Haus meines Herzens - Sarah Woodhouse - E-Book

Haus meines Herzens E-Book

Sarah Woodhouse

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Beschreibung

Ein bewegender Roman für alle Fans von Rosamunde Pilcher. Mit dreiundsechzig darf eine Frau keinen Ärger mehr machen. Als Lucy ein Traumhaus an der griechischen Küste erbt, reist sie kurz entschlossen in die Ägäis und durchlebt in Griechenland noch einmal die erste und einzige Liebe ihres Lebens. Lucy entschließt sich, dem eintönigen Leben in Cambridge den Rücken zu kehren und in das Haus ihres Herzens mit seinen großen kühlen Räumen, der Terrasse zum weißen Strand und dem kobaltblauen Meer zu ziehen.

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Sarah Woodhouse

Haus meines Herzens

Aus dem Englischen von Maria Mill

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein bewegender Roman für alle Fans von Rosamunde Pilcher.

 

Mit dreiundsechzig darf eine Frau keinen Ärger mehr machen. Als Lucy ein Traumhaus an der griechischen Küste erbt, reist sie kurz entschlossen in die Ägäis und durchlebt in Griechenland noch einmal die erste und einzige Liebe ihres Lebens. Lucy entschließt sich, dem eintönigen Leben in Cambridge den Rücken zu kehren und in das Haus ihres Herzens mit seinen großen kühlen Räumen, der Terrasse zum weißen Strand und dem kobaltblauen Meer zu ziehen.

Über Sarah Woodhouse

Sarah Woodhouse lebt auf einer Farm in Norfolk, England, und hat zwei Kinder. Sie veröffentlichte zahlreiche Unterhaltungsromane.

Inhaltsübersicht

Für meine Familie, ...EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehn

Für meine Familie, damals und heute

Eins

MIT DREIUNDSECHZIG JAHREN sollte eine Frau keinen Ärger mehr machen.

«Mutter steht in der Zeitung.» Mit einer derartigen Empörung erzählte Christopher dies Bernadette, daß man eher angenommen hätte, er habe seine Mutter nackt im Supermarkt angetroffen.

«Welcher Zeitung?»

«Der Times.»

Bernadette dachte unwillkürlich, es müsse etwas mit Maurice zu tun haben. Etwa: «Witwe von bedeutendem Universitätslehrer auf Wohltätigkeitsball …» Nur ging Lucy nie auf Bälle. Oder vielleicht doch? Außerdem war Maurice bereits seit sechs Jahren tot und letzten Endes wohl doch nicht so bedeutend gewesen, wie seine Kinder es sich gern einbildeten.

«Erinnerst du dich noch an Lussom, den alten Halunken?»

«Halunken?» Bernadette war verblüfft. «Oliver Lussom? Aber der war doch berühmt. Ich hab mir immer seine Sendungen angeschaut.» Ihr rattenschwänziges Kinder-Ich, dachte sie, das geradezu hypnotisiert war vom Charme dieses Mannes – und keineswegs von den Ruinen, zu denen er sie führte. Denn die Archäologie schien lediglich aus umgestürzten Säulen und zertrümmerten Friesen zu bestehen, und sogar die bedeutendsten Funde waren irgendwie enttäuschend. Seine lebhafte Stimme, seine Gesten oder auch nur die Art, wie er plötzlich den Kopf wandte, hatten es ihr angetan. «Ich war völlig vernarrt in ihn», sagte sie zu Christopher. «Er hat doch Großvaters Stadt ausgegraben, nicht wahr? Hat die Sache übernommen, als der Alte gestorben war.» Das Bild ihrer Mutter mit dem so unwahrscheinlichen Ballkleid verblaßte, und statt dessen sah sie nun eine große, ernste Gestalt mit Panamahut, die sich vor einem Hintergrund aus zerbröckelndem Mauerwerk abzeichnete. Auch an einen Schnurrbart meinte sie sich zu erinnern. Doch Lucy besaß nur erstaunlich wenige Fotografien, und die meisten davon waren verwackelte Aufnahmen mit Gegenlicht, die sie mit einer alten Box-Kamera geknipst hatte.

«Er war immer hinter den Frauen her. Und besoffen», bemerkte Christopher.

«Großvater?»

«Lussom.»

«Das hab ich nicht gewußt. Aber er ist doch tot, oder?»

«Zweiundneunzig ist der gestorben.» Das Datum stand im Zeitungsartikel. Er hatte seinen Finger darauf liegen.

«Und was hat das alles mit Mutter und der Times zu tun?»

«Er hat ihr sein Haus hinterlassen.»

«Was hat er?» schrie Bernadette.

«Ihr sein Haus in Griechenland vermacht.»

«Wie schön!» Es war eine automatische Reaktion. Einen Augenblick später meinte Bernadette: «Aber sie muß doch davon gewußt haben. Das hätten sie ihr doch gleich nach seinem Tod mitgeteilt. Oder?» Und dann, während sie sich langsam die Möglichkeiten durch den Kopf gehen ließ, schob sie nach: «Oder er hätte es ihr vorher schon gesagt.»

«Woher soll ich das denn wissen?» Christopher hatte nie gedacht, daß seine Mutter Geheimnisse von größerer Tragweite haben könnte. Und weshalb auch? Er hatte nicht einmal von der Bekanntschaft zwischen ihr und Lussom gewußt, obwohl es natürlich stimmte, daß dieser damals das Gelände übernommen – an dem Harold Cavendish vor seinem Tod noch kaum einen Spatenstich getan hatte – und ihm dann neben internationalen Vortragsreisen und dem Umschwänzeln eleganter Frauen sein halbes Leben gewidmet hatte. Und trotzdem … Lucy hatte nie auch nur das geringste Interesse an Archäologie oder – soweit er das wußte – an irgendeinem Mann außer Maurice bekundet.

«Was für ein Haus ist es denn?» Bernadette fühlte sich mit einemmal von neuen Aussichten beflügelt, empfand Verwirrung und gleichzeitig Hoffnung.

«Es ist ein Bild dabei, aber es ist ziemlich klein und verschwommen.»

Wie Lucys eigene Bilder, die winzig und verschwommen waren und seit dreißig Jahren in der untersten Schublade des Sekretärs lagerten.

«Und mehr schreiben sie nicht? Nur, daß er es Mutter hinterlassen hat?»

«Gemäß der testamentarischen Bestimmungen …» Christopher überflog hastig ein paar Zeilen, die innere Unruhe machte seine Hand immer noch ein wenig unstet. Und einen Moment lang verlor er die Übersicht. «… hat Mrs. Lucy Flecker, Tochter des verstorbenen Professors Harold Cavendish, Entdecker und Ausgräber … British School of Archeology … wie der griechische Minister sagte …» Nein, da ist nichts mehr. Hör mal, Bernie, könntest du Mutter vielleicht anrufen? Und sie fragen, was es damit auf sich hat?»

«Hm, warum machst du das nicht selbst?»

«Ich würde das gern vermeiden. Laura hat ihr die Geschichte meiner Niedertracht bestimmt schon lang und breit dargelegt. Und eine Moralpredigt wäre mir jetzt einfach zuviel.»

«Mutter hält nie Moralpredigten.»

«Tut sie aber vielleicht, wenn sie hört, daß ich Laura endgültig verlassen habe.»

Bernadette hielt es für unwahrscheinlich. Lucy war kein Mensch, den man mit Theater beeindrucken konnte. Außerdem würde Laura die Rolle der verlassenen Ehefrau wohl lieber vor einem Kreis mitfühlender Freundinnen aus ihrem Aerobic-Kurs spielen.

«Ich hätte nie gedacht, daß du feige bist», sagte sie belustigt. Es freute sie, Christopher auch einmal verletzlich zu erleben. In ihrer Kindheit hatte er sich nie von dieser Seite gezeigt.

«Ruf einfach an. Ruf an und frag sie nach diesem Haus.» Er war sich gewiß, daß es eine einfache und einleuchtende Erklärung dafür geben mußte. Denn wie hätte Lucy unaufrichtig sein können? Und weshalb auch? Er meinte alles Wissenswerte über sie zu wissen. Schließlich war sie seine Mutter. Nur …«Ich begreife einfach nicht, warum sie es mir nicht erzählt hat», sagte er. «Seit Vaters Tod habe ich sie in Geldangelegenheiten beraten. Sie war immer so verdammt leichtsinnig.»

«Mhm», sagte Bernadette, und dann, weil das ja wohl nicht genügte: «Natürlich hast du dein Bestes getan. Und sie weiß es bestimmt zu schätzen.»

Danach fühlte sie sich ein wenig beschämt, saß nur da und starrte auf das Telefon. Zweimal griff sie nach dem Hörer. Dann beschloß sie, nach draußen zu gehen und die Times zu kaufen.

Das Bild nun war dem Neugierigen mit Sicherheit keine Hilfe. Da waren – womöglich – eine Terrasse, Steinsäulen, von Wein umrankt. Der Rest aber war unerforschliches Dunkel, trübes Geheimnis.

 

Lucy war bestürzt über ihre Gleichgültigkeit.

«Verstehe», sagte sie schließlich langsam. Doch konnte sie die Situation wirklich aus Lauras Blickwinkel, mit Lauras Augen betrachten?

Lauras Augen waren immer noch feucht um die Wimpern wie die eines kleinen Kindes. Sie hatte große, strahlend blaue Augen. Auch im Schmerz waren sie weder verquollen noch häßlich, sondern hatten einfach etwas Rührendes, das mitleidige Zuwendung erheischte.

«Oh, Lucy, du weißt doch, wie das ist», schluchzte sie und zerknüllte nervös ihr Taschentuch. Sie war sich ganz sicher, daß Lucy wußte, wie es war. Von Anfang an war sie entschlossen gewesen, Lucy zu ihrer Verbündeten zu machen, denn sie hatte ihren ältesten Sohn, den zuverlässigen, kompetenten, erfolgreichen Erstgeborenen geheiratet. Wenn Lucy nicht auf ihrer Seite stand, so konnte sie nur ihre unversöhnliche Widersacherin sein. Nichtsdestotrotz hatte sie stets all die falschen Töne vermerkt, die sie im Versuch, im Familienkonzert mitzuspielen, angeschlagen hatte. Schlug sie auch jetzt wieder den falschen Ton an? Tränen etwa wurden in diesem Haus als allzu dramatisch betrachtet. Nur einmal hatte sie es bisher gewagt zu weinen, in jener Nacht, als Christopher mit Blinddarmentzündung überstürzt in die Klinik abtransportiert worden war und sie die beiden Kinder gepackt hatte und bleich, atemlos schluchzend und jeglicher Würde entkleidet hierher geflüchtet war. Damals wie heute hatte Lucy mit ernüchternder Schroffheit reagiert.

«Ich wußte einfach nicht, was ich tun sollte», sagte Laura genauso wie damals, als Lucy der Niobe auf ihrer Haustreppe mit dem Baby im Schlafanzug und dem kleinen Jungen, der unter seinem Anorak einen Morgenmantel trug, die Tür geöffnet hatte. Immer noch flehten ihre Augen um Verständnis, Zuneigung und Beschwichtigung. Lucy aber lauschte immer noch – wie der Klavierstimmer vielleicht, wenn er kam und an ihrem alten Flügel herumfummelte – auf einen echten Ton.

«Ja, ja, du bist jetzt durcheinander. Du brauchst einen Whisky», sagte Lucy.

«Einfach nur anzurufen. Einfach nur zu sagen, daß er nicht mehr zurückkommt. Wie konnte er nur? Und ich hab es nicht mal gewußt», fuhr Laura fort. War sie sich bewußt, daß sie all dies schon einmal, vielleicht auch zweimal zuvor gesagt hatte, und zwar im gleichen schriller werdenden Ton, dem Vorboten von Schmerz und Hysterie? Sie setzte noch zu einigen anderen klischeehaften Phrasen an, die alle zweifellos zutrafen. «Ist die Ehefrau nicht immer die letzte, die es erfährt? Warum hat er nicht mit mir geredet? Und er sagt, es gibt keine andere, aber ich glaub es ihm nicht …»

Wiederholungen schienen in einer Krise geradezu zwangsläufig, dachte Lucy, genauso wie die unzähligen Tassen Tee.

«Ich würde nichts Überstürztes tun», riet sie ihr freundlich.

«Ich dachte …» Lauras Reisetasche stand in der Diele, und eben hatte sie schon wirr davon geredet, Adam aus der Schule zu holen, so, als sei jemand gestorben. Als sei Chris tot, dachte Lucy, statt bloß verschwunden.

«Es wäre doch albern, das Haus zu verlassen. Er kann ja jederzeit wieder anrufen. Und die Kinder sind schließlich auch noch da. Magenverstimmungen, gebrochene Arme … was ist, wenn sie dich mal erreichen müssen?»

«Ich kann ihnen deine Nummer geben. Adam …», begann Laura, aber wieder flossen die unaufhaltsamen und erstickenden Tränen. Lucy reichte ihr ein Papiertaschentuch und sah zu, wie es sich allmählich auflöste.

«Lolly, das Schuljahr ist fast zu Ende. Bis sie heimkommen, hast du dich wieder gefangen und kannst ihnen sagen, was ihr beiden beschlossen habt.»

«Was er beschlossen hat. Er hat beschlossen, daß er ein neues Leben will. Er hat ja nicht mal den Anstand zu sagen, daß es ihm leid tut.»

O Gott, dachte Lucy, warum empfinde ich überhaupt kein Mitleid? Sollte ich doch. Müßte es eigentlich mit beiden haben. Er hat sie genauso unglücklich gemacht wie sie ihn.

«Ich war so überzeugt, daß du mir hilfst», stieß Laura schluchzend hervor.

«Aber Lolly, Liebes, du willst doch nicht wirklich hierbleiben. Du bist jetzt zornig und schockiert. Das ist nur natürlich. Aber du mußt wieder nach Hause.» Lucy reichte ihr automatisch ein weiteres Taschentuch und klaubte ihr, als sei Laura ein Kleinkind, die feuchten Fetzen aus der Hand. «Trink noch einen und erzähl mir von Ginnys Hockey-Erfolgen.»

«Sie spielt jetzt Tennis. Ist ja Sommer, nicht wahr? Bis zur Jahrtausendwende, meint sie, schafft sie’s nach Wimbledon.»

Laura gab sich größte Mühe. Das muß ich anerkennen, dachte Lucy. «Und wie ist es nun mit dem Drink? Nun komm schon, Lolly. Nachher fahr ich dich nach Hause.»

Laura sank in ihren Sessel zurück, durch diese Wiederholung ihres Kosenamens, bei dem sie ihre Eltern in der sicheren und so fernen Vergangenheit gerufen hatten, zuletzt doch noch getröstet. Dankbar blickte sie Lucy an, die immer so ruhig, so vernünftig blieb. Und da Lucys Vorstellung von einem Drink unweigerlich vierzig Prozent Alkohol bedeutete, war es gewiß nicht verkehrt, sich nach Hause fahren zu lassen, obwohl es fünfzehn Meilen waren und Lucy einen winzigen, uralten Citroën fuhr.

«Ich verderbe dir deinen Tag», sagte sie. Sie hatte keine rechte Vorstellung davon, wie Lucys Tage beschaffen waren, wohin sie ging, womit sie sich beschäftigte. Dreiundsechzig und Witwe. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie tut, wie sie sich die Zeit vertreibt, dachte Laura. Ihr Haus in Cambridge sah stets gleich aus – einrichtungsbedürftig, wie Chris immer meinte –, so spärlich möbliert, wie es war, mit ein paar guten Antiquitäten, Maurices Büchern an den Wänden, Blumen aus dem Garten, die in billigen Töpfen und Vasen steckten. Viele Bilder gab es, ein paar Fotografien – Maurice, die Kinder, Lucys Vater in der Uniform des Ersten Weltkriegs – und keinerlei Nippsachen.

«Lolly, du schläfst mir doch nicht ein.»

«Nein, nein.» Laura nahm kleine Schlucke von ihrem Drink, als handle es sich um eine Medizin. Wie aus großer Ferne hörte sie sich völlig bedeutungslos und ziemlich albern bemerken: «Vor kurzem hat in der Zeitung gestanden, es gäbe Erwägungen, Autofahrern über sechzig noch mal eine Prüfung abzuverlangen.»

Und wärst du wohl entsetzt, wenn ich sie bestünde? sinnierte Lucy, erwiderte aber nur milde: «Gute Idee.»

 

«Um Gottes willen!» rief Turk aus, als sie die Neuigkeit hörte. «Will bei dir wohnen? Wie lange? Die spinnt ja komplett.»

«Nur vorübergehend. Wo soll sie auch hin?» Lucy stopfte einen Blumenstrauß in einen Krug. Sie war mit Blumen genauso ungeschickt wie bei allen anderen häuslichen Verrichtungen, da sie immer pfuschte und hudelte und in zehn Minuten schaffen wollte, was in der Regel eine Stunde konzentrierter Arbeit verlangte.

«Na ja, dann werd ich verschwinden», verkündete Turk und zündete sich eine Zigarette an. Ihre Hände, sah Lucy, zitterten vor innerer Erregung. Wut, fragte sie sich, oder Belustigung?

«Was würde es dir schon ausmachen? Deine Zimmer gehen doch alle nach hinten raus.»

«Sie hält mich für den letzten Dreck. Wie nennt sie mich hinter meinem Rücken?»

«Du meinst, außerdem? Woher soll ich das wissen? Wenn sie dich sonstwie nennt, dann tut sie das auch hinter meinem Rücken.»

Die Frau am Schreibtisch beugte sich über das Blatt, das sie in der Hand hielt. Sie las rasch und zog an der Zigarette. «Das ist beschissen», erklärte sie und warf es auf einen kleinen Stoß gleichermaßen verworfener Seiten.

«Erspar mir deine künstlerischen Ausbrüche. Sieh es dir später an, wenn du dich wieder abgeregt hast. Sie bleibt ja nicht. Ich hab sie nach Hause gefahren.»

Wie waren sie eigentlich dazu gekommen, sie Turk zu nennen? dachte Lucy. Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Doch. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Es hatte mit einem ihrer Romane zu tun. Turks Erstling.

«Schon verrückt, wie sie alle immer noch zu dir kommen», sagte Turk. Sie drückte die Zigarette in einer Blechdose neben Lucys Blumenvase aus. Ein letzter dünner Rauchfaden stieg auf und ringelte sich um die Rosen. «Bernadette versucht es sich natürlich zu verkneifen. Lieber rutscht sie auf den Knien vor all diesen Priestern rum.»

«Du meinst den netten, dicken Father Brace. Wenn es sie glücklich macht …», sagte Lucy milde.

«Tut es aber nicht, oder?»

«Ach, weißt du, das gehört eben zum Muttersein. Dasein. Zuhören. Ratschläge geben, die eigentlich keiner hören will.» Lucy klaubte abgefallene Blätter und dürre Stengel auf. «Sie wollen nur die richtigen Worte hören. Irgend so was Mütterliches, nehm ich an.»

«Du mußt es ja wissen.»

Es konnte durchaus sein, daß Lucy Turk einmal bemuttert hatte, sofern überhaupt jemand eine solche Verantwortung auf sich laden mochte. Seit dreißig Jahren lebte Turk in der Wohnung im rückwärtigen Teil des Hauses. Als Maurice Einspruch erhob, da ihn schon allein der Gedanke an einen Untermieter schreckte, hatte Lucy gar nicht erst versucht, ihn durch Argumente zu erweichen, sondern lediglich ein Heft zum Eintragen der Miete gekauft und dem Mädchen einen Schlüssel in die Hand gedrückt. «Sie ist ein nettes Mädel», hatte sie ihrer Freundin Nina erzählt. «Und das Geld können wir bestens gebrauchen.» Es war schon ermutigend, was so ein kleiner Betrag ausmachte. «Du bist die Butter auf unserem Brot», hatte Lucy zu Turk gesagt, die damals noch Marianne hieß – damals, in jener fernen Zeit vor ihrem ersten Roman, dem abscheulichen Liebhaber, der Abtreibung, der tödlichen Depression. Bevor Maurice Professor wurde und Bernadette Witwe, bevor es Laura und die Enkelkinder gab.

Maurice hatte das Haus in Cambridge von seinem Vater geerbt. Es lag in der Nähe des Botanischen Gartens, wo ihn der alte Mann einst die lateinischen Namen der Pflanzen gelehrt hatte – eine geistige Drillübung unter vielen anderen. Vergaß er einmal, was er hatte auswendig lernen sollen, folgte die Bestrafung auf dem Fuße: Der Kuchen zum Tee, das Spiel im Garten, das Zusammensein mit der Mutter wurden gestrichen. Er verkrampfte sich, wenn er sich daran erinnerte. Und einer unglücklichen, eingeengten Kindheit war eine noch eingeengtere, an Prüfungen reiche Jugendzeit gefolgt. «Als ich dich kennenlernte, fühlte ich mich wie ein Greis. Du hast mir meine Jugend wiedergeschenkt», sagte er einmal zur ergriffenen Lucy. Solche Eingeständnisse lagen ihm nicht auf der Zunge. Man hatte ihn zu argwöhnischer Vorsicht erzogen. Wäre dieser Augenblick ungenutzt verstrichen, er hätte es ihr vielleicht nie gesagt.

Während ihrer ersten beiden Ehejahre hatte seine Mutter noch in der Wohnung gelebt, die sie sich zum Garten hin hatte anbauen lassen, die Wohnung, in der Lucy schließlich Turk unterbringen sollte. Überall zeigten sich damals Spuren der Vernachlässigung: Dachrinnen waren geborsten, das Unkraut wucherte, es roch nach Hausschwamm. Dies war der Grund, warum es vor Marianne, der dunklen, wilden, so gar nicht «netten» Marianne, nie Butter aufs Brot gegeben hatte. Und alles dauerte eine Ewigkeit, vor allem Maurices Karriere. Denn nach dem Tod seines Vaters hatten ihn der Eifer, alles wissen und verstehen zu wollen, und die alte Angst, keinen Erfolg zu haben, verlassen. Er war damals noch junger Dozent und entsetzlich bescheiden. Cambridge war voll von jungen Männern, die wie er am Hungertuch nagten. Folglich stieg er also nur langsam, ganz langsam auf, aber dennoch mit einer seltsamen Unaufhaltsamkeit, weil irgendwann einmal auch die Langweiligen und Unentbehrlichen Anerkennung finden müssen. Und Lucy lernte, wie sie sich zu benehmen hatte, und sie benahm sich im großen und ganzen recht gut, entzückte die Gastprofessoren und Politiker aus den Regierungsausschüssen, die alten Männer vom College und Maurices Erstsemester.

«Hörst du mir eigentlich zu?» fragte Turk. «Lu? Wo bist du denn mit deinen Gedanken?» Und als Lucy keine Antwort gab: «Möchtest du, daß ich ausziehe?»

«Wieso sollte ich das wollen?»

«Du könntest die Wohnung renovieren lassen und eine anständige Miete dafür verlangen.»

«Du bezahlst mir eine anständige Miete.»

«Nicht für heutige Verhältnisse.»

«Mit deiner Miete konnten wir Essen kaufen, Wein und Sachen für die Kinder. Chris’ Hi-Fi-Anlage. Weißt du noch?»

«Du bist nicht mehr ganz auf dem laufenden. Weißt du nicht, was meine Bruchbude, frisch renoviert und mit neuem Bad und Toilette, dir einbrächte? Ich kann es mir leisten, dir jeden Preis zu zahlen. Das weißt du doch sicherlich.»

«Keine Angst. Falls ich es wollte, würde ich schon mehr verlangen. Bloß will ich es nicht.»

Sie sahen sich an. Es war ein vertrautes Ritual, ein gegenseitiges Sichtaxieren. Bei ihrer ersten Begegnung hatten sie sich so angesehen, als Lucy das große, knochige Mädchen weinend auf den Stufen zum Vorgarten entdeckte und die Fremde mit ins Haus nahm, um ihr einen Gin anzubieten und weil sie ihr leid tat.

«Natürlich würdest du das blöde Geräusch vermissen», bemerkte Turk, «wenn ich auszöge. Das Klappern der Schreibmaschine zu allen Tages- und Nachtzeiten.»

Sie hat ein schönes, markantes Gesicht, dachte Lucy und erinnerte sich, wie es in jener merkwürdigen Nacht unter dem Licht der grellen Küchenglühbirne ausgesehen hatte. Tränen, Gin, hemmungslose Enthüllungen … Also nahm ich sie unter meine Fittiche, dachte sie. Wie hätte sie auch widerstehen können, wo sie doch aus eigener Erfahrung wußte, wie es war, kein Heim zu haben?

«Wahrscheinlich hat sie ihn mit ihrem dauernden Aufräumen zum Wahnsinn getrieben», sagte jetzt Turk. «Dieser ewigen, gräßlichen Putzerei.»

«Wer? Ach, Laura. Sie hat ihr Haus immer in Ordnung gehalten.»

«Sehr anheimelnd war es nicht.»

«Sie war eine gute Mutter.»

«Eine zwanghafte. Die armen Dinger durften ja jahrelang kaum ins Freie, damit sie sich die Knie nicht dreckig machten. Und als nächstes hat man sie dann gleich in diese Sommerlager verschickt, zum Bergsteigen, Pony-Trekking … wüßte nichts, was sie nicht gemacht haben. Keine Minute, um mal Luft zu schöpfen. Dann wieder zurück in dieses Totenhaus, wo kein Stuhl auch nur einen Zentimeter verrückt werden durfte, bloß, um dort gewaschen und geschrubbt und in die richtige Schule zurückverfrachtet zu werden. Mit Familienleben lief da nicht viel.»

«Marianne, du übertreibst.»

«Tu ich das?»

Wieder blickten sie einander an. Lächelten. Wir haben damals einen Waffenstillstand in bezug auf Laura geschlossen, dachte Lucy. Und dann: Sie muß jetzt siebenundvierzig, achtundvierzig sein. Lieber Gott, achtundvierzig. Wo ist nur die Zeit geblieben?

«Ist das ein Tag!» sagte sie, mit einemmal erschöpft – spür ich jetzt mein Alter? dachte sie –, «Laura, die flennt und greint, und dann dieser absolut lächerliche Anruf von Bernie wegen Olivers Haus: Was das alles soll, was ich eigentlich vorhabe, wie, wann, warum, weshalb? Und obendrein dann noch mehr Verzweiflung, weil sie nicht weiß, ob sie aus der Kirche austreten soll oder nicht, weil sie Vikarin oder Priesterin oder was immer werden will.»

«Aus der katholischen Kirche austreten? Bernie doch nicht. Ich war immer überzeugt, daß sie mal Nonne wird.»

«Das wollte sie mal werden. Aber Maurice hat ihr diesen Gedanken ein für allemal ausgetrieben. Er sagte ihr, daß er das Ganze albern fände – in diesem Tonfall, den er manchmal hatte, aus dem sie entnehmen konnte, daß sie ihn schon mit dem bloßen Gedanken daran unermeßlich enttäuschen würde. Und danach … ach, genug von den Nonnen.»

«Aber Maurice war doch der Katholik. Was hatte er denn dagegen?»

«Ich glaube, diese Unbedingtheit hat ihn erschreckt. Er verstand sie nicht, sie machte ihm angst, und er wollte nicht, daß Bernie was damit zu tun hatte. Arme Bernie. An ihre Gefühle dabei hat er nie gedacht.»

«Er ging doch jede Woche zur Messe», sagte Turk langsam und ließ ihre Gedanken in die Vergangenheit schweifen.

«Er sagte, das sei Gewohnheit. Das hab ich ihm auch geglaubt. Er war so erzogen. Und er liebte den Chor.» Und Lucy dachte: Ich weiß noch, wie ich einmal versuchte, ein vernünftiges Gespräch mit ihm zu führen. Ich wollte wissen, was er eigentlich glaubte. Es kam mir albern vor, es nicht zu wissen. Schließlich war ich ja mit ihm verheiratet, und womöglich spielte es eine wichtige Rolle in seinem Leben. Aber er wollte nicht darüber reden. Meinte nur, daß er hinginge, um sich den Chor anzuhören.

«Das alles bedeutet Bernie sehr viel», sagte sie.

«Beachtet zu werden bedeutet Bernie sehr viel. Und jetzt können wir uns auf sechs Monate Selbstzerfleischung gefaßt machen, auf quälende Selbstbefragungen, ob ihr Verrat an Rom dem Papst das Herz brechen wird, ob es wirklich Gott ist, dessen Ruf da an sie ergeht. Und so weiter und so fort. Lu, sie wird dich zum Wahnsinn treiben. Du solltest dir das nicht mehr gefallen lassen. Sag ihr, daß sie endlich mal erwachsen werden muß. Mein Gott, sie ist vierzig und hat eine neunzehnjährige Tochter.»

«Sie findet Kraft im Glauben», sagte Lucy und war sich bewußt, daß ihr selbst das nie gelungen war.

«Als Maurice starb, hat ihr ihr Glaube gar nicht geholfen. Sie ist völlig zusammengebrochen.»

«Willst du mir jetzt vielleicht bei allem, was ich sage, widersprechen?»

«Ja», erwiderte Turk. «Wenn du solchen Schwachsinn redest.»

 

Am Abend rief Bernadette wieder an.

«Ich mach mir Sorgen um Chloe», begann sie.

«Was ist denn mit Chloe?» Nach dem Drama mit Laura und einem heißen Nachmittag im Garten war Lucy erschöpft.

«Sie macht eine schwierige Zeit durch. Ihr Studium gefällt ihr nicht mehr. Und sie redet davon, es schon vor den Abschlußprüfungen zu schmeißen.»

«Nun, das ist ihre Sache.»

«Mutter, das ist nicht sehr hilfreich.»

«Nein, ist es wohl nicht. Tut mir leid.»

«Ich dachte … könntest du sie nicht für ein, zwei Wochen zu dir einladen? Sie war immer so gern bei dir. Du könntest … na ja, mach ihr klar, daß es nur noch ein Jahr dauert und sie dann ihren Abschluß hat und …»

«Bernie, bist du wahnsinnig geworden! Außerdem bin ich vielleicht in Griechenland.»

«Doch nicht in diesem Haus? Du hast doch nicht vor, da hinzufliegen?»

«Ich kann es mir ja zumindest mal ansehen.» Ich klinge, als wäre es eine Überraschung für mich, als wüßte ich nicht, wie es aussieht, als hätte ich es nie gesehen. Warum nur?

«Aber du bist doch nie verreist.»

«Dann fange ich eben jetzt damit an.»

«Aber Mutter … So ganz allein? Und was ist mit deinen Knien?»

«Ein warmes Klima kann Wunder wirken.»

 

«Deine Familie ist aufdringlich», sagte Turk. Sie saßen in der Küche und tranken Kaffee, während der Himmel draußen vor dem Fenster immer düsterer wurde und sich ein Gewitter ankündigte.

«So sind Familien eben. Sollen sie ja auch. Ist doch ihr einziger Sinn und Zweck. Wir könnten ja auch einsam und streitsüchtig wie Maulwürfe leben.»

«Vielleicht sind sie ja nur hinter dem Geld her.»

«Sie haben doch Maurices Geld geerbt.»

«Wenn du dieses Haus in Griechenland verkaufen würdest, wär es noch ein bißchen mehr.»

«Chris braucht kein Geld», sagte Lucy protestierend.

«Eine Scheidung kann teuer kommen.»

«Und Bernadette ist versorgt. Sie hat ein anständiges Gehalt.»

«Wetten, daß ihr diese Priester das Geld aus der Tasche ziehen. Für diesen Father Brace würde sie doch jedes ihrer Konten abräumen.»

«Und Alan», fuhr Lucy eigensinnig fort, «hat sich nie das geringste aus Geld gemacht.» Sie lächelte beim Gedanken an ihren jüngsten Sohn.

Das erste Donnergrollen hatte sie erreicht, und im nächsten Augenblick flackerten die Lampen. Lucy, die in einem Sessel saß und die Füße auf einen zweiten gelegt hatte, streckte die Zehen, die sich in den alten Gartenschuhen verkrampft hatten.

«Magst du meine Kinder nicht, Marianne?»

Die über ihren Kaffee gebeugte Turk starrte finster in ihre Tasse. Es war die letzte vom alten Spode-Service, das Maurice zusammen mit dem Haus geerbt und das über die Jahre Stück für Stück zu Bruch gegangen war: zerdeppert von Lucy, von Mrs. Treece, die «abspülte», den Kindern, die ihr dabei halfen, von unachtsamen Besuchern oder den Katzen, durch Ungeschicklichkeit oder durch Zufall. Sie besaß eine Geschichte, diese Tasse. Elegant stand sie auf einer billigen Weidenmuster-Untertasse, und Turk beugte sich über sie, um hineinzustarren – in die Vergangenheit und in die Zukunft zu blicken.

«Sie meinen, sie wüßten, was gut für dich ist. Demnächst werden sie dir wegen Griechenland Dampf machen.»

«Chris vielleicht. Er bildet sich gern ein, er wisse mich zu nehmen. Alan hat nie Druck auf mich ausgeübt. Er ist einfach zu träge.»

«Emotionalen Druck schon. Er gibt sich so liebenswürdig, daß du ihm nicht widerstehen kannst.»

«Aber er wäre der einzige, der sich freuen würde, wenn ich hinzöge.»

«Tatsächlich? Auch wenn er wüßte, was es wert ist?»

Lucy blickte auf. «Aber ich weiß ja nicht mal, was es wert ist.»

«Hör mal, spiel nicht die Naive. Die griechische Regierung hat Interesse angemeldet. Es ist ein wunderschönes Grundstück an einer unberührten Küste. Es könnte ein Zufluchtsort für die wirklich Reichen, ein Hotel der obersten Kategorie, alles mögliche werden.»

«Und es könnte mein Wohnsitz werden.» Was für ein alberner, kleiner, rebellischer Impuls, dachte Lucy, und zu spät – immer zu spät. Plötzlich begann ihre Hand zu zittern. Sie stellte die Tasse ab, ehe sie ihr aus der Hand fiel, wandte sich abrupt um, um zu dem schiefergrauen Himmel hinaufzublicken, die zuckenden Blitze, die ersten Regentropfen. «Eigentlich könnte ich dort leben. Es wird Zeit, daß ich mal was … Rücksichtsloses tue.» Sie hatte das Wort nicht bewußt gewählt. Dennoch hatte sie es gewählt. Nachdem sie es ausgesprochen hatte, schwang es noch einen Moment in der Luft.

«Aber was, um Himmels willen, willst du in Griechenland, Lucy?» fragte Turk ganz vernünftig.

 

Am Telefon meinte Adam: «Ich würd eigentlich gern bei Gran wohnen.» Von all den neuen Problemen überfordert, klang er viel jünger als seine fünfzehn Jahre. Laura, die nicht viel Vorstellungskraft besaß, erinnerte sich plötzlich, wie er als Zwei- oder Dreijähriger gewesen war, erinnerte sich an das ruhige, zufriedene Kind, das in einer Schüssel Plastikschiffchen fahren ließ.

«Vielleicht läßt es sich ja einrichten. Ein wenig später. Ich weiß nicht, was in den nächsten paar Wochen sein wird.»

«Was soll schon sein. Außerdem geht es mich ja sowieso nichts an.» Er wollte nichts damit zu tun haben. Er betete darum, daß sie ihn aus der Sache herausließ.

«Ich könnte deine Unterstützung gebrauchen, Liebling», sagte Laura. Sie hatte Lucys Rat ignoriert. Hatte während der Studierzeit in der Schule angerufen und Adam von seinem Aufsatz über Bismarck weggezerrt, damit er sich anhörte, wie man sie – sie alle – im Stich ließ.

«Ich seh Dad doch in den Ferien, oder?» Zumindest dies klang zuversichtlich.

«Ich denke schon.»

«Und zu Gran darf ich auch?»

«Meinst du, allein?» Sie benötigte ihn zu Hause, damit sie jede Einzelheit, jedes Detail ihrer gescheiterten Ehe bei ihm loswerden konnte.

«Warum nicht?»

Sie hatten Lucy stets als Familie besucht. Waren es Pflichtbesuche gewesen? Chris hatte eine etwas gespannte Beziehung zu seiner Mutter; in die gegenseitige Zuneigung mischte sich beträchtliche Gereiztheit. «Mach doch dies … oder jenes!» verlangte er, worauf sie dann versetzte: «Hör um Himmels willen auf, mich zu bevormunden», worauf sich die Atmosphäre regelmäßig trübte. Er hatte gewollt, daß sie die Bücher seines Vaters verkaufte, daß sie sich einen neuen Klempner suchte, als der alte Langridge sie mit den neuen Regenrinnen warten ließ, daß sie sich eine Putzfrau anschaffte oder gar einen Gärtner anstellte. Und Lucy wich aus, entzog sich seinen Attacken. Das Wissen, daß er es gut meinte, schon als Kind sehr unter Zurückweisungen gelitten hatte, hemmte sie. Eine negative Reaktion auf seine Ratschläge erlebte er stets als persönliche Beleidigung. Genau wie Maurice, dachte Lucy. Sie hätte ihm darlegen können, daß sie, wenn sie alle Bücher verkaufte, die bis zur Decke reichenden Regale hätte abbauen und schließlich neu hätte tapezieren lassen müssen, daß die glänzenden Bretter nur selten eine Reinigung benötigten, daß Gartenarbeit ihr Freude machte – doch sie schwieg. Er würde die Zurückweisung seiner Pläne lediglich als Abweisung seiner gesamten Person betrachten.

«Warum denn nicht?» wiederholte Adam.

«Ich werde mal mit Lucy reden», meinte Laura diplomatisch.

«Mhm. Ja. Mach das. Tu das bitte.» Ganz plötzlich war er einsilbig geworden. Ein Freund zupfte ihn am Ellbogen, und es war beschämend, bei einem Gespräch mit seiner Mutter erwischt zu werden, sofern es sich nicht um einen Notfall handelte. Er war sich nicht sicher, ob das Scheitern einer Ehe heutzutage zu den Notfällen zählte. Eigentlich war es zu alltäglich. Überall in seiner Klasse sah er die Resultate dieses offenbar unvermeidlichen Prozesses.

«Tschau», sagte er. «Es klingelt zum Abendessen.»

«Ich werd mich drum kümmern …», begann Laura, doch da hatte er bereits aufgelegt.

Seufzend ließ sie den Hörer sinken. Sie empfand einen Drang, irgendeinen anderen Menschen anzurufen, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß dies keine echte Krise war. Für sie war es, als sei sie die einzige Frau, die an diesem Tag von einem Mann verlassen worden war. Zum Glück für Ginny, die im ländlichen Dorset eifrig Bälle übers Netz schlug, hielt Laura ihre Tochter für noch zu jung, um derartige Neuigkeiten am Telefon zu erfahren. Sie freute sich schon auf die tränenreiche Wiedervereinigung am Schuljahresende. Außerdem mußte sie damit rechnen, daß Ginny die Partei ihres Vaters ergriff. Ginny war aufmerksamer als Adam und kritischer. Bei diesem Gedanken spürte Laura einen Moment lang, wie die Tränen in ihr aufstiegen, und krümmte sich auf ihrem Stuhl zusammen, als ob sie sie durch absolute Reglosigkeit abwehren könne – genau wie Ginny, wenn sie, ihrer heftigen Seitenstiche wegen vornübergebeugt und ängstlich die Luft anhaltend, nach einer kräftigen Rückhand sprintete.

Aber es gibt ja immer noch Bernadette, dachte Laura.

Sie sprach nur selten mit Bernadette. Als Person hatte sie etwas Beängstigendes, gleichzeitig Düsteres und Helles, so daß man nie wußte, ob man mit bösen Sarkasmen, depressiver Gedrücktheit oder heftigen Ausbrüchen rechnen mußte. Manchmal schien eine zufällige Bemerkung sie tödlich zu verwunden. Doch Laura fand, Bernie müsse die Missetat ihres Bruders erfahren.

«Ruft mich einfach aus irgendeinem Hotel an», beendete sie ihren Bericht. «Und sagt nicht mal, daß es ihm leid tut.»

Bernadette, deren Mann vier Monate nach der Hochzeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen war und der sie damals schwanger, verwirrt und ziemlich wütend zurückgelassen hatte, zeigte kein Mitgefühl.

«Du hast es aber doch sicher kommen sehen?»

«Nein», schrie Laura. «Ich dachte, er ist wieder glücklicher. Er kam wieder früher nach Hause. Brachte mir Blumen mit.»

Bernadette fand, daß sie eigentlich nichts dazu zu sagen hatte. Sie schwieg einen Augenblick, erinnerte sich dann jedoch an Lucys Ermahnungen zur Freundlichkeit.

«Tja, es tut mir leid. Es tut mir leid für die Kinder. Für euch alle.»

Wahrscheinlich ging heutzutage trotz Father Braces Optimismus jede Minute eine Ehe in die Brüche. Sie empfand nichts für Laura außer der vagen Hoffnung, daß jetzt, wo die Trennung vollzogen war, alles besser würde – so gut eben, wie man es erwarten konnte. Seit sie als Rechtsanwaltsgehilfin arbeitete, sah sie viel von dem emotionalen Schlamassel rund um Trennung und Scheidung. Dem setzte Father Brace regelmäßig seinen rührenden Glauben an die Heiligkeit des Ehebunds und ziemlich konfuse Ansichten über Sex und Sünde entgegen. Ihre eigene erbärmlich kurze Zeit mit David wurde von dem Streit überschattet, den sie am Morgen seines Todestages gehabt hatten, einem kindischen, bitteren Wortwechsel bei Toast und dünnem Kaffee. Seitdem hatte sie sich immer daran erinnern müssen, daß sie ihm keinen Abschiedskuß gegeben hatte. Als sie daher jetzt etwas hörte, das nach ersticktem Schluchzen klang, ließ sie ihr besseres Ich die Oberhand gewinnen und sagte: «Laura? Du heulst doch nicht etwa, oder? Hör mal, soll ich zu dir rüberkommen?»

«Nein. Nein, ist schon in Ordnung.» Eine Pause trat ein. Nestelte sie nach einem Tempo? «Ich war bei Lucy.»

«Hat es dir geholfen?»

«Der Drink hat mir gutgetan. Sie mußte mich nach Hause fahren.»

«Von diesem Haus in Griechenland hat sie aber nichts erzählt?»

«Welchem Haus?»

«Dem von Oliver Lussom. Vom Zeitungsfoto her kann man es nicht wirklich beurteilen.»

Laura atmete tief durch, um ihrer Tränen Herr zu werden. Die Unterhaltung war nun ganz von ihr und Chris abgekommen, und ihre Gefühle überwältigten sie. Hatte denn niemand Mitleid mit ihr?

Nun ja, von Bernadette hatte sie sich ja noch nie viel erwartet.

«Wer um Himmels willen ist Oliver Lussom?» fragte sie tapfer.

«Meine Mutter», erzählte Alan dem Harvard-Professor, den er in den Senior Common Room zum Essen eingeladen hatte, «hat Oliver Lussoms Haus geerbt.»

«Ach ja», erwiderte der Professor herzlich. «Das ist ja großartig.»

«Harold Cavendish war nämlich mein Großvater, wissen Sie.»

«Der Archäologe. Das hab ich nicht gewußt», meinte er in einem Ton, als hätte er es eigentlich erraten müssen. «Darauf sollten Sie stolz sein.»

«Oh, das bin ich.» Doch Alan blickte sich verlegen um, als fürchte er, beim Angeben ertappt zu werden. «Ich hab ihn natürlich kaum gekannt. Er starb, als ich zwei, drei Jahre alt war.» Er erinnerte sich vage, auf dem Schoß des alten Mannes gesessen zu haben, der zu seinem Erstaunen eifrig an einer Gänseblümchenkette für ihn bastelte. Wirklich rührend, dachte er jetzt, für einen so großen Mann. Oder gilt das für jeden Mann? Sich selbst konnte er nicht beim Basteln von Gänseblümchenketten vorstellen, obwohl er es womöglich vor vielen, vielen Jahren für Klein Chloe getan hatte …

«Ich war einmal in diesem Haus», sagte der Professor. Er erwartete das Essen bereits mit ziemlicher Ungeduld. Und trockenen Sherry verabscheute er. Sollte er vielleicht um etwas anderes bitten? Doch rings um ihn her standen nur Sherrygläser. Sein Blick appellierte stumm an Dr. Flecker, doch Dr. Flecker dachte jetzt nur noch an Griechenland und nicht an Alkohol. Sein ernstes, hageres Gesicht hatte sich belebt.

«Sie waren in Lussoms Haus?»

«Ja. O ja.»

«Und wie war es?»

«Überirdisch.» Und der Professor nahm nun, ganz gefangengenommen von der vor seinem inneren Auge erglühenden Vision, einen ganzen Schluck von dem üblen Sherry, als handle es sich um erstklassigen, herzerwärmenden Bourbon.

 

Der Sturm war vorbei, doch es regnete immer noch. Im Haus war es ungewohnt dunkel. Die tropfenden Fliederbüsche vor dem Küchenfenster rieben gegen die Scheiben.

«Mutter, was hat es eigentlich mit dieser Griechenlandgeschichte auf sich?» fragte Alan leichthin.

«Griechenlandgeschichte?» Plötzlich wurde sie störrisch. Es wäre zwar kindisch gewesen, nun die Begriffsstutzige zu spielen, aber auch irgendwie befriedigend.

«Na ja, ich hab den Artikel über Oliver Lussom gelesen. Über das Haus. Er stand in der Times. Warum du, Ma? Ich wußte gar nicht, daß du den Mann kanntest.»

«Warum hättest du’s auch wissen sollen?»

Obwohl er sie nicht sah, spürte er durchs Telefon ihren plötzlichen Ärger, so als sei er wieder das Kind, das ohne anzuklopfen in ihr Zimmer gestürzt war, jenes Zimmer, in dem sie gerade eine intime Verrichtung beendet hatte. Sie aber fragte nur: «Wie läuft es denn bei dir?», und ihr Ton war ebenso beiläufig geworden wie der seine.

«Gut. Ich schleppe einen Typen aus Harvard mit mir rum, Spezialist für europäische Geschichte. Er erzählt, er hat Lussom mal besucht. Weiß Gott, wieso. Nach dem, was er sagt, muß das Haus ja eine Wucht sein. Ich hatte eher mit ’ner Hütte am Strand gerechnet.»

«Ja.» Sie hätte alles mögliche damit meinen können.

«Warst du je dort?»

«Natürlich. Wie lange soll dieses Verhör eigentlich noch dauern, Liebling? Ich hab was im Ofen stehen.»

«Du hüllst dich ja ganz schön in Schweigen.»

«Überhaupt nicht. Ich hab einfach Hunger.»

«Aber das Haus …»

«Ist bloß ein Haus. Alan, ich muß aufhören. Marianne ruft schon.»

Er versuchte seine wachsende Neugier zu dämpfen, doch es fiel ihm schwer; sie war wie Öl, das sich, statt sich entfernen zu lassen, immer weiter ausbreitete.

«Ma …»

 

In der Küche sagte Lucy zu Turk: «Sogar Alan.»

«Hab’s dir doch gesagt.»

«Aber … schließlich kann man ihnen die Neugier ja nicht verübeln.»

Früher einmal hatte sie geglaubt, sie könne ihre Kinder von sich stoßen wie eine Tiermutter, zwar nicht gefühllos, aber dennoch bestimmt, und sie zwingen, ihr eigenes Leben zu leben. Dann, hatte sie gehofft, würde sie ihre Privatsphäre und ihre Entschlossenheit wiedergewinnen. Wird Müttern denn nie ein eigenes Leben zugestanden? fragte sie sich. Natürlich verlangten kleine Kinder die ausschließliche Zuwendung der Mutter, aber doch sicher nicht mehr, wenn sie bereits zweiundvierzig, vierzig, fünfunddreißig Jahre alt waren? In mittleren Jahren, dachte Lucy. Meine Kinder – in mittleren Jahren. «Ich fühl mich uralt», sagte sie zu Turk.

«Chris wird als nächster anrufen. Wart nur ab.»

«Falls du recht behältst und du das Telefon abnimmst, dann sag ihm, daß ich nicht da bin.» Lucy machte einen ungeschickten Versuch, ihr gegrilltes und triefendes Käsesandwich vom Rost zu retten. «Hättest du das nicht rausnehmen können, bevor es verbrannte?»

«Dann wäre es kalt gewesen. Übrigens, warum hat Oliver Lussom dir eigentlich sein Haus vermacht?»

«Das könnte nur er dir sagen.» Ich weiß es wirklich nicht, dachte sie. Ich hab ihn ja all die Jahre nie wiedergesehen. Es gab nur die Briefe. So viele Briefe.

«Ich will ja nicht neugierig sein», sagte Turk.

«Das bist du doch nie.»

«Aber ich hab dich nie von Oliver Lussom reden hören.»

«Nein», sagte Lucy. «Ich glaube nicht, daß ich ihn je erwähnt habe. Höchstens ein-, zweimal. Bernie hat sich immer seine Sendungen angesehen. Aber daß er das Grabungsgelände meines Vaters auf dem Peloponnes übernommen hatte, das hast du doch gewußt.»

Im dämmrigen Licht saßen sie bei den Resten ihres Abendessens. Sie konnten den Regen hören, der stetig und flüsternd fiel. Schließlich stand Turk auf und schob ihren Teller von sich.

«Kaffee?»

Als sie das zweite Mal hinter Lucys Stuhl vorbeikam, beugte sie sich hinab und drückte ihr einen Kuß auf den Scheitel.

«Was für eine Art von Geschenk ist das eigentlich, Lu? Will er dir damit eine Freude machen?»

«Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich muß hinfahren, ehe ich diese Frage beantworten kann.»

In der Diele begann das Telefon zu schrillen. Turk fuhr fort, Kaffee zu kochen, Lucy stapelte die Teller aufeinander und stellte sie in die Spüle. Nach einer Weile hörte das Klingeln auf.

«Wann fährst du?» fragte Turk.

Zwei

LUCY WAR NEUNZEHN.

«Wir können dir hier nicht viel bieten», sagte Harold Cavendish verlegen und sich zögernd von Wort zu Wort tastend, so wie vielleicht sonst von Stein zu Stein. «Um diese Jahreszeit ist es einfach für alles zu heiß.»

Lucy nickte, sagte aber nichts. Es war wirklich drückend, und schon das Reden schien unsägliche Mühe zu bereiten.

Den Frühling, die schönste Jahreszeit in Griechenland, wie man ihr erzählte, hatte sie verpaßt. Der Tod ihrer Mutter hatte den ganzen April in Anspruch genommen. Und nicht einmal in England hatte sie die aufbrechenden Knospen, das frische Grün, die Schlüsselblumen mitbekommen. In gewissem Sinne hatte sie nicht einmal Tag und Nacht unterschieden, nur lange Phasen der Langeweile, einer alles durchdringenden Angst, hilfloser Liebe und zuletzt eines ohnmächtigen Schmerzes. Nun wurde Griechenland von der Augustsonne versengt, und Harold schlich mit seiner Tochter durch seine Ruinen, um die er so lange gekämpft hatte, geduldig Krieg und Bürgerkrieg abgewartet, Erdbeben und bürokratische Verzögerungen ertragen hatte. Sobald es ein wenig kühler wurde, würde er mit seiner Lebensarbeit beginnen. «Wir können dir hier nicht viel bieten», hatte er zu Lucy gesagt, denn er war nicht nur frustriert, sondern hegte auch gewisse Befürchtungen. Was sollte er nur mit ihr anfangen? An seine eigene Jugend hatte er keine Erinnerung, und er wußte, abgesehen von dem, was er bei der streng erzogenen Edith in zwanzig Jahren distanzierter Ehe hatte erfahren können, nur wenig von jungen Frauen. «Ach, damals war ich auf dem Peloponnes», sagte er, wenn man ihn bat, sich zu erinnern, wie Lucy mit drei, fünf oder zwölf Jahren gewesen war. Er hatte so viele Jahre auf dem Peloponnes verbracht. Und dann, während die Kriege wüteten, noch einmal zehn in Kanada.

Die neunzehnjährige Lucy war ein Schock für ihn gewesen.

«Wie erwachsen du bist», hatte er albern gemeint, als er sie in Athen abholte. Selbstverständlich war sie das, schließlich hatte sie mit Edith, der langen Krankheit, dem Tod und den Begräbnisvorbereitungen fertig werden müssen. Er selbst hatte irgendwelche Entschuldigungen vorgeschoben, war erst kurz vor dem Gottesdienst eingetroffen und danach sofort wieder abgeflogen. Lucy hatte er kaum eines Blickes gewürdigt. Er hatte seine Gefühle nicht preisgeben wollen. Ein völlig steifes und förmliches Gebaren an den Tag gelegt. Es war unmöglich zu erraten, welche Emotionen ihn beim Anblick des Sarges bewegten. Vielleicht gar keine. In den letzten sechs Jahren hatte er Edith viermal gesehen. Doch er hielt den Blick auf den Sarg gesenkt und sah seine Tochter nicht an, als wolle er den Moment, in dem er die alleinige elterliche Verantwortung übernahm, hinauszögern.

In Athen war dieser Augenblick dann gekommen.

Sie war schlank, ziemlich groß, blaß und genauso schüchtern, wie er es erwartet hatte. Ein braunhaariges Mädchen in mattem Crêpe de Chine, mit einem Strohhut auf dem Kopf. Sie trug praktische, sportliche Schuhe. War angemessen höflich. Bald aber merkte er, daß es um ihre Bildung eher traurig bestellt war – über die Welt des Altertums wußte sie so gut wie nichts –, und er war überrascht und bestürzt. Schließlich hatte er das Internat mit großer Sorgfalt ausgewählt und viel dafür bezahlt.

«Also, in Athen kannst du nicht bleiben», hatte er gleich gemeint. Denn welche Gefahren mochten in Athen nicht auf sie lauern? Und was für Griechen?

«Das will ich ja gar nicht. Ich dachte, ich lebe bei dir in Pylos.» Sein offenbares Widerstreben, sie mit nach Hause zu nehmen, machte sie ein wenig betroffen. Sie betrachtete seinen Aufenthaltsort, wo immer er auch war, als Zuhause, denn ein anderes besaß sie ja nun nicht mehr. Es würde ihm doch sicher nichts ausmachen, wenn sie ein paar Monate in Pylos verbrachte, bis sie entschieden hatte, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte.

Doch in Pylos meinte er: «Nicht gerade ein Vergnügen für dich, armes Ding, hier am Ende der Welt.»

Gern hätte er sie in England gelassen, doch dort lebte nur noch seine unverheiratete Schwester, die taub und exzentrisch war und ein ziemlich primitives Haus bewohnte. Er hoffte, daß bald ein passender junger Bursche aufkreuzen und ihm das Mädchen abnehmen würde. Vielleicht konnten sie ja den nächsten Sommer in London, in Cambridge verbringen. Da gäbe es Tanzveranstaltungen, Tennismatches, Picknicks und vor allem die richtigen Leute.

«Vielleicht sollte ich mir eine Stelle suchen», schlug Lucy vor, ein wenig zaghaft und erst, nachdem er eine ordentliche Mahlzeit verzehrt hatte, heiter und zugänglich war und angeregt über Telemachus sprach.

«Unsinn. Das haben wir doch nicht nötig.» Was konnte sie in Griechenland schon machen? Was konnte sie überhaupt tun?

«Ich muß eben was lernen, Vater.»

«Na ja. Vielleicht. Aber lassen wir das jetzt. Dazu ist noch reichlich Zeit.»

Man hatte Lucy aus der Schule gezerrt, vom Krankenhaus ins Pflegeheim und von dort auf den Friedhof geschubst. Ein Jahr ihres Lebens, dachte sie, ein ganzes Jahr lag zwischen dem Ende jenes letzten Trimesters, als sie feststellten, daß Edith krank war, und ihrem Aufenthalt an diesem schönen, einsamen, unberührten Ort an der Sonne. Und jetzt mußte sie erkennen, daß sie nie in Harolds Leben hineinpassen würde. Einzig und allein seine Grabung interessierte ihn, die Steine auf der Oberfläche, die Steine darunter. Jahrelang hatte er um die Genehmigung gekämpft, um Geld, Arbeitskräfte, das Interesse der akademischen Welt. Bang hatte er im kalten Norden ausgeharrt, während die Griechen erst die Deutschen und dann ihre griechischen Landsleute bekämpften. Im Jahre 1939 hätte er es sich nicht träumen lassen, daß es bis in die fünfziger Jahre dauern würde, bis er den ersten Spatenstich tat. Und ich, dachte Lucy, bin nur die Tochter, die er kaum kennt, nicht schön, nicht klug und auch sonst nichts Besonderes. Er wird mich nach England zurückschicken, sobald er eine Gelegenheit dazu sieht. Würde mich schon morgen zurückschicken, wenn er nur wüßte, ich hab mein Essen und ein Dach überm Kopf …

«Du bist wie eine blühende Blume», gestand ihr Nikos, Harolds Fahrer, nach ihrer ersten Woche auf dem Gelände. Er wiederholte den Satz in einer subtilen Abwandlung auf griechisch.

«Was war das? Was hat er gesagt?»

«Ich weiß nicht, Vater. Es war zu schnell.»

«Also, deine Aussprache, die ist gut. Du machst dich.» Er hatte keine großen Erwartungen an sie, und ihr Wunsch, Griechisch zu lernen, hatte ihn gefreut.

Sie gingen hinab zu der Stelle, wo die bevorstehenden Arbeitsschritte durch kleine Markierungen abgesteckt waren. «Das ist bedeutend. Ungeheuer bedeutend», sagte Harold.

«Und es ist eine ganze Stadt?»

«Eine ganze Stadt, mein Schatz. Hier, unter deinen Füßen.»

Lucy blickte nach unten. Ihre Zehen in den offenen Sandalen waren staubig. Hier gab es nur kleine Kiesel, harten, festgetretenen Boden, ein paar verdorrte, aber ausdauernde Gräser. Zwar interessierte sie sich für die Steine, doch ihr verrieten sie nichts, sie wußte nichts von ihren Geheimnissen, die Risse und Sprünge sagten ihr nichts. Sie war so unwissend. Nichts von dem in der Schule Gelernten schien sich ihr eingeprägt zu haben. Und aus den Zeitungsartikeln über Harold, die sie gesammelt hatte, hatte nichts sie befeuert, mehr über die von ihm erforschten Kulturen in Erfahrung zu bringen. Wie sorgsam hatte sie die Artikel aufbewahrt, um sie dann schüchtern vorzuzeigen.

Das Licht brannte ihr in den Augen, wenn sie den Blick hob und zum Hügel hinaufsah.

«Vielleicht sollten wir mal einen Ausflug machen», sagte Harold, «und uns die Gegend anschauen.»

«Könnten wir nicht nach Delphi fahren?» Es war vielleicht besser, ein ausdrückliches Ziel zu haben, da sie sonst jeden antiken Trümmerhaufen Griechenlands ansteuern würden.

«Um Apollo zu befragen?» meinte Harold lachend, aber nicht unfreundlich. Er neigte nicht zu Scherzen, und wenn er einmal einen Witz zu machen versuchte, war der meist ziemlich müde und schwerfällig.

«Ich will nur hinfahren.»

Die Steine schwiegen zwar, aber die Berge, das dürre Gras, die Oliven, das Meer, die Menschen sprachen sie an. Sie würde die Fahrt nach Delphi genießen.

«Dann vielleicht nächste Woche.» Harold stieß mit dem Zeh nach einer Marke.

«Und ich glaube, ich brauche ein paar neue Sachen», fügte Lucy noch rasch hinzu, ehe er wieder zu tief in seine Gedanken versank. «Ich hab kaum was für die heißen Tage.»

«Neue Sachen», meinte Harold bestürzt. «Ja, natürlich. Neue Sachen.»