»Wir mögen mit der Vergangenheit abgeschlossen haben, die Vergangenheit aber nicht mit uns.«Bergen Evans

Kapitel 1

»Und vergiss nie, die wahre Liebe, die eine Frau dir schenken kann, wird nicht die sein, nach der du suchst, sondern die, von der du nicht wusstest, dass du nach ihr gesucht hast.«

Das war der letzte Ratschlag, den Bruno von seinem Vater bekam, drei Tage vor seinem fünfzehnten Geburtstag, als er hoffte, ihn nie mehr im Leben zu sehen. Nachdem er ein paar Sekunden darüber nachgedacht hatte, antwortete der Junge kaum hörbar: »Schon klar.«

Bruno war ein schweigsamer und spröder Junge, der sich hinter einer früh ausgebildeten strategischen Schüchternheit versteckte. Seine Eltern, Amador und Ruth, hatten sich getrennt, als er neun Jahre alt war. Kennengelernt hatten sie sich Mitte der Siebzigerjahre in einer Hippiekommune auf Ibiza, er war fünfunddreißig, Ruth zweiunddreißig, also beide schon des längeren erwachsen, und es war Liebe auf den ersten Blick, entstanden im Strudel der Veränderungen und Ungewissheiten, die das Land um diese Zeit durchlebte. Amador Cano Raciocinio war in Mugía, einem Städtchen in La Coruña, geboren und wuchs in Barcelona auf, wohin seine Eltern Anfang der Vierzigerjahre umsiedelten. Als Ex-Zögling eines Priesterseminars und ehemals fliegender Händler von Matratzen und Schokoriegeln brüstete er sich in der Kommune mit Einführungskursen an der Universität Berkeley, gab Yoga- und Musikunterricht und spielte Klarinette. Er hatte eine frische Farbe, war kussfreudig und schlagfertig, der Kollege, der bei fast allen gut ankommt, bis er versehentlich fast alle unglücklich macht. Ein Experte in pazifistischen Ritualen und hausgemachten Marmeladen, sahen die Frauen in seinen blauen Augen ein Aufblitzen von Wind und Freiheit, und er nährte dieses Trugbild. Ruth Vélez war eine dunkle, unpolierte Schönheit, eine diskrete, bescheidene Erscheinung mit sommersprossiger Haut und schmachtendem Blick, ein Blick, der erotische Inbrunst ausstrahlte, wovon sie nichts wusste. Gerade erst getrennt von einem Imbissbesitzer aus Santoña, kam sie nach Ibiza an der Hand eines Fotografen, der sie nach zwei Monaten verließ. Sie buk köstliche Schinkenkroketten, die sie billig verkaufte, und fertigte Rosen aus Wolle und prächtigen Blumenschmuck aus allerlei Stoffresten. Bruno war für Ruth, nicht aber für Amador, ein Wunschkind, er wurde in einem Blumenbett geboren, in dem sich echte und falsche Rosen vermengten, und gewiegt mit den Liedern von Pink Floyd, Riten einer Gegenkultur und dem Duft von Marihuana und hausgemachter Quittenpaste.

Im Herbst 1983 stellte sich Ruth, die in einer flüchtigen, mit Sex, Utopien und Rauch aufgeladenen Atmosphäre nach Orientierung suchte, die Frage nach der eigenen Zukunft und der ihres Sohnes. Sie hatte Amadors schamlose Untreue satt, auch seine kleinen, krummen Geschäfte, die ständig Anlass zu Aufregung und Streit gaben, und schlug, um in Ruhe überlegen zu können, eine zeitweilige Trennung vor. Sie wollte ein paar Monate mit dem Kind nach Barcelona. Silvia Fisas, eine von der Kommune ernüchterte Freundin, hatte dort in der Altstadt gerade ein Geschäft mit Ibiza-Mode eröffnet und bot ihr eine Stelle als Verkäuferin an. Amador hatte nichts dagegen, bat sie aber, die Abreise um eine Woche zu verschieben. Er versprach, sich zu bessern. Zwei Tage später jedoch, an einem windigen, regnerischen Nachmittag, stieg er aufs Fahrrad, um zu einer Yogastunde zu fahren, und kam nicht wieder. Weder am nächsten Tag noch in der nächsten Woche. Daraufhin löste Ruth ihr kleines Geschäft auf, nahm das Kind und zog nach Barcelona.

Ein Jahr später bekam sie eine Postkarte aus Marrakesch, mit der Amador sie um Verzeihung bat, seine baldige Ankunft in Barcelona ankündigte und seinen Wunsch nach Versöhnung. Er tauchte jedoch erst fünf Jahre später auf der Durchreise nach Nepal wieder auf; dort sollte er sich in den Bergen von Mustang mit einer Krimi-Autorin aus Mallorca treffen, der er in einer Kommune in Teneriffa Gesangs- und Klarinettenstunden gegeben hatte. Es war Anfang Juni, und er erklärte, er wohne schon seit einem Monat in einer billigen Pension im Ribera-Viertel, wo er eine mexikanische Ranchera-Sängerin in tantrischem Yoga unterrichte. Sein Kopf war kahlgeschoren, er trug die safrangelbe Tunika eines tibetischen Mönchs, auf dem Rücken einen khakifarbenen Rucksack und auf der Brust einen mexikanischen Sombrero sowie seine Klarinette. Auf dem Rucksack stand mit Filzstift geschrieben FENG SHUI. Ruth sagte, sie sei bereit, ihm alles zu verzeihen, nur nicht, dass er sich seinem Sohn als Witzfigur präsentiere.

»Wie kannst du so was sagen?«, beklagte sich Amador. »Won’t back down, erinnerst du dich, wir weichen nicht zurück?«

»Aber du bist doch dein Leben lang ausgewichen!«

»Wenn du darauf anspielst, dass ich oft Mist gebaut habe, besonders bei dir, so gebe ich das zu und bitte um Verzeihung. Aber ich meine etwas anderes.«

»Aha. Etwas anderes.«

»Ich spreche von unseren Überzeugungen, unserem Verlangen …«

»Klar. Dieses Verlangen.«

»Aber ja. Ich sehne mich noch immer nach den fernen Gärten von Córdoba.«

»Aha. Córdoba.«

Sie blickte ihm nicht ins Gesicht. Sie lächelte unmerklich und sah auf ihre Nägel. Amador erinnerte sich: Wenn sie sich seine Entschuldigungen anhörte und dabei auf ihre Nägel sah, war das fast immer der Auftakt zum Vergeben, das sie ihm nicht verweigern konnte.

»We shall overcome, erinnerst du dich, Ruth?«, fügte er hinzu. »Es wird dich vielleicht interessieren, dass ich kein Gras mehr rauche, auch keine stinkenden Kippen, ich bin ein anderer Mensch, auf der Suche nach einem anderen Menschen. Oder umgekehrt. Weißt du, ich habe lange darüber nachgedacht und bin jetzt entschlossen, mich an ein Studium des Buddhismus zu machen.« Er schaute sie aus den Augenwinkeln an, taxierte ihre Gemütslage und fügte mit spöttischem Unterton hinzu: »Es ist mehr als bewiesen, dass der spirituelle Rückhalt des Westens nicht Spanien ist, wie wir das gerne hätten, und weder der Berg von Montserrat noch Barça sind der spirituelle Rückhalt Kataloniens, also, was das mit uns angeht …«

»Schon gut. Bleibst du zum Essen? Es gibt Makkaroni.«

Der unerwartete Besuch führte zu einer unangenehmen Situation. Bruno konnte nicht verstehen, dass seine Mutter diesen Mann empfing, als sei nichts gewesen. Nachdem er ihn förmlich, aber mit kaum verhohlener Schroffheit begrüßt hatte, war der Junge in seinem Zimmer verschwunden.

Sie wohnten im Hochparterre der Calle Congost Nummer 7 im Gràcia-Viertel, eine bescheidene Wohnung, von der Tante der Ex-Hippiefrau Silvia Fisas gemietet, in deren Geschäft Ruth weiterhin arbeitete und ihre Wollblumen verkaufte. Bruno sollte, nachdem er lustlos und mit wenig Nutzen eine öffentliche Schule im Viertel besucht hatte, demnächst als Lehrling in einer Konditorei an der Puerta del Sol beginnen, deren Besitzer mit einer von Ruths Kundinnen verheiratet war. Zunächst würde er als Laufbursche eingesetzt. Amador sagte, ihm wäre es lieber gewesen, wenn sein Sohn sich für die Klarinette statt für ein Schlaginstrument entschieden hätte – aus dem Zimmer war zu hören, wie Bruno eine Trommel bearbeitete –, aber eine h-Moll-Klarinette, so wie die seine, die ein außergewöhnliches Gehör und eine höhere Sensibilität erfordere. Er zeigte Ruth einen Papierflieger, den er, wie er sagte, kurz zuvor auf der Straße, gleich vor dem Haus, aufgesammelt hatte und als Glücksbringer nach Nepal mitnehmen wollte.

»Schau, was auf die Flügel gedruckt ist«, fuhr er fort. »Hier, lies. Schwarze Schokolade. Und hier, schau: Plätzchen und Kekse. Ein geheimer Code? Eine Losung? Nein, liebe Ruth, ein Omen, ein Zeichen des Schicksals. Die Zukunft wird süß. Im übrigen könnte ich schwören, dass mein Sohn dieses kleine Flugzeug gemacht hat, es ist zwar reichlich primitiv, sieht aber genau wie die aus, die ich für ihn gemacht habe, als er klein war, du weißt schon, damals auf unseren geliebten Stränden von Shangri La, erinnerst du dich? …«

»Hör auf, bitte«, murmelte sie. »Bitte.«

Sie versuchte die Trauer in den Augen hinter ihren dichten Ringellocken zu verbergen und spürte plötzlich eine Hitzewelle und ein Kitzeln an den Fußsohlen. Sie stand am Strand auf warmem Sand, hörte das gelassene Rauschen der Wellen, schob die Haare aus dem Gesicht, neigte mit einer melancholischen Mattigkeit des Halses den Kopf zur Seite und bot das Gesicht dem Seewind dar, als sie dann aber ihre nackten Füße auf den Esszimmerfliesen sah, drehte sie sich um und ging raschen Schritts zum Schlafzimmer, ließ Amador, den von gestern am Strand wie den von heute, mit dem Wort auf der Zunge stehen. Aus den glücklichen Tagen von Blüten und Honig waren ihr die lockige Haarpracht geblieben und die Angewohnheit, sich barfuß in der Wohnung zu bewegen. Auf dem Bett sitzend, zog sie sich mit einiger Hast ihre Stoffschuhe an.

Als sie zurück an den Esstisch kam, sagte Amador, ihre Haut sei immer noch so wunderbar und dufte so gut. Er sagte auch, sie möge Bruno doch bitte überreden, ihn nicht mehr zu siezen, und kündigte an, er wolle, bevor er aufbreche, alleine mit dem Jungen reden.

»Was zum Teufel hat er sich vorgenommen, dass er dermaßen die Trommel traktiert?«

»Nichts, nehme ich an. Er mag das.«

»Und warum nennt er mich Herr Raciocinio statt Papa?«

Ruths Blick fiel auf seine aschig schlaffen und schlechtrasierten Wangen.

»Er hat immer viel Respekt vor dir gehabt …«

»Wirklich? Die Sache ist verwickelter. Hast du ihm keine Manieren beigebracht? Wie ist er nur darauf gekommen?«

»Weiß ich nicht. Frag ihn doch. Er ist in seinem Zimmer.«

»Er wird mir zuhören müssen. Er wird fünfzehn. Ich bin immer noch sein Vater, immer noch Amador. Oder umgekehrt.«

Geübt darin, Süßholz zu raspeln, um Verantwortung aus dem Weg zu gehen oder sie anderen aufzuhalsen, lag in seiner bedürftigen Stimme etwas von einer arkadischen Sehnsucht, ein Raunen im Dunkeln, etwas, das Ruth, auch gegen ihren Willen, noch ansprach. Für Bruno hingegen bedeutete das alles nichts, es war nur das durchtriebene Gesülze eines Schmarotzers. Er erinnerte sich an den süßlichen Quittengeruch seiner Hände und an nicht viel mehr. Während er nun über Krishna belehrt wurde und über die geheimnisvollen Wechselfälle eines schweifenden Lebens auf der Suche nach dem Atman, dem leuchtenden Gebiet, wo die Seele wohnt, wie Herr Raciocinio präzisierte, während Bruno also dem reichlich öden Sermon zuhörte und linkisch an der Türschwelle stand, die Trommelschlägel aber wie zur Selbstverteidigung vors Gesicht hielt, die Augen halb geschlossen, wie in unbesiegbarer Schläfrigkeit befangen, verwandelte sich für ihn in einer knappen Minute der Mann, der behauptete, sein Vater zu sein, in einen durchgedrehten Landstreicher, einen Penner, einen Bauchredner, der Lügen und Schwindel verkaufte, in den lächerlichen Überlebenden eines Scheiterns oder einer seltsamen Unvereinbarkeit mit der Welt. Warum, verdammt noch mal, will er wissen, ob ich diesen Papierflieger, den er auf der Straße gefunden hat, gefaltet habe?

»Ich weiß nicht mal, wie die gemacht werden, Herr Raciocinio«, brachte er vor.

»Natürlich weißt du das, mein Sohn. Ich hab’s dir beigebracht.« Die in blauem Wasser schwimmenden Augen sahen ihn voller Zuneigung an. »Das sind Dinge, die man nie vergisst. Sie fliegen davon, werden aber nicht vergessen. Womöglich ist jeder Papierflieger, den du in die Luft wirfst, ein Traum, der das Fliegen lernt …«