Hekate - Thomas Lautwein - E-Book

Hekate E-Book

Thomas Lautwein

4,8

Beschreibung

Die Göttin Hekate gehört zu den "dunklen" Göttinnen. Als eine der ältesten vorpatriarchalen Erdgöttinnen wurde sie in der Antike von den Menschen leidenschaftlich verehrt, aber auch gefürchtet: Als Beherrscherin jeglicher Form von Magie konnte die "Hexengöttin" den Zugang zur Unterwelt eröffnen, den Kontakt zu Geistern, Gespenstern und Toten erlauben, als Orakelgottheit die Zukunft offenbaren, ihren Verehrern Macht und Reichtum gewähren. Der Hekate-Kult war in der Antike weit verbreitet, wurde aber stets geheimnisvoller und verborgener als der anderer Gottheiten gepflegt. Zu ihren Anhängern zählten nicht nur Hexen und weise Frauen, sondern auch Magier, Theurgen und neuplatonische Philosophen. Obwohl Hekate im christlichen Mittelalter dämonisiert und ihr Bild stark ins Negative verzerrt wurde, ist das Andenken an ihre herausragende Bedeutung nie völlig erloschen. In der Gegenwart scheint sich eine Korrektur ihrer Interpretation anzubahnen, die zur Wiederbelebung ihrer Verehrung führt. Die auf umfangreichem Quellenstudium beruhende Arbeit zeigt zunächst die Vielschichtigkeit dieser archetypischen Gestalt auf und zeichnet darüber hinaus ihr heimliches Fortleben in der Neuzeit nach.

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Thomas Lautwein

Hekate

Die dunkle Göttin

Erste Digitale Auflage 2012

Digitale Veröffentlichung: Zeilenwert GmbH

Copyright © 2009 by Edition Roter Drache.

Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Postfach 10 01 47,

D-07391 Rudolstadt.

[email protected]; www.roterdrache.org

Buch- und Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache.

Lektorat: Sabine Möbius.

© Bild Seite 365 by Voenix.

Alle Bilder stammen aus dem Archiv des Autors und des Verlags. Der Verlag hat sich bemüht, sämtliche Inhaber der Bildrechte zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch nachgewiesen werden, dass eine Rechtsinhaberschaft besteht, entrichten wir das branchenübliche Honorar nachträglich.

Gesamtherstellung: Bexx GmbH, Neuweiler.

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN: 9783944180007

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Wir stehen an einer Wegkreuzung

Die Realität der Götter

C. G. Jung: Das „kollektive Unbewusste“ und die „psychischen Teilsysteme“

Exkurs zum buddhistischen Weltbild

Die vier Gesichter der Göttin

Die Religion der Steinzeit

Erde, Unterwelt, Geisterwelt

Das Material: die antike Literatur

Teil I

Hekate in archaischer Zeit

Herkunft und Erscheinung

Kleinasiatische Sonnengöttinnen

Die Karer

Der Tempel in Lagina

Trimorphos - Das Rätsel der drei Gestalten

Frühe literarische Zeugnisse

Der Hekate-Hymnus in Hesiods „Theogonie“

Der eleusinische Demeter-Hymnus

Teil II

Hekate in der klassischen Literatur

Hekate in Athen

Hekate in der griechischen Tragödie

Die Hekatesien – Dunkelmond-Opfer am Kreuzweg

Kirke und Medea – die Hexen der Hekate

Kirke

Medea

Nekromantie und Unterweltreisen

Teil III

Hekate in der Spätantike

A) Griechische Zauberpapyri aus Ägypten:

Die Papyri Graecae Magicae

Große Anrufung der Selene (PGM IV, 2786 ff.)

Symbolik und Ritual

Die goldene und eherne Sandale der Hekate

Weihung von Statuen und Talismanen

Das Mantra der Hekate

Hekate als Orakelgöttin und Traumsymbol

Die Figuren der zweiten Kreiszone (Agrell, S. 88 - 109)

Die Figuren der dritten Kreiszone

Hermes und Hekate

Hermetische Theurgie

Die Iynx

Sophron

Verfluchungen

B) Hekate in der Orphik

Der orphische Hekate-Hymnus

Das orphische Argonautenepos

C)Hekate im Mithras-Kult, in den chaldäischen Orakeln und der neuplatonischen Theurgie

Die Neuplatoniker und die chaldäischen Orakel

Teil IV

Hekate in der Renaissance

Latenz und Wiedererscheinen der Göttin in der Renaissance

Erasmus von Rotterdam und der Hexenprozess von Orléans 1501

Thomas Middleton: The Witch

Shakespeare: Schicksals-Göttinnen

Teil V

Hekate in der Moderne und Gegenwart

Hekate-Iphigenie in Gerhart Hauptmanns

Atriden-Tetralogie

Iphigenie in Aulis

Iphigenie in Delphi

Das Nachleben einer Göttin: Lady Death

Hekate in der modernen Esoterik:

Crowley und Steiner

Crowley: Dark side of the moon

Rudolf Steiner: Weltenwunder, Seelenprüfungen & Geistesoffenbarungen

Crowleys Kinder: O.T.O., T.O.T.O, Ma’at

Im Zeichen der Ma’at

Hekate-Verehrung in der Gegenwart

„Sie veränderte mein Leben“

Rituale

Anhang

Literatur

Index

Der Autor

Vorab

Einleitung

Wir stehen an einer Wegkreuzung

Es erscheint heute als möglich, wenn nicht sogar unausweichlich, dass eine weitere Ausbreitung unserer technisch-industriellen Zivilisation die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit zerstört. Seit der Jungsteinzeit hat die Menschheit versucht, die Natur durch Technik zu beherrschen und sich vor ihrer Unberechenbarkeit zu schützen. Während die Technologie ständig neue Erfolge erzielt (die es irgendwann vielleicht ermöglichen werden, den eigenen Körper beliebig zu modfizieren, das Bewusstsein in einen virtuellen Raum zu übertragen und das Weltall zu besiedeln), wächst andererseits bei vielen Menschen die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Einheit mit der Natur – sei es einem ländlichen Leben wie vor der industriellen Revolution oder gar einer Jäger- und – Sammlerexistenz wie vor der neolithischen Revolution.

Die Zwiespältigkeit unserer heutigen Existenz macht sich auch sozial und ideologisch bemerkbar. Die gesellschaftliche Beziehung zwischen Mann und Frau wird neu verhandelt, wobei die seit 5000 Jahren geltende Vorrangstellung des Mannes (das Patriarchat) zunehmend in Frage gestellt wird. In Religion, Kunst und Wissenschaft sind „Frauenthemen“ in den letzten 50 Jahren vom Rand zunehmend in den Mittelpunkt gewandert, wie etwa die Diskussionen um ein ursprüngliches Matriarchat (matrizentrische Gesellschaft u. ä.) zeigen. Vor allem aber macht sich unterschwellig ein immer stärkeres Unbehagen an und in den monotheistischen (d. h. patriarchalen) Religionsformen bemerkbar. Die Formen, in denen sich heute ein neues Heidentum artikuliert, mögen oft genug unbeholfen und naiv wirken, entspringen aber offenbar dem dunklen Gefühl, dass in den letzten 2000 Jahren eine Möglichkeit religiösen und Natur-Erlebens unterdrückt, verfälscht oder verzerrt wurde, dass unserem Dasein eine Dimension fehlt, die es früher wohl einmal gegeben haben muss und nach nach der eine tiefe Sehnsucht besteht.

Mit einem Wort: Die GÖTTIN wird wieder zum Thema.

Für die Aktualität des Themas „Göttin“ gibt es ontologische und historische Gründe. Ontologie, als Analyse der menschlichen Existenz verstanden, wird uns zu der Einsicht führen, dass der Mensch nicht nur in abstrakten Begriffen denkt, sondern auch innere Bilder erlebt, die symbolische Bedeutung haben (sei es individuell oder kollektiv). Diese inneren Bilder werden von Polaritäten strukturiert, d. h. von Gegensätzen, die sich logisch gesehen zwar gegenseitig ausschließen, sich im LEBEN aber gegenseitig bedingen und ständig ineinander übergehen, wie Tag und Nacht, Licht und Schatten, Sonne und Mond. Eine der grundsätzlichen Polaritäten ist die von männlich und weiblich, die sich auf alle Lebensbereiche erstreckt. Mit Ludwig Klages können wir sie wie folgt skizzieren:

Empfängnisvermögen, unten, Ruhe, Dunkelheit, Erde, Raum, Nacht, Sterben, Zügelung, Innerung, ‚Herz’, links auf der einen Seite;

Zeugekraft, oben, Bewegung, Licht, Sonne, Zeit, Tag, Entstehen, Antrieb, Äußerung, ‚Kopf’, rechts auf der andern.1

Ursprünglich sind „männlich“ und „weiblich“ (chinesische gesproch: Yin und Yang) keine feindlichen Gegensätze, sondern sich ergänzende Pole:

Gleichgültig, ob wir unterscheidende Eigentümlichkeiten des Verhaltens im Paarungsvorgang oder sonstige Haltungsunterschiede beider Geschlechte zum Leitbild wählen, immer besteht auf männlicher Seite ein Übergewicht des Sichbewegens, Aussicherhausgehens, Kräfteverschwendens, auf weiblicher des Verharrens, Empfangens und Kräftebewahrens. Darnach entsprechen dem Männlichen: offenbarende Helle, Beweglichkeit, Schleuderkraft, aufrechte Lage, heraklitischer ‚Weg nach oben’, Gestaltung des Kommenden; dem Weiblichen: verhüllendes Dunkel, Ruhe, Ziehkraft, liegende Lage, heraklitischer ‚Weg nach unten’, Hang zum Gewesenen. Wird aber jede der beiden Seiten als Pol und nicht etwa als vereinzelbare Hälfte gefasst, so haben wir die sinnbildlich gemeinte Mannheit als durchdrungen vom Weiblichen vorzustellen, die Weiblichkeit als durchdrungen vom Männlichen. Die heute vollzogene Spaltung der Geschlechter dagegen in zwei einander bald befehdende und gebrauchende, bald leidenschaftlich suchende Parteien, ist nur die praktische Folge der nämlichen Lebenszerklüftung, (...) der Entbilderung und Atomisierung der Welt durch den rechnenden Willen zum Ausdruck kommt.2

In der Geistesgeschichte des Westens wurde das „weibliche“ Prinzip in den letzten 2500 Jahren zweifellos immer weiter zurückgedrängt, ja geradezu als Ursprung des „Bösen“ und Irrationalen verteufelt – mit fatalen Konsequenzen, die von der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen bis zur Naturzerstörung reichen. Im Bereich der Religion drückt sich die einseitige Dominanz des männlichen Prinzips in der Errichtung monotheistischer Strukturen mit ihren Priesterhierarchien aus.

Zweiter Grund: Seit Bachofen mehren sich die Zweifel an der naturgegebenen Vorherrschaft des Mannes. Die Erforschung unserer Ur- und Frühgeschichte lässt es zunehmend glaubhaft erscheinen, dass am Anfang der Menschheitsgeschichte eine Epoche stand, in der religiöse Funktionen überwiegend von Frauen ausgeübt wurden und die Verehrung nicht einem allmächtigen Vatergott galt, sondern einer großen Göttin, die mit der Natur in all ihren Aspekten gleichgesetzt wurde. Sie war war nicht nur die Große Mutter, in deren Händen Liebe und Geburt ruhen, sondern auch die Herrin der Dunkelheit und des Todes; sie war unten und oben, Himmel und Erde. Diese ursprüngliche Einheit wurde dann in der Jungsteinzeit und Bronzezeit aufgespalten in eine Polarität von weiblicher Erde und männlichem Himmel, bis die neuen Himmelsgötter schließlich ganz die Macht an sich rissen und die Göttinnen als Gemahlin oder Tochter von sich abhängig machten. Die Geschichte des Abendlandes lässt sich so als gigantischer Verdrängungsprozess beschreiben, an dessen Ende die Dämonisierung der Göttin als Hexe oder ihre Reduktion auf eine bloß dienende Funktion erfüllt (wie wir dies etwa sehr gut am Beispiel des katholischen Marienkultus sehen können). Die abgespaltenen und verdrängten Aspekte lösen sich aber nicht einfach in nichts auf, sondern bleiben im kollektiven Bewusstsein latent vorhanden und drängen immer wieder nach oben, wobei sie, da sie nicht erkannt und akzeptiert werden können, Angst auslösen.

Einer dieser Aspekte, die ursprünglich ein Gesicht der Göttin waren, ist die Gestalt der Todes- und Hexengöttin. Bevor wir uns aber näher mit den vier Gesichtern der Göttin beschäftigen, wollen wir uns zunächst einmal der grundsätzlichen Frage zuwenden, was denn Götter eigentlich sein sollen – und wozu man sich im 21. Jahrhundert noch mit ihnen beschäftigen soll.

C. G. Jung: Das „kollektive Unbewusste“ und die „psychischen Teilsysteme“

In seinem Kommentar zu dem taoistischen Text „Das Geheimnis der goldenen Blüte“ definiert C. G. Jung das „kollektive Unbewusste“ als ein „gemeinsames Substrat“, das aus „latenten Dispositionen zu gewissen identischen Reaktionen“ besteht: „Die Tatsache des kollektiven Unbewussten ist einfach der psychische Ausdruck der Identität der Gehirnstruktur jenseits aller Rassenunterschiede. Daraus erklärt sich die Analogie, ja sogar Identität der Mythenmotive und der Symbole und der menschlichen Verständnismöglichkeit überhaupt. Die verschiedenen seelischen Entwicklungslinien gehen von einem gemeinsamen Grundstock aus, dessen Wurzeln in alle Vergangenheit hinunterreichen.“4

Im kollektiven Unbewussten existieren nun „psychische Teilsysteme“, die, je komplizierter sie sind, umso mehr Persönlichkeitscharakter haben:

Sie sind eben auch Konstituenten der psychischen Persönlichkeit und müssen darum Persönlichkeitscharakter haben. Solche Teilsysteme finden sich namentlich bei Geisteskrankheiten, bei den psychogenen Persönlichkeitsspaltungen (...) und ganz gewöhnlich bei den mediumistischen Phänomenen. Auch bei religiösen Phänomenen sind sie zu finden. Darum sind viele der früheren Götter aus Personen zu personifizierten Ideen und schließlich zu abstrakten Ideen geworden, denn belebte unbewusste Inhalte erscheinen stets zuerst als nach außen projiziert und werden im Verlauf der geistigen Entwicklung via Raumprojektion vom Bewusstsein allmählich assimiliert und zu bewussten Ideen umgestaltet, wobei letztere ihren ursprünglich autonomen und persönlichen Charakter einbüßen. Einige der alten Götter sind bekanntlich via Astrologie zu bloßen Eigenschaften geworden (martialisch, jovial, saturnin, erotisch, logisch, lunatic usw.). 5

Das Bewusstsein versucht also ständig, die psychischen Teilsysteme zu abstrahieren und zu rationalisieren, um sie beherrschbar zu machen und dem abstrakten Gott des Monotheismus zu unterwerfen. Nach Jungs Ansicht ist es insbesondere dem Christentum nicht gelungen, die die „Götter“ wirklich zu überwinden:

Unsere wahre Religion ist ein Monotheismus des Bewusstseins, eine Bewusstseinsbesessenheit mit fanatischer Leugnung der Existenz von autonomen Teilsystemen. Darin unterscheiden wir uns aber von den buddhistischen Yogalehren, dass wir sogar die Erfahrbarkeit von Teilsystemen leugnen. Darin liegt eine große psychische Gefahr, denn dann verhalten sich die Teilsysteme wie irgendwelche verdrängten Inhalte: sie bringen zwangsläufig falsche Einstellungen hervor, indem das Verdrängte in uneigentlicher Form wiederum im Bewusstsein erscheint. Diese in jedem Neurosenfall in die Augen springende Tatsache gilt auch für die kollektiven psychischen Erscheinungen. Unsere Zeit begeht in dieser Hinsicht einen fatalen Irrtum; sie glaubt nämlich, religiöse Tatsachen intellektuell kritisieren zu können. (…) Man vergisst dabei völlig, dass der Grund, warum die Menschheit an den ‚Daimon’ glaubt, gar nicht mit irgend etwas Äußerem zu tun hat, sondern einfach auf der naiven Wahrnehmung der gewaltigen, inneren Wirkung autonomer Teilsysteme beruht.6

Eine bloße Leugnung der psychischen Teilsysteme führt dazu, dass sie unbewusst nach außen projiziert werden. Im christlichen Bezugssystem werden sie dann als „Satan“ oder „Dämonen“ bezeichnet und mit großem Aufwand exorziert, ohne doch jemals völlig besiegt zu werden. In anderen Ideologien kann eine beliebige Gruppe als Projektionsfläche gewählt werden (Juden, Freimaurer, Illuminaten, Aliens), deren „bösem Willen“ eine weltweite Verschwörung unterstellt wird – kurz, es kommt zu kollektiver Wahnbildung, und destruktiven Massenpsychosen, die durchaus Kriege und Revolutionen auslösen können. Mit Jungs Worten:. „Die Götter sind Krankheiten geworden.“7

Ein Aspekt des kollketiven Unbewussten ist die Anima, das Ur-Weibliche:

Die tiefere Introspektion oder die ekstatische Erfahrung enthüllt die Existenz einer weiblichen Figur im Unbewussten, daher die weibliche Namengebung Anima, Psyche, Seele. Man kann die Anima auch definieren als Imago oder Archetypus oder Niederschlag aller Erfahrungen des Mannes am Weibe. Darum ist das Animabild auch in der Regel in die Frau projiziert.8

Nach Jungs Auffassung nimmt die Anima für jeden Mann eine besondere Gestalt an, so wie umgekehrt jede Frau einen Animus in sich trägt. Können Animus und Anima nicht richtig integriert werden, weil die herrschende Religion etwa bestimmte Aspekte von Weiblichkeit unterdrückt und tabuisiert, werden begreiflicherweise Anima-Projektionen entstehen, die angstbesetzt, aber auch gleichzeitig faszinierend sind. So wird etwa in der Offenbarung des Johannes von der reinen, keuschen Muttergöttin Maria die scharlachrote „Hure Babylon“ abgespalten. Auch Göttinnen wie Venus, Hekate und Diana wurden in den Untergrund abgedrängt, wo sie, wie wir wissen, dort das ganze Mittelalter über rumorten.

Da das Christentum unfähig ist, die archetypischen Bilder zu integrieren, prophezeite Jung 1928 ein Zunehmen von individuellen Symbolbildungen:

Diese seit uralters bestehende Symbolfunktion ist auch heute noch vorhanden, obschon die Entwicklung des Geistes seit vielen Jahrhunderten danach strebte, die individuelle Symbolbildung zu unterdrücken. (…) Die christliche Epoche hat bekanntlich Außerordentliches geleistet in der Unterdrückung der individuellen Symbolbildung. In dem Maße, als die Intensität der christlichen Idee abzublassen beginnt, darf man auch ein Wiederaufflackern der individuellen Symbolbildung erwarten. Die geradezu ungeheure Sektenvermehrung seit dem 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der ‚Aufklärung’, dürfte ein entsprechendes Zeugnis dafür sein.9

Inzwischen sind 80 Jahre vergangen, und rückblickend darf man wohl sagen, dass Jungs Prophezeiung sich erfüllt hat, obwohl Jung die Entstehung der modernen Hexenbewegung nach dem 2. Weltkrieg, den Zen- und Yoga-Boom seit den 1960er Jahren und die kommerzialisierte Vulgäresoterik der letzten vier Jahrzehnte nicht voraussehen konnte. Die Religionssoziologie spricht heute abschätzig von einer „Patchwork-Spiritualität“, um das zu bezeichnen, was Jung „individuelle Symbolbildung“ nannte. Der Begriff „patchwork“ suggeriert dabei, dass heterogene Elemente wahllos zusammengeklaubt werden, was bei manchen Zeitgenossen sicherlich der Fall sein mag. Es sollte jedoch nicht unterschätzt werden, dass in vielen Fällen tatsächlich eine Wiederentdeckung bislang verschütteter und unterdrückter Symbole stattfindet, was sich dann eben in dem Gefühl äußert, von „Göttern“ ergriffen zu werden und natürlich eine hochemotionale Angelegenheit ist.

Exkurs zum buddhistischen Weltbild

Jung meint, der Buddhismus habe bei dem Umgang mit Teilsystemen einen Vorteil. Damit hat er durchaus Recht, da der Buddhismus nicht denselben Zwängen unterliegt wie monotheistische Religionen.

Nach buddhistischer Auffassung existieren Götter real als Wesen in Samsara; ihre Existenz ist, wie bei allen Lebewesen, bedingt durch Karma. Ein Dasein als Gott ist das Resultat positiven Handelns und Denkens, das jedoch immer noch durch die grundlegende Unwissenheit über die wahre Natur der Realität getrübt ist. Großherzigkeit und meditative Versenkung sind karmische Ursachen, um ein Gott zu werden; da diese Zustände auch für Menschen erfahrbar sind, kann es Kontakte zwischen Menschen und Göttern geben. Wir alle sind schon einmal Götter gewesen, die jetzigen Götter werden im Kreislauf von Samsara eines Tages auch wieder als Menschen geboren werden.

Die buddhistische Welt gliedert sich in drei Bereiche: einen grobstofflichen, der von groben Leidenschaften regiert wird, einen feinstofflichen und einen unstofflichen (kamadhatu, rupadhatua, arupadhatu). Die uns begegnenden Götter gehören meistens wie wir zum Begierdebereich und sind daher recht menschenähnlich, schwerer ist es schon, zu den Welten der reinen Form und der Formlosigkeit vorzudringen (letztere lässt sich beispielsweise erreichen, wenn man sehr lange nur über den leeren Raum oder die Unendlichkeit des Bewusstseins meditiert).

Kurz: Götter sind im Buddhismus nicht absolut, sonder relativ, nicht noumena, sonder phainomena. Einige Götter haben sich vom Buddha belehren lassen und sind auf dem Weg zum Erwachen (wie die vier großen Könige der Weltrichtungen), daher können Götter auch als Sangha und verehrungswürdig betrachtet werden. Ebenso ist es möglich, dass ein Mensch vor dem Erlangen des Pari-Nirwana noch einmal in einem Götterbereich wiedergeboren wird, dort letzte subtilste Hindernisse bereinigt, bevor er Erleuchtung erlangt. Diese Möglichkeit gilt im „kleinen Fahrzeug“ etwa für den „Nicht-Wiederkehrer“, der die Arhatschaft erst in einer Götterexistenz erlangt. Dieser Gedanke wurde im „großen Fahrzeug“ mit besonderer Vorliebe ausgebaut, so befinden sich die meisten großen Bodhisattvas ab der ersten Bhumi (Erde) in Götterbereichen, die von ihnen zu „reinen Bereichen“ ausgebaut wurden. So konnte der Buddhismus in Indien die Hindu-Götter ohne größere Probleme in sein Pantheon aufnehmen und sich in Tibet, China und Japan an die dortigen Gegebenheiten anpassen; andererseits konnten die Bodhisattvas des Mahayana die Attribute der Hindu-Gottheiten assimilieren. Im tantrischen Buddhismus verfiel man schließlich gar auf die Idee, dass es zur Erweiterung des Bewusstseins sinnvoll sein könnte, sich selbst meditativ mit einer solchen Bodhisattva-Gottheit zu identifizieren, wobei man sich aber stets der grundsätzlichen Leerheit aller Erscheinungen bewusst bleibt.

Die vier Gesichter der Göttin

Aus buddhistischer Sicht wäre daher nichts Ungewöhnliches daran, dass in einer Welt, in der es eine Zweiteilung in männlich und weiblich gibt, auch Götter und Göttinnen existieren. Da es verschiedene Aspekte von Männlichkeit und Weiblichkeit gibt, wird es folglich wohl auch verschiedene Göttinnen geben, die verschiedene Aspekte von Weiblichkeit verkörpern. Wie lassen sich diese systematisieren?

Der Mensch erlebt sich ursprünglich als Teil einer Landschaft. In dieser gibt es ein Oben und ein Unten, vier Himmelsrichtungen und eine Mitte. Die Himmelsrichtungen haben bestimmte Eigenschaften, die von Kontinent zu Kontinent, von Kultur zu Kultur verschieden sein können. Universell ist aber der tägliche Lauf der Sonne am Himmel: vom Aufgang am Morgen über den Höchststand am Mittag bis zum Untergang am Abend und der Verborgenheit in der Nacht. Ähnliches gilt für den Mond, der innerhalb von 29 Tagen vier Phasen durchläuft. Der Mensch steht im Mittelpunkt dieser vier Kardinalpunkte und zwischen oben und unten. Die vier Himmelsrichtungen können nun beispielsweise mit folgenden symbolischen Korrespondenzen verbunden werden (nach Wolf-Dieter Storl, Naturrituale, S. 72 - 74):

• Osten: Aufgehendes Licht, taufrischer Morgen, Frühling, Ostara, Werden, Heilen, Erscheinen, China: grüner Drache, Christen: Raphael, göttlicher Heiler – Göttin als junges Mädchen

• Süden: Mittagssonne, Sommer, Wärme, Zenith, volle Entfaltung, Belenos, Baldur, Lukas-Stier, China: zinnoberroter Phönix, Göttin als Frau

• Westen: Sonnenuntergang, Abend, Herbst, Ernte, Abstieg, Untergang, Tod, Avalon, Totenreich, China: weißer Tiger, Alter, Austrocknen, Lugh, Michael (Drachentöter), Markus-Löwe, Göttin als alte Frau/Mutter.

• Norden: Kälte, Finsternis, Winter, Tod, Stille, Meditation, Weisheit, Klarheit des Geistes, Riesen, Hel. Polarstern, Kailash, China: Schwarze Schildkröte (Urchaos). Johannes-Adler

• Oben: Himmel, Devas, leuchtende Gottheiten

• Unten: Unterwelt, inneres Licht der Erde, Erdgöttin, Frau Holle, Götterwiese, untere Großmutter (Cheyenne), Reich unter den Pflanzenwurzeln,

• Mitte: Midgard, Herz, Essenz, Menschen, Buddha, Shiva, Thron des Kaisers (China)

Wie wir sehen, wird die Vierteilung der horizontalen Menschenwelt ergänzt durch eine Dreiteilung der Welt in Oberwelt, Unterwelt und Himmel; die Achse bzw. Verbindung zwischen den Ebenen bildet in vielen Mythologien ein Weltenbaum (z. B. die Weltesche Yggdrasil). Dieses schamanische Weltbild ist wohl die älteste und ursprünglichste Kosmologie des Menschen.

Die Göttin, deren Verehrung vermutlich am Anfang menschlicher Kultur und Religion stand, müsste also vier Gesichter haben. In den heute verbreiteten Hexenkulten, insbesondere in den Strömungen, die unter der Bezeichnung „Wicca“ laufen, ist aber meist nur von drei Gesichtern die Rede: Die Göttin erscheint als junges Mädchen (zunehmender Mond), als vollerblühte reife Frau (Vollmond) und als alte, weise Frau (abnehmender Mond). Dies erscheint auch insofern plausibel, als sich das Jahr in eine Phase der Empfängnisbereitschaft (Frühling), eine Zeit der Trächtigkeit-Fruchtbarkeit (Sommer, Herbst) und eine Phase der Unfruchtbarkeit (Winter) einteilen lässt. Außerdem lassen sich eine weiße, schwarze und rote Erscheinungsform der Göttin ausmachen.

Es gibt jedoch schwerwiegende Einwände gegen die heutzutage beliebte Dreiteilung, die sich sowohl aus natürlichen Gegebenheiten als auch aus dem mythologischen Material ergeben. Zum einen gibt es bei den Mondphasen nicht nur drei, sondern vier Phasen: zunehmender und Vollmond, abnehmender und Neumond (Dunkelmond, Schwarzmond). Die Menstruation der Frau, die wohl mit dem Mondzyklus in Verbindung steht, lässt ebenfalls vier Phasen erkennen:

1. Präovulatorische Phase oder Ei-Reifung.

2. Ovulationsphase, beginnend mit dem Eisprung.

3. Prämenstruelle Phase, Abfall von Gelbkörperhormon und Östrogen.

4. Menstruelle Phase.

Wie Jutta Voss zu Recht kritisiert, herrscht eine weitverbreitete Tendenz, die menstruelle „Dunkelmond“-Phase zu vernachlässigen. Sie schreibt:

Die allgemeine Verwirrung der Mythologen über die Vier- und Dreiteilung scheint der Verwirrung der Mediziner beim ovariellen und uterinen Zyklus zu entsprechen. Mythologen vergessen den Schwarzmond als eine selbständige Phase. (…) Auch die matriarchale Forschung macht diesen kurzschlüssigen Denkfehler. Sie ordnet dem zunehmenden Mond das Mädchen Kore zu; dem Vollmond gehört die gebärende Mutter, und zum abnehmenden Mond gehört dann die weise Alte, die Hekate oder Kali. Wie bei den Menstruationsphantasien der Psychiater fällt auch hier die Schwarzmondphase einfach unter den Tisch. Das ist umso erstaunlicher, als auf allen uns erreichbaren Bildern früherer Kulturen genau dieser Schwarzmond als liegende Mondsichel das Symbol für die Göttin ist. Die Schwarzmond-Menstruationsphase wird als die Phase der Göttin einfach nicht wirklich wahrgenommen. Die einfache Parallelität von Mondphasen und Zyklusphasen, auch die von Mondphasen und Göttinnen-Gestaltungen ist zu kurzgeschlossen.10

Auch die Sonne, die in vor-patriarchalischer Zeit ebenfalls als Göttin gesehen wurde, durchläuft im archaischen Weltbild vier Phasen: Sonnenaufgang im Osten, Höchststand an Mittag im Süden, Untergang im Westen und nächtliche Reise unter der Erde hindurch nach Osten, wobei sie an Mitternacht genau im Norden steht. In der griechischen Mythologie fällt uns zudem auf, dass Aphrodite keineswegs als „rote“ Göttin bezeichnet wird, wie man erwarten könnte, sondern schon bei Homer konstant „die Goldene“ genannt wird. Pythagoras soll gesagt haben, dass die vier weiblichen Lebensalter nicht umsonst nach vier Göttinnen benannt seien: Die Jungfrau heißt Kore, die junge Frau Nymphe, die Mutter Meter, die Großmutter Maia (Iamblich. De vita Pyth., 56).

Wesentlicher als solche Stellen aus der spätantiken Literatur ist jedoch die psychologische Tatsache, dass Menschen die vier Gesichter der Göttin auch heute noch erleben – in Visionen, Tagträumen, Offenbarungen (oder Comics). Ein sehr überzeugendes Beispiel hierfür sind die „Visionen der vierfachen Göttin“ der Kölner Ärztin Bärbel Kreidt, die 1988 eine Visionssuche in der kalifornischen Wüste unternahm und dort nach dreitägigem Fasten von einer Serie archetypischer Bilder überschwemmt wurde, die sich schließlich als die vier Gesichter der Göttin erwiesen.

Zunächst erschien ihr, aus dem Süden kommend, die Goldene (die Liebesgöttin):

Über mir auf einmal ein atemberaubender Anblick: die feurige, ekstatische Göttin, ganz in Gold gekleidet, die Arme hoch erhoben, den Kopf in den Nacken geworfen. Das Gesicht schaut zur Seite. Sie lacht, freut sich unglaublich. Über und über ist sie mit Sternen geschmückt, so dass sie von innen und außen glüht, leuchtet, sprüht. Es sieht aus, als tanze sie fortwährend über den Himmel. Sie liebt ihren Körper, sich selbst, die Liebe, die Männer – das Leben. Ihr Anblick ist überwältigend schön. Die Göttin der Liebe. Sie sagt, sie liebt mich und ich könnte sie jederzeit rufen.11

Als nächste erscheint aus dem Westen eine tiefschwarze, isisartige, verschleierte Gestalt, die folgende Erklärung abgibt:

Ich bin die Göttin, die alle Rätsel löst (…) Ich löse alle Rätsel, weil ich alles weiß. Die Goldene hat mich zu dir geschickt. Jeder Mensch muss mich wenigstens einmal im Leben anschauen. Verschleiert, weil unverschleiert mein Anblick unerträglich ist. Aber wer Wissen sucht, kann mich bitten, meinen Schleier zu heben.

Als die Gestalt schließlich auf Kreidts Bitten hin ihren Schleier lüftet, bietet sich ein Bild des Grauens, wie es in Indien von Kali verkörpert wird:

Ihr Gesicht! Das namenlose Grauen, das Entsetzen, Tod, Krieg, Krankheit, Gemeinheit, Folter aller Zeiten und der ganzen Welt sind darin zu sehen. Ich höre das Schreien, das Weinen, die Verzweiflung. Es kommt einfach aus ihrem Gesicht. Ein Gesicht – steinalt, alterslos. Ein Urbild von Hässlichkeit. Unfassbar. Mit Augen, die sich vor nichts verschließen. Ich nehme das in mich auf und höre noch ihre Stimme, die mir sagt, es komme darauf an, sie nicht nur zu ertragen, sondern zu lieben. Ich könne zu ihr kommen, wann immer ich wolle.

Die dritte Gestalt kommt aus dem Norden und verkörpert Eigenschaften, wie wir sie von Artemis und Athene kennen:

Wieder später. Ich entdecke die dritte. Die Göttin des Nordens. Sehr schön, wieder anders und ebenfalls vertraut. Ihre Gestalt ist hoch und schlank, eine einzige Verkörperung von Stolz, Willen, Mut und kühler Überlegung. Sie trägt einen weichen, rehbraunen Lederanzug. Sehr sinnlich und gleichzeitig deutlich ein Kämpferinnenanzug. Die Arme sind nach beiden Seiten ausgestreckt; wie ein lebendes Kreuz steht sie da; zugänglich, aber mit spürbaren Grenzen, die niemand ungestraft überschreiten wird. Auch sie trägt Sternenschmuck; ein Stern in jeder Handinnenfläche, auf den Fußrücken und einen auf dem Scheitel. Klar, geordnet, kühl, entschlossen. Gefährlich, wenn es sein muss, und niemals im Gefühlschaos. Göttin der Amazonen.

Ganz zum Schluss erscheint der Seherin schließlich eine entfernte, starre weiße Gestalt, die sie so beschreibt:

Schließlich sehe ich die vierte, weit entfernt im Osten. Die ganze Erscheinung weiß. Ein langes, weißes Gewand, das Haar lang und weiß wie bei einer Greisin. Trotzdem scheint sie die Jüngste von allen zu sein. Als einziger Schmuck auf ihrer Stirn ein Stern. So weit, wie sie am Himmel von mir entfernt steht, so fremd ist mir auch ihr Wesen. Auch sie strahlt Ruhe, Gelassenheit und Unerreichbarkeit aus, aber anders als bei der Schwarzen. Wenn ich das einigermaßen treffend kennzeichnen soll, dann als Unschuld mit hohem Wissen – eine unbeschreibliche Mischung.12

Aus diesem Erfahrungsbericht wird bereits deutlich, dass das vierte Gesicht der Göttin am schwersten zu erfassen ist, auch wenn es unverkennbar ist. Wenn wir versuchen, die vier Göttinnen zu einem Muster zu abstrahieren, ergeben sich vier Göttinnen-Familien, die jeweils mit einer Himmelsrichtung, einer Tageszeit, einer Mondphase, einer Menstruationsphase, einer Jahreszeit, einem Element verbunden sind.

1. Osten - Luft: Die Göttin erscheint als junges Mädchen oder Jungfrau, Lichtbringerin, Sonnenjungfrau, Frühlingskönigin. Morgendämmerung, zunehmender Mond. Brigid, Hathor, Ischtar/Astarte, Aphrodite, Arianrhod, Vajrayogini. Gold

2. Süden - Feuer: Die Göttin erscheint als Mutter, liebevoll beschützend oder festhaltend-verschlingend. Mittag, Vollmond, Mittsommer. Maria, Isis, Demeter, Kybele, Tara, Rhea. Rot.

3. Westen - Wasser: Die Göttin erscheint als weise Alte, Ratgeberin und Führerin, oder als destruktive, dämonische Hexe. Abend, abnehmender Mond, Herbst. Ceridwen, Göttin des Meeres, Baba Yaga, Frau Holle, Frigga, Athene. Weiß.

4. Norden - Erde: Die Göttin erscheint als Ahnin, Todesbotin, Zerstörerin, Spenderin der Wiedergeburt, geschmückt mit Schädeln und Knochen als starre, weiße Gestalt, Herrscherin der Unterwelt. Nacht, Dunkelmond, Winter. Hela, Hekate, Ereschkigal, Morrigan, Ankou, Giltine, Kali, Santa Muerte, Lady Death, Death. Schwarz/weiß.13

Selbstverständlich sind diese vier Grundtypen nicht scharf von einander abgetrennt, sondern fließen ineinander. So kann die gütige Mutter leicht zur dämonischen Verschlingerin werden, und die Todesgöttin kann als unschuldiges junges Mädchen auftreten (wie z. B. in Neil Gaimans „Sandman“-Epos). Wir haben es schließlich nicht mit mathematischen Funktionen zu tun, sondern mit Symbol-Bildern, die ähnlich ambivalent sind wie Traumsymbole. Daher kann die Zuordnung der Farben, Himmelsrichtungen und Symboltiere variieren, wie wir dies auch in der Mythologie feststellen können.

Hekate, mit der wir uns im Folgenden befassen wollen, ist unseres Erachtens eine Ausprägung des vierten Göttinnen-Aspekts. Dabei werden wir versuchen, ihren ambivalenten Charakter herauszuarbeiten und gegen die gängige Auffassung polemisieren, dass Hekate eine Mondgöttin sei – wenn sie mit dem Mond in Verbindung steht, dann allenfalls mit dem Dunkelmond. Die Fixierung auf die „Mondgöttin“ Hekate verhindert jedoch, ihr ursprüngliches Wesen als Erd- und Sonnengöttin zu erkennen. Die Mondgöttin Hekate ist ein eher sekundärer Aspekt, wie sich im Folgenden, wie wir hoffen, noch zeigen wird.

Hekate verkörpert den Tod, aber auch die Geburt, ist der personifizierte Übergang, die Herrin der Kreuzwege, die unfruchtbare Zeit, in der sich aber unsichtbar schon das neue Leben vorbereitet, die Einweiherin und Entsühnerin, das Tor zur Unterwelt. Sie ist verwandt mit all den „weißen Frauen“, die in der europäischen Folklore als Todesbotin und Zerstörerin/Erneuerin auftreten, wie z. B. die keltische Morrigan, die germanische Hel, die litauische Giltinè oder die bretonische Ankou. Nach Meinung von Marija Gimbutas stammen alle diese Göttinnen von dem Typus der steinzeitlichen „starren weißen Frau“ ab, der in zahlreichen Gräbern gefunden wurde:

Ein ganz eigener Typus in der Skulpturenkunst ist die Nackte mit verschränkten oder anliegenden Armen, übergroßer Vulva, langem Hals, kaum angedeuteten Gesichtszügen oder Gesichtsmaske und Polos oder Diadem. Sie ist stets in Marmor, Alabaster, Bernstein, Knochen, hellem Stein oder Ton gearbeitet. Der helle Farbton ist die Farbe von Knochen und damit auch die Farbe des Todes. Im europäischen Volksglauben gibt es bis heute die Vorstellung vom Tod in Gestalt einer großen, weißgekleideten Frau mit knochendürren Beinen. Zweifellos stammt dieses Bild aus dem alten Europa, wo der Tod weiß war wie Knochen und nicht schwarz wie der furchterregende, indoeuropäische Gott des Todes und der Unterwelt. (…) Die meisten starren Nackten aus dem Neolithikum, der Kupferzeit und der Frühbronzezeit wurden in Gräberfeldern oder Einzelgräbern gefunden, da diese Art von Statuetten als Grabbeigaben fungierten.14

Die wichtigsten Symbole der Todesgöttin sind unheilverkündende Vögel wie der Geier, die Eule, der Kuckuck, der wilde Eber, die Schlange und der Jagdhund sowie der trockene Knochen. Wir werden sehen, was davon sich bei Hekate wieder findet.

Die Religion der Steinzeit

Die Forschungsergebnisse von Marija Gimbutas haben unseren Blick auf die Tatsache gelenkt, dass die Wurzeln aller heutigen Religionen, aller Götter und Riten, in der Steinzeit liegen. Denn in dieser Zeit begann der Mensch erstmals, Tote zu bestatten, Rituale durchzuführen und Magie zu üben. Eine Rekonstruktion des steinzeitlichen Weltbildes ist daher anthropologisch, religionsgeschichtlich und psychologisch von hohem Interesse.

Eine behutsame Rekonstruktion der steinzeitlichen Glaubenswelt unternimmt Ina Mahlstedt in ihrem Buch „Die religiöse Welt der Jungsteinzeit“ (2004 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienen); ihre Erkenntnisse sollen im Folgenden zusammengefasst werden.

Der Mensch der Alt- und Mittelsteinzeit war Jäger und Sammler, erst in der Jungsteinzeit erfolgt der Übergang vom Nomadenleben zur Sesshaftigkeit und zum Ackerbau. In Verbindung mit der Agrikultur wird die Beobachtung der Gestirne und die Bestimmung des Jahreszeitenzyklus immer wichtiger, was dazu führt, dass die ursprüngliche Verehrung von Ahnengeistern und Tiergeistern durch einen ausgeprägten Sonnen- und Gestirnkult ergänzt wird (Stonehenge, Planeten identifiziert mit Göttern).

Erde und Himmel bilden eine Polarität, wobei die Erde als weiblich, der Himmel als männlich gesehen wird. Die Erde ist ambivalent, einerseits die große Mutter, andererseits die große Verschlingerin:

Denn im zyklischen Vegetationskreislauf steht ihrem Leben gebenden Aspekt gleichwertig eine zum Tode führende Kraft gegenüber. Als Magna Mater war sie Mutter des Lebens und des Todes. Andere weibliche Gottheiten, wie sie heute noch in Indien als Anba, Durga, Kali oder Shakti verehrt werden, wurden als Personifikation der Ur-Energie verstanden, die das Leben rhythmisch entstehen und vergehen lässt. (Mahlstedt, S. 56).

Der Himmel verkörpert hingegen Ordnung und Zeugungskraft, sein Regen wird daher als Samen verstanden, der die Erdmutter schwängert und befruchtet. Der tägliche Sonnenuntergang sowie die kürzere Sonnenscheindauer im Winter werden als zyklischer Tod des Sonnengottes, als Unterweltsfahrt oder als Wechsel von Sommer- und Wintergott verstanden. Symboltier des männlichen Himmelsgottes ist hauptsächlich der Stier, seine Paarung mit der Erdgöttin wird alljährlich vom König, Stammesfürst, Clanchef und der Hohepriesterin (oder Königin) stellvertretend vollzogen; die Legitimität des männlichen Anführers bedarf anfangs der Bestätigung durch die Göttin und ihre Priesterinnen.

So bewegt sich das Leben in einem ewigen Kreislauf von Leben und Sterben; das Leben läuft auf den Tod zu, während sich im Tod schon wieder kommendes Leben ankündigt. Für den Menschen der Jungsteinzeit

war der Tod das Geheimnisvollste, weil nur er das Leben wiederkehren lassen konnte… Der Tod ist im Neolithikum die geheimnisvollste und mächtigste Kraft des Daseins. Er ist der geheimnisvollste Magier, da er den Tod in Leben zu verwandeln vermag. Es ist dieser Gedanke – nämlich die existentielle Bedeutung des Todes für die Erhaltung und Weitergabe des Lebens – der den Archäologen und Religionswissenschaftlern bislang entgangen ist… man hat sich nicht vorstellen können, dass man den Tod als schöpferische Kraft erfuhr. (62 - 63)

Ausdruck solcher Vorstellungen sind die zahlreichen Mythen, in denen die Entstehung der Welt aus der Tötung und Zerstückelung eines Ur-Wesens erklärt wird oder das Opfer eines jungen Lieblings der Göttin notwendig ist, um die Fruchtbarkeit der Erde zu sichern. So wird der Himmel etwa als steinerne Kuppel gedacht, die von einem Helden mit einem Hammer, einer Axt oder einem Vajra (Indra in Indien) zerschlagen wird. Der Stein erscheint geradezu als Manifestation von Schöpferkraft, was sich in zahllosen Steinkulten ausdrück, die auf der ganzen Erde verbreitet sind. Die Geburt des Mithras aus einem Stein ist ein später Widerhall solcher Vorstellungen.

Voraussetzung für neues Leben ist der Tod eines (anfänglich sicherlich freiwilligen) Opfers: die Zerteilung von Kornpuppen, deren Stücke über die Felder verstreut werden, sind ein schwacher Rest solcher ursprünglichen Menschenopfer. Der Mythos von Osiris und Seth spiegelt keinen Mord wieder, sondern ein Kultopfer, das Fruchtbarkeit erzeugt (aus Osiris’ Leib wachsen Pflanzen) – woraus übrigens auch folgt, dass Gott Seth in diesem Mythos nicht einfach nur der „Böse“ sein kann. „Die Zerstückelung eines Urzeitwesens und das daraus Hervorgehen von Kulturpflanzen und Tier ist ein weltweites Mythologem.“ (S. 72). Der Opfertod wird als Hochzeit mit dem Gott oder der Göttin gefeiert, das Opfer wird selbst vergöttlicht und als Bote zu den Göttern geschickt. Teilweise scheinen die Opfer auch lebendig begraben worden zu sein, was man noch aus einer Koranstelle herauslesen kann (Sure 81,7 - 10), die einen vorislamischen Brauch verurteilt.

Das Jenseits ist für den Menschen der Jungsteinzeit kein Ort des Schreckens und auch kein statischer „Himmel“, sondern ein Ort der Wandlung und Entstehung: „Die neolithische Jenseitswelt hatte überhaupt nichts Furchtbares. Es war eine geheimnisvolle, kraftvolle Landschaft, eine entlegene Gegend, in der Einsamkeit, Leere und Kargheit sichtbar wurden. In den Mythen ist sie oft durch Tore, Türen oder Mauern von der Lebenswelt der Menschen getrennt.“15 Beispiele sind die Insel Tirnanog oder das Gebirgsland Maschu im Gilgamesch-Epos. Dieses Jenseits konnte in schamanischen Jenseitsreisen rituell besucht werden, Kultorte und Gräber waren Zugangspforten zur Unterwelt (so noch bei Vergil im sechsten Gesang der Äneis).

Dieses Weltbild kreist um die Gestalt der Göttin, die als Erdgöttin die beiden scheinbar widersprüchlichen Aspekte von Fruchtbarkeit und Vernichtung verkörpert. Nun gibt es in der Steinzeit, wie wir aus den Grabungsfunden wissen, zwei Arten von Göttinnen: zum einen ausgesproche üppige, ausladende Göttinnen, die auf Sitzen thronen und von Löwen begleitet sind, zum anderen dürre, starre Gestalten, die aufrecht stehend die Arme vor der Brust verschränken. Gimbutas deutete letztere als Verkörperung des Mangels und der Angst vor Dürre, Tod usw. Mahlstedt widerspricht und deutet diese „starren Nackten“ als Ausdruck für die Kraft des schöpferischen Todes“16 , die vielmehr die Fähigkeit zur Regeneration verkörpern. Die beiden Göttinnen-Typen würden also die beiden Aspekte der Erd-Göttin verkörpern: in zyklischem Wechsel Mutter und Mörderin zu sein.

Erde, Unterwelt, Geisterwelt

Hekate ist sicherlich eine Nachfahrin dieser steinzeitlichen „starren nackten“ Göttin. Allerdings hat sich ihre Erscheinung im Laufe der Geschichte zweifellos an die Gegebenheiten angepasst; wir müssen insbesondere berücksichtigen, dass ursprünglich matrizentrische Vorstellungen in einen patriarchalen Kontext eingepasst wurden, was dazu führen kann, dass ursprünglich positive Eigenschaften negativ gewertet werden oder ursprünglich sinnvolle Symbole später nicht mehr richtig verstanden oder missdeutet werden. Wenn wir versuchen, Hekates Wesen provisorisch zu umreißen, ergibt sich ungefähr folgendes Bild:

Hekate ist ein Aspekt der großen Erdgöttin. Die Erde steht für alles, was Form und Materie ist; da die weibliche Kraft im Universum die Gestaltgeberin ist, die die ursprünglich ungebundene Energie in eine Form bringt. Die Erde ist auch das Reich der Toten und der Ort der Wiedergeburt: Wenn etwas stirbt, existiert eine subtile Form des Lebewesens weiter, die in die „Unterwelt“ geht und dort aufgesucht oder beschworen werden werden kann. Schon zu Lebzeiten kann sich der subtile Körper von dem grobstofflichen Fleischkörper trennen und im Traum oder in Trance umherwandern; solche Schattenkörper können durchaus Schaden anrichten, weshalb man in der Antike großen Wert darauf legte, sich vor den Seelen der Verstorbenen zu schützen. Der Ort dieser Schattenwelt wird allgemein unter der Erde gedacht. Die Göttin, die diesem Unterweltbereich vorsteht, ist ein Aspekt der Erdgöttin, aber ein eher verborgener, unheimlicher Aspekt, der nicht direkt greifbar ist und das Zwischenreich des Traums, des Todes, des Okkulten, der Hexerei und Magie beherrscht. Dieser Zwischenbereich wird mit der „schwarzen“ Sonne in Verbindung gebracht, die nachts unter der Erde von Westen nach Osten wandert, später wird dieses Reich in den Mond verlegt.

Sehr treffend resümiert der französische Archäologe Alfred Laumonier 1958 in seiner Studie über die einheimischen Kulte im antiken Karien, der Heimat der Hekate:

Der weibliche Aspekt der Gottheit ist die Materie, die Welt der Formen, aber diese lebende Materie ist bald die sichtbare und berührbare physikalische Materie, Pflanzen, Tiere, Menschen (Demeter, Artemis, Aphrodite), bald die subtile psychische und „strahlende“ Materie (Hekate), bald die geistige Materie (Athene). Und jede der Gottheiten Griechenlands, die ursprünglich die Komplexität eben dieser eminent plastischen Materie wiedergab, hat sich nach und nach auf einen Aspekt dieser gewaltigen Weiblichkeit spezialisiert, die die Hindus insgesamt Maya nannten. (…) Hekate ist die Göttin der untersten unsichtbaren Welt – der Welt der Entkörperten, der gespenstischen Gestalten, der Larven, der unbegrabenen Toten, deren Ausgang und Aktivität die Nacht begünstigt. Aber diese Welt ist auch die sublunare Welt, die „astrale“ Welt des Okkultisten, die Welt des Fegefeuers, in der die schwarze Magie gern arbeitet, die Hexerei. Wie alle Göttinnen ist sie ursprünglich eine chthonische Göttin, weil die Erde die Mutter aller unsichtbaren Formen ist, sie, die auf der Erde durch ihre kondensierende Kraft, durch ihre Passivität, die männlich-aktive, aber sublimierende Kraft der Sonne ausgleicht.17

Das Material: die antike Literatur

Für eine ernsthafte Beschäftigung mit Hekate ist es notwendig, sich zunächst mit den antiken Quellentexten zu beschäftigen. Hierzu stellt uns die Altertumswissenschaft eine Menge an Material zur Verfügung, das durch allerlei Nachschlagewerke hervorragend erschlossen ist (und von der gängigen esoterischen Literatur aber offensichtlich weitgehend ignoriert wird). Günstig ist auch, dass sich in den letzten Jahrzehnten in der Altertumswissenschaft ein verstärktes Interesse für die magischen und irrationalen Aspekte der antiken Religion bemerkbar macht, „auch unter dem Einfluß eines gesamtkulturellen Interesses an Esoterik, das sich am aufklärungsmüden Ende des (20.) Jahrhunderts breitgemacht hat“18 . Karl Preisendanz, der erste Herausgeber der antiken Zauberpapyri, berichtet hingegen davon, wie sein Lehrer Albert Dieterich 1905 in Heidelberg ein Seminar über antike Magie im Vorlesungsverzeichnis noch mit einem harmlosen Titel tarnen musste, um nicht „unseriös“ zu erscheinen. Der starre Gegensatz zwischen dem „wüsten Aberglauben der Zauberpapyri“ (Wilamowitz-Moellendorf) und der „echten“ Religion der olympischen Götter, den J. G. Frazer („The Golden Bough“) Ende des 19. Jahrhunderts zum Dogma erhoben hatte, spielt heute keine Rolle mehr. Inzwischen hat die Altertumswissenschaft selbstkritisch aufgearbeit, wie stark solche Anschauungen vom Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts (der Magie als unvollkommene Vorstufe von monotheistischer Religion und Wissenschaft sah) und von der christlichen Prägung der Forscher abhingen. Die Debatte über die Funktion und den Stellenwert von Magie, die im 20. Jahrhundert in der Ethnologie geführt wurde (Malinowski, Tylor, Mauss, Evans-Pritchard), brachte auch die Altertumswissenschaftler seit den sechziger Jahren dazu, zunehmend neue Wege zu gehen. Forscher wie E. R. Dodds, Walter Burkert, Volkert Haas, Georg Luck, Fritz Graf und Sarah Johnston haben seit den sechziger Jahren das Feld der antiken Mythologie, Religion und Magie neu vermessen. Da Hekate nun einmal die Göttin der Hexen und Zauberer ist, rückt auch sie zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Auf der anderen Seite hat die feministische Forschung ein ganz neues Interesse an den Göttinnen erzeugt und einige interessante Erkenntnisse gewonnen, auch wenn Forscherinnen wie Marija Gimbutas oder Gerda Lerner im akademischen Milieu nach wie vor ausgegrenzt werden.

Mein Interesse an dem Thema ist aber kein rein wissenschaftliches. Neben altertumswissenschaftlicher Fachliteratur und antiken Quellen zitiere ich daher auch feministische Literatur „unseriöse“ Autoren aus dem Schattenreich des westlichen Okkultismus (etwa den vielgeschmähten Aleister Crowley), soweit ich das Gefühl habe, dass sie Aspekte beleuchten, die bloße Philologie nicht abdecken kann. Außerdem versucht der zweite Teil dieser Studie, die Gegenwärtigkeit der Göttin aufzuzeigen.

Ich konnte auch nicht davon absehen, dass ich zehn Jahre in einer tibetisch-buddhistischen Tradition verbracht habe und mit dem buddhistischen Tantrismus in Berührung kam, wobei sich mir immer mehr die Frage stellte, ob es das, was im Osten „Tantra“ heißt, nicht auch einmal im Westen gegeben hat und heute wieder geben könnte. Die verborgenen, lange verschüttet gebliebenen Spuren des westlichen Tantrismus ein Stück weit freizulegen und zu der überfälligen Renaissance des Heidentums in Europa meinen bescheidenen Beitrag zu leisten, ist deswegen ebenfalls Ziel dieser Arbeit.

Es steht folglich zu befürchten, dass mein Text heillos zwischen Altertumswissenschaft, Buddhismus und Okkultismus, Tantra, Magie und Altertumswissenschaft oszilliert, und ich selber zwischen allen Stühlen sitze. Aber wer sich im Dämmerlicht des Übergangs auf der Kreuzung zwischen den Wegen herumtreibt, hat vielleicht eine Chance, der Enodia, der Wegegöttin, zu begegnen.

1 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, 1932, S. 1316

2 Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher, Bd. 3/II, S. 1317.

3 Herbert J. Rose: Griechische Mythologie. Ein Handbuch. München: C. H. Beck 2003, S. 1 - 12.

4 C. G. Jung: Gesammelte Werke, Band XIII, Olten 1978, S. 20 f.

5 Jung: GW XIII, S. 43.

6 Jung, GW XIII, S. 44.

7 Jung, GW XIII, S. 45.

8 Jung, GW XIII, S. 48.

9 C. G. Jung: Über die Energetik der Seele (1928). In: GW, Bd. 8, S. 60.

10 Jutta Voss: Das Schwarzmond-Tabu. Stuttgart 1990, S. 59

11 Ralph Metzner: Der Brunnen der Erinnerung. Von den mythologischen Wurzeln unserer Kultur. Braunschweig 1994, S. 166 - 168.

12 Eine eindrückliche Vision der Todesgöttin findet sich auch in Regine Leisners Roman „Unter dem Rabenmond“ (2008).

13 Dank an Regine Leisner für die Zusammenstellung der Korrespondenzen. Auch Erich Neumann geht in seinem klassischen Werk „Die große Mutter“ von vier Aspekten der Göttin aus. In der neueren feministisch-esoterischen Literatur ist in letzter Zeit ebenfalls eine gewisse Tendenz spürbar, von vier Gesichtern der Göttin zu sprechen, vgl. etwa Elizabeth Davis/Carol Leonard: Im Kreis des Lebens, Engerda 2005.

14 Marija Gimbutas: Die Sprache der Göttin. 4. Aufl., Frankfurt 1998, S. 198.

15 Mahlstedt, S. 77.

16 Mahlstedt, S. 92.

17 Alfred Laumonier: Les cultes indigènes en Carie. Paris 1958, S. 414 f. Meine Übersetzung.

18 Fritz Graf: Gottesnähe und Schadenszauber. München 1996, S. 15.

Teil I

Hekate in archaischer Zeit

Hekate ist geheimnisvoll und unter den antiken Göttinnen eine der vielgestaltigsten (polymorphos). Die Forschung hat sie lange vernachlässigt, da sie in Kunst und Mythos der Antike weniger augenfällig ist als andere Gottheiten. Hinzu kam, dass sie als unheimliche Göttin der Verstorbenen und der Hexerei alle denkbaren Vorurteile gegen „Okkultismus“, Magie und Aberglauben aktiviert. Mit der spätantiken Überlieferung der Zauberhandschriften, Verfluchungstäfelchen und neuplatonischen Theurgie, in denen unsere Göttin eine überragende Stellung erlangt, mochte man sich in der Altertumswissenschaft lange nicht gern beschäftigen, da diese Epoche als dekadente Verfallszeit nicht hoch im Kurs stand. Man überließ diese Zeit, die ja gleichzeitig die Frühzeit des Christentums ist, lieber den Theologen, von denen man keinen unvoreingenommenen Blick auf das antike Heidentum erwarten konnte.

In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch einiges getan. Es sind einige akademische Arbeiten erschienen, die ein differenzierteres Bild der Göttin gezeichnet haben. Hervorzuheben sind die kunstgeschichtliche Monographie von Theodor Kraus (1960), Sarah Johnstons Studie über Hekate und die chaldäischen Orakel (1990), Stephen Ronans Textsammlung von 1992, von Rudloffs Studie (1999), Bergs kommentierte Ausgabe der Proklos-Hymnen (1999), die Wiener Magisterarbeit von Karin Zeleny (1999) und die Monographien von Wolfgang Fauth (2006) und Nina Werth (2007). Gemeinsam ist diesen Arbeiten, dass sie das herkömmliche Bild der „bösen“ und „dämonischen“ Hekate revidiert haben und stattdessen das Bild einer bipolaren, vermittelnden Wesenheit zeichnen, die Übergänge herstellt und beherrscht: „Sie ist keine ihrem Wesen nach dämonische Gottheit, sondern eine der Grenzbereiche, die damit befasst ist, ihren Verehrer durch gefährliche und unsichere Gebiete des Niemandslandes jenseits des Gewissen und Bekannten zu führen, wie Geburt und Tod und, auf der physikalischen Ebene, Kreuzwege und Türen.“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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