Heimatkinder 26 – Heimatroman - Elli Haft - E-Book

Heimatkinder 26 – Heimatroman E-Book

Elli Haft

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Beschreibung

Die Heimatkinder verkörpern einen neuen Romantypus, der seinesgleichen sucht. Zugleich Liebesroman, Heimatroman, Familienroman – geschildert auf eine bezaubernde, herzerfrischende Weise, wie wir alle sie schon immer ersehnt haben. Lukas Lenz trat an das Fenster des großen, behaglich eingerichteten Wohnzimmers und schaute in den dichten Nebel hinaus, der um diese Jahreszeit jeden Morgen über dem weiten, flachen Land lag. Es war unwirklich still. Kein Geräusch war zu hören. Auch nicht im Haus. Und wie lebhaft war es früher auf dem großen Hof zugegangen, als seine Frau noch lebte, die Marei. Lukas Lenz hasste Nebel. Nebel war etwas, das einen Menschen hilflos machte. Der Hofbesitzer Lukas Lenz aber war reich, klug, ein geachteter Mann. Die Nachbarn erbaten seinen Rat. Die Leute im Dorf grüßten höflich. Nebel konnte nicht überwunden werden. Man musste ihn dulden. Auch Lukas Lenz musste ihn erdulden, bis die Sonne kam, ihn auflöste und mit unsichtbarer Hand fortwischte.

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Heimatkinder –26–

Der Erbe vom Lenz-Hof

Mit Klein-Michael kam das große Glück

Roman von Elli Haft

Lukas Lenz trat an das Fenster des großen, behaglich eingerichteten Wohnzimmers und schaute in den dichten Nebel hinaus, der um diese Jahreszeit jeden Morgen über dem weiten, flachen Land lag.

Es war unwirklich still. Kein Geräusch war zu hören. Auch nicht im Haus. Und wie lebhaft war es früher auf dem großen Hof zugegangen, als seine Frau noch lebte, die Marei.

Lukas Lenz hasste Nebel. Nebel war etwas, das einen Menschen hilflos machte. Der Hofbesitzer Lukas Lenz aber war reich, klug, ein geachteter Mann. Die Nachbarn erbaten seinen Rat. Die Leute im Dorf grüßten höflich. Nebel konnte nicht überwunden werden. Man musste ihn dulden. Auch Lukas Lenz musste ihn erdulden, bis die Sonne kam, ihn auflöste und mit unsichtbarer Hand fortwischte.

Es war Sonntag. Zu früh, um irgendetwas zu tun. Lukas Lenz gehörte zu den Menschen, die den Sonntag heiligen.

Er trat an seinen Schreibtisch, setzte sich und nahm einen Brief und eine Fotografie auf. Stützte die Ellenbogen auf die wuchtige Platte des Tisches und sah sinnend auf die Fotografie.

In herzlicher Dankbarkeit, Regina!

Er las das wieder und wieder. Regina war etwa zweiundzwanzig Jahre alt, hatte große dunkle Augen, die von langen Wimpern umgeben waren. Sie war schlank und feingliedrig und hatte ein so liebes Gesicht, dass man es gernhaben musste. Regina Waldbauer!

Ihr Vater war sein Jugendfreund gewesen. Als jüngstes von sieben Kindern wurde er Lehrer. Lukas Lenz hatte ihn vor diesem Beruf gewarnt. Hungerleider, hatte er gesagt, doch Reginas Vater ließ sich nicht beirren. Auf dem Hof des Vaters wäre nie mehr als ein kümmerliches Leben für ihn gewesen. So wurde er Lehrer. Er liebte seinen Beruf. Und er heiratete ein Mädchen, das er liebte, das ihm aber nichts an Vermögen mit in die Ehe brachte.

Als die Eltern ziemlich bald hintereinander gestorben waren, hinterließen sie Regina nichts als die Möbel der kleinen Wohnung. Eine Zeit lang versuchte Regina sich als kaufmännische Angestellte, doch sie fühlte sich in diesem Beruf todunglücklich. Das bäuerliche Blut der Vorfahren wurde in ihr lebendig. Eine unnennbare Sehnsucht, aus der Stadt hinauszukommen, hatte sie ergriffen.

Den Freund des Vaters, Lukas Lenz, kannte sie aus Erzählungen, und so, wie der Vater ihr den Lenzhof geschildert hatte, musste dieser ein Paradies für den bedeuten, der sich nach Freiheit und Weite und ländlichem Lebensstil sehnte.

Regina schrieb an diesen Freund.

Lukas Lenz hatte den Brief vor sich liegen, den er wieder und wieder gelesen hatte. Dann betrachtete er das Bild des Mädchens so eingehend, als wolle er sein Schicksal daraus lesen. Hilfe konnte man auf einem großen Hof immer brauchen. Warum sollte er sie eigentlich nicht kommen lassen?

Er stand auf und ging in dem Zimmer auf und ab. Er nahm seine Pfeife aus dem Ständer, stopfte sie und zündete sie an. Dann setzte er sich wieder vor seinen Schreibtisch.

Lukas Lenz war Witwer. Ein junger Witwer. Vor wenigen Wochen hatte er seinen fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Man sah ihm die Fünfundvierzig nicht an. Vielleicht würden die Leute reden, wenn er Regina kommen ließ, doch was gingen ihn die Leute an?

Viele von den Nachbarn waren seine Freunde. Sie brauchten ihn, weil er immer einen Ausweg aus Schwierigkeiten wusste, und so manchem hatte er schon mit Geld und guten Worten über eine harte Zeit hinweg geholfen. Lukas Lenz stand in gutem Ansehen und brauchte nicht auf die Meinung anderer zu achten. Es würde ein gutes Werk sein, ein gutes Werk gegenüber dem verstorbenen Jugendfreund, der es so viel schwerer im Leben gehabt hatte als er, Lukas Lenz.

In der Küche wurde mit Geschirr hantiert. Lena, die Wirtschafterin, bereitete das Frühstück, das es am Sonntag immer eine Stunde später als sonst gab. Lena würde nichts gegen Regina Waldbauer sagen. Im Gegenteil. Sie würde froh sein, eine junge Hilfe zu bekommen.

Zwischen Lena und dem Bauern gab es ein Geheimnis. Der Bauer war schon als ganz junger Mann hinter hübschen Mädchen hergewesen, und die Lena war dazumal bildhübsch. Es hatte ihm nichts ausgemacht, dass sie älter war, im Gegenteil. Doch die Lena besaß gesunden Menschenverstand und forderte nicht von ihm, dass er sie heiratete. Sie blieben gute Freunde und mehr nicht, und was gewesen war, war gewesen, wenn auch die Erinnerung nicht aus der Welt zu schaffen war. Lukas Lenz dankte es ihr, dass sie den Mund hielt, und zeigte sich nicht knauserig, und so wuchs bald Gras über die kurze, heiße Liebesgeschichte zwischen dem Hoferben und einer kleinen Magd.

Dann starb die Mutter des jungen Lukas, und Lena nahm mit fester Hand das Regiment an sich. Seither war sie geblieben und gehörte zur Familie.

Michael, der Sohn, sah seinem Vater ähnlich wie ein jüngerer Bruder. Lukas hatte sehr früh geheiratet. Eigentlich viel zu früh, aber das kam, weil er eben keine Mutter mehr hatte.

Außer Michael war da noch dessen jüngere Schwester Resi. Der Name Resis durfte in diesem Haus nicht mehr genannt werden, wenn man nicht einen riesengroßen Krach heraufbeschwören wollte. In dieser Sache blieb Lukas Lenz hart und stur und ließ sich nicht durch Bitten noch durch Resis Briefe erweichen. Resi hatte mit achtzehn Jahren einen Amerikaner kennen gelernt, wie das in dieser Zeit eben so geschah. Es war keine Spielerei, sondern eine echte und große Liebe, die den härtesten Prüfungen standhielt. Als Resi ihren Freund mit nach Hause bringen wollte, um ihn dem Vater vorzustellen und ihn um seinen Segen zu bitten, hatte Lukas Lenz dem jungen Mann mit eisiger Miene die Tür gewiesen. Das war vor vier Jahren gewesen. Resi hatte die Konsequenzen gezogen. Nach einigen weiteren Versuchen, den Vater umzustimmen, verließ sie das elterliche Haus für immer und ging mit dem Mann ihrer Liebe nach Amerika. Ein halbes Jahr darauf starb Lukas’ Frau. Die Aufregungen und Sorgen hatten sie dahingerafft. Ihr Herz machte nicht mehr mit. Und Lukas Lenz hatte einen Grund mehr, Resi zu zürnen und keinen ihrer Briefe zu beantworten. Umso mehr war es jetzt ein guter Ausweg, wieder eine Art Tochter ins Haus zu bekommen: Regina. Noch heute wollte er an Regina schreiben.

*

Michael legte Birkenkloben nach auf das Feuer, das im offenen Kamin brannte, als sein Vater das Wohnzimmer betrat. »Guten Morgen, Vater! Scheußlicher Nebel heute Morgen! Man kann kaum fünf Meter weit sehen.«

»Wie? Ach so, ja! Ja, der Nebel ist scheußlich. Er müsste längst hoch sein.«

Sie setzten sich an den Tisch. Lena brachte die Kanne mit dem heißen, starken Kaffee. Sie setzte sich.

»Bei dem Nebel müsst ihr zeitiger losfahren«, sagte sie und meinte die sonntägliche Fahrt zur Kirche. »Ihr werdet doppelt so lange brauchen!« Der Bauer sah über ihre Schulter zum Fenster hinüber. »Ja, aber es ist noch Zeit.«

Sie aßen schweigend. Schließlich setzte sich Michael sehr gerade in seinem Stuhl auf und sah dem Vater ins Gesicht. »Vater, die Resi hat geschrieben. Du solltest doch endlich mal Vernunft annehmen und …«

Lukas Lenz’ Gesicht lief rot an. »Du weißt, wie ich hierüber denke! Ich will nichts wissen von dieser Sache. Und das für immer – verstanden?« Er holte tief Luft. »Dass du es doch nicht begreifen willst! Was ich gesagt habe, habe ich gesagt, und nichts, gar nichts wird meinen Entschluss ändern. Du solltest mich kennen! Ich weiß, was ich tue. Eine Lenz-Tochter, die davonläuft, soll bleiben, wo sie ist.«

Michael lehnte sich ein wenig zurück.

»Mach doch nicht so viel Wesen um diese Dinge, die selbstverständlich sind. Niemand will dir deinen Stolz nehmen, Vater, niemand! Du solltest nur menschlich denken. Die Resi liebt ihren Bill. Ist das etwas Böses? Du hast ihn damals rausgeworfen. Ohne Grund und Ursache rausgeworfen, na, und da ist sie eben mit ihm gegangen. Schließlich bist du daran selber schuld …«

»Michael!«

Lukas Lenz sprang auf. »Du wagst es …«

Michael Lenz stand ebenfalls auf. Lena verdrückte sich in die Küche. Wenn Vater und Sohn so miteinander zu reden anfingen, dann war sie überflüssig.

»Vater! Jawohl, ich wage es, weil es unrecht ist von dir, Resis Briefe nicht zu lesen. Ihr nicht zu antworten. Bill Powers ist jung, ordentlich, gesund und sorgt für seine Familie. Was willst du eigentlich mehr? Resi ist glücklich!«

»Glücklich!«, lachte Lukas Lenz hämisch auf. »Als ob es um Glück ginge! Sie hat sich mir widersetzt, sie hat mich einfach stehen lassen, als ich ihr klarmachen wollte, was es bedeuten würde, einem windigen Ausländer nachzulaufen. Sie hat mir getrotzt, wie, wie …«

Michael steckte die Hände in die Taschen seiner Jacke. »Wie eine Lenz-Tochter!«, sagte er mit einem Anflug von Lächeln.

»Wie deine Tochter, Vater. Du hättest in ihrem Fall auch nicht anders gehandelt, als das zu tun, was du für richtig gehalten hättest. Was wirfst du ihr eigentlich vor? Dass sie weggelaufen ist? Hast du es ihr nicht geraten? Hast du sie nicht vom Hof gewiesen?«

Lukas Lenz presste die Lippen zornig aufeinander. Dann holte er tief Luft. »Sollte ich sie vielleicht mit ihrem Freund dabehalten? Unter meinem Dach? Wie eine – eine …«

Michael hob energisch das Kinn. »Vater!«

Er steckte sich eine Zigarette an. »Die Zeiten sind anders geworden, Vater. Daran solltest auch du denken. Resi hatte nur das Pech, dass sie zu jung war, um allein handeln zu können. Sie war nicht zu jung, um sich zu verlieben. Denke doch an dich selber! Hast nicht auch du schon mit zwanzig Jahren Mutter gekannt?«

Krachend flog der schwere eichene Stuhl zu Boden. »Michael, ich warne dich!«

Michael Lenz wischte die Bemerkung mit einer Handbewegung fort. »Vater! Habe ich etwas Unrechtes gesagt? Ist es nicht die Wahrheit? Du lebst doch für Ehre und Wahrheit, nicht wahr? Was aber ist eine Wahrheit, wenn man nicht darüber sprechen darf? Ich wollte dir nur beweisen, wie unrecht du Resi tust. Gegen Liebe ist kein Kraut gewachsen. Liebe ist stärker als das Leben! Und Resi liebt ihren Mann!«

Der Bauer senkte das Gesicht. »Sie hat drei Jahre mit ihm gelebt wie eine …, eine …«

Michael brauste auf. »Weil du ihr nicht die erbetene Genehmigung gegeben hast! Das weißt du genau! Und du weißt auch, wie sehr sie dich darum gebeten hat!«

»Ausländer!« Es klang bitter und wegwerfend.

Michael wurde ernst. »Es ist ein Mensch, wie du und ich es sind, Vater. Man kann nichts gegen ihn einwenden! Gar nichts! Mein Gott, Vater, gebe der Himmel, dass du nicht auch einmal in den Zwiespalt zwischen Ehre, Pflicht und Liebe gerätst! Du würdest mir leidtun! Du ließest deine Liebe glatt zerbrechen an deinem Starrsinn!« Er wandte sich um und ging hinaus. Es war hoffnungslos, mit seinem Vater über Resi zu reden. Sie gerieten jedes Mal aneinander. Jedes Mal. Sein Vater hatte den starren Sinn des Großvaters. Es war ein Erbübel. Hoffentlich kam er wegen dieses Erbübels nicht einmal mit sich selber in einen aussichtslosen Konflikt. Es gab Dinge, die stärker waren als der Mensch und mochte er noch so großartige Grundsätze haben.

Er sah auf die Uhr. Es war Zeit, zur Kirche zu fahren. Auch hierin war der Vater streng wie in alten Zeiten. Er ging keinesfalls mit allem einig, was der Pfarrer predigte, aber es gehörte sich, dass der Lenzbauer und sein Sohn auf den angestammten Plätzen saßen, wenn die Kirchenglocken ausläuteten und die Orgel zu spielen begann.

Beim Mittagessen war alles wieder gut. Michael liebte seinen Vater, wie ein guter Sohn seinen Vater lieben soll. Er brachte das Gespräch auf die Politik, auf einiges, das im Dorf geschehen war, und endlich kam die alte, gemütliche Stimmung wieder auf. Lena war glücklich darüber. Sie mochte keinen Streit und besonders nicht am Sonntag, und der Streit um die Resi war sowieso sinnlos. Sie hatte der Resi längst verziehen und schrieb ihr sehnsüchtige und lange Briefe, damit diese wusste, was zu Hause geschah, und damit die Resi mit der Heimat verbunden blieb. Es war sicher Gott wohlgefälliger, wie sie handelte, als das andere. Gott würde den Lukas strafen, wenn er weiter so hart blieb. Es war Lenas feste Überzeugung, wie ja alles, womit man sündigte, an einem gestraft wurde. Sie hatte das dem Bauern schon oft gesagt, doch dieser wollte sie nicht verstehen.

Am Nachmittag kam Besuch aus der Stadt. Nach dem Abendbrot traf sich Michael meist mit Freunden im Dorf und Lukas Lenz mit einigen Nachbarn, und so ging der Sonntag um. Heute bedeutete Lukas Lenz seinem Sohn, zu ihm in das Arbeitszimmer zu kommen, das dem Großvater als Kanzlei gedient hatte, als er noch Bürgermeister war. Inzwischen war ein eigenes Bürgermeisteramt gebaut worden. Lukas Lenz aber hatte das Zimmer gelassen, wie es war, und benutzte es immer noch dazu, um seine schriftlichen Sachen, wie Steuererklärungen und landwirtschaftliche Berichte darin zu erledigen. Es war seine Zuflucht, wenn er ins Nachdenken kam, denn auch Lena durfte ihn nicht stören, wenn er in diesem Raum war, mochte sie auch noch so Wichtiges vorzubringen haben.

Michael folgte dem Vater und ließ sich in einen alten Lehnsessel nieder, nachdem sich Lukas Lenz hinter seinen Schreibtisch gesetzt hatte.

»Ich wollte dir nur sagen, Micha, dass ich mich entschlossen habe, Regina Waldbauer aufzunehmen. Du kennst sie flüchtig. Sie war einmal vor Jahren mit ihrem Vater hier. Reginas Eltern sind tot. Sie weiß nicht, wohin sie gehen soll. In ihrer Stellung in der Stadt fühlt sie sich unglücklich. Es ist meine Pflicht …«

Michael zündete sich eine Zigarette an.

»Wenn du es für richtig hältst, Vater? Das Haus ist groß genug. Arbeit findet sich auch. Resis Zimmer steht leer.«

»Du sollst nicht von Resi sprechen!«

»Ich sprach nur von ihrem Zimmer! Wir haben ja Platz genug!«

Lukas Lenz sah an ihm vorbei. »Wenn das Mädchen kommt, so wird es nicht in Resis Zimmer wohnen. Es könnte doch sein …« Er wischte sich über die Stirn.

Michael lächelte. »Du hoffst also doch, dass Resi …«

Lukas Lenz fuhr auf. »Nichts hoffe ich, gar nichts. Ich will nur, dass das Zimmer, das die Tochter des Hauses bewohnte, nicht anderweitig …«

Michael nickte. »Ich verstehe!«

Lukas Lenz holte den Brief aus der Schublade, doch das Bild zeigte er nicht vor. »Regina wird die obere Kammer bekommen. Es ist alles drin, was sie braucht. Man kann sie noch etwas hübsch herrichten, ich werde es Lena anschaffen!«

Michael stand auf. »Also als Magd willst du sie aufnehmen. Sie natürlich bezahlen und arbeiten lassen wie jemanden, der richtig im Dienst ist.«

Lukas Lenz sah Michael nicht an. »Arbeit ist immer gut, wenn man über einen Kummer hinwegkommen will, und wenn man jung ist, tut Arbeit besonders gut, um nicht auf Dummheiten zu kommen. Regina wird sonst wie eine von uns sein …«

Michael schüttelte den Kopf. »Zwei Fliegen mit einer Klappe«, sagte er fast ein wenig spöttisch. »Du bekommst eine tüchtige Hilfe, worüber sich Lena freuen wird, und zugleich tust du ein gutes Werk, nicht wahr? Ist sie wenigstens hübsch?«

Lukas Lenz fuhr auf. »Das tut nichts zur Sache! Sie wird am Mittwoch kommen, und du wirst sie von der Bahn abholen. Vom Mittagszug. Ich wollte es dir rechtzeitig sagen.«

»Gut«, sagte Michael und drückte seine Zigarette aus. »Am Mittwoch also. Ich werde es nicht vergessen. Darf ich jetzt gehen?«

Lukas Lenz sah dem Sohn nach. Er war stolz auf Michael, unsagbar stolz. Alle Mädchen sahen ihm nach, aber er machte sich nichts daraus. Gott sei Dank. Für den Michael war die Beste gerade gut genug, und er hatte eine solche Beste für ihn bereits im Sinn. Ein Mädchen mit Geld, mit gutem Ruf und mit Verstand.

Michael Lenz fuhr am Mittwochmittag zum Bahnhof, ohne mit seinem Vater noch einmal über den Besuch gesprochen zu haben.

Er hielt vor dem schlichten Bahnhof vor der Durchgangstür und ging um das Gebäude herum. Der Bahnsteig war durch einen Zaun abgesperrt und die kleine Tür, durch die die Reisenden kamen, noch geschlossen.

Regina Waldbauer!

Der Name sagte ihm nicht viel. Er erinnerte sich an ein Mädchen, das braune kurz geschnittene Haare trug und sich ziemlich schüchtern zurückhielt, wenn sie abends nach dem Abendbrot draußen im Hof noch »Fangschon« spielten oder Federball. Natürlich waren die anderen ziemlich derb gewesen, doch so scheu und ängstlich hätte diese Regina Waldbauer auch nicht zu sein brauchen. Er lächelte vor sich hin. Das war vor Jahren gewesen, und heute war sie vielleicht gar nicht mehr scheu und vielleicht sogar hübsch. Man konnte nicht wissen.

In der Nähe ertönte eine Glocke, und eine Schranke ging langsam nieder. Man hörte von Weitem einen Zug heranrollen. Michael Lenz richtete sich auf. Der Beamte kam und öffnete die Sperre. Und dann lief der Zug ein.

Außer zwei rundlichen Frauen mit Tragkörben am Arm und einem alten Mann, der in der Stadt beim Doktor gewesen war, stieg nur noch ein junges Mädchen aus: Regina Waldbauer.

Sie hob ihren Koffer von der Stufe, die aus dem Abteil führte, herunter und ging langsam auf die Sperre zu. Michael Lenz reckte sich. Donnerwetter! Das sollte Regina Waldbauer sein? Er trat durch die Sperre und ging ihr entgegen. »Grüß Gott!«, sagte er beinahe verlegen, und nahm den Hut ab. »Sie sind Regina Waldbauer?«

Das Mädchen setzte den Koffer ab und sah zu ihm hoch. »Ja! Ich möchte zu Herrn Lenz.«

Sie hatte nicht erwartet, von einem jungen Mann wie Michael abgeholt zu werden, und vergaß in ihrer Verlegenheit, grüß Gott zu sagen. »Ich werde erwartet«, fügte sie hinzu und wurde rot, ohne einen Grund zu haben.

»Ich bin Michael Lenz«, sagte Michael und sah nicht den schweren Koffer sondern nur das liebliche Gesicht, die großen dunklen scheuen Augen, die zu ihm emporblickten. Er reichte ihr die Hand. »Mein Vater erwartet Sie! Ich sollte Sie abholen!« Er wusste nicht weiter. Er kannte eine ganze Reihe junger hübscher Mädchen, aber das, was er hier sah, machte ihn verlegen und hilflos. Diese Augen! Er war bestimmt kein unerfahrener und schüchterner junger Mann, doch der Blick dieser Augen machte ihn fassungslos. Er begriff auf einmal seinen Vater. Sicher kannte der Regina! Oder er hatte ihr Foto gesehen.

Er drückte Reginas Hand fest und ließ sie fallen. Dann nahm er den Koffer auf. »Wir müssen gehen! Der Wagen steht draußen.« Regina hörte die Worte, doch sie begriff sie nicht. Das war Michael Lenz? Sie hatte den Sohn des Lenz-Bauern als einen jungen Burschen von etwa sechzehn Jahren in Erinnerung, der damals erhaben und mitleidig auf sie heruntergeblickt hatte. Der sich kaum um sie gekümmert hatte. Der also war nun Michael Lenz! Ihr Herz klopfte aus einer ihr unbekannten Erregung heraus, so heftig, wie sie es noch nie erlebt hatte. Wie groß und stattlich er geworden war! Ein erwachsener Mann! Und er war gar nicht mehr überheblich und spöttisch, sondern höflich und hilfsbereit. Sie ging neben ihm her und fand keine Worte, um das Gespräch fortzusetzen.

Er legte den Koffer auf den Rücksitz.

Dann öffnete er die Tür und ließ sie einsteigen.

Er blickte kurz auf ihre gepflegten, schlanken Hände. Mein Gott, was hatte sich sein Vater nur vorgestellt! Diese Hände sollten schwere Arbeit tun? Er lächelte. Was sich so ein Bauer nur vorstellt. Vater würde sich wundern. Er nahm Reginas linke Hand in die seine und hielt sie einen Augenblick vor sich hin. Diese Hand war nicht schwächlich, aber schwere Arbeit? Sie sah zu ihm auf. »Sind Sie enttäuscht?« Sie dachte das Gleiche wie er. »Ich kann gut und gern arbeiten. Ich habe zu Hause viel im Haushalt geholfen, gewaschen, gebügelt, gekocht …«

Er musste lächeln. Alles Dinge, die bisher Lena mit Stolz und Freude für sie getan hatte. Lena würde nicht glücklich sein, wenn jemand kam, der ihr diese Dinge abnehmen wollte.

Er legte die Hand mit einer sehr zarten Bewegung in ihren Schoß zurück. »Enttäuscht? Im Gegenteil. Ich freue mich. Ich habe nicht gewusst …« Er blieb stecken. Es war zu früh, zu sagen, was er sagen wollte. Er wollte sie nicht zurückschrecken. Sie brauchte nicht zu wissen, dass er sagen wollte: Ich habe noch nie so schöne, zarte und reizende Hände gesehen wie die Ihren!