Halloween in Unterwald - Maria Winter - E-Book

Halloween in Unterwald E-Book

Maria Winter

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Beschreibung

Unterwald - ein Ort, den man an Halloween besser meiden sollte. Angie gilt als Außenseiterin. Umso erstaunlicher ist die Einladung eines heißen Jungen zu einem Date. Allerdings weiß sie nicht, dass er sie an einen besonderen Ort führt, der für seine grausige Vergangenheit bekannt ist. Für Robbie ist Halloween magisch. Mit seinem vierbeinigen Freund Boomer zieht er für Süßigkeiten um die Häuser - und erfährt am eigenen Leib, dass nicht alle Kinder zu Späßen aufgelegt sind. Andy und Peter wissen bestens, wie man als Räuber erfolgreich ist. Allerdings haben sie sich für ihren nächsten Raubzug die falschen Opfer ausgesucht. Diese könnten ihnen zum Verhängnis werden ...

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Playlist

Miley Cyrus

Mother’s Daughter

Nico Santos

Unforgettable

One Republic

Rescue Me

Imagine Dragons

Birds

Shawn Mendes

Fallin‘ All In You

Camilla Cabello

Señorita

Nico Santos

Play With Fire

Nico Santos, Lena

Better

Camilla Cabello

Liar

Camilla Cabello

Havanna

Avril Lavigne

I Fell In Love With The Devil

Imagine Dragons

Monster

Shawn Mendes

Nervous

Shawn Mendes

There’s Nothing Holdin‘ Me Back

Inhaltsverzeichnis

Kapitel: Angie

Kapitel: Robbie

Kapitel: Die Gauner

Kapitel: Angie

Kapitel: Die Gauner

Kapitel: Robbie

Kapitel: Angie

Kapitel: Die Gauner

Kapitel: Robbie

Kapitel: Angie

1. Kapitel

Angie

Noch eine letzte Kontrolle. Der Eyeliner saß, die schwarze Wimperntusche war sichtbar, aber dezent, und das Make-up deckte alle unliebsamen Unreinheiten der beinahe porzellanartig anmutenden Haut ab. Ein kleiner korrigierender Pinselstrich mit dem zarten Rouge über die Wangen und …

„Fertig“, flüsterte Angie mit leuchtenden Augen und drehte ihr Gesicht zu verschiedenen Seiten, um das Ergebnis im Spiegel ausführlich zu begutachten. Ihre Augen leuchteten noch ein wenig mehr. „Perfekt.“

Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Der natürliche Gloss passte wunderbar zu ihren glatten, hellblonden Haaren, die ihr knapp über die Schultern reichten.

Eine gute Dreiviertelstunde hatte sie für ihr Werk gebraucht, da sie sich sonst nicht großartig in Schale warf. Angie klatschte sich nicht jeden Morgen vor der Schule Tonnen von Schminke ins Gesicht und bekam auch keinen Weinkrampf, wenn die Farbe ihrer Boots nicht der ihrer Jacke entsprach. In der Regel war für sie weniger mehr. Aber heute …

Heute Abend musste sie einmal eine Ausnahme machen. Schließlich war nur einmal im Jahr Halloween und diese Party im Wald, auf die sie mit ihm gehen würde. Bei dem Gedanken beschleunigte sich ihr Herzschlag in freudiger Erwartung. Sie legte ihre Handflächen vor sich auf den Tisch mit ihren Schminkutensilien und atmete tief durch.

Ganz ruhig. Immerhin war sie noch nicht fertig. Es fehlte ein entscheidendes Detail.

Angie schob den Hocker zurück und ging zum Bett in der Mitte des Raumes. Von der Fensterbank aus lächelte sie ein verzierter Keramikkürbis an, um den sich buntes Laub und eine Lichterkette wanden. Angie zwinkerte ihm zu und griff nach den Kleidern auf der Matratze.

Vor ihrem Spiegel hielt sie erst das eine, dann das andere Kleid vor ihren Körper und runzelte angestrengt die Stirn.

„Ganz klar Rotkäppchen“, ertönte eine Stimme vom anderen Ende des Raumes und Angie schrie erschrocken auf. Im Spiegel neben ihr tauchte die Gestalt eines Mädchens in ihrem Alter auf. Strähnige, schwarze Haare klebten an ihrer Stirn und den Schläfen. Unter ihrem rechten Auge zeichnete sich ein tiefblauer Bluterguss ab und aus ihrem Mundwinkel rann ein dünner Blutfaden. Am stärksten wurde Angies Blick jedoch von der regelrecht zerfetzten Kehle angezogen. Ein Wasserfall aus getrocknetem Blut ergoss sich über ihren Hals und verschwand zwischen ihren Brüsten in dem dunklen Ballkleid mit altmodischen, breiten Trägern.

„Alles gut, Liebes?“, ertönte die vertraute Stimme ihrer Mutter von der anderen Seite der Tür.

Angie betrachtete das Mädchen. Nicht zum ersten Mal hatte sie den Eindruck, dass es aussah, als wäre es einem Horrorfilmklassiker wie Freitag, der 13. entflohen.

„Alles gut, Mum“, erwiderte Angie mit brüchiger Stimme. Sie räusperte sich. „Da … da war nur eine Spinne.“

„Eine Spinne?“

„Ja, eine große schwarze. Ich habe mich erschreckt. Ich fange sie gleich ein und bringe sie raus.“

„Wenn du sie rettest, ist sie morgen wieder in deinem Zimmer. Die Viecher musst du mit deinem Hausschuh totklatschen, erst dann hast du Ruhe.“

Angie blies hörbar die Luft aus. Warum war der natürliche Drang jedes Menschen, alles Lebendige, was ihm nicht in dem Kram passte, gleich umzubringen? „Mach dir keine Sorgen, Mum.“

„Na schön. Dein Vater und ich machen uns jetzt auf den Weg zu den Hollands. Pass nachher auf dich auf, Liebes, und viel Spaß mit deinen Freunden.“

Freunde. Das Wort hallte als unangenehmes Echo in ihrem Kopf nach.

Wann hatte sie bei ihren Bekanntschaften zuletzt von einem echten Freund oder Kumpel sprechen können? Es war viel zu lange her. „Danke, bis später“, antwortete sie einen Tick zu mechanisch, ehe sie die Stimme des anderen Mädchens zurück in die Wirklichkeit zerrte.

„Die Hollands? Schmeißen diese zwei reichen Säcke dieses Jahr wieder eine exklusive Party mit Liveband und Schampus?“

Angie fuhr herum. „Verdammt, Renée, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst dich nicht an mich heranschleichen!“

Renée zuckte mit den Schultern, als wäre sie sich keiner Schuld bewusst. „Sorry, alte Angewohnheit.“

„Und was, wenn dich jemand so sieht?“ Angie zeigte auf Renées blutverschmierte Kehle und ihre abgewrackte Kleidung.

„Hallo? Das ist mein Kostüm! Halloweentauglicher geht es ja wohl kaum.“ Renée kam mit einem selbstsicheren Grinsen auf Angie zu. „Du machst dir immer noch zu viele Gedanken.“

Ein Satz, den sie schon viel zu oft gehört hatte.

Renée blieb direkt vor ihr stehen, sodass Angie ihre unnatürlich intensiven, türkisfarbenen Augen betrachten konnte. Sie stachen geradezu aus der blassen Haut heraus und bildeten einen eindrucksvollen Kontrast zu den pechschwarzen Haaren.

„Heute ist die Nacht der Nächte, schon vergessen? Und heute wird gefeiert. Immerhin habe ich hierauf das ganze Jahr gewartet“, sagte Renée mit aufgekratzter Stimme und griff nach dem pinken Tüllkleid. „Aber nicht damit. Das kannst du mir und der Welt nicht antun, Angie. Ein Prinzessinnenkleid, dein Ernst?“

Angie riss es ihr mit einem frustrierten Stöhnen aus der Hand. „Gib das gefälligst her. Ich dachte, das wäre mal etwas anderes.“ Sie blickte auf den rosafarbenen Stoff hinab und knetete das perlenbesetzte Dekolleté zwischen ihren Fingern. Ihr Blick wurde glasig und mit einem Mal fühlte sich ihre Kehle viel zu trocken an.

„Angie“, sagte Renée betont sanft und griff nach ihren Händen. Ein warmer Strom der Zuneigung schwappte über ihre kalte Haut. „So bist du nicht und das weißt du. Hör auf, dich für jemanden verbiegen zu wollen, nur damit er dich mag.“

Im Grunde hatte sie recht, auch wenn Angie sich das schwer eingestehen konnte. Sie seufzte, dann nickte sie und richtete sich auf.

„Komm her.“ Renée nahm ihr das pinke Kleid ab, drehte sie zu dem Spiegel und hielt das andere Kleid vor ihren Körper.

Es bestand aus einem dirndlartigen, schwarz-weißen Kleid, das bis zu ihren Knien reichte, und einem blutroten Umhang mit Kapuze. Jetzt erkannte sie, dass es keinesfalls altbacken oder bieder wirkte. Im Gegenteil, es würde Angie hervorragend stehen und perfekt zu ihrem Typ passen.

„Du warst immer das Rotkäppchen, Angie.“ Renée beugte sich über ihre Schulter und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

„Du hast recht“, sagte Angie schließlich und nahm ihr das Kleid ab.

„Dafür bin ich da.“ Renée klatschte in die Hände und lächelte selbstzufrieden.

„Aber du kannst nicht mitkommen“, teilte Angie ihr mit, während sie den Kampf mit der engen, schwarzen Thermostrumpfhose begann. Immerhin war es draußen arschkalt und sie hatte nicht vor, als gefrorener Eisblock zu enden.

„Was?“ Renée gab einen entrüsteten Laut von sich und blickte sie mit wehleidiger Miene an.

„Das weißt du doch. Es wäre total komisch.“

„Aber irgendjemand muss doch auf dich aufpassen.“

Angie wusste, dass diese Aufpasser-Nummer nicht ganz ernst gemeint war und wahrscheinlich eher Renées eigenem Vergnügen diente. Dennoch nervte sie diese Aussage.

„Renée.“ Angie warf ihr einen entschiedenen Blick zu und schlüpfte in ihr Kleid. „Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen.“

„Na schön. Wenn du meinst“, schnaubte sie und warf die Hände in die Luft.

Angie packte ihren Umhang und hängte die schwarze Kunstledertasche über ihre Schulter, ehe sie vor Renée trat und sie an den Armen packte.

„Ich bin sicher, du wirst dich trotzdem großartig amüsieren. Es gibt genug Partys im Umkreis, die nur darauf warten, von dir unsicher gemacht zu werden.“

Renée verzog die Lippen erst langsam, dann immer stärker zu einem frechen Grinsen. „Aber so was von.“

„Großartig.“ Angie stolzierte zur Tür und kroch in ihre dunklen und – wie sie selbst fand – ziemlich heißen Stiefel. „Ich muss los, du findest ja allein raus.“

„Viel Spaß bei deinem Date, Angie.“ Sie konnte es sich einfach nicht verkneifen. „Bist du sicher, dass er der Richtige für dich ist?“

Angie umklammerte die Türklinke und zögerte einen Augenblick.

Der Richtige, hallte es durch Angies Ohren. Was für eine hohle Phrase, die sie dennoch tief in ihrem Inneren immer wieder lähmte.

„Dieses Jahr wird alles anders, Renée. Ganz sicher.“

Ohne sich noch einmal umzublicken, verschwand sie aus ihrem Zimmer. Sie spürte Renées Blick auf sich, bis die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, und meinte, ein Flüstern zu hören, das sie verfolgte.

„Aber natürlich, Angie.“

2. Kapitel

Robbie

„Kannst du wirklich nicht mitkommen?“ Robbie blickte seine Mutter über den Tisch hinweg aus so großen Kulleraugen an, wie sie nur einem Zwölfjährigen gegeben waren. Das halb verspeiste Marmeladenbrot ruhte auf seinem Teller und gesellte sich zu einigen einsamen, unangerührten Weintrauben.

„Ach, mein Kleiner. Es tut mir wirklich leid, aber Josie hat sich die Grippe eingefangen und ich muss kurzfristig im Restaurant einspringen.“

Robbie kam es vor, als würde sich Josie, ihre Arbeitskollegin, ziemlich häufig die Grippe einfangen. Oftmals auch im Frühjahr oder an heißen Sommertagen, wenn die Schwimmbäder geöffnet hatten. Diese Josie war ein ganz schöner Pechvogel, wenn sie ständig krank wurde und seine Mutter dafür ihre Schicht übernehmen musste.

„Ich weiß.“ Robbie senkte den Kopf und zählte die Weintrauben auf seinem Teller. Es waren sieben Stück.

„Hey.“ Seine Mutter streckte ihre Hand aus und legte sie auf seine. „Ich weiß, ich habe versprochen, dass ich dieses Jahr mit dir an Süßes oder Saures teilnehme, aber wenn mein Chef mich braucht, muss ich auf ihn hören.“

Mamas Chef war so etwas wie Robbies Lehrer in der Schule, hatte sie ihm einst erklärt. Wenn Frau Wagner, seine Deutschlehrerin, etwas sagte, musste Robbie schließlich auch gehorchen. Trotzdem fand er es alles andere als fair, dass Mamas Chef sie ausgerechnet an Halloween rief.

„Kann ich mich nicht trotzdem verkleiden und nach draußen gehen? Bitte!“

„Ganz allein? Ach, Robbie. Was machen deine Freunde? Kannst du dich nicht denen anschließen?“

„Die finden Süßes oder Saures doof. Die machen nicht mit.“

Doof war noch harmlos ausgedrückt. Auf dem Pausenhof hatte Robbie gehört, wie seine Klassenkameraden Halloween unter anderem als amerikanischen Mist bezeichnet hatten. Mist, den in Deutschland niemand brauchte.

Er fand es ziemlich schade, dass sich niemand in seinem Alter dafür begeisterte. Dabei hatte es doch etwas unglaublich Cooles, sich zu verkleiden und durch die Nacht zu ziehen.

Robbie senkte erneut seinen Kopf, ehe er ihn wieder hochschnellen ließ und zu strahlen begann. „Aber ich kann doch Boomer mitnehmen?“

„Boomer?“

„Ja, klar.“ Boomer war ein sechsjähriger, schwarzer Schäferhund, der gerade in der Stube nebenan in seinem Bett ein Nickerchen hielt. „Er muss doch bestimmt noch mal Gassi gehen. Da kann ich ihn gleich mitnehmen.“

„Ich weiß nicht.“ Robbies Mutter lehnte sich vor und verschränkte die Finger ineinander. Ihre Stirn legte sich in Falten. Robbie sah ihr deutlich an, wie sie über seinen Vorschlag nachdachte und ihn abwog.

Es war derselbe Gesichtsausdruck, den sie jedes Mal hatte, wenn sie über Robbies Papa sprach. Seitdem er vor fünf Jahren an dieser bösen Krankheit namens Krebs gestorben war, hatte er ihn schon oft gesehen.

Er wusste, dass er ihr fehlte und sie sich noch viele andere Sorgen machte. Um das Geld, um das Haus und diesen unfreundlichen Herrn Lamprecht von der Bank, der ihnen bereits einen Besuch abgestattet hatte.

Obwohl er nur noch vage Erinnerungen an die Zeit mit seinem Vater hatte, beschlich ihn Traurigkeit und sein Herz wurde schwer.

Zudem hatte er sich schon seit Wochen auf diesen Abend gefreut. Er hatte mit seiner Mutter Kürbisse ausgehöhlt und gruselige Gesichter in die Schalen geschnitzt, die Wohnung herbstlich dekoriert und sie hatte ihm sogar ein Kostüm gekauft. Zwar stammte es aus dem Secondhandladen, aber das war Robbie egal.

Und jetzt würde er wahrscheinlich nicht einmal zu Süßes oder Saures dürfen.

„Er wird mich beschützen, da bin ich mir ganz sicher“, setzte er erneut hoffnungsvoll an.

Boomer und er waren ein Herz und eine Seele, seine Mutter wusste das nur zu gut. Wenn Robbie nicht gerade in ein Buch versunken war, verbrachte er seine Zeit im Garten mit Boomer beim Ballspielen. Während sich seine Freunde zum Zocken vor der Konsole verabredeten, ging er mit Boomer im Wald spazieren.

„Büüüüde, Mama.“

„Na gut, aber …“ Sie hob den Zeigefinger, um ihren vor Enthusiasmus aufspringenden Sohn zu bremsen. „Du wirst dein Handy mitnehmen, zur Sicherheit. Und du bist in spätestens einer Stunde wieder da, hältst dich von Fremden fern und klingelst nur bei unseren Nachbarn, die du kennst.“

Noch bevor Susanne ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, war ihr Robbie bereits um die Hüfte gefallen und drohte sie nun samt dem Küchenstuhl umzuschmeißen.

„Danke, danke, danke, Mama. Du bist die Beste!“ Ehe sie sich versah, war Robbie in seinem Zimmer verschwunden und kam in Windeseile zurück. Doch dieses Mal stand da nicht der zwölfjährige Junge, der sich in seiner Freizeit mit Naturwissenschaftsbüchern für Kinder beschäftigte, anstatt wie die anderen Jungs Fußball im Verein zu spielen.

Vor seiner Mutter stand ein kleiner Zauberer.

Robbie trug einen lilafarben schimmernden Umhang und einen spitz zulaufenden, abgeknickten Hut. Auf beide waren goldene Sterne aufgenäht, die das warme Licht der Küchenlampe reflektierten.

Es sah vielleicht etwas kitschig aus, kein Zweifel. Aber Robbie war das egal. Mit seinem Einhundertwattlächeln schwenkte er stolz dem hölzernen Zauberstab, während in seiner anderen Hand eine rote Stoffleine baumelte.

„Du siehst toll aus.“ Susanne nickte ihm zu und blinzelte mehrmals. „Dann hol mal Boomer, aber unter den Umhang ziehst du dir bitte noch eine dicke Jacke an.“

Schon war Robbie wieder verschwunden und kam mit einem schwanzwedelnden Schäferhund zurück, der Robbies Mutter bei dem Versuch, ihren beigen Mantel anzuziehen, in dem kleinen Flur vor Aufregung beinahe umwarf. Der Hund schien kurz vor dem Durchdrehen zu sein, seitdem er wusste, dass er heute noch einmal raus durfte. Mehr als einmal musste sie sich bereits gefragt haben, ob Robbie überhaupt in der Lage war, diesen vierzig Kilo schweren Hund auszuführen. Seltsamerweise verhielt sich Boomer in Robbies Nähe beim Spazierengehen friedlich, während er bei Susanne an der Leine ständig versuchte, ihre Schulter auszukugeln.

„Na schön.“

Robbie zog sich etwas Wärmeres an und verstaute sein Handy in der Hosentasche, bevor seine Mutter die Haustür öffnete. Boomer sprang sofort hinaus und verschwand in der Dunkelheit des Vorgartens.

Nur der schmale, geschotterte Fußweg zur Gartentür wurde von acht liebevoll verzierten Kürbislaternen erhellt. Robbie wollte dem Schäferhund gerade folgen, bereits vollkommen mit dem Gedanken beschäftigt, wo er zuerst klingeln würde, als ihn die Hand seiner Mutter zurückhielt.

„Hast du nicht etwas vergessen?“ Sie lächelte zu ihm herab und in diesem Moment fand er, dass sie wunderschön aussah mit ihren gesträhnten, welligen Haaren und ihren smaragdgrünen Augen. Die rote Haarpracht hatte er eindeutig von seinem Vater geerbt.

Robbie überlegte angestrengt, was noch fehlen könnte, da reichte ihm seine Mutter einen Stoffbeutel.

„Sonst hast du doch gar nichts zum Süßigkeitensammeln.“

„Stimmt.“ Wie hatte er das vergessen können? „Danke, Mama.“

Er verstaute den Beutel in einer seiner Jackentaschen und trat mit ihr ins Freie. Kalter Wind blies ihm ins Gesicht und Robbie zog den Reißverschluss seiner Jacke noch ein wenig höher. Aber die fast schon frostigen Temperaturen störten ihn kaum. Kein Wetter der Welt konnte ihn heute davon abhalten, um die Häuser zu ziehen!

Robbie rief nach Boomer, der sofort schwanzwedelnd von der Seite angetrabt kam und sich ohne Probleme anleinen ließ.

„Also, mein Kleiner.“ Susanne hielt Robbie an den Oberarmen und blickte abermals zu ihm hinab. „Ich wünsche dir heute ganz viel Spaß in Unterwald.“

„Mama“, stöhnte Robbie augenrollend auf, weil er ihr schon gefühlt Hunderte Male versucht hatte zu erklären, dass kein Kind und kein Jugendlicher diesen Ort so nannte, wie er wirklich hieß.

Unterwald. Ein Dorf mitten im Thüringer Wald, das eine einzige Hauptstraße besaß und in dem es, wenn der ortsansässige Metzger geschlossen hatte, für alle ohne Auto mit Lebensmitteln eng werden konnte. Bus und Bahn gab es hier nicht und die nächste Stadt war gut zwanzig Kilometer entfernt. Nach Steinbach-Hallenberg gingen die Erwachsenen, wenn sie Erledigungen zu treffen hatten und die jungen Leute, weil sie dort zur Schule mussten. Egal auf welche der beiden Schulen man ging – Grund- oder Regelschule – es war eine ungeschriebene Regel, das neue Mobbingopfer zu sein, wenn man aus einem Kaff wie Unterwald kam.

Warum das so war, hatte Robbie nie verstanden. Allgemein verstand er nicht, weshalb man überhaupt jemanden ohne Grund ärgerte. Er fand es nie besonders nett, wenn sich jemand über ihn lustig machte. Leider hatten viele seiner Mitschüler Spaß daran, weshalb er nur wenige Freunde hatte. Doch das spielte keine Rolle. Lieber verbrachte er die Pausen allein, als sich einer bösen Gruppe anzuschließen.