Harzer Hexenkessel - Reinhard Lehmann - E-Book

Harzer Hexenkessel E-Book

Reinhard Lehmann

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Beschreibung

Ein Auftragsmörder hinterlässt eine blutige Spur im Landkreis Harz. Er entführt, foltert und tötet ein halbes Dutzend Menschen. Hauptkommissar Benno Lorenz, der Leiter der Sonderkommission, findet sich in einem erbitterten Wettrennen um die Wahrheitsfindung wieder. Und gerät unweigerlich zwischen die Fronten eines Machtkampfes diverser Interessengruppen. Liegt hier das Geheimnis, um Täter und Hintermänner zu entlarven und dingfest zu machen?

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Ähnliche


Reinhard Lehmann

Harzer Hexenkessel

THRILLER

Impressum

Harzer Hexenkessel

ISBN 978-3-96901-060-0

ePub

V1.0 (07/2023)

© 2023 by Reinhard Lehmann

Abbildungsnachweise:

Umschlag © mihai_tamasila | #38870195 | depositphotos.com

Porträt des Autors © Peer Hilbert | foto-hilbert.de

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

Web: harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Schauplätze dieses Romans sind (bis auf wenige Ausnahmen wie Leuterspring oder die Kneipe Achtermann) reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Ein paar Worte hinterher

Über den Autor

Mehr von Reinhard Lehmann

Eine kleine Bitte

Kapitel 1

Evelyn

Rolf Bunk schaute in die Richtung, aus der Worte wie eine sanfte Woge auf ihn eindrangen.

»Schatz, unser Gast trifft jeden Moment ein.«

Er sah auf die Armbanduhr und nickte. »Ich erinnere mich. Du hast mir davon erzählt.«

»Ja! Vor ein paar Tagen. Der Herr kommt vom Feuerkreis Harz.«

»Ist das nicht ein katholischer Pfadfinderverband?«

»Und, stört dich das? Was hast du über unser Glaubensbekenntnis gelernt?«

»Es ist Teil der Botschaft Jesu Christi.«

»Hast du vergessen, was ich dir beigebracht habe?«

»Lass mich nachdenken«, formte langsam den einzigen Gedanken im Kopf. Gelassen quoll dieser mit einem Wort über die Lippen. »Solidarität!«

»Haargenau! Dein Glück!«

»Klar, was sonst!«

»Das ist der Schlüssel, vor allem dort, wo Menschen sie dringend bedürfen.«

»Wie recht du hast!«

»Okay, schick den Besucher getrost zu mir ins Büro.«

»Danke, dass du mir das abnimmst. Eine Belohnung ist dir sicher. Komm nachher in die Werkstatt. Ich warte. Wirst erstaunt sein.«

»Ach Ev, deine Körpersprache verrät mir, was dich drückt. Da erscheint ein Christ katholischen Glaubens. Und du bittest um einen Gefallen. Das ist alles. Keine beschwörenden Erklärungen. Eine bloße Geste des Entgegenkommens.«

»Na ja! Mit der Annahme, dass du dich verständnisvoll zeigst, wie unsere Lehre es verlangt. Aber welche Brücke gedenkst du zu schlagen?«

»Die der Vernunft, Evelyn!«

Sie musterte ihn mit leuchtenden Augen und sagte im Weggehen: »Wie ich dich doch liebe! Sieh nur. Haben wir nicht ein goldiges Baby, Rolf? Das winzige Wesen vereint unsere Gene in sich. Sieht das Kerlchen nicht hinreißend aus?«

»Absolut. Und die putzigen Bärchen und Hasen auf dem weichen Fleece. Wie liebevoll du unseren Kleinen eingehüllt hast.«

»Danke Liebster«, sagte sie und strich dem Winzling mit einem Finger sanft über die Stirn.

»Komm, schau mir beim Stillen zu. Im Anschluss bringe ich ihn wieder ins Bettchen. Und du gib dem Besuch, was er braucht. Beeil dich! Und dann erobere mich!«

Sie erkannte sofort, dass die Worte in seinem Kopf ein Blitzgewitter erzeugten. Das war typisch für ihn und ihre Beziehung. Seit der ersten Begegnung im Spätsommer des Vorjahres hatte das keinen Wandel erfahren. Im Gegenteil. Schmunzelnd entfernte sie sich.

»Was für ein Hintern!«, verfolgte sie bis auf den Hof, um sich in ihrem Ohr festzusetzen. Den vermehrt auftretenden Speichel der Erregung schluckte sie in selbstredender Erwartung hinunter. Der Rest ihres Lächelns verlor sich in den Strahlen der linden Spätsommersonne. Sie kündeten von einem friedvollen Tag. Nichts deutete auf eine Katastrophe hin, die bald das Leben der Bibelgemeinschaft auf den Kopf stellen würde.

* * *

Evelyns Augen erfassten einen Kleintransporter. Der fuhr grade mit hoher Geschwindigkeit durch das nicht verschlossene Hoftor. Der Fahrer hielt an. Schätzungsweise zwanzig bis dreißig Meter trennten sie voneinander. Er stieg aus, sah sich um und schickte aus der Ferne ein derbes Grinsen. Ob das ihr galt oder dem Baby im Arm, blieb unbeantwortet. Der Fahrer stand wie in Granit gemeißelt da, lauernd darauf, was passieren würde.

Weit und breit nichts. Test bestanden! Meine Tarnung ist nicht aufgeflogen, hallte es in seinem Kopf nach. Er bleckte die Lippen und ließ ein nicht zu überhörendes Geräusch durch das Schnalzen mit der Zunge hören. Es geschah unbewusst und war seine Art, mit diesem speziellen Ton Aufmerksamkeit zu erregen. Wieder saugte er die Zungenspitze am Gaumen an, sodass sich ein Vakuum bildete. Gleichlaufend mit der Bewegung des Unterkiefers löste er die Zunge und erzeugte erneut einen deutlich hörbaren Klopfton. Ein künstlich geschaffenes Hochgefühl verbreitete sich. Die trügerische Sicherheit gewährte ihm einige Sekunden lang das Gefühl von Überlegenheit. Er spuckte auf den gepflasterten Hof, trat den weißlich-grünen Auswurf breit und war davon überzeugt, seinem Begehren Nachdruck zu verleihen. Die Beute wartete im Haus. Nicht in Gestalt der weiblichen Person vor ihm auf dem Hof.

Fehlanzeige, tönte seine im Hintergrund aufwallende Stimme im Hirn. Sie nervte gehörig und erzeugte eine Gefühlswallung.

»Klappe halten«, brabbelte er vor sich hin. »Was weißt du denn über die leitende Körperschaft der Bibelleute?«

Der unausgesprochene Gedanke provozierte eine Antwort. Tonlos rief sie zur Ordnung. Nichts, na ja, deswegen bin ich ja hier. Mir sagte man, dass die Mitglieder der Sekte zugänglich wären wie Wölfe in Schafskleidern. Folglich gib Ruhe! Du weißt, ich bin eine schauderhafte Gestalt, die ihrem Satan übermächtig ist, und der letzte Richter zugleich. Schluss mit dem Gejaule. Konzentrier dich!

Die Distanz zwischen dem weiblichen Wesen und ihm hatte sich mittlerweile verringert. Das Dingsda im Arm war deutlich erkennbar. Ein Baby, komplett in Tüchern eingehüllt, das sie in der rechten Armbeuge trug.

»Ist ja prima«, driftete in einer unbeherrschten Anwandlung über die Lippen. Die innere Genugtuung griff explosionsartig. Das hieß, sie würde sich jeden Moment seiner annehmen. »Mal sehen, wo ich anfange«, kicherte er vor sich hin. Und faktisch war klar, daraus einen Vorteil zu ziehen, das schien machbar. Ablenkung hieß das Zauberwort. Der Säugling bildete da kein Hindernis. Und die Ahnungslosigkeit der Gastgeberin brachte Spannung in das Spiel. Beste Voraussetzungen, die Kontaktanbahnung mit chirurgischer Präzision abzuwickeln. Zufriedenes Lächeln unterstützte sein Vorhaben. Voller Häme schlängelte sich über seine Lippen: »Du bist so was von im Arsch! Ist Wahnsinn, glaub mir! Ich habe jedes Wort ernst gemeint.«

Glücklicherweise verloren die unterwegs ihre Kraft. Sie waren eh fehl am Platz. Im Grunde ein Versehen, das um ein Haar fatal endete. Obendrein gab es kein Garantieversprechen. Was blieb, war Wirrwarr im Kopf. Es fütterte die Vision, jemanden zu beherrschen, ohne lebenslänglich im Gefängnis zu landen.

Lage sondieren, Vertrauen aufbauen, zuschlagen. Dafür bin ich der Richtige, festige die Illusion. Bist am Ziel, Test bestanden, lullte ihn die Stimme im Nachgang ein. Zumindest erscheinst du nicht unwissend am Platz des Geschehens. Ob du ausreichend vorbereitet bist, wird sich gleich zeigen! Und mach klare Kante. Deine Wegbereiterin wartet.

Der Begleiter im Kopf hatte recht. Läuft was schief, wäre das eine Katastrophe. In zwei, drei Minuten bedeutete es Sieg oder Niederlage. Sein Begehren wuchs im Sekundentakt. Wunsch und Realität verschmolzen ineinander. Blitzende braune Augen näherten sich. Eine volle Breitseite Weiblichkeit trieb den Speichel in die Mundhöhle. Mit ihm das Gefühl von Überlegenheit. Eine berechenbare Konstante, stetig erzeugt durch die Gegenwart des anderen Geschlechts. Ein Faustpfand, um Machtverhältnisse neu zu sondieren.

Handstreichartig traf ihn ein bekannter Satz: »Benötigen Sie Hilfe?«

»Hm«, schnäuzte er sich und unterdrückte die aufkommende Ironie, ohne direkt zu antworten. Vielmehr verloren sich seine Gedanken darin, seinem Chef zu huldigen. Wenn du mich hörst, ich kriege das hier hin. Von dieser schmächtigen Person sagt man, dass sie das Bewusstsein ihrer Mitglieder kontrolliert. Zum Teufel damit! Ich überbringe eine Botschaft. Mehr nicht! Ein Signal setzen, sich abermalig zu sortieren. Sie ist die neue Führungsperson. In der Sprache der Gläubigen leitet sie der Heilige Geist. Ihr Auftrag: Sprachrohr Gottes zu sein. Die Wahrheit zu verbreiten. Ihre Anhänger aber sind des Namens Feist überdrüssig. Der Großvater ‒ ein Abtrünniger. Der Lynchmord in Regie des Neffen ist nicht lange her. Sie hat sich mit einem ehemaligen Bullen verheiratet und damit die Glaubensprinzipien der Gemeinschaft in den Dreck gezogen. Der Kerl, ein Kriminalrat, ist der Feuerhaken, der den neu entfachten Rachefeldzug unbewusst schürt.

Der Disput mit seinem eigenen Ego uferte aus. Eine Anleitung zum Handeln war das nicht. Konkrete Überlegungen blieben unausgesprochen. Sie waren wie Treibstoff: zünden, beschleunigen und verpuffen.

Ein paar Fragen, und ich bin wieder verschwunden. Verschwendet er meine Zeit, trifft ihn ein Tritt in den Arsch. Ich werde ihn taxieren. Wenn er zur Meute gehört, die schwer zu erlegen ist wie die ausgewachsenen Böcke in den Harzwäldern des Umlandes, dann erzeugt mein Schwur Schmerz ... und verzehrt seine Seele, weil er den wertvollsten Schatz ohne Schutz einem Fremden überließ.

Der Abstand zu ihr war auf die Länge des ausgestreckten Unterarmes geschrumpft. Voller Selbstgefälligkeit traf sie seine vor Ehrgeiz strotzende, tiefe Stimme.

»Sind Sie die Chefin der Bibelgemeinschaft und der Keramikwerkstatt?«

»Ja! Wer wünscht, das zu wissen?«

»Ihr Gast vom Feuerkreis Harz. Von den Pfadfindern.«

»Dann haben wir miteinander telefoniert.«

»Stimmt! Sie haben mir für heute einen Termin eingeräumt.«

»Ach ja, das Sponsoring. Ich erinnere mich. Sie werben Geldspenden für das Winterlager ein, stimmt’s?«

»Genau genommen für das Stammeslager. Den Kontakt zu Ihrem Haus hat ein Fürsprecher hergestellt. Sie kennen den Herrn.«

»Von wem sprechen Sie? Das ist durchaus denkbar, denn wir unterstützen so einige Initiativen.«

»Das freut mich. Ich richte Grüße von Herrn Haubach aus.«

»Oh, der Holzhändler? Das ist mal eine Überraschung.«

»Wieso? Sie wären über fünf Ecken verwandt, erklärte er mir. Ihre Großzügigkeit und Güte sind weithin bekannt.«

»Sie beschämen mich. Nein, das anzunehmen ist total übertrieben«, widersprach sie. »Ich bezweifle, dass Sie hergereist sind, um mit Komplimenten um sich zu werfen.«

»Hm hm«, dümpelte eine Antwort voller Respekt vor der Schlagfertigkeit über seine Lippen. »Entschuldigung für mein Benehmen. Sie langweilen sich. Ich erlaube mir daher gleich, auf den Punkt zu kommen.«

»Das wäre nett. Sie sehen ja, das Baby im Arm fordert sein Recht ein.« Sie lächelte den Gast an und sagte friedvoll: »Schauen Sie, es ist ein Junge. Ich schlage vor, unter diesen Umständen mit meinem Ehemann zu reden. Er erwartet Sie im Haus.«

Das war ihm scheinbar Anlass für einen Test. Sein Grinsegesicht schob sich in unverschämter Manier dicht an ihren Körper heran. Eine Handbreit bis zum direkten Körperkontakt. Mit ihm eine Art Raubtiergeruch, eingebettet im sanften Windhauch.

Erstaunt stellte sie fest, wie ihre Nasenflügel vibrierten, weil sie im Unterbewusstsein versuchte, eine Fährte zu erfassen. Posiert der?, schoss es Evelyn durch den Kopf. Braungebrannt mit einem dunkelbraunen Kinnbart ließ sich sein Alter schwer schätzen. Ein Mittvierziger, vermutete sie. Die bullig wirkende Gestalt maß mindestens 1,95 Meter. Die lange, eher zottelige Haarpracht umspülte einen ausgeprägten Stiernacken. Natürlichen Ursprungs war der nicht, sondern das Resultat diverser Muskelstimulanzien.

Sein Gesichtsausdruck änderte sich. Er lächelte.

»Ist ja nett, dass Sie mir helfen. Ich beeile mich, um die Familienidylle nicht unnötig zu stören. Na ja, ohne Dialog gewinnen wir keine neuen Sponsoren. Das ist ein anspruchsvolles Ziel, dem ich alles unterordne. Es ist mir eine Ehre, in einem Atemzug dem Oberhaupt der örtlichen Bibelgemeinschaft und zugleich der Chefin der Manufaktur für Keramikerzeugnisse zu begegnen.«

Sie schmunzelte und besann sich auf die Zusage der Unterstützung. »Ich heiße Sie willkommen.«

Ihre Augen hatten sich festgesaugt. Die farbigen Tattoos vom Hals bis hinauf zu den Wangenknochen und Ohrmuscheln formten ein Bild. Es ähnelte einer Schlange, die Beute macht. In dem Moment erfasste sie ein Stakkato an Gedankenblitzen. Bleib cool, Evelyn. Damit verarbeitet der Ankömmling garantiert ein seelisches Trauma, einen geheimen Schmerz. Oder er steht bloß auf den Glanz von Farbe.

Aus seinem Mund strömten wohlmeinende Worte. Gutherzig, um Aufmerksamkeit buhlend. »Oh Verzeihung. Wir vertreten unterschiedliche religiöse Welten. Eines ist sicher, sie wie einen bunten Blumenstrauß zu begreifen, lohnt sich. Na ja, inklusive der Stacheln, die sich darin verbergen.«

»Oh, ein Philosoph! Ich glaube, wir alle sind an manchen Orten Sünder und über kurz oder lang Gerechte.«

»Ja, diese Auffassung vom Leben ist vertretbar. Ich denke, Sie schenken den Pfadfindern die Güte einer Gemeinschaft mit dem Bekenntnis zu Gott. Das eint uns. Es ist der Garant für Bescheidenheit und Akzeptanz im Umgang mit anderen Menschen.«

»Korrekt! So, ich verabschiede ich mich jetzt. Sie sehen, das Baby ... Ich werde Sie den allerbesten Händen übergeben. Herr Bunk, mein Mann, empfängt Sie im Haus. Dort hinten, geradeaus bis zur Tür mit dem Schild Büro. Finden Sie es?«

»Sicher! Danke«, sagte er artig. »Wenn Sie erlauben, suche ich Sie später noch einmal auf.«

»Gern!«, antwortete sie. Erschrocken über diese Freizügigkeit verzogen sich ihre Mundwinkel. Dass sich daraus ein Lächeln formte, wurmte sie. Zu spät.

* * *

Einen Moment später kam es zum Zusammentreffen mit Rolf Bunk.

»Ich bin der Besuch«, schob er ein blendendes Grinsen voraus. »Der Feuerkreis Harz schickt mich.«

»Ah, die Pfadfinder, kommen Sie rein. Hab davon gehört. Meine Ehefrau hat den Termin arrangiert.«

»Ich bin ihr grade begegnet. Sie trug einen Säugling auf dem Arm. Danke, dass Sie mich empfangen.«

»Genug der Höflichkeiten«, unterbrach Rolf. »Bitte gedulden Sie sich einen kleinen Moment. Ich bin gleich für Sie da«, sagte er, den Blick wieder auf die Computertastatur auf dem Schreibtisch gesenkt. Zwei oder drei Minuten verstrichen wortlos. Nicht genug Zeit, um den folgenden Schreck zu verarbeiten. Gegenüber dem wuchtigen Körper des Kerls erweckte er den Eindruck, wie ein Zwerg auszusehen. Voller Ehrfurcht sagte er: »Bitte, über welche Hilfestellung sprechen wir?«

»Das erörtern wir beide gleich.«

»Oha, da schwingt was in der Luft mit«, schob Rolf ermahnend hinterher. Die Möglichkeit, dass der Gast einer Unmenge an Ärger und Frust ausgesetzt war, elektrisierte ihn.

»Ich sammle für unsere Aktion ›Fremdenfreundlich‹«, hörte sich nicht wie ein kleinlauter Bittgesang an. »Wissen Sie, Herr Bunk, die Spenden helfen, Menschen mit Respekt zu begegnen und in der Not zur Seite zu stehen.«

Es entstand ein eindrucksvoller Augenblick der Besinnung, der wie eh und je tröstete, wenn sonst nichts mehr half. Offensive war gefragt. Intellekt gegen Körperkraft.

»Setzen Sie sich«, sagte er mit einer einladenden Handbewegung. »Bitte, dort auf den Stuhl.« Ein eigenartiges Kribbeln erfasste ihn. Heute war alles anders. Ohne den Gast aus den Augen zu lassen, sagte er knapp: »Was benötigen Sie? Tadellos erhaltene Gegenstände? Kleidung? Geld?«, brachte ungewollt Schärfe in die ohnehin schon wacklige Chemie des Gesprächs. Es folgte ein angespanntes Lachen.

Entsprechend knapp war die Reaktion seines Gegenübers.

»Ich überlasse Ihnen eine Liste. Herr Bunk, aber das ist nicht der Grund meines Besuches. Es ist denkbar, dass Sie die echte Lösung nicht mehr erleben.« Mit diesen Worten erhob sich die hünenhafte Gestalt blitzartig. »Lass uns keine Spielchen spielen, Ex-Bulle«, tönte der Riese überlaut. Urplötzlich stand er hinter dem Stuhl, auf dem Rolf saß. Der gewahrte, wie sich Arme mit stahlharten Muskeln um seinen untrainierten Oberkörper wanden. Der Stiernacken presste den dazugehörigen kantigen Schädel gegen seinen Hinterkopf. Schock stand im Gesicht des Opfers geschrieben.

»Reden wir«, floss dünn über die Lippen von Rolf. Das brachte ihm kurzzeitig mehr Bewegungsfreiheit. Der Angreifer zerrte einen Stuhl heran und ließ sich ihm gegenüber darauf nieder.

»Du kennst meinen Anspruch. Rede mit der Hure Evelyn. Du kriegst eine Liste mit Wünschen. Erfülle sie! Für heute reicht mir deine Knarre. Na los, rück sie schon raus. Liegt vor dir im Schreibtisch, linkes Fach. Die gehört jetzt mir. Begriffen?«, brüllte er aufgebracht.

»Verpiss dich«, quetschte Rolf unmissverständlich heraus. »Deine Strafe folgt auf dem Fuß. Bist scheinbar dem Gefasel eines entmachteten Weibes aufgesessen. Die Erna ist nicht mehr die Älteste der Gemeinschaft.«

»Das zu beurteilen, überlass getrost mir, Arschloch. Ob sie ohne Folgen ersetzt worden ist, das beantworte dir selbst. Eine Ehefrau mit Kind, äh ... Familie, dieses Gebilde ist angreifbar. Glaubst du, die Bibelfritzen vergessen die Schande, die du ihnen bereitet hast? Nein, niemals! Der Kripomann Lorenz ist der Grund allen Übels. Ich bin hier, um dir zu einem hochwertigen Preis ein faires Produkt anzubieten. Oder gefällt dir der Job des Vollstreckers besser?« Dabei zog er die Stirn kraus und verfluchte sich innerlich für die Fehleinschätzung, ihn im Geiste eines Verbündeten zu betrachten. Er formte den unbändigen Hass weiter aus: »Du forderst mich jetzt echt heraus, Ex-Bulle«, sagte er, geblendet vom näherrückenden Versagen. Jähzorn quoll auf. »Ich zeige dir, was es heißt, dem Tod ins Auge zu sehen. Ein positives Signal reicht und du kriegst wieder ausreichend Luft. Na los, ich höre! Und wehr dich ja nicht!« Obschon er sprach, umfassten seine Finger in geübter Form den Hals mit beiden Händen. Sie drückten sich einem Schraubstock gleich zusammen. »Na, fühlst du, wie deine Seele entflieht?«

Rolf vernahm, wie sich ein glucksendes Geräusch in seinem Inneren verbreitete. »Sie sind irre«, presste er mit letzten Kraftanstrengungen heraus.

»Oha, das ist aber eine fiese Reaktion. Nicht das, was ich zu hören beabsichtige.«

Er hatte versagt. Reden brachte ihn hier nicht weiter. Den Gastgeber zu brechen, ihn zu einem Zugeständnis zu bewegen, erforderte mehr Zeit. Eine andere Lösung drängte sich auf. Das Recht zu dieser Entscheidung hatte ihm einer seiner Auftraggeber verliehen. Alles lag im Einklang mit der Wahl, die einflussreiche Gefolgsleute für ihn getroffen hatten. Konzentriert atmete er tief ein. Der Brustkorb spannte sich. Mit dem Ausatmen floss ein Teil der gewaltigen Energie ab. Entspannung trat ein. Die Hände lösten sich, schoben sich aufwärts und verharrten für einen Moment. Indes vollzog sich der Stimmungswandel nicht komplett. In Ohrhöhe standen sie wie flache Scheiben in der Luft. Sie klappten zusammen, trafen auf die Ohrmuschel. Dadurch erzeugten sie eine heftige Schallwelle, die ein Knalltrauma auslöste. Die Schädigung der Haarzellen im Innenohr verursachte bei Rolf einen extremen Schmerz. Unfähig, sich zu wehren, sackte er zusammen. Sein Schmerzensschrei und die eintretende Ohnmacht trafen zeitgleich auf das Grinsen des Besuchers. Markerschütternd, mit explosiver Kraftanstrengung vollführt, prallte er von den Wänden ab. Der Hüne lockerte den Griff. Er beugte sich bedrohlich vor, sagte: »Davon kriegst du mehr. Ich bin ein Meister im Maulöffnen, glaub mir.« Umgarnt von einem irregeleiteten Pflichtgefühl, riss er den Kopf seines Opfers nach oben. Dem entging, wie siegesgewiss der Unbekannte sich zeigte. »Ich warne dich. Krepiere ja nicht!«, verlor sich in der erlösenden Ohnmacht des Opfers.

Mitgefühl löste das bei dem Schläger nicht aus. Im Gegenteil. Zornbebend registrierte er, dass eine männliche Person den Raum betreten hatte. Ein stiller Beobachter seiner rasenden Wut.

»Und, was hast du in dieser Sekunde vor?«, schrie er den Mann vehement an. »Gefällt dir die Vorstellung? Pech für dich. Bist zur Unzeit am falschen Platz. Sieh mich an! Merk dir für den Todesschlaf im Paradies mein Gesicht. Ich bin der Erlöser.« Mit einem Ruck drehte er sich dem Menschenwrack zu. »Hey, warum verteidigst du dich nicht? Kämpf um dein Leben«, zischte er. »Der Ruf des Todesengels eilt dir voraus. Blöder Kerl. Dann akzeptiere ihn!«

Im selben Augenblick traf der Handkantenschlag. Präzise und mit Wucht geführt. Das Knorpelgewebe am Hals des Opfers war sein Ziel. Sofort galt der Lobgesang dem nachhaltigen Knirschen des eingedrückten Adamsapfels und den herausquellenden Augen.

»Bin ich dir schuldig. Hast einen ordentlichen Tod verdient. Der Tritt in die Nieren ist mein Abschlussgeschenk«, blökte die Stimme des Mörders hinterher. Triumphierend über den Sieg ließ er den Bibelmann unsanft zu Boden gleiten. Ohne Hast holte er lauthals Luft. Seine Methode, um den Adrenalinstoß wieder runterzudrücken. »Du hast es überstanden!«, nickte er zufrieden mit seinem Werk. Das war eine fatale Fehleinschätzung. Sekunden später durchdrang ein Aufschrei den Raum.

»Scheiße!«, galt Evelyn, die ihm den Weg gewiesen hatte. Gelähmt von den Ereignissen stand sie mit dem Baby im Arm in der Tür. »Mist verdammt, du Hure bist zeitig dran. Ist ohnehin zu früh für den Gang, den du mit mir unternehmen wirst«, registrierte sie schemenhaft seine dahingefluchten Worte.

Eines zeigte sich deutlich. Vor dem, was sie erwartete, war eine Flucht unmöglich. Die Satzgebilde erinnerten an das Tosen des Wildwassers der Bode. Tobend, quirlend ineinander verzahnte Wasserberge, alles andere mit sich wegtragend. Aus der Ferne vernahm sie wie in Trance: »Evelyn Bunk, egal was Sie davon halten, Menschen verlieren das Leben. Ist ihre Natur.«

»Ja, dann hören wir mit der sinnlosen Posse auf!«, ergoss sich mit der lösenden Schockstarre über ihre Lippen. Zu mehr war sie im Augenblick nicht fähig. Der Totschläger setzte sich in Szene. Jeglicher Ansatz einer Verteidigung war hinfällig. Einzig pures Entsetzen blieb. Und mit ihm der eiskalte Zynismus des Täters.

»Hören Sie. Es gibt einen Grund für mein Kommen. Ich erklär es«, bemerkte er lakonisch. »Es hätte ohnehin jemand erledigt. Ich dagegen garantiere die Einhaltung gewisser Standards. Der Kerl hatte einen schmerzlosen Tod. Er ist bereit für das Paradies. Das strebt ihr ja alle an, oder nicht?«

»Ja! Mit dem Unterschied, dass wir nicht den Übeltaten und Worten des Teufels huldigen.«

»Oh, wie ist das ergötzend. Sind Sie nicht die Stimme Gottes? Wo bleibt er denn, der Allmächtige? Wieso hält er meinen Blutrausch nicht auf?«

Hämisches Grinsen begleitete seine verbale Attacke. Das war der Moment, der alles andere verdrängte. Allein die Gestik reichte, um das entscheidende Signal auszusenden. Sein Opfer zu verunstalten, es zu Brei zu schlagen, darin bestand seine Erfüllung.

Wenn nur dieses verdammte Vakuum im Kopf nicht wäre. Was beschwöre ich denn jetzt herauf? Sag’s mir, flehte sie lautlos. Bleich stand sie dem groben Kerl hilflos gegenüber. Halte ihn auf. Schmeichle ihm und teste seine Gottgläubigkeit! Lenke ihn ab. Dein Mann hängt in seinen Todesklauen fest. Tu was! Rede! Schreie!, löste den Bann der Schwäche und Angst. Indes – das Trommelfeuer des Todes war übermächtig.

»Was haben Sie meinem Ehemann und dem Mitarbeiter angetan?«, drängte ihre entrüstete Stimme nach Entfaltung. Zu mehr fehlte die Kraft.

»Halt’s Maul«, blökte er. »Hab, was ich suchte. Bist mir zuvorgekommen. Du wirst mich begleiten. Komm! Sofort!«

»Niemals! Ich bleibe mit dem Baby hier. Die Polizei trifft gleich auf meinen Notruf hin ein«, verlor sich im abgehackten Redefluss.

»Scheiß drauf. Schrei von mir aus! Egal! Dich hört eh niemand. Es liegt an dir, wer weiterhin stirbt. Mach keine Mätzchen. Dein Ehemann kommt wieder zu sich. Er ist hart im Nehmen. Es fällt ihm nicht schwer, Schläge einzustecken. Sieh ihn dir an. Alte Polizeiausbildung! Er hat eine Schuld zu begleichen. Du ebenfalls. Ist die eingelöst, sehen wir weiter.«

Evelyn registrierte wie in Trance, dass der sprechende Mund auf sie zukam. Ihre Muskeln zitterten. Übelkeit breitete sich auf einen Schlag aus. Keine Schwäche zeigen! Krampfhaft drückte sie den Säugling im Arm an den Körper. »Es braucht Aufmerksamkeit, Liebe, Fürsorge. Schauen Sie, das Baby hat Hunger«, verpuffte in seiner nachfolgenden Bemerkung.

»Mit solchen Sachen habe ich nichts am Hut.« Das war eine klare Abfuhr an irgendwelche Zugeständnisse. Im Bruchteil von Sekunden griffen klobige Hände nach ihr. Sie rissen ihren Oberkörper gegen seine muskulöse Brust. Die Handflächen formten sich, um ihren Kopf wie einen Schraubstock zu umklammern. Ohne Scham bellte er sie an. »Klappe halten!« Im nächsten Augenblick saugten sich seine kalten Augen an ihr fest. Sie fixierten den Hals. Seine Hände drückten den Kopf seitlich weg. Alles dem Hauch des Moments geschuldet. Irgendetwas war passiert. Ihr blieb keine Zeit, um darüber nachzudenken. Ihr Peiniger hatte eine exakt dosierte Menge eines Muskelrelaxans gespritzt. Die intravenöse Injektion in die Körpervene zeigte sofort Wirkung. Die Willkürmuskulatur erschlaffte. Bewusstlosigkeit stellte sich ein. Sie fiel um. Das Baby schrie. Es landete unverletzt auf ihrem Bauch. Emotionslos knipste der Instinkt des Jägers den Schalter für eine Reaktion an. Er packte das Bündel wie einen Welpen, die er im Job massenhaft bewegte.

»Wer hätte das erwartet? War ja die einfachste Sache der Welt«, brabbelte er mit genüsslicher Verblüffung vor sich hin. Kurzentschlossen entschied er sich. Es gab keine Verfolger. Niemanden, der abzuschütteln war. Der Rückzug würde glatt verlaufen. Ein kostbarer Schatz lag vor ihm: Eine Fracht, bestehend aus Mutter und Kind. Mit dem Anlaufen des sicheren Verstecks verschwand die Sorge über das, was sich zwangsläufig anbahnte. Kopfzerbrechen darüber war überflüssig. Alles erschien ihm wie eine simple Angelegenheit, die gegebenenfalls erforderte, sich nach langer Zeit wieder neu zu erfinden. Fieberhafte Habsucht packte ihn. Sie ließ ihm das Mark gefrieren.

»Scheiße, du hast mir keine andere Wahl gelassen. Wir sind fertig!« Er bückte sich und legte Evelyn wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter. Mit ihr und dem Baby im Welpengriff seiner rechten Hand verschwand er vom Hof. Nicht ungesehen, wie er vermutete.

Kapitel 2

Wolter

Da war er wieder, der Schmerz des Verlustes. Er beherrschte ihn. Loderndes Feuer brannte sich in sein Herz. Die eigenhändig erzeugte Abstinenz bröckelte. War es nicht Fakt, dass der Verzicht auf Kontakte mit Evelyn zur Farce mutierte?

Lösche den Brand, rumorte es im Kopf. Gib Frieden. Sie heißt heute Bunk. Akzeptiere es. Dein Freund hat dich nicht verraten. Du bist derjenige, der das eigene Blut vergiftet.

Gott sei Dank waren es nur Gedanken, die wie ein Alptraum durch sein Hirn zogen. Den Begleiter, der neben ihm im PKW saß, erreichten sie nicht. Einzig das schauderhafte Gefühl klebenden Speichels beherrschte ihn. Die ganze Mundhöhle war davon berührt. Er verfluchte es wie ein unheilvolles Omen, weil es den Fluss einer kontrollierten Aussprache verhinderte. Und das bedeutete, Schwäche zuzulassen. Zum falschen Zeitpunkt, denn heute kutschierte er einen Grünschnabel am Rande des Harzes entlang. Einen Praktikanten, Studierender im fünften Semester an der Fachhochschule der Polizei in Sachsen-Anhalt.

»Hey Wolter, gleich wird’s ernst«, durchbrach er das Schweigen. Mühsam die Fahrgeräusche übertönend, führte sein Kopf eine blitzschnelle Bewegung nach rechts aus. Es gelang ihm, aufsteigendes Grinsen zu unterdrücken. Leider reichte das nicht aus, um dem Frust über die Vergangenheit die Plattform zu entziehen.

»Hauptkommissar, die Tachonadel steht auf 200 km/h.«

»Na und? Angst?«

»Sie nerven. Rechnen Sie selber. Das macht fünfundfünfzig Meter pro Sekunde, die wir dahinrasen.«

»Okay, Einwand zur Kenntnis genommen! Ich nehme den Fuß vom Gaspedal. Dann treffen wir halt später am Krankenbett ein. Und weil wir grade dabei sind, ich habe nicht die leiseste Ahnung, was uns erwartet.«

»Warum das, Hauptkommissar? Ist der Patient nicht ein Freund von Ihnen?«

Die Frage prallte am Fahrer ab.

»Ach leck mich ...«, antwortete er grätig.

»Spielverderber. Wolter, wo bleibt Ihr Respekt?« Lorenz bemerkte dessen kalkweißes Gesicht. Der Geruch von Angstschweiß verschaffte ihm ein zufriedenes Grinsen. »Ich geb’s ja zu, mit offenen Augen zu träumen ist gefährlich. Die wüste Raserei ist unverzeihlich. Sie hat trotz alledem in mir farbenprächtige Bilder freigelegt. Reizt Sie, was ich gesehen habe?«

»Klar! Es gibt keinen Grund, sich dem zu verschließen.«

»Richten Sie sich auf banale Antworten ein. Spekulationen, nein danke, Fehlanzeige. Für mich hat sich die Straße mit einem satten Zinnoberrot überzogen. Ich schwöre, Inspiration pur.«

»Oha. Eine kreuzgefährliche, wie ich meine.«

»Ihre Meinung, Wolter. Wir folgen dem Weg vom tödlichen Gruß. Den haben wir erfolgreich aufgeklärt. Das teuflische Quecksilbersulfid scheint heute keine Rolle zu spielen.«

»Ist das nicht eine Fehleinschätzung? Chemisch betrachtet hat der Stoff seine Gefährlichkeit nicht eingebüßt. Bewusst eingesetzt, verfügt die Sekte bis heute über eine Waffe. Müssten Sie ja bestens wissen. Und Ihre alte Freundin ebenfalls.«

»Ich versuche ja nicht, das zu entkräften. Zinnober hat reihenweise Leid verursacht. Bei mir trat Gedächtnisverlust auf.«

»Und, wiegt das nicht schwer genug, um Freundschaften zu überdenken?«

»Halten Sie die Klappe, Wolter. Ich habe Ihrem Wunsch entsprochen. Sehen Sie. Achtzig Kilometer pro Stunde. Zufrieden?«

»Sicher. Aber das ist irrelevant. Ich bin nur Ihr Assistent und Sie der Meister, von dem ich zu lernen gedenke. Meine Hochachtung!«

»Uff! Ist mir zu geschwollen. Schluss mit dem Getue. Sofort! Wenn Sie eher eine philosophische Antwort erwarten, passe ich mich an.«

»Von mir aus. Weglaufen fällt ja aus. Zumal ich in Echtzeit neben Ihnen sitze.«

»Okay! Für Sie zur Info: Herrn Bunk und seine Ehefrau habe ich ewig nicht gesehen. Ist meine Schuld. Und ja, das ist ein enormer Verlust.«

»Für Sie? Das wundert mich, Hauptkommissar«, antwortete Wolter versöhnlich. »Ich habe gehört, dass Sie ein harter Hund sind.«

»Blödsinn. Wer sagt das?«

»Na die Kollegen. Was ist das für ein Gefühl, dem Machterhalt einer gottgläubigen Sekte Einhalt geboten zu haben? Dass sich diese Informantin Ihrem Freund zugewandt hat, ist der Gang des Lebens. Ernte ich dafür Ihre Verachtung?«

»Nein! Der Gedanke ist nachvollziehbar. Wolter, Schluss damit. Mein Mund ist ausgetrocknet. Unsere Fahrt endet nicht mit diesem Gespräch. Sie sind ein abgeklärter Mensch. Lassen Sie mich nachdenken.«

Lorenz löste die Hand vom Lenkrad und wischte sich über die Stirn. Die Finger griffen in die Haare. Wolter hatte den Eindruck, dass der Hauptkommissar mit irgendjemandem sprach. Flüsternd, unhörbar für seine Ohren. Wie recht er hatte. Und es war okay, dieses Geheimnis zu bewahren.

Vertreibe den gespenstischen Kopf der Schlange. Belasse es nicht bei Worten, soufflierte eine Stimme dem Fahrer. Unverzeihliches ist passiert. Dein Freund hat Evelyn geschwängert.

»Was für ein Abenteuer, Wolter. Sie platzen vor Ungeduld. Keine Angst, wir kommen nicht vom Weg ab. Nicht mit Ihnen an meiner Seite«, sagte er gepresst. »Und was Evelyn Bunk betrifft, das ist eine heikle Angelegenheit. Ihr Engagement gilt ihren frommen Anhängern.«

Wolter erstarrte innerlich. Er ließ sich nichts anmerken. Mit genierlichem Blick sagte er: »Ich habe gelesen, dass eine Frau erst ihre höchste Blüte erreicht, wenn sie ein Kind geboren hat.«

»Und, was heißt das, Sie Schlauberger?«

»Ich denke, da gibt es ein Band, das Ihre beiderseitige Beziehung zusammenhält.«

»Meine? Geistreiche Antwort, Wolter. Aus purer Euphorie trete ich gleich das Gaspedal wieder durch. Die Wahrheit ist, ich habe sie angebetet. Na ja, Rolf Bunk gelang das nachhaltiger. Selber schuld. Los, grinsen Sie schon. Ich verkrafte das.«

»Ist okay. Das beruhigt mich. Es hat sich demzufolge gelohnt, zu Ihnen aufzuschauen. Meine Ausbildung profitiert davon auf jeden Fall.«

Lorenz rutschte aufgewühlt auf dem Sitz hin und her. »Das erklären Sie bitte«, sagte er fordernd.

»Ach kommen Sie. Die Stadt am Eingang zum Harzer Bodetal lebt ohne gefährlichen Psychopaten.«

»Das stimmt. Die Sicherheitsverwahrung auf Lebenszeit eingeschlossen. Und bitte, Wolter, lassen Sie das Gequatsche. Rolf Bunk bleibt mein Freund. Es war seine Entscheidung, ein Leben in der Bibelgemeinschaft zu führen.«

»Und dass er Ihnen die Freundin ausspannt?«

»Schicksal. Mehr diskutieren wir nicht aus. Klar?!«, fügte er barsch hinzu.

»Verstehe, Chef. Ich habe Sie aufgeregt. Entschuldigung. Und bitte, fahren Sie langsamer. Sie sind wieder in den Trott von vorhin verfallen. Wenn Sie weiter über den Beton rasen, bleiben wir dran kleben. Der Traum von der glanzvollen Welt ist aus.«

»Wow, Sie lehnen sich auf? Vergessen Sie das. Wir fahren zu einem Tatort. Was habe ich mir da für einen Romantiker aufgehuckt? Übernehmen Sie das Steuer für die restliche Strecke? Dann halte ich sofort an und wir tauschen die Plätze.«

Wolters »Danke« wurde vom Rauschen der Breitreifen und der Windlast an der Karosse verschluckt. Lorenz starrte ihn aus den Augenwinkeln heraus an.

»Was erwarten Sie, Wolter? Ich war der Meinung, Sie treibt die Neugier. Das hier ist kein Einsatzfahrzeug mit Sirene und Signalhorn. Wir schaffen uns eigene Regeln, um pünktlich vor Ort zu sein.«

»Ist einleuchtend.«

»Na prima! Konzentrieren Sie sich. Saugen Sie alles auf, was Rückschlüsse auf einen Täter zulässt.«

»Hauptkommissar, das klingt für mich spitzzüngig. Ermittlungsfortschritte sind gefragt. Das leuchtet mir ein. Mein Job ist es, dafür mit grade zu stehen.«

»Nennen Sie es, wie es Ihnen beliebt.«

»Ja! Ist eine Frage erlaubt?«

»Schießen Sie los! Aber behalten Sie im Hinterkopf, dass der Geschädigte eine immense psychische Last mit sich herumträgt. In Kurzform: Angestellter ermordet. Selber schwere Blessuren erlitten. Ehefrau und Baby entführt. Bis heute kein Fahndungserfolg«, kam es abgehackt aus Lorenz’ Mund.

»Sie erwarten Schlussfolgerungen von mir?«

»Was sonst.«

»Hm, ja, das riecht nach Rachegelüsten. Ein Denkzettel, um alte Wunden zu heilen.«

»Wolter, stecken Sie sich diese idiotischen Weisheiten sonst wohin.«

»Was denn? Ist das so unwahrscheinlich? Hat nicht bei dem Angriff ein Angestellter sein Leben verloren? Und dessen Chef eine schreckliche Tracht Prügel bezogen.«

»Verdammt! Ja! Wir üben uns grade in reiner Zeitverschwendung. Zu spekulieren lohnt in dem Moment nicht. Wer zum Teufel der Kerl ist, klärt sich in Kürze. Er stand einem erfahrenen Kriminalrat gegenüber. Ich bin sicher, unsere Datenbanken lüften die Vergangenheit des Eindringlings.«

»Herr Lorenz«, sagte sein Begleiter. »Wir reden über einen unheimlich findigen Täter. Er hat sein Gesicht gezeigt. Wer ist denn blöd genug und lässt das zu? Fazit: Jemand, der top organisiert ist. In unserem Fall ein Kerl um die 45 Jahre. Dem ist das Ritual der Jagd bekannt. Schmerz treibt ihn. Aus meiner Sicht ein Punkt, der uns ihm näher bringt.«

»Oh ja! Wolter, spinnen Sie den Faden weiter. Und Vorsicht, ein Nutzen ergibt sich erst, wenn sich uns erkennbare Vorteile aufdrängen.«

»Die liegen auf der Hand. Das Geheimnis um seine Fertigkeiten ist gelüftet.«

»Dem schließe ich mich an, Wolter. Diese wuchtigen, rasend schnell ausgeführten Angriffe sehen die meisten nicht kommen.«

»Stimmt! Sie erfordern gezieltes Training. Und an der Stelle zeigen sich die ersten Verhaltensmuster.«

»Ja, der Täter offenbart uns seinen Charakter.«

»Was meinen Sie damit? Eine Handlung aus antrainiertem Selbsterhalt?«

»Die nach einer militärischen Vergangenheit riecht? Wolter, hören Sie auf, mich in ihr Korsett einzuspannen«, meinte Lorenz mit einem verhaltenen Lächeln auf den Lippen. »Und lassen Sie diesen Hundeblick. Mir geht’s blendend! Es besteht kein Bedarf, Ihren Betreuer aufzubauen.«

»Partner«, entgegnete der. »Im Großen und Ganzen bleibt es nicht aus, mir das antun.«

»Hm, Ihre Auflehnung ist couragiert. Ich erdulde sie.«

»Danke! Aber wieso zum Teufel versuchen Sie, Herrn Bunk zu decken?«

»Ich schütze ihn. Er ist ... war Polizist wie wir und ein Freund. Nach dem Gespräch wissen wir mehr. Zurück zum Täter. Sie spekulieren auf eine Spezialausbildung?«

»Zumindest spricht jedes Detail dafür, dass er sich dahinter versteckt.«

»Das ist denkbar. Obgleich es der eigenen Lebenserhaltung zu dienen schien, waren seine Opfer unfähig, sich den explosiven Attacken zu entziehen.«

Wolter stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich entschuldige mich«, sagte er mit verblüffender Offenherzigkeit. »Meine Einschätzung wird leider von Gefühlen beeinflusst. Das lässt sich nicht stoppen. Was die Opfer betrifft, greift die Erkenntnis, dass der Tod ihr Begleiter ist.«

Benno Lorenz nickte. »Ja, für die Familie des Mitarbeiters ist das hart«, konterte er. »Eine echte Überlebenschance bestand nie.«

»Ich bin gespannt, wie ihr Freund das interpretiert.«

»Oh bitte. Legen Sie da keine übermäßigen Erwartungen hinein.«

»Warum?«

»Weil das Erscheinen des Angestellten zum übereilten Handeln animierte. Auf jeden Fall hat der Täter reagiert, überstürzt zwar, aber ohne Abstriche in der Präzision der Tötung.«

»Ja! Gezielt und tödlich! Da steckt garantiert ein Söldner dahinter. Erlauben Sie eine Frage?«

»Jederzeit. Legen Sie los?«

»Okay! Wir fahren zu einer Familie. Sie reden von Freunden. Behindert das nicht eine emotionslose Ermittlung?«

»Na ja. Dem Lehrbuch entspricht das nicht. Hören Sie auf meine Anregung. Um solche Umstände zu meistern, erfordert das zwei Voraussetzungen.«

»Oh, bin gespannt.«

»Ich spreche von einem Herz mit generösem Ausmaß. Und von einer Person, deren graue Zellen bestens funktionieren. Begreifen Sie das, Wolter?«

»Bitte, was ist daran nicht zu schnallen? Es ist deutlich genug. Wir ermitteln hier in einem abscheulichen Ereignis. Ihr alter Kumpel ist betroffen. Verdammt, Kindesentführung ist ein hundsgemeines Delikt.«

»Der Groschen ist gefallen. Lassen Sie mich eine Schippe drauflegen.«

»Aha, mir scheint, dem schließt sich eine private Meinung an.«

»Sich zu vergessen, ist eine echte Gefahr. Im Ernst, in der Sekunde des Nachdenkens bewahre ich Sie vor linkischen Gedanken. Ungeachtet dieser Tatsache würde ich demjenigen die Hände abhacken und die Eier abschneiden, der Freunde bedroht.«

»Gleichgültig, wie Sie das meinen, mir ist mulmig dabei. Gab es denn keinerlei Verdachtsmomente für den Angriff?«

»Wolter, das gilt es herauszufinden. Lesen Sie. Die Akte ist hinten auf dem Sitz. Verschaffen Sie sich ein erstes Bild. Was meinen Sie, warum ich den Umweg nach Aschersleben unternommen habe? Lassen Sie mich das nicht bereuen.«

»Auf keinen Fall! Versprochen. Aber ich sitze unvorbereitet neben Ihnen. Das wissen Sie, oder nicht?«

»Das ist zutreffend. Umso dringlicher richten Sie die Aufmerksamkeit auf den Bericht vom Polizeilichen Staatsschutz. Mit den Herren gab es eine halbwegs ordentliche Zusammenarbeit. Zu beschönigen versuche ich die Sache nicht. Deren Quellen haben sich bisher nicht geirrt. Das Material war ausreichend, um die Täter aus der Reserve zu locken. Ob das bei diesem Einsatz funktioniert, schauen wir uns an.«

»Ist nicht die beste Idee, Herr Lorenz. Abwarten bringt uns in die Defensive.«

»Ach ja? Sie Neunmalkluger! Derartige Fälle sind Ihnen vertraut? Von der Schulbank her, die ich dort ebenfalls gedrückt habe. Oder? Hm, na ja, ist lange her. Schluss damit«, brach er den Disput abrupt ab. »Eine letzte Anmerkung. Graben Sie die tief im Gehirn ein. Ich ersuche Sie, vor Ort das Maul zu halten. Klar?«

»Ist angekommen. Ich frage Sie auf die Gefahr hin, mir Ihr Wohlwollen zu versagen. Wie lautet Ihre Vorgehensweise?«

Lorenz rümpfte die Nase. »Ist Ihnen der Begriff Intuition im Studium über den Weg gerieselt?«

»Ja! Er definiert sich aus dem Part kreativer Entfaltungen.«

»Und worauf sind die ausgerichtet? Auf den Tathergang. Stimmt’s?«

»Klar, was sonst! Egal! Ich wiederhole. Sie begleiten mich, um bei der Aufklärung eines Verbrechens zu helfen.«

»Wieso ich?«

»Na ja! Ich bin der Auffassung, dass mir frische, unschuldige Ideen guttun. Sie sind ein Kerlchen mit der Fähigkeit zur Metakommunikation. Durchleuchten Sie Ihr Unterbewusstsein. Da gibt es garantiert eine Menge an Ereignissen, die unsere Ermittlungen aufhellen.«

»Und wie stelle ich mir das konkret vor?«

»Ich mach’s bildlich. Die Fallbearbeitung hat’s Ihnen angetan. Das brauche ich hier. Indes keinen Ja-Sager. Einen Mitspieler mit Neigungen, die mir ähnlich sind. Jemand, dem die Theorie des Spiels und der Fantasie im Blut liegt. Widmen Sie dem Fall eine höhere Aufmerksamkeit. Ich biete mich an, Gedanken darüber auszutauschen, wie wir miteinander umgehen. Es schließt ein, was uns im Moment am stärksten beschäftigt. Der Geschädigte, Herr Bunk, gehört diesem erlauchten Kreis an.«

»Danke. Ich werde Sie nicht enttäuschen!«

»Hätten Sie gejubelt und mir Rotz um die Backe geschmiert, müssten Sie aussteigen. Im Übrigen, der Vorgang hat Potential für eine Bachelorarbeit. Greifen Sie es auf. Ist ein solides Thema. Und nicht vergessen, Stressbewältigung gehört dazu. Winkt nicht in einem Jahr der Abschluss zum Kriminalkommissar? Ein langer Weg bis dahin. Wenn Sie den durchstehen, bringen Sie es weit. Versprochen!«

»Bei aller Wertschätzung, Hauptkommissar Lorenz. Sie führen mir eine total haltlose Aktenlage vor. Ich erkenne keinen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Baut sich da ein Problem auf?«

»Lässt sich das deutlicher ausdrücken?«

»Ich versuch’s. Sehen Sie, aus meiner Sicht ist die Abfolge der Ereignisse und Zustände nicht klar erkennbar. Das klingt alles zu nüchtern.«

»Nutzen Sie die Zeit bis zum Eintreffen im Krankenhaus. Überzeugen Sie mich, auf die richtige Assistenz gesetzt zu haben. Wir fangen von vorn an. Mit der Interpretation des Dossiers. Die Quellen des Staatsschutzes bergen das Geheimnis. Des Lesens sind Sie kundig, oder?«, fragte er mit einer hörbaren Portion Sarkasmus nach.

»Hauptkommissar, Sie verwirren mich. Auf der Zunge liegt mir das Wort Bande. Es erscheint unscheinbar im Text. Klar, der Täter hat das niemals ohne Hintergrund durchgezogen. Was hätte er damit erreicht? Das heißt im besten Fall, er ist nicht der Kopf der Aktion.«

»Sondern ist eine Art Befehlsempfänger? Zielen Sie darauf ab, Wolter?«

»Ja klar!«

»Hört sich vernünftig an.«

»Soweit sich alles an den Fakten orientiert.«

»Mensch Student, ich bin gespannt auf Ihre Argumentation. Fahren wir nicht aus diesem Grund ins Krankenhaus, um die zu überprüfen?«

»Ja. Es erstaunt mich nur. Das nenne ich eine glatte Herausforderung. Reden wir über die Fakten. Die fasse ich zusammen. Erstens: Der Besucher hat sich auf die Pfadfinderschaft berufen. Zweitens: Er schlägt den vermeintlichen Sponsor bis zur Bewusstlosigkeit. Dessen Mitarbeiter eilt herbei. Es gibt einen aussichtslosen Kampf, den der Helfende mit dem Leben bezahlt. Zum Schluss: Der Gast kidnappt die Ehefrau inklusive Baby. Lösegeldforderung Fehlanzeige. Ist das normal? Die Frage nach dem Warum bleibt unbeantwortet.«

»Klingt dramatisch. Dessen ungeachtet, die Antwort genügt mir nicht, Wolter«, sagte Lorenz tonlos. »Sie ist halbherzig. Und es ist an der Zeit, zu graben, bevor die Medien uns zuvorkommen. Gewaltverbrechen mit Tötung, Geiselnahme und Kindesentführung im Landkreis Harz sind nicht die besten Aufhänger für das Geschäft mit dem Tourismus.«

»Heißt das, die Ermittlungen der Polizei waren nicht gründlich genug?«

»Wer hat Ihnen ins Gehirn geschissen? Blödsinn! Sie verderben mir die Laune, Wolter? Das ist eine befohlene Aufgabenstellung, die aufräumt mit einer Reihe unbeantworteter Fragen.«

»Und Sie sind davon überzeugt, dass die Dunkelheit über kurz oder lang dem Licht weicht?«

»Das ist unstrittig. Ihr Glück, dass sich Ihnen diese Frage stellt. Klar, der Weg dahin ist mühselig. Wir begehen ihn gemeinsam. Ehe Sie sich umsehen, ist aus dem Jungspund ein Mann hervorgegangen. So, wie alles abgelaufen ist, dient das der Fassade einer Gruppe. Die Täuschung ist fehlgeschlagen. Es gibt berechtigte Ansatzpunkte dafür. Der angediente Profi hatte nur eine Aufgabe. Die heißt Ablenkung. Sie erfüllt einzig den Zweck, ihre Anhänger nicht wie hergelaufene Schläger aussehen zu lassen. Und genau darin verbirgt sich der Konfliktstoff. Der bedient einen Krieg. Der Feind ist die Sekte mit Evelyn Feist an der Spitze. Es dreht sich alles um Geld. Wolter, haben Sie da was in der Akte gefunden?«

»Nein! Nichts Konkretes. Fragmente! Mir fehlen die Vorkenntnisse zu den Ereignissen, an denen Sie beteiligt waren.«

»Das ändert sich schnell. Folgen Sie meinem Konzept: Ich bin Ihr Mentor. Sie hängen sich da dran, hören zu und lesen fleißig.«

»Und das bringt Erkenntnisse, um Ihnen ebenbürtig zu sein?«

»Sicher! Sie lernen, dass es von Vorteil ist, diese Leute nicht zu unterschätzen.«

»Verstehe!«

»Das ist alles? Wo bleiben die Fragen? Wenn da nichts weiter kommt, Wolter, lassen Sie mir leider keine andere Wahl. Wir sind fertig.«

»Hey, das ist unfair, Hauptkommissar. Ich bin ja gewillt zu helfen.«

»Cool bleiben. Ich beabsichtige nur, Ihren Blick zu weiten. Nutzen Sie Ihr Unterbewusstsein, wie wir es vorhin angesprochen haben. Wir leisten uns einen Abstecher. Ich zeige Ihnen etwas zum Nachdenken. Hilferufe sind nicht erlaubt. Benutzen Sie Ihren Grips! Schauen Sie. Das Navigationssystem zeigt uns auf der Karte eine Reihe von Primärzielen. Der oder die Mistkerle verfügen über jede Menge an Verstecken, um ihre Unsichtbarkeit aufrechtzuerhalten.«

»Herr Lorenz, Sie haben mir verklickert, dass es Action und Adrenalin im Sagenharz für alle reichlich gibt. Ich bin dabei!«

»Freut mich! Wir konzentrieren auf die Suche nach speziellen Leuten. Ich sage, dahinter verbirgt sich eine Zielgruppe aus dem Umfeld.«

»Meinen Sie, dass die in irgendeiner Machart in die Entführung involviert ist?«

»Von dieser Annahme ist auszugehen. Wolter, unterschätzen Sie niemals, wie weit deren Einfluss reicht. Ich habe das in den zurückliegenden zwei Jahren hier im Harz erlebt. Relevant sind Personen, die in einem Glaubenskrieg stehen. Vor allem dort, wo Ansprüche an Immobilien, Grund und Boden, Geld oder politische Querelen in Feindschaft enden. Vorzugsweise mit Frust, der sich gegen Polizei und Behörden richtet.«

»Sie sind mitten im Fall vom letzten Jahr? Ein Mordkomplott. Ich habe davon gelesen. Ihr Name ist an der Fachhochschule in Aschersleben ein Begriff.«

»Stopp! Ist meine Meinung von Interesse?«

»Immer! Sie haben mich an Ihre Seite geholt.«

»Dann lassen Sie die Lobhudeleien außen vor. Das hilft uns beiden nicht. Die Aufklärung der grauenhaften Ereignisse ist das Ergebnis eines schlagkräftigen Teams.«

»Dem jemand vorsteht. Und klar die Richtung vorgibt. Erst dadurch haben wir nichts zu befürchten.«

»Falsch, Wolter. Ich vermute, hier dreht es sich um mehr. Das ist kein bloßer Rachefeldzug. Im Grunde sind es Rassisten, die sich in der Öffentlichkeit wie Patrioten feiern lassen. Ihr Motto: Deutschland den Deutschen, inklusive der üblichen Rituale zum Bewahren der arischen Rasse!«

»Hmm, wir reden demzufolge über ein gewaltiges Netzwerk. Keinen Einzeltäter, der auf der Suche nach einem Extra-Kick ist?«

»Dem stimme ich zu. Seit dem Ausscheiden aus dem aktiven Polizeidienst lebt Herr Bunk in einer gewissen Abgeschiedenheit.«

»Wie ich annehme, liegt Ihr Kontakt eine Weile zurück.«

»Oha, was sind Sie doch für ein erzgescheites Köpfchen. Sie haben Ihre fünf Sinne beisammen. Leider hat sich Herr Bunk dieses Leben im Alleingang gewählt.«

»Akzeptiert! Aber wirklich nachvollziehen lässt sich das nicht.«

»Wolter, dafür hat Gott ihn mit einer Ehefrau und einem Baby gesegnet.«

»Herr Lorenz, wie haben Sie die Freundschaft bewahrt? Man munkelt, dass der Kriminalrat Ihnen die Liebste ausgespannt hat. Ihr redet man nach, Sie hätte Informationen verkauft.«

»Der letzte Punkt ist korrekt. Für die Fallbearbeitung spielte das eine ausschlaggebende Rolle. Sie hat einen anderen geheiratet. Passiert das im realen Leben nicht jeden Tag auf der Welt?«

»Da fehlt mir ehrlich gesagt die Erfahrung. Ich rieche eine gewisse Befangenheit. Von enormen Belang ist, Sie kommen mit der Lebenslage klar. Nur das zählt.«

»Vorschlag, Herr Wolter. Sie hängen mir sechs Wochen an der Backe. Wir kuscheln nicht miteinander. Auskommen ist das Zauberwort. Wenn alles glatt verläuft, verwenden Sie die erzielten Erkenntnisfortschritte in einer Bachelorarbeit. Die Empfehlung würde ich über das LKA anregen. Wär das was? Sind wir im Geschäft?«

»Alle Welt, mir wird schummrig. Peitschen Sie das etwa echt durch?«

»Ich schwöre es. Ist eine Bomben-Sache für die Polizeiarbeit und dem Weg nach oben auf der Erfolgsleiter.«

»Danke! Aber Ihre glorreiche Beschwichtigung hilft meinem Magen nicht. Ich kotz gleich in den Fond. Sie rasen wieder. Das macht mir Angst!«, schob Wolter angriffslustig hinterher.

»Okay!«, sagte Lorenz knapp und reduzierte die Geschwindigkeit des Turboladers. »Dann eben etwas gemütlicher. So lässt sich’s eh besser plaudern.«

»Auf Teufel komm raus! Ich ahne, Sie haben eine Unmenge zu erzählen. Und das ist keine Märchenstunde.«

»Korrekt! Mit Sorgfalt betrachtet, eher ein Schuss ins Schwarze, Wolter. Um ein Haar wäre meine Beziehung zu Evelyn Feist zerbrochen.«

»Liegt das nicht ein Jahr zurück?«

»Ja! Ich habe vorher nie jemanden getroffen, der solch einen Einfluss auf mich ausgeübt hat. Außer der IT-Spezialistin Simone im LKA. Sie zählt ebenfalls zu den Ausnahmen meiner Beziehungskisten.«

»Ich vermute mal, das war keine Auswahl fürs Leben. Stimmt’s?«

»Na ja, sie ist ein Typus Mensch, der wie ich die ganze Energie in die Polizeiarbeit steckt. Pflichtgefühl und die Wahrnehmung von Erfolg sind eng miteinander verschlungen. Die Vorstellung von einem beschaulichen Leben ist da eher grenzwertig.«

»Heißt das, es war ein Fehler?«

»Um Himmels willen, nein! Es bleibt dabei. Ich verzichte auf eine präzisere Aussage. Sie fragen garantiert, warum. Die Antwort drauf lautet: Weil es mich erstaunt, was Sie beschäftigt. Wieso? Betrifft das mein Liebesleben?«

»Nein, geschenkt«, stotterte Wolter. »Die Schatten der Vergangenheit sind Ihr Problem. Ich bin der Ansicht, in einer freundschaftlichen Beziehung lässt sich damit ohne Kriegsbeil verträglich leben.«

»Ihr Glück. Klar, mein Ruf eilt mir voraus. Zu Ihrem Pech trifft das haargenau auf den Ihren zu. Sie haben grade die Kurve gemeistert. Ein Rat: Nutzen Sie die Wochen des Praktikums zu Ihrem Vorteil.«

»Hmm, die einfachste Sache der Welt ist das nicht.«

»Blödsinn, meine Quellen sagen was anderes. Benutzen Sie Ihren Kopf. Sofort. Ich habe Ihnen Geheimnisse anvertraut. Das sind ausschließlich für Ihre Ohren gedachte Details. Der Vertrauensbonus ist vorerst erschöpft. Ist das angekommen, Wolter?«

»Die Ermittlungen der örtlichen Polizei besagen, dass Herr Bunk den Überfall wie durch ein Wunder überstanden hat. Das ist mittlerweile fünf Tage her. Und? Gibt es Erkenntnisfortschritte?«

»Nein! Die Kollegen stecken fest. Darum bietet das LKA Unterstützung an. Für Sie die beste praktische Lehrstunde. Herr Bunk war zeitweise nicht ansprechbar. Im Fieberwahn rief er öfters meinen Namen. Daher frage ich mich, ob die Chefetage hierin eine Chance wittert, die Aufklärung eines Verbrechens voranzutreiben.«

»Sonst wären wir nicht auf dem Weg ins Krankenhaus. Die Ärzte schließen Spätfolgen durch das Würgen am Hals und den Handkantenschlag nicht aus. Herr Bunk hatte eine schützende Hand über sich. Das ist alles. Der Arztbericht spricht von einer beträchtlichen Gesundheitseinschränkung.«

»Okay. Hab ich selber gelesen. Ihm bereiten heftiges Schlucken und nach Luft schnappen weiterhin Probleme. Scheiß Umstand. Ergänzend beschreibt er mit wirren Wortfetzen den Tathergang des Mordes an dem Angestellten. Das ist nichts für ein normales Nervenkostüm.«

»Hauptkommissar, bedeutet das, Sie hören das Geräusch vom Knacken des Adamsapfels? Ist ja schaurig!«

»Das ist der Punkt. Und der ändert sich nicht, solange Sie mir keinen Moment Ruhe gönnen«, sagte er abrupt. »Den Blick auf die Straße gedenke ich nicht zu verlieren. Ist ja anstrengend. Und im Übrigen ist unser verehrter Bunk ein meisterhafter Denker, ein Pedant bei der Ausmerzung von Sicherheitslücken.«

»Da unterläuft Ihnen ein unheilbringender Fehler, Herr Lorenz.«

»Nein, niemals! Es gibt kein persönliches Versagen. Und die IT-Komponenten sind vor Angriffen aus dem Netz geschützt.«

Kapitel 3

Offenbarungen zum Töten

»Hallo mein Freund! Du bist schwer zu greifen. Wo hast du so lange gesteckt? Dieser Ausdruck da in deinen Augen, der ist dir nicht abhandengekommen. Freut mich. Das ist pure Wiedersehensfreude. Stimmt’s?«

»Sicher! Hast du was anderes erwartet?«, antwortete Lorenz erstaunt.

»Komm rein, nimm dir einen Stuhl.«

»Gern! Ich bin erleichtert, Rolf. Du bist wieder fast der Alte. Hattest enormes Glück.«

»Das sind ja lammfromme Worte. Stelle mir lieber deinen Begleiter vor«, sagte er grinsend.

»Hab schon befürchtet, dass du nicht fragst. Der Herr hält sich sonst für überflüssig.«

»Falsch!« Wolter ergriff selbst die Initiative. »Ich mach das«, erklärte er kurzerhand. »Erlauben Sie?«