Handbuch zur Rettung der Welt - Josh - Michael E. Vieten - E-Book

Handbuch zur Rettung der Welt - Josh E-Book

Michael E. Vieten

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Beschreibung

"Habt Vertrauen. Ich bin euer Anfang und euer Ende. Ich bin eure Mutter."Das Abenteuer geht weiter. Der alte Josh führt seine Gefährtinnen in die rauchenden Ruinen einer großen Stadt. Neue Freunde begleiten ihn, andere blieben zurück. Doch der Anschein der Sicherheit in der Gesellschaft vieler Menschen trügt und sie erkennen den ihnen vorbestimmten Weg. Schließlich brechen sie zu einer letzten Reise auf und müssen sich erneut den Gefahren in einer zerstörten Welt stellen.Band 3 der Trilogie um ein großes Abenteuer, verzweifelte Hoffnung, grenzenlose Zuversicht und aufrichtige Freundschaft.

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Mein besonderer Dank geht an Birgit D. für ihre wertvolle Unterstützung und ihre Zuversicht.

Vieten, Michael E., Handbuch zur Rettung der Welt - Josh

Informationen über den Autor und seine Arbeit auf: www.mvieten.de

Anthropozän

(Altgriechisch: „Das menschlich gemachte, Neue“)

Der Begriff „Anthropozän“ beschreibt die Benennung einer neuen geochronologischen irdischen Epoche. Sie soll den Zeitabschnitt umfassen, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist.

Dazu zählen:

Albedo

(Gesamt-Rückstrahlvermögen der Erdoberfläche (Schwund der Eisflächen))

Artensterben, Artenverschleppung

Klimawandel

Abschmelzen der Gletscher und der Polkappen

Anstieg der Meeresspiegel

Rückgang von Permafrost

Veränderung der globalen Meeres- und Luftströmungen

Versauerung der Ozeane

Lichtverschmutzung, Lärmverschmutzung

Kohlenstoffdioxid, Ozonloch, Treibhausgase

Radioaktiver Staub, Atomversuche, -Unfälle, Risiko eines Atomkriegs

Übernutzung bzw. Verlust zur Verfügung stehender Ressourcen insbesondere der Vorkommen (Peak-) Erdöl, Phosphor, Sand, seltene Erden

Bodendegradation, -erosion, -schutz oder – versauerung, Erschöpfung der vorhandenen Trinkwasservorkommen

Landraub durch Konzerne

Überfischung

Vermüllung der Umwelt „Plastik-Planet“

(Quelle: Wikipedia, gekürzt)

Wir alle leben heute im Anthropozän. Die Wissenschaft streitet noch darüber, ob dieses neue Zeitalter 1610 mit der Eroberung der „neuen Welt“ und den katastrophalen Folgen für den amerikanischen Kontinent und dessen indigenen Urbevölkerung den Anfang genommen hat oder erst um 1800 mit der industriellen Revolution in Europa.

Wie dem auch sei. Der Mensch hat begonnen seine Umwelt zu verändern ohne fundiertes Wissen darüber zu besitzen, welche Auswirkungen das haben wird.

Wissenschaftler und Militärs hantieren ahnungslos mit Atom-, Neutronen- und Wasserstoffbomben.

Die Landwirtschaft bringt Insektizide, Pestizide und Fungizide aus, deren Wirkung auf die Umwelt nie abschließend erforscht wurde.

Die Lebensmittelindustrie mischt Zusatzstoffe in ihre Produkte, deren negative Einflüsse auf unsere Gesundheit die Politik durch beliebige Einzelgrenzwerte einzudämmen versucht.

Den Pharmariesen sind die Nebenwirkungen ihrer Medikamente und deren Wechselwirkungen trotz jahrelanger Versuchsreihen nicht selten unbekannt.

Kunststoffe, Medikamentenrückstände, Schwermetalle und Chemikalien gelangen in die Nahrungskette und vergiften schleichend die Bevölkerung.

Genveränderte Mutanten aus der Tier- und Pflanzenwelt, deren langfristiges Wirken niemand vorhersehen kann, werden in die Natur entlassen.

Die verheerenden Schadstoffeinträge von Industrie und Gewerbe in die Böden, die Luft und in die Gewässer werden mit dem Hinweis auf den Erhalt von Arbeitsplätzen schulterzuckend hingenommen.

Vor dem Hintergrund all dieser Szenarien ist es kaum verwunderlich, dass die Rate der Krebserkrankungen beim Menschen Jahr für Jahr steigt.

Der Mensch im Anthropozän handelt, aber er weiß nicht, was er tut.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Großes Glück

Die Siedlung

Irina

Milas Entscheidung

Der Turm

Pawel

Die Stadt

Familie

Kannibalen

Ein wenig Luxus

Wie alles begann

Der Überfall

Irinas Entscheidung

3000 Kilometer

Der Fluss

Sicherer Boden

Die Anderen

Ein letztes Wort

Prolog

Anthropozän 2052. Zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation streifen nur noch wenige Überlebende durch verwüstete Landschaften auf der Suche nach Nahrung, Kleidung und Unterschlupf. Ihr Leben wird ständig bedroht von den gefährlichen Hinterlassenschaften der zügellosen und rücksichtslosen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts und von einer aus dem Gleichgewicht geratenen Natur mit verheerenden Wetterereignissen.

Das Risiko, in einer derart feindlichen Umwelt zu erkranken, sich zu verletzen oder sich zu vergiften, oder zum Opfer marodierender Horden zu werden ist übermächtig.

Der alte Josh, der die Zeit vor der Apokalypse noch erlebt hat, und die junge Waise Mila, die nur diese zerstörte Welt kennt, begegneten sich und wurden Freunde. Sie setzten ihren Weg gemeinsam fort. Die beiden suchen ein abgelegenes Hochtal im Gebirge, von dem sie sich bessere Lebensbedingungen versprechen.

Sie überwintern in einer verfallenen Hütte und warten auf das Frühjahr.

Dann ist es endlich soweit und sie könnten weiterziehen.

Doch beide wissen, Josh ist alt und der vor ihnen liegende Weg über das mächtige Gebirge mühsam und gefährlich. Das Gepäck wiegt schwer und Joshs Kräfte schwinden. Sie kämen nur langsam voran.

Vielleicht würde der alte Freund unter den Strapazen sterben, ohne das rettende Hochtal erreicht zu haben.

Schließlich treffen sie eine Entscheidung, die beiden nicht leicht fällt.

Nach einem langen gemeinsamen Weg und dem monatelangen Trotzen aller Gefahren trennen sich die zwei Gefährten.

Mila sucht das Tal im Gebirge allein und Josh bereitet die morsche Hütte auf den kommenden Winter vor. Im Herbst wollen sie sich dort wieder treffen.

Doch Milas Reise findet ein jähes Ende. Zu spät trat sie den Rückweg an, um das rettende Lager zu erreichen. Arktische Kälte brach über sie herein und nach unendlichen Strapazen riss eine Schneelawine sie und ihre neue Gefährtin Lavinia fort. Mit letzter Kraft schleppt Lavi sich allein weiter und erreicht die Hütte. Doch sie ist abgebrannt und Josh ist nicht dort.

Großes Glück

Die Trägheit in ihrem Kopf ließ keinen klaren Gedanken zu. Wie durch Gelee mäanderten ihre geistigen Gespinste, verirrten sich, nahmen Umwege, spülten längst Vergessenes in ihr Bewusstsein und schweiften wieder ab.

Sie sah die Gestalt ihrer verstorbenen Mutter im Dunkeln. Dann die von Josh, dabei wusste sie gar nicht, wie der alte Mann aussah.

Ein tiefer Seufzer entfuhr Lavinia. Ihr war unglaublich kalt und doch spürte sie Hitze im Gesicht. Zitternd produzierten ihre Muskeln Wärme. Ein Überlebensreflex. Im fiebrigen Schüttelfrost warf sie ihren Kopf hin und her und sie öffnete ihre Augen einen winzigen Spalt. Sogleich stach gleißendes Licht hinein. Sie zuckte zurück und presste ihre Lider zusammen.

,Ein Feuer!', waberte es in ihr Hirn. ,Woher kam das Feuer?'

Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Nie war es ihr schwerer gefallen als in diesem Augenblick.

Sie kauerte doch zusammengesunken in den Brandresten der Hütte, erinnerte sie sich. Und nun sah sie ein Feuer. Dann war sie also verrückt geworden. Kälteidiotie nannte man das wohl. Oder die Hütte brannte wieder. Oder noch immer? Konnte das sein? Wirr prüfte sie die Gerüche, die ihr in die Nase stiegen.

Brandgeruch, eindeutig. In ihren Ohren verfing sich ein Knistern.

Sie öffnete vorsichtig erneut ihre Augen. Flammen loderten vor ihrem Gesicht. Darunter verglühte Holz zu Kohle. Funken stoben auf. Kreisrund ausgelegte Steine hielten den Brand in Grenzen. Ein Lagerfeuer, so viel war sicher.

Ein Stück Fleisch hing aufgespießt auf einen Stock dicht am Feuer. Fett brutzelte an der Oberfläche und tropfte hinunter. Zischend und qualmend verbrannte es in den Flammen.

Lavinia versuchte, sich aufzurichten.

„Bleib liegen!“, kommandierte eine Stimme scharf. „Du bist noch zu schwach.“

„Mila?“

Lavi konnte gar nicht glauben, was sie da gerade sagte. Deswegen wiederholte sie ihre Frage noch etwas lauter.

„Mila?“

Auf der anderen Seite des Feuers bewegte sich ein blasses Gesicht aus dem Dunkeln auf sie zu. Durch die Flammen hindurch erkannte sie ihre Gefährtin. Tränen der Rührung und der Erleichterung schossen ihr in die Augen, noch bevor sie überhaupt begriff, wie das sein konnte. Schließlich hatte sie bis zur totalen Erschöpfung in dem Chaos der Lawine nach Mila gesucht und am Ende aufgeben müssen. Mila war tot. Sie fantasierte. Ein Trugbild im Kältewahn kurz vor dem Erfrieren.

Sie sah sich um. Kein Zweifel. Sie lag in einem Tipi. Genau so hatte Mila es immer gebaut.

„Mila?“, wiederholte sie erneut ihre Frage.

„Ja, doch“, gab Mila ungehalten zurück. „Ich bin es und du bist nicht tot. Wird langsam zur Gewohnheit, dass ich dir den Arsch retten muss. Und jetzt hör auf zu heulen.“

Mila sah ihrer Freundin ins verschwitzte Gesicht und lächelte mild.

„Ich bin froh, dass ich dich gerade noch rechtzeitig gefunden habe. Was hattest du vor, dort zusammengekauert in den Resten der verbrannten Hütte? Sterben? Einfach aufgeben?“

Lavinia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Zu sehr war ihr Geist noch damit beschäftigt, die neue Situation zu begreifen.

Mila war nicht tot. Sie selbst auch nicht. Wie ging es ihr?

Sie bemühte sich um ein Körpergefühl. Sie lag unbekleidet unter Decken in einem Schlafsack.

„Wieso bin ich nackt?“

„Ich musste dich wärmen. Aber deine Kleidung war nass und gefroren. Du hast hinein gepinkelt.“

Lavi spürte einen stechenden Schmerz in ihr Schultergelenk zurückkehren und verzog das Gesicht.

„Meine Schulter...“

„Ich weiß. Das ist ein Problem. Sie ist ausgekugelt. Ich bekomme es nicht hin. Du bist bei meinen Versuchen sie wieder einzurenken zweimal ohnmächtig geworden.“

Lavinia nickte.

„Danke, dass du mich gewärmt hast.“

Mila nickte ebenfalls.

„Du solltest dich mal waschen. Du stinkst wie ein Iltis.“

Lavi lachte verhalten. Mila blieb Mila und sie liebte dieses ruppige Mädchen dafür.

„Ich habe dich zwei Tage lang gesucht. Dieses Chaos aus Schnee und Eis war furchtbar. Die Schmerzen in meinem Knie, meine Schulter...“

Lavinia schluckte trocken.

„Das ganze Durcheinander. Abgestürzte Felsen, herausgerissene Bäume, unsere Pferde, unser Gepäck. Alles verloren.“

„Nicht ganz“, widersprach Mila. „Einen Teil konnte ich retten. Deinen Rucksack habe ich auch. Habe ihn unterwegs aufgesammelt. Ich war nur einen Tagesmarsch von dir entfernt.“

„Wie konntest du überleben?“

„Die Lawine hat mich eine Felswand hinunter geworfen. Unten wuchsen junge Fichten, der Schnee lag hoch. Ich bin weich gefallen. Aber beinahe hätte mich eines unserer Pferde erschlagen. Es war mit mir zusammen abgestürzt. Ich habe drei Tage gebraucht, um mich wieder nach oben zu kämpfen. Da warst du schon auf dem Weg zur Hütte. Ich habe deinen Lagerplatz gefunden und bin dir gefolgt.“

„Ich habe deinen Bogen mitgenommen“, erinnerte sich Lavi.

„Ich weiß. Ich habe ihn bereits repariert.“

Mila schaute ihrer Freundin ins Gesicht. Die Gefahr für ihr Leben war noch nicht vorbei. Lavi sah schlecht aus. Kraftlos. Ausgemergelt. Tief lagen deren Augen in ihren Höhlen. Dunkele Ränder darunter. Eingefallene Wangen. Das ursprünglich glänzende schwarze Haar wirkte spröde und matt.

„Du musst etwas trinken und etwas essen.“

„Wie lange sind wir bereits hier?“

„Drei Tage.“

Mila nahm das Fleisch vom Stock und schnitt es in schmale Streifen. Dann kroch sie an Lavi heran und fütterte sie damit wie eine Vogelmutter ihr Junges.

„Du musst essen.“

Dankbar kaute ihre Gefährtin.

„Ich habe Durst.“

Mila griff nach der Wasserflasche und schraubte den Verschluss ab. Dann stützte sie Lavinias Kopf, während die in kleinen Schlucken trank und anschließend ihren Schnabel aufriss, um hungrig das nächste Stück Fleisch zu empfangen.

„Ich bin dir für ewig dankbar“, murmelte sie mit vollem Mund. „Ich kann es noch gar nicht fassen, dass ich am Leben bin.“

„Sah auch nicht danach aus, als ich dich gefunden habe.“

„Wo ist Josh?“

Mila ließ ein weiteres Stück Fleisch in den geöffneten Mund fallen.

„Ich weiß es nicht.“

„Was glaubst du ist passiert?“

„Keine Ahnung. Vielleicht ist er tot. Vielleicht wurde er überfallen und jemand hat anschließend die Hütte niedergebrannt.“

Mila wirkte unruhig.

„Was ist?“, fragte Lavinia.

„Kannst du dir die restlichen Fleischstücke selbst in den Mund stopfen? Ich muss runter zum Bach. Ich habe gestern Morgen eine primitive Reuse zusammengesteckt, um Fische damit zu fangen. Es wird bald dunkel und ich möchte zurück sein, bevor das Tageslicht schwindet. In der Nähe unseres Lagers habe ich eine Wolfsfährte entdeckt.“

„Ja, geh nur. Ich komme klar. Wo ist mein Speer?“

„Der steckt draußen im Schnee. Ich habe die Klinge gerade gebogen so gut es ging.“

Nachdem die Plane am Eingang hinter Mila wieder zu gefallen war, lauschte Lavinia nach den Geräuschen in der Winterlandschaft vor dem Zelt. Ihre Gefährtin entfernte sich stapfend durch den tiefen Schnee. Äste knarzten vom Frost erstarrt im eisigen Wind.

Lavi steckte sich ein Stück Fleisch in den Mund und kaute darauf herum. Sie konnte ihr Glück immer noch nicht begreifen. Sie war nicht erfroren. Neben ihr brannte ein wärmendes Feuer und sie hatte ein Dach über dem Kopf. Auf einen aufrichtigen und treuen Freund durfte sie ebenfalls zählen. Trotz aller Widrigkeiten und Wendungen und der weiterhin schmerzenden Schulter überkam sie eine tiefe Dankbarkeit. Mila hatte sie vor dem sicheren Tod gerettet. Und diese Erkenntnis fand ihr Ventil und die Rührung überwältigte sie. Voller Demut weinte Lavinia.

Nachdem sie etwas gegessen hatte, war sie eingeschlafen. Als sie wieder erwachte, war das Feuer herunter gebrannt. Eine weiße Schicht Asche bedeckte die Glut. Es war dunkel im Zelt. Lavi lauschte. Dann versuchte sie, sich aufzurichten. Ein bohrender Schmerz in der Schulter warnte sie davor, es zu übertreiben.

Sie schaffte es, bis an den Eingang zu rutschen, und schob die Plane beiseite. Sofort griff ein eisiger Wind nach ihr und wirbelte ihr Schneeflocken ins Gesicht. Die Sonne war bereits untergegangen.

„Mila?“, rief sie.

Doch sie erhielt keine Antwort.

Vor dem Eingang steckte ihr Speer im Schnee. Sie umfasste den vereisten Schaft, riss die Klinge aus dem gefrorenen Boden und zog die Waffe ins Zelt. Nun fühlte sie sich sicherer. Dann ließ sie die Plane wieder zufallen und rutschte zurück auf ihren Platz. Neben ihr lag ein kümmerlicher Rest Brennholz. Sie warf die dürren Zweige auf die Glut und wartete, bis sie Feuer gefangen hatten. Die auflodernden Flammen spendeten Licht und Wärme.

Wenn Mila nicht bald zurückkehrte, musste sie raus und Holz suchen. Sonst würde sie erfrieren.

Sie war noch einmal eingeschlafen. Ein schleifendes Geräusch weckte sie. Das Feuer war erneut heruntergebrannt. Sofort griff sie nach ihrem Speer und lauschte. Da war es wieder. Irgendetwas schliff an der Plane entlang. Plötzlich riss jemand den Zelteingang auf. Sie erkannte Milas Gesicht im Halbdunkeln.

„Du hast mich erschreckt!“, beschwerte Lavi sich.

„Kann ich dir das Brennholz für die Nacht anreichen?“

„Ja, klar. Gib her.“

Sie stapelte mit einer Hand zerkleinerte Äste und armdicke Stämme hinter sich. Sie würden sie durchbrennen müssen, zum Brechen waren sie zu dick. Einen legte sie sogleich auf die Glut. Nach kurzer Zeit züngelten die ersten Flammen gierig über das trockene Holz.

Mila warf zwei Forellen ins Zelt. Ihr Bogen, ihre Pfeile und nasse, angefrorene Kleidungsstücke folgten.

„Ich habe deine Sachen gewaschen so gut es ging. Der Bach ist halb zugefroren. Wir müssen sie trocknen.“

„Wir hängen sie vor den Eingang, raus müssen wir ja nicht mehr. Holz für die Nacht haben wir genug.“

Mila nickte und begann sogleich damit, die Wäschestücke an Stöcken zu befestigen. Dann ließ sie sich am Feuer nieder und nahm die beiden Fische aus.

Während die Forellen aufgespießt über der Glut grillten, kochte Mila Schnee und ließ Pfefferminzblätter in das siedende Wasser fallen. Lavi beobachtete jeden Handgriff.

„Was machen wir jetzt? Bleiben wir hier?“

Mila presste ihre Lippen aufeinander und wiegte ihren Kopf unschlüssig hin und her.

„Darüber denke ich pausenlos nach. Wir müssen uns um deine Schulter kümmern. Sobald du zu Kräften gekommen bist, sollten wir weiterziehen. Vielleicht finden wir jemanden, der dir helfen kann.“

„Aber wohin gehen wir?“

Mila schwieg. Nach einer Weile sagte sie: „Ich weiß es nicht.“

Die Fische waren gar. Sie aßen zuerst die knusprige Haut, dann das zarte Fleisch. Die Gräten spuckten sie in die Glut und sie lachten dabei.

Lavinia betrachtete kauend und schmatzend ihre Gefährtin. Mila hatte sich die zerzausten blonden Haare hochgesteckt, damit sie nicht von den wild zuckenden Flammen des Feuers angesengt wurden.

„Du siehst beinahe aus wie eine feine Dame. Nur schmutziger.“

„Ich habe mich am Bach gewaschen!“, protestierte Mila.

„Muss 'ne Katzenwäsche gewesen sein.“

„Das Wasser ist eisig!“, verteidigte sie sich.

Lavi grinste.

„Ich weiß. Wir könnten uns Wasser warm machen.“

Mila überlegte.

„Warum nicht, uns bleibt im Moment ohnehin nichts weiter zu tun.“

Sie schüttete den Tee in Becher, hob hinter sich die Zeltplane und füllte den Topf mit Schnee. Sobald er geschmolzen war, füllte sie Schnee nach und bald war der Topf mit ausreichend warmem Wasser gefüllt.

Mila griff sich einen von Lavis Wollstrümpfen, roch daran und tauchte ihn unter.

„Mal gut, dass ich deine Sachen heute erst gewaschen habe“, verkündete sie bedeutungsvoll.

Dann rutschte sie an Lavinia heran.

„Dreh dich um, dann wasche ich dir den Rücken.“

Mila drückte den Strumpf aus und rieb Lavis Rücken und den Nacken damit ab. Ihre Gefährtin schloss die Augen und genoss die Zuwendung und die Wärme des Wassers. Den Rest ihres Körpers wusch sie sich selbst. Schnatternd kroch sie wieder in den Schlafsack. Die auf der Haut verdunstende Feuchtigkeit ließ sie trotz des Feuers frieren.

Mila wärmte einen weiteren Topf Wasser.

„Ausziehen, du bist dran“, kommandierte Lavinia, griff nach dem Strumpf, tauchte ihn unter und presste anschließend die Flüssigkeit heraus. Beinahe zärtlich fuhr sie mit der warmen feuchten Wolle über Milas mageren Rücken, auf dessen Mitte sich die Wirbel durch die Haut drückten.

Mila rieb sich den Schmutz vom Leib und kochte einen zweiten Topf Tee. Er heizte die Körper von innen und er tröstete ihre Seelen.

Lavinia umfasste den Becher mit beiden Händen und wärmte sich daran ihre Finger, obwohl der stechende Schmerz in ihrer Schulter ihr kaum Bewegungsfreiheit ließ. Ihr Knie hatte sich hingegen erholt. Sie konnte es zumindest ohne Qualen bewegen.

„Morgen versuche ich aufzustehen. Ich will mich anziehen und ein wenig umher gehen.“

Mila trank einen Schluck und nickte.

„Ich muss morgen jagen. In der Reuse fange ich nur alle paar Tage Fische. Das reicht nicht. Ich breche sehr früh auf.“

Lavinia legte Holz nach. Funken stoben auf und eilten durch den Rauchabzug ins Freie.

„Wenn ich wieder gesund bin, sollten wir nach Norden ziehen.“

„Erst will ich wissen, was mit Josh passiert ist.“

„Und wenn er tot ist?“

„Dann ziehen wir nach Norden.“

Es war wie ein Pakt, der zwischen den beiden geschlossen wurde. Längst waren ihre Schicksale untrennbar miteinander verbunden, das spürten sie. Gott oder wer auch immer hatte sie zusammengeführt. Sie hatten sich getrennt und wieder gefunden, wurden erneut auseinandergerissen und abermals vereint. Nun waren sie eins und sie würden es bleiben. Egal was geschah.

Lavi erwachte spät am Morgen. Das Feuer war heruntergebrannt. Eine dünne Rauchsäule stieg gerade auf und wurde über dem Rauchabzug sanft verwirbelt. Ein leichter Wind blies, die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel herab.

Lavinia öffnete den Eingang und blinzelte gegen das Licht.

Mila war zur Jagd aufgebrochen, ohne ihre Gefährtin zu wecken. Im Schein der Sonne zog Lavi sich an. Es kostete ein wenig Mühe, den Arm an der verletzten Schulter in den Ärmel zu schieben. Sie presste die Lippen aufeinander und ertrug stöhnend den Schmerz.

Sie sammelte etwas Holz, um sich zu beschäftigen. Sie entfernte sich nicht weit vom Zelt. Mila hatte es gleich neben der Hütte errichtet. Dort stand es im Schutz der mächtigen Douglasien.

Lavinia trat einen Schritt vor und griff nach einem Ast. Plötzlich gab der Boden unter ihrem Stiefel nach und sie trat in ein tiefes Loch. Beinahe wäre sie hinein gefallen. Geistesgegenwärtig breitete sie ihre Arme aus und stützte sich am Rand einer Grube ab. Der Schmerz fuhr wie ein Messer in ihre verletzte Schulter und ließ sie laut aufschreien. Tränen schossen ihr in die Augen.

„Verfluchte Scheiße!“, rief sie und dann sah sie, was sich unter ihr befand. Ein Räucherofen. Sie hatte noch nie einen gesehen, aber Mila hatte ihr davon berichtet und beschrieben, wie sie und Josh ihn gebaut haben. Von der Schneedecke verborgen war ihr das Loch entgangen. Mühsam befreite sie sich und blieb einen Augenblick auf dem Rand im Schnee sitzen. Die Schmerzen in ihrer Schulter trieben sie noch in den Wahnsinn. Es wurde höchste Zeit, dass sie etwas unternahm. Aber sie kannte sich in medizinischen Dingen nicht aus und diese Hilflosigkeit ließ sie noch wütender werden.

Sie schleppte sich zurück zum Lager. Den gefundenen Ast schleifte sie hinter sich her. Dadurch machte das ganze Manöver wenigstens noch einen Sinn.

Im Zelt legte sie üppig Holz auf die Glut und kroch in ihren Schlafsack. Bald loderten die Flammen hoch und heizten den Innenraum ordentlich auf.

Sie hatte geschlafen. Wie lange, wusste sie nicht.

Mila war noch nicht wieder zurück. Das Feuer züngelte spärlich vor sich hin. Sie griff nach einem Stück Holz und verharrte in der Bewegung. Draußen vor dem Zelt lief ein Tier umher. Die trippelnden, schnellen Schritte passten nicht zu einem Menschen.

Lavi erinnerte sich an Milas Entdeckung, tastete nach ihrem Messer unter dem Schlafsack und legte es neben sich ab. Dann zog sie ihren Speer an sich heran und richtete die Spitze auf den Zelteingang. So wartete sie ab, was als nächstes geschah. Minutenlang lauschte sie, achtete auf jedes Geräusch. Waren Wölfe in der Nähe?

Etwas schabte hinter ihr an der Zeltwand entlang. Lavi riss ihren Kopf herum. Die Plane bewegte sich in weniger als einem Meter Höhe. Also ein Wolf, urteilte sie. Er suchte nach dem Eingang. Sie hörte ihn schnüffeln und hecheln. Er nahm ihre Witterung auf. Er wusste, dass sie in diesem seltsamen Ding saß, er konnte ihren Angstschweiß riechen, aber er wusste noch nicht, wie er hinein kam.

Plötzlich hob sich die Plane ein Stück empor und eine schwarze Nase erschien, gefolgt von einem Maul umgeben von mit Schnee benetztem Fell.

Lavi ergriff mit dem gesunden Arm den Speer und stach mit dessen Spitze zu. Ein Jaulen begleitet von einem wütenden Knurren erklang. Die Nase verschwand. Nun aber erhöhte der Wolf seine Bemühungen, sich die in Aussicht stehende Beute zu holen. Er grub mit den Pfoten und startete einen erneuten Versuch, unter der Plane hindurch in das Zeltinnere zu gelangen. Lavinia stach abermals zu und traf.

Rasend vor Wut knurrte das verletzte Tier und umrundete das Zelt. Der Wolf schnüffelte und suchte nach einem anderen Zugang zur Beute. Er würde nicht aufgeben, so viel stand fest. Im Gegenteil, er erhöhte seinen Einsatz und hatte bald den Eingang gefunden. Sein Kopf erschien mit blutender Schnauze kurz zwischen der sich überlappenden Plane. Er erblickte Lavinia und den Speer und begriff. Schnell zog er sich zurück und Lavis Stoß ging ins Leere.

Es war kein Wolf. Zumindest kein Echter. Irgendeine Mischung aus Hund und Wolf und das erklärte auch sein artuntypisches Interesse an einem Menschen. Denn die gehörten üblicherweise nicht zum Beuteschema von Wölfen. Aber ein streuender Hund griff alles an, was er erwischen konnte. Er hatte keine Angst vor Menschen. Er wusste ja bereits, sie waren schwach und eine leichte Beute. Und diese Beute hier war verletzt, das konnte er riechen.

Jetzt zerrte das Tier an der Plane. Verständlich, es wollte freie Sicht auf den leckeren Happen. Die Zeltstangen wankten. Lavi schrie es an. Sie brüllte sich ihre gesamte Angst aus dem Leib. Doch den hungrigen Köter beeindruckte das nur kurz. Das verscheuchte Tier kehrte sogleich zurück und setzte seine Attacken fort.

Lavinia griff nach ihrem Messer. In der anderen Hand hielt sie den Speer. Mehr konnte sie nicht tun. Zeit aus ihrem Schlafsack zu kriechen hatte sie keine. Denn dann müsste sie ihre Aufmerksamkeit von den Versuchen dieses Viechs abwenden, das Zelt niederzureißen und ihr an die Kehle zu springen. Also blieb sie sitzen, stieß immer wieder mit der Klinge des Speers zu. Mal traf sie und der Hund lief davon. Nach einer Weile kehrte er zurück und dann stach sie erneut zu und verfehlte ihn. Er hatte begriffen, dass die Konstruktion des Zeltes im Grunde wackelig war und seinem Ansturm wenig entgegenzusetzen hatte. Speichel in Erwartung reicher Beute tropfte ihm aus dem Maul. Lavinia konnte es sehen, als sich der Kopf des mageren Tieres wieder durch die Plane schob. Dessen Tisch war gedeckt. Und dann fiel das Zelt um und sie saß im Freien. Diese Bestie hatte es geschafft.

Sie versuchte vergeblich, sich in ihrem Schlafsack aufzurichten. Das rasende Tier sprang sie an und schnappte nach ihrem Hals. Sie stach mit aller Wucht mit ihrem Messer zu. Der Hund jaulte und ließ von ihr ab. Er stürmte davon, aber sie hatte ihn nicht schwer verletzt. Eine Rippe hatte ihren Stoß abgelenkt. Ihre Klinge war nicht sehr weit in den Körper eingedrungen. Das war zwar schmerzhaft, aber das Biest war nicht tödlich getroffen. Das hatte es wohl auch begriffen, denn nun kehrte es zurück, zu allem entschlossen. Sie warf dem Hund den Speer entgegen und verfehlte ihr Ziel. Er stemmte sich auf die Hinterbeine und setzte zum Sprung an. Lavi nahm das Messer in beide Hände und hielt es schützend vor sich. Das Tier hob ab und flog auf sie zu. Das Maul weit aufgerissen. Sie konnte den fauligen Atem riechen. Sie riss das Messer hoch. Der Hund stieß sie um und landete auf ihr. Sie stach zu, immer wieder. Blut quoll ihr entgegen und spritzte ihr ins Gesicht. Das Tier leistete keine Gegenwehr. Das war seltsam. Tödliche Verletzungen hatte sie diesem Köter noch nicht beigebracht. Und dann bemerkte sie das silbrige Ding in dessen Brustkorb. Ein Bolzen. Ein kurzer Pfeil von einer Armbrust verschossen steckte in dem Hund. Das Geschoss musste das Herz durchbohrt haben. Das Tier war bereits tot gewesen, als der schwere Körper auf ihr gelandet war. Schnell stieß sie ihn davon, strampelte sich aus dem Schlafsack heraus und bereitete sich auf den nächsten Feind vor. Sie würde sich erneut verteidigen, gegen wen auch immer.

Hektisch sah sie sich um. Dann entdeckte sie den Schützen. Er stand mit der Sonne im Rücken weniger als zwanzig Schritte von ihr entfernt oben am Waldrand und blickte gelassen auf sie herab. Er ließ die Armbrust sinken und stapfte durch den tiefen Schnee auf sie zu. Sie lockerte ihre Finger um den Griff des Messers und blinzelte gegen das gleißende, von glitzernden Eiskristallen tausendfach reflektierte Licht an. Es war ein Mann. Er war alt. Sein Haar leuchtete silbergrau. Die Kleidung war dick und die Kapuze des Parkas mit Fell besetzt. Der Winter war sein Freund, so schien es. Dampfend stieß er den Atem aus und lächelte freundlich.

„Josh?“, entfuhr es ihr.

Wieder vereint

Seinen Namen hatte er wohl aus dem Mund dieses fremden Mädchens vernommen, doch noch fehlte ihm der Zusammenhang. Wer war sie?

Sie schien ihn zu kennen, aber er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie sich je begegnet wären. Sie hatte ihr Lager an dem Ort aufgeschlagen, an dem die Hütte gestanden hatte. Dafür gab es keinen besonderen Grund. An jedem anderen Platz wäre das primitive Zelt ebenso schlecht für die kalten Nächte des Winters geeignet gewesen.

Misstrauen stieg in ihm auf und er ließ diese junge Frau nicht mehr aus den Augen. Doch sie wirkte freundlich. Sie schien verletzt zu sein, sie hielt sich die rechte Schulter und ihre Körpersprache und ihr Gesichtsausdruck ließen ihn vermuten, dass sie starke Schmerzen verspüren musste.

Es sich nicht anmerken zu lassen und sich auf den Beinen zu halten verlangte ihr ganz offensichtlich große Anstrengung ab.

Ihr Ernährungszustand war nicht gut, ihre dunkelbraunen, beinahe schwarzen Augen schimmerten matt, ihr schwarzes Haar wirkte stumpf. Aber in ihr brannte ein Feuer, wie er es bereits schon einmal gesehen hatte. Und die Erinnerung an diese Person lieferte eine mögliche Erklärung für die Anwesenheit der geschwächten Frau an jenem Ort und dass sie seinen Namen kannte.

Josh schob sich die Kapuze in den Nacken und blieb vor ihr stehen. Immer noch angestrengt stieß sie dampfend ihren Atem aus. Ihr Gesicht war verschwitzt und blutig, aber es war nicht ihr Blut.

„Woher kennst du meinen Namen?“

„Von Mila.“

„Wo ist sie?“, fragte er und die Furcht vor einer schlechten Nachricht ließ ihm die Knie weich werden und sein Herz stolpern.

„Sie ist zur Jagd gegangen.“

Vor Erleichterung entfuhr ihm ein tiefer Seufzer und seine Augen wurden feucht.

„Geht es ihr gut?“

„Ja.“

„Aber dir nicht.“

Die junge Frau nickte und vermittelte Josh den Eindruck, dass sie gleich umfallen würde. Der Kampf mit dem elenden Köter hatte ihre letzten Kraftreserven geplündert.

„Wie ist dein Name?“

„Lavinia.“

Josh lächelte.

„Wir bauen zunächst dein Zelt wieder auf und dann schaue ich mir deine Schulter an.“

Josh ging voraus und alle seine Handgriffe wirkten kraftvoll und energisch. Dieser Mann war alt in Jahren, aber jung im Herzen, das konnte Lavinia sehen und sie war bereits jetzt überaus froh darüber, ihn an ihrer Seite zu wissen.

Er schleifte den toten Hund weg. Dann richteten sie gemeinsam die Zeltstangen wieder auf und befestigten die Plane erneut daran. Geübt entfachte Josh das Feuer.

„Leg dich hin. Ich besorge noch etwas Brennholz.“

Lavinia nickte.

„Danke. Danke für alles.“

Dann trat die junge Frau vor ihn, umarmte ihn und drückte ihn an sich. Er tätschelte verlegen ihren Rücken.

Josh verließ das Zelt und stapfte davon. Die Sonne würde in weniger als einer Stunde untergehen. Er musste sich beeilen, genug Brennholz für die Nacht zusammenzutragen und es im Zelt aufzustapeln.

Lavinia wimmerte im Schlaf und warf ihr verschwitztes Gesicht hin und her. Josh kochte Schnee in einem Topf und zog im Schein der Flammen dem Hund das Fell ab. Anschließend nahm er den Rumpf aus. Das Gedärm, den Kopf, die Läufe und den Schwanz warf er weg. Das Fell rollte er ein.

Er schnitt lange Streifen aus dem Fleisch und spießte sie am Feuer auf Stöcke. Viel war an dem abgemagerten Tier nicht dran, aber für zwei Tage sollte es reichen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung. Der Zelteingang wurde aufgeschoben und ein Gesicht erschien. Erschrocken blickte es ihn an und Mila griff sofort nach ihrem Messer.

Augenblicklich wurde ihm klar, gleich würde sie sich auf ihn stürzen und ihre Freundin rächen. Denn so musste es für sie aussehen. Ein Mann mit einem langen Messer in seinen blutigen Händen saß im Zwielicht in ihrem Zelt und ließ das Schrecklichste vermuten. Von ihrer Gefährtin in dem Schlafsack unter den Decken war in dem schummrigen Licht kaum etwas zu sehen.

„Mila!“, stieß er hervor. „Ich bin es, Josh.“

Mila zuckte aus ihrer Vorwärtsbewegung zurück und erschrak. So viele Gedanken stürzten nun auf sie ein. Die gefährliche Situation zeigte sich schlagartig als entschärft und der treue alte Freund war plötzlich wieder da. Doch wo befand sich Lavi? Dann reckte sich ein bleiches Gesicht müde aus der Kapuze des Schlafsacks und die Erleichterung hätte nicht größer sein können.

„Mila“, murmelte Lavinia. „Josh ist wieder da.“

Wortlos fielen sie sich in die Arme und hielten sich aneinander fest. Monate waren vergangen. So viel Zeit. So viele Fragen. So viel zu erzählen.

Ein warmes Gefühl durchströmte Josh. Mila war wohlbehalten wieder zurück und sie hatte dieses Mädchen mitgebracht.

„Was hast du mit der Hütte angestellt?“, fragte Mila und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Kann man dich nicht alleine lassen?“

Herausfordernd schaute sie ihm ins feuchte Gesicht.

Josh nickte und grinste. Mila hatte sich offenbar nicht verändert.

Sie setzten sich ans Feuer. Sie ließen es hoch brennen gegen die grimmige Kälte des Winters.

Milas Jagdglück hatte sie an diesem Tag verlassen. Sie war Fährten gefolgt und hatte stundenlang angesessen. Doch Wild sah sie keines. Auch die Reuse im Bach war leer gewesen und so kehrte sie ohne Beute zum Zelt zurück. Eine hungrige Nacht wartete dort auf sie. Doch nun war alles anders. Das Hundefleisch grillte und das Wasser siedete. Mila warf getrocknete Blätter der Minze hinein.

Lavinia richtete sich auf und Josh tastete ihre Schulter ab.

„Hmm“, brummte er. „Da kann ich nicht viel ausrichten. Das muss sich jemand ansehen, der davon etwas versteht. Morgen gehen wir ins Dorf. Dort kann man uns helfen.“

„Ins Dorf?“, fragte Mila.

Josh nickte und half Lavi dabei, ihren Arm wieder in den Ärmel des Pullovers zu stecken.

„Nachdem die Hütte abgebrannt war, zog ich umher. Das Meiste war verloren. Ich hatte keinen Proviant. Ich war auf der Jagd, als es passiert ist. Es war ein stürmischer Tag. Ich vermute, der Wind hat auf den Kamin gedrückt und Funken aus dem Ofen getrieben. Die Klappe ließ sich nicht mehr sicher schließen. Vielleicht ist sie aufgesprungen. Jedenfalls fand ich nur noch die rauchenden Reste vor, als ich zurückkehrte. Es war spät im Herbst. Der Winter nahte. In den Nächten fiel die Temperatur bereits auf unter null Grad. Es blieb keine Zeit mehr, die Hütte neu aufzubauen. Also brach ich auf und fand eine kleine Siedlung. Die Menschen dort waren freundlich, also blieb ich. Die Häuser liegen einen halben Tagesmarsch von hier entfernt. Zwei Mal in der Woche kam ich hierher, um dich zu treffen. Aber du kamst nicht. Doch ich habe nie aufgegeben.“

Josh schnitt ein Stück Hundefleisch ab und reichte es Lavinia.

„Wo wart ihr so lange? Wir wollten uns im Herbst wieder hier treffen.“

Mila griff nun auch nach einem Streifen Fleisch und biss hinein.

„Was ist das?“

„Hund“, grinste Lavinia. „Das Viech hatte es auf mich abgesehen. Josh hat ihn erledigt.“

Sie aßen und tranken den Tee. Mila und Lavi erzählten von ihren Abenteuern und Josh hörte gespannt zu. Dass sie das Tal verwüstet vorgefunden hatten, trieb Mila die Tränen in die Augen. Mit einem Stock, auf dem gerade noch ein Stück Hundefleisch gesteckt hatte, stocherte sie wütend in der Glut des Feuers.

„Ich habe dir etwas mitgebracht“, sagte sie plötzlich. Dann durchsuchte sie ihren Rucksack. Schließlich hielt sie Josh eine Flasche entgegen, gefüllt mit einer braunen Flüssigkeit.

„Whisky“, stellte er überrascht fest. „Wo hast du den denn her?“

„Von so einem Typen“, spielte Mila die Tatsache herunter, dass die wertvolle Gabe Lavis Abschiedsgeschenk gewesen war, nachdem sie beschlossen hatte, mit Ruud nach Norden zu ziehen. Mila sah ihre Freundin an. Die senkte schuldbewusst den Blick.

„Hoho“, jubelte Josh, drehte den Verschluss auf und reichte Lavinia die Flasche.

„Du zuerst“, wehrte sie ab.

Josh trank einen Schluck. Und dann noch einen.

„Ah“, keuchte er, schaute auf das Etikett und übertrieb. „Eine der besten Erfindungen der Menschheit.“

Der Whisky machte die Runde. Mila nippte nur an dem scharfen Zeug. Lavi zeigte sich weniger zurückhaltend und schon bald spürte sie den Schmerz in ihrer Schulter nicht mehr so drängend.

Dann deutete Josh auf ein Gepäckstück, welches Mila bei ihrer Suche nach der Flasche aus dem Rucksack genommen hatte.

„Du schleppst das Ding immer noch mit dir herum?“

Milas Blick richtete sich auf das abgegriffene Buch. Dessen Titel schimmerte matt im Feuerschein. „Ethisch moralische Betrachtung der Menschheit des 21. Jahrhunderts von Jonathan Boyle“. Beinahe zärtlich nahm sie es auf, wischte über den Buchdeckel und legte es in den Rucksack zurück.

„Es ist und bleibt das ,Handbuch zur Rettung der Welt' und es wird den Menschen den Weg weisen, wenn es so weit ist.“

Das einsame Zelt, welches sie nur mit einer dünnen Plane von der dunklen, eisigen Nacht trennte, war erfüllt von starken Gefühlen. Da war plötzlich wieder Hoffnung. Erleichterung verdrängte die Sorge um die Zukunft, zumindest vorläufig. Demutsvolle Wiedersehensfreude nach den schlimmsten Befürchtungen ließ die Herzen überschäumen vor Glück. Josh lachte fröhlich und der Alkohol befeuerte ihre Lebensfreude, die sogar Lavinia ausgelassen lachen ließ. Sie spürte ihre gewohnte Tatkraft zurückkehren und sie blickte wieder zuversichtlich auf das, was sie erwarten würde.

Von Milas Schultern wich die Last der Verantwortung für ihre verletzte Gefährtin. Wie wäre es ausgegangen, wenn sie niemanden gefunden hätten, der Lavis Gelenk richten konnte?

Joshs quälende Ungewissheit über Milas Schicksal löste sich auf. Er sah sie lachen, sie schauten sich lange in ihre feuchten Augen und sie beschlossen, sich fortan nicht mehr voneinander zu trennen.

Da es nur zwei Schlafplätze gab, blieb einer am Feuer sitzen und wachte über den Schlaf der anderen. Josh übernahm die erste Wache und legte Holz nach. In dieser Nacht sollte es brennen bis in die Morgenstunden. Er trank langsam den Rest des Whiskys und dankte Gott für dessen Gnade.

Entgegen der Verabredung ließ er Lavi schlafen und weckte Mila erst kurz vor Morgengrauen. Er wollte sein Glück bei vollem Bewusstsein genießen und hatte lange in die friedlich schlafenden Gesichter geschaut. Und schließlich war er es, der ausgeruht, gut genährt und im Vollbesitz aller Kräfte leicht Rücksicht auf seine Gefährtinnen nehmen konnte.

Milas Beschwerde ignorierte er und kroch Rechtfertigungen murmelnd in den warmen Schlafsack. Er schlief sofort ein.

Der nächste Tag begann sonnig und windstill. Tauwasser aus den Kronen der Douglasien tropfte auf die Zeltplane herab. Brandgeruch stieg Josh in die Nase. Er öffnete die Augen und die Furcht davor, einem Wunschtraum aufgesessen zu sein, verflog.

Mila kniete am Feuer und goss Lavinia einen Becher Pfefferminztee ein. Blutige Streifen Hundefleisch baumelten aufgespießt auf angespitzten Stöcken über der Glut. Die Plane am Eingang war zur Seite geschoben und die Sonne gleißte in das Innere des Zelts. Milas Atem und der heiße Tee dampften im wärmenden Schein. Sie reichte Josh ihren Becher.

„Aufstehen, alter Mann“, neckte sie ihn.

Verschlafen griff er zu.

Sie aßen das gegrillte Fleisch und bauten das Lager ab. Josh warf sich Lavinias Rucksack auf den Rücken und ging voraus. Dankbar folgte sie seinem gemäßigten Marschtempo. Ihr Knie schmerzte nicht mehr und der Arm an der verletzten Schulter ruhte in einer Schlinge aus zwei aneinander gebundenen Kniestrümpfen, die Josh ihr angelegt hatte.

Mila lief den beiden nach. Am Waldrand blieb sie stehen und schaute ein letztes Mal zurück. Aus den glimmenden Resten des Lagerfeuers stieg eine Rauchsäule dünn zum Himmel empor. Daneben standen die verkohlten Überreste der zerstörten Hütte. Die Luft roch nach feuchtem Wald.

Wieder einmal hatte sie ein Zuhause verloren und sie erinnerte sich plötzlich an die Worte ihrer Mutter und befolgte deren Rat. Sie schaute hoffnungsvoll nach Osten, nicht nach Westen und die Sonne wärmte ihr Gesicht.

Die Siedlung