Hella Hell - Unni Drougge - E-Book

Hella Hell E-Book

Unni Drougge

4,6

Beschreibung

Hella hat ein Problem: Die 40-Jährige steht auf junge Männer – viel zu junge Männer. DIese Leidenschaft wird ihr zum Verhängnis und sie wird zu acht Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis beginnt Hella Hell ihre Memoiren, ihre Geständnisse, wie sie selbst sagt, aufzuschreiben. Einst war sie eine efolgreiche Unternehmerin in der Werbebranche. Ihre Ehe ging in die Brüche. Seitdem lebte sie mit ihrer 14-jährigen Tochter Lola weitgehend alleine. So weit so gut, wäre da nicht ihre erotische Schwäche für blutjunge Männer. Sie verliebt sich in Jocke, den Sohn ihrer Freundin Regina, mit dem sie den Sommer in Frankreich verbringt. Es folgt eine Reise durch die mondänen Szenetreffs von Frankreich und Spanien, mit Orgien, Drogen, Transvestiten, bis mitten ins schöne Dasein die Nachricht über Reginas Tod hereinbricht. Um ihrem jungen Geliebten den Schmerz über den Verlust der Mutter zu erleichtern, stürzt sich Hella von nun an erst recht ins süße Leben. Dabei merkt sie nie, daß Jocke ein verzogener, quengeliger Bengel ist. "Hella Hell" ist eine tragische Geschichte, zugleich aber voller Situationskomik.-

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Unni Drougge

Hella Hell

Roman

Saga

Mein Dank gilt

Ann-Marie Skarp. Mit Herz, Intelligenz, Humor, Enthusiasmus, Großzügigkeit und Klugheit hast du mir den Weg gewiesen. Deine Stärke hat mich nicht nur beim Schreiben inspiriert, sondern auch beim Leben. Wenn ich doch eines Tages so sein könnte wie du!

Anne Ralf. Wie eine wahre Schönheitschirurgin hast du Defekte ausgebessert, wie eine raffinierte Kosmetikerin der Sache ihren besonderen Pfiff gegeben, und wie eine hellhörige Seelsorgerin den Kern der Geschichte bloßgelegt. Du bist eine wahre Lektoratsdämonin!

Niclas. Meiner wirklichen Stütze. Du warst immer da. Sogar dann, wenn Hella Hell in mir aufs Schlimmste ihr Unwesen trieb.

Nonno. Geliebte Teenietochter! Du bist in jeder Hinsicht besser als ich, du mein zähes kleines Wuschel.

Erster Teil

1

Jo. Jojo. Jocke. Jukka. Juck. Jucken. Ficken ... du hast meine verkohlte Seele zum Glühen gebracht. Wie eine brennende Zündschnur streckte ich mich zu dir hin. Du warst der Schatz am Ende des Regenbogens, den ich endlich mit meinen sehnsüchtigen Händen umschloß.

Jojo. Dieser Kosename, den ich dir gegeben habe, streichelt meinen Gaumen wie eine warme Sommerbrise. Ich spreche ihn noch einmal aus, jetzt gewürzt mit dem Zischlaut meines Leidens.

Muß das Bild festhalten ... das Salz der beiden Meere, die einander an Jütlands nördlichstem Zipfel begegnen ... die Wärme in der Kuhle im weißen Sand ... das Schimmern von Skagens berühmtem Licht ..., damit ich niemals dieses vollendete Kunstwerk vergessen kann, bis du ...

Liebe Leute, die Ihr dies hier lest: Könnt Ihr nicht versuchen, zu verstehen, ehe Ihr verurteilt?

Die Begegnung der beiden Meere verursacht lebensgefährliche Strömungen. Und in der sonnigen Grube strecktest du, mein Jo, deine wohlgeformten Arme nach mir aus. Deine Arme mit dem dunklen Flaum, der deinen köstlichen Fohlenspeck bedeckte. Ich öffnete die Tuborg-Flasche mit den Zähnen, ein Trick, den ich schon als Kind gelernt hatte, und den du witzig fandest. Und du lachtest, als du den Flaschenhals an deine geöffneten Lippen hieltst, die zu zwei glänzenden dicken Schnecken wurden. Mich traf ein kurzes Funkeln deiner in Metall gefaßten Dolce-e-Gabbana-Sonnenbrille, die ich dir gekauft hatte, und in der ich mein eigenes Spiegelbild erahnen konnte, hingerissen angesichts dieses weizenblonden Knabenwesens ohne auch nur einem einzigen Haar auf der Brust (die drei, die sich hervorgewagt hatten, hatte ich dir mit meinen silberfarbenen Fingernägeln ausgerissen). Ich weiß noch genau, wie ich meinen Blick über einen betörend glatten Bauch und dann weiter hinunter zu den nur angedeuteten dunklen Schamhaaren wandern ließ, die den Rahmen bildeten um das herrlichste ... ach, wenn irgendjemand das alles doch verstehen könnte! Mein Joy Boy!

Die wirbelnden Ströme der Anziehung zogen mich hinab in die tiefste Finsternis der Einsamkeit, und ich werde nach besten Kräften versuchen, unsere Geschichte zu erzählen und mein trauriges Schicksal offenzulegen, meine quälende Sehnsucht nach diesen Johnnies, die alle nur Vorübungen für die Begegnung mit Jocke waren, meinem Smash-Hit.

Oder hatte es eine Vorlage gegeben, vielleicht sogar ein Original? Ich muß nachdenken.

2

Am letzten Tag im März des Jahres 1958 schnitt die Hebamme in Lund meine Nabelschnur durch. Ich wurde mit einer Glückshaube und einem triumphierenden Schrei geboren. Mein Vater war während der letzten Stunden der Wehen auf dem Krankenhausflur hin- und hergelaufen und hatte dabei eine hochgradig krebserregende John Silver ohne Filter nach der anderen geraucht. Wie die meisten Ärzte dachte er nur an Komplikationen und pathologische Zustände und hatte sich bereits grauenhafte Kreißsaal-Dramen ausgemalt, zum Beispiel Ersticken, Nabelschnurriß und Schädigungen des zentralen Nervensystems (damals waren vorgeburtliche Diagnosetechniken und Ultraschall noch nicht erfunden). Als er dann meinen roten kleinen Kopf sah, den die Gebärmutter länglich und spitz zurechtgeformt hatte, rief er: »Ah! Eine kleine Nofretete!«

Von diesem Moment an war ich Papas Augenstern und genoß eine ruhige und harmonische Kindheit im behüteten Stadtviertel Professorstaden, das, anders als andere Vororte mit schönen Namen, wirklich hielt, was dieser Name versprach. Ich wuchs also im geborgenen Kultureservat der Gelehrten heran, und sowohl auf mütterlicher als auch auf väterlicher Seite streckten sich prachtvolle Verästelungen akademischer Meriten und Erfolge aus.

Daß mein Vater sehr früh an Lungenkrebs starb, kann als Erklärung für meine seelische Disharmonie nicht ausreichen. Da ich doch immerhin bei seinem Tod schon sechs Jahre zählte, war ich nach allgemein akzeptierter psychologischer Auffassung bereits ein fertiger Mensch, dessen grundlegende Bedürfnisse befriedigt worden waren. Während der folgenden Jahre wurde ich von mir selbst und von meiner Umgebung als offenes und tatkräftiges Mädchen mit jungenhaften Interessen betrachtet. Zu diesen Interessen gehörten beispielsweise Bogenschießen, später Projektionslehre (was mir sowohl in Zeichnen als auch in Mathematik Spitzennoten einbrachte) und eifriges Engagement in einem Hundeliebhaberverein, wo die Dressur von Spürhunden zu meiner Spezialität wurde (meine Mutter hatte, wie viele Nachbarn auch, einen Labrador angeschafft).

Meine Pubertät fiel in eine Zeit, in der die sexuelle Freiheit energisch auf den Schild gehoben wurde. Inges und Stens sexualtherapeutische Kolumnen in der Boulevardpresse wurden in munterer Gesellschaft laut vorgelesen und verbreiteten sich wie erogene Ringe durch die bürgerlichen Stadtviertel Lunds, in denen das Fremdgehen wütete wie ein Lauffeuer. Der Orgasmus wurde wie ein Niesen beschrieben, nur eben am anderen Ende. Natürlich und gesund, aber ansonsten kein Grund zur Aufregung. Natürlich war dabei reichlich Heuchelei mit ihm Spiel, aber diese Haltungen standen der akademischen Bohème ebenso gut wie Isländerpullover, Bart oder Das Kapital.

Nein, die erste Etappe auf meinem Weg zum Erwachsenenleben konnte ich unter einem zumeist pastellgetönten Himmel zurücklegen. Bis ich dann mit fünfzehn Jahren über die Ziellinie stolperte, und zwar in doppelter Hinsicht. Das Streben nach Gleichberechtigung hatte bei den freisinnigen Intellektuellen von Lund Wurzeln geschlagen, weshalb der oberste Wunsch auf meinem Wunschzettel erfüllt wurde und außerdem allgemeinen Beifall fand: ein Moped. Eine Puch Dakota. Und damals trug niemand einen Helm.

Ich fuhr auch nicht in den Straßengraben. Aber mitten auf der friedlichen Wohnstraße lag ein dicker Stein. Ein Wackerstein, den nur das Schicksal dort hingelegt haben konnte, und zwar gleich hinter einer Kurve. Es kam, wie es kommen mußte. Das Schicksal oder der Stein eröffneten meine Zukunft. Ich kollidierte mit diesem Brocken, fiel vom Moped und wurde mit vorübergehender Amnesie ins Krankenhaus gebracht. Als ich wieder zu mir kam und in das verängstigte Gesicht meiner Mutter blickte (ich war ihr einziges Kind), nannte ich sie zum ersten und letzten Mal »miese Fotze«. Meine rational gesonnene Mama betrachtete das als Beweis dafür, daß ich vorübergehend den Verstand verloren hätte und beschloß sofort, einzugreifen und das Sommerhaus in Åhus zu kaufen, auf das sie schon länger ein Auge geworfen hatte. Ich brauchte Ruhe und Klimawechsel und sie brauchte Urlaub von ihren Krebskranken (ich habe wohl noch nicht erwähnt, daß sie Professorin für Onkologie war).

Und in Åhus stolperte ich dann im auf diese Episode folgenden Sommer über Hiob. Ich stolperte im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hatte mir nicht nur eine kräftige Gehirnerschütterung zugezogen, ich hatte mir außerdem den Fuß gebrochen und mußte mich auf Krücken dahinschleppen. Auf dem weißen Sandstrand, den eiskalte Wellen mit höhnischem Glucksen beleckten, traf ich mit der Krücke ein im Sand vergrabenes Jungenbein. Erschrocken trat ich auf meinen gebrochenen Fuß und kippte um. Das Bein, das ich mit der Krücke getroffen hatte, gehörte Hiob. Er öffnete seine vollen Lippen und sagte: »Huch!« Das war vorläufig alles, aber seine Augen glitzerten wie das Meer vor uns, und das Schicksal wollte, daß wir uns gleich am selben Abend wieder begegneten. Am selben Strand, den wir beide intuitiv aufgesucht hatten. Der Blitz schlug zwischen mir und Hiob a prima vista ein, und ich konnte ja nicht ahnen, daß er erst dreizehn war, als diese Feuerkugel uns funkensprühend umschwirrte. Und so kam es, daß ich an diesem sternenklaren Abend mein Jungfernhäutchen von einer für diesen Zweck überaus geeigneten Apparatur zerfetzen ließ. Das alles trug sich im Freien zu, unter einem mit Silber gepfefferten Himmel, der mich im entscheidenden Moment des Verschmelzens mit einem Funkenregen überschüttete. Das, was sich zwischen uns zutrug, war weder ein romantischer Mondscheinkitsch noch ein unbeholfenes erstes Herumgemache. Nein, es waren die Freuden des Erwachsenenlebens, die ihre Becher in unsere durstigen Kehlen ergossen, während wir noch über die kindliche Fähigkeit verfügten, die Ekstase auszudehnen. Unsere Körper waren ein funkelnder Vergnügungspark, in dem jede Synapse zu einer Paradenummer wurde ... ich kann das nicht erklären. Es war eben etwas ganz Besonderes. Und es geschah dieses Mal. Aber das war genug.

Als Hiobs Mutter uns unter dem umgedrehten Fischerboot ertappte, war es schon spät, und wir gingen mit einer Trennungsangst auseinander, die vermutlich nur Frühgeburten erleben, wenn sie zum Abschied von der Schwerelosigkeit des Mutterleibes gezwungen werden. Wir gelobten einander ewige Liebe, und die setzten wir heimlich am Strand und im Tannenwald in die Tat um, bis die Sommerferien dann zu Ende gingen.

Sowie ich am ersten Schultag nach Hause gekommen war, rief ich Hiob an. Seine Mutter meldete sich mit rauher, tonloser Stimme. Hiob war aus unerfindlichen Gründen auf das Dach eines Busses geklettert und bei seinem kühnen Sprung auf eine Hochspannungsleitung mehr oder weniger verkohlt.

Als diese entsetzliche Hiobsbotschaft mich erreicht hatte, war auch ich total vernichtet.

Der Rest meiner Kindheit ist wie Asche im Wind, er kann unmöglich zu einer festen Form zusammengefügt werden.

3

Ich bin Hiob auf irgendeine Weise wohl in die Ewigkeit gefolgt, aber das geht mir erst jetzt auf, wo ich auf unseren kurzen Sommer zurückblicke. Hiob hatte den Ton für mein zukünftiges Liebesleben vorgegeben.

Ich werde versuchen, den innersten Kern meiner tiefgreifenden Erkenntis des erhabenen Knabenideals darzustellen. Die Frage ist: Was, abgesehen von meiner verqueren Neigung, unterscheidet Knaben dermaßen frappant von Männern, oder, genauer gesagt, was unterscheidet Knaben von Knaben?

Ein Rausch, Ihr Lieben. Wie dann, wenn das Rauscherlebnis eingesetzt hat und ich in den freien Flug übergehe, der mich von den Ketten der Angst erlöst. Ich koste dieses Gefühl von Freiheit aus, und das Wort Ferien taucht auf. Die erste jubelnde Ferienminute, mit all ihren guten Freiheitsverheißungen, das ist es. Davon sprudeln die ganz besonderen Knaben zwischen zwölf und achtzehn. Ihre Körper strahlen diese Verheißung von Freiheit aus. Aber das Alter allein ist noch nicht ausreichend. Selbst einem bildschönen Jüngling kann dieser zündende Funke fehlen. Es braucht ein Schimmern der Haut, der blanken Brust (die unbedingt und auf jeden Fall haarlos sein muß), der Augen und der Haare. Diese quellreine Frische darf nicht von Rasierwasser, Haargel, Haartönung oder anderen von Erwachsenen erfundenen artfremden Dingen verfälscht werden. Das Bewegungsschema muß ein wenig gleichgültig sein, schlaksig und unsynchronisiert, ja, sogar ein Hauch von achtloser Lässigkeit kann akzeptiert werden. Kleidung und Accessoires müssen intuitiv den ungeschriebenen Regeln der Straßenmode angepaßt sein. Ja, ohne Asphaltatmosphäre geht es nicht. Bewerbungen von ordentlich gekämmten Musterknaben sind zwecklos.

Ich habe oft darüber nachgedacht, was diese unwiderstehlichen Charmetrolle auszeichnet, die ich während all der Jahre nur beschnuppern oder nur leicht berühren mußte, damit unter meinem Nabel Volten geschlagen wurden. Sie zeichnet eine komplexe Mischung aus Schlingeln und Lümmeln aus – Schlümmeln –, in der trotz der Büffelmanieren eine herzzerreißende Betroffenheit zum Ausdruck kommt. Sie haben etwas Geschlechtsloses, das ans Androgyne grenzt, sind aber trotzdem geil wie die Karnickel. Ich habe die Zutaten zu diesem seltsamen Kompott nie ganz durchschaut, aber diese stromgeladenen Schlümmel, diese Johnnies, Joy Boys – diese göttlichen Toren! – sind beseelt von einem fremden Element, das ich als smash bezeichnen würde. Sie sind eine ganz besondere Spezies, deren Erforschung ich mein ganzes Leben geweiht habe. An dieser Stelle muß ich betonen, daß hier keinesfalls die Rede von einem Übermenschenideal ist, es geht eher um ein Wesen, das ich einmal gekostet habe, und dessen Süße jegliche irdische Ekstase übertrifft.

4

Nach Hiobs übereiltem Dahinscheiden wurde ich in die Jugendpsychiatrie eingewiesen, wo die Diagnose Depression gestellt wurde (meine Mutter sprach lieber von Schulmüdigkeit). Nach meiner Entlassung wurde ich umgehend zum Apfelsinenpflücken in einen israelischen Kibbuz geschickt. Ein Aufenthalt in einem Kibbuz galt damals als nützliche Erfahrung und empfehlenswerter Milieuwechsel. Obwohl viele Linksintellektuelle dem Staat Israel kritisch gegenüberstanden, entsprach die Idee des Kibbuzlebens doch ihren sozialistischen Träumen.

Die Therapeutin meinte, ich hätte meine Trauer um Hiob verarbeitet, doch ich hatte Hiob einfach nur in mein Unterbewußtsein verbannt, wo er ungestört herumspuken konnte. In dem Jahr, das ich in Israel verbrachte, verlustierte ich mich neurotisch und zwanghaft mit jungen Hippieknaben, die es aus allen wohlhabenden Ecken der Welt dorthin verschlagen hatte. Ich lernte South-African-Steve, Brazil-Gabriel, Brit-Rod, Swiss-Pascal, American-Henry, Australian-Dave und so weiter und so fort kennen.

Bei meiner Ankunft war ich in einem Kibbuz in der Negev-Wüste einquartiert worden, aber wie die meisten neugierigen Jugendlichen packte ich meine Habseligkeiten und setzte mich ans Rote Meer ab, wo das Hippieleben mit seinen illegal errichteten Barackenorten im verminten Sinai-Gebiet lockte. Als eingefleischte Individualistin hatte ich das starre, kleinkarierte Kibbuzleben bald satt bekommen. Jetzt aber ließ ich mich zwischen Korallenriffs, Cafés und Cannabispfeifchen sorglos umhertreiben. Eine meiner Wohnungen bestand aus einem würfelförmigen, leeren und rostigen Riesentank, der durch ein rundes Loch im Dach zugänglich war, von dem aus man sich dann an einem Seil nach unten ließ. Im Sommer war es in diesem Container unerträglich heiß, weshalb ich mich am Strand niederließ. Ab und zu verdingte ich mich in einer der vielen Bars von Eilat für einen Lauselohn als Kellnerin oder Küchenhilfe, und ich verbrachte einen Monat ohne irgendwelche Unterbrechungen unter Beduinen und Beatniks an der Ostküste der Sinai-Halbinsel, bis der Spätherbst eintraf. Dann lernte ich zu meinem Glück Daniel kennen, the big dark gay, der einfach alle kannte. Meine Bekanntschaft mit Daniel erwies sich, als der Winter ins Gelobte Land kam, als für mich reservierte Rettungsleine.

Ich arbeitete bis spät in der Nacht im Papa Paris, einer beliebten Bar am Marktplatz, die einem kleinen französischsprechenden fetten Juden gehörte. Eines Abends hatte ich South-African-Steve schon einige Biere serviert, und die hatten ihm Mut gemacht, seiner Enttäuschung über mich freien Lauf zu lassen. Er war der erste Junge nach Hiob gewesen, dem ich den Zutritt zu meiner seitdem eifrig frequentierten Venusgrotte gestattet hatte, und er hatte seither immer wieder voller Staunen von meinen sexuellen Eroberungen auf diesem mit Knabenpracht gedeckten Büfett gehört. Nach South-African-Steve hatte ich mich selten mit nur einer Beute pro Tag zufriedengegeben. Es kam vor, daß ich zwischen Morgengrauen und Abenddämmerung vier verschiedene Jünglinge vernaschte. Einige verliebten sich ein wenig in mich, doch ich eilte weiter, gejagt von einer brennenden Sehnsucht, dem unstillbaren Drang nach immer neuen Knabendelikatessen. Aber an diesem Abend beugte South-African-Steve sich über den Tresen, schob mir seine hübsche Larve entgegen und flüsterte: »Very soon you will be raped, Hella.«

Ich fand seine durch Drohungen getarnte Verbitterung albern und antwortete mit einem Schnauben. Ich muß noch einmal darauf hinweisen, daß dies alles sich in den siebziger Jahren abspielte, also ehe tödliche Krankheiten sich als Trittbrettfahrerinnen an die Körperflüssigkeiten zu heften begannen. Es war eine Zeit, in der die sexuelle Freiheit wie ein heiliges Mantra gepriesen wurde. Sie erinnern sich doch sicher an die Maxime make love, not babies.

An diesem Abend also hatte ich mich mit einem jungen Niederländer mit olivenfarbener Haut und üppigen gelbbeigen Locken verabredet. Er gehörte zum Schönsten, das ich je gesehen hatte, und er ließ sich bereitwillig von meinem Interesse einfangen. Deshalb gab er mir die Adresse eines halbfertigen Hauses im Zentrum von Eilat, wo er immer übernachtete. Doch als ich die Baustelle erreichte, war dort alles leer, weshalb ich meinen Schlafsack in einem Zimmer aufrollte, in dem auf dem Boden eine Luftmatratze lag. Ich nahm also an, daß ich das Nachtquartier des schönen Niederländers gefunden hatte. Die eben erst eingesetzten Fensterscheiben waren mit großen Kreuzen bemalt worden, damit niemand aus alter Gewohnheit versuchte, dort einzusteigen. Ich schlief fast sofort ein, nachdem ich eine Zigarette geraucht hatte, um die Moskitos zu vertreiben. Ich wurde davon geweckt, daß mir der Atem ausging. Auf mir und meinem Schlafsack lag das Biest, ein dunkler Typ mit leuchtenden Augäpfeln, der sich hart gegen mich preßte. Er keuchte wie nach einem Marathonlauf, und er war groß und breit und stank bestialisch. Über mir hing eine wahre Knoblauchwolke, die Abgase ausspuckte, und dieser Primat versuchte also – und das war das Schlimmste –, er versuchte doch tatsächlich, mich zu küssen. Mein erster Versuch, um Hilfe zu rufen, wurde davon erstickt, daß er seine grotesk dicken und behaarten Hände um meinen Hals legte und dermaßen zudrückte, daß vor meinen Augen bereits der Tod tanzte. Ich ließ meinen ganzen Körper so schlapp wie möglich werden. Vergewaltigung ist immer noch besser als Ersticken. Er zog die Sache mit seinem heiseren feuchten Keuchen durch und erdreistete sich sogar, mir seine widerliche Viehzunge in den Mund zu stecken. Aber ich war bereit! Als die Atemzüge des Grobians anfingen, eine höchst unpassende Ähnlichkeit mit dem aufzuweisen, was ich als näherrückenden männlichen Höhepunkt kennengelernt hatte, bohrte ich energisch meine Zähne in diese harte Zunge, die so groß war wie ein komplettes Filetsteak, biß sogar ein Stück ab, riß es mit den Zähnen heraus (meine Kieferpartie war immer schon kräftig, und ich kann mit dem Mund die meisten Handgriffe durchführen), und sein heiseres Gebrüll wäre vermutlich noch in Ägypten zu hören gewesen, wenn das nicht die frischeingesetzten Fenster verhindert hätten. Mit Müh und Not konnte ich meinen Kopf befreien, ohne daß mein Skalp in seiner Faust hängenblieb, die fast meinen gesamten Hinterkopf umklammert hielt. Mit dem ekelhaften Fleischfetzen im Mund, dessen beißendscharfes Blut in meinen Hals sickerte, konnte ich entkommen. Ich rannte und rannte, bis ich den einzigen Club erreichte, der so spät noch geöffnet hatte. Ich hatte den Zungenkadaver inzwischen in meine Hand gespuckt, und nun steuerte ich einen Tisch an, an dem Männer und Frauen saßen. Unter ihnen auch der große, starke Daniel mit seinem Afrolook und seinen dicken goldenen Ohrringen. Ich hustete Blut, brach zusammen und erklärte meine prekäre Situation.

Am nächsten Morgen kämmten Daniel und der örtliche Mafiaboß mit mir im Schlepptau ganz Eilat nach dem Verbrecher durch.

Muß ich noch erwähnen, daß mir meine nemesis divina gewährt wurde? Wir fanden den Vergewaltiger, der, in sich zusammengesunken tief im Dunkeln einer schäbigen Bierkneipe, längst nicht mehr so überdimensional wirkte. Daniel hatte eine Zigarette im Mund, als er auf den Übeltäter zuging. Der zitterte am ganzen Leib und versuchte es mit Ausflüchten, die er in seiner nunmehr nuschelnden und kaum verständlichen Zunge vorbrachte. Nach einer Salve von funkensprühenden arabischen Flüchen, mit denen, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, alle in Israel um sich warfen, drückte Daniel seine Zigarette auf der Wange des Delinquenten aus. Die einzige Regung, die sich in dessen Gesicht zeigte, waren Fieberschauer. Vielleicht hätte er mit seiner amputierten Zunge lieber ein Krankenhaus aufsuchen sollen.

Während meiner restlichen Zeit in Israel schlief ich jede Nacht neben Daniel. Er wurde der erste in einer langen Reihe schwuler Seelenfreunde.

Erwachsene Homosexuelle waren für mich von nun an ein niemals bewußt begonnenes, aber nichts destotrotz bewußt abgeschlossenes Kapitel. (Mit einer Ausnahme, auf die ich später noch zurückkommen werde).

Ansonsten verflogen meine Jugendjahre in alle Himmelsrichtungen wie eine Schar verängstigter Sperlinge mitsamt dem einen oder anderen Kanarienvogel, doch auch diese kleinen gelben Farbtupfer verloren bald ihre Leuchtkraft.

5

Das Jahr in Israel führte zu einer kleinen Kursänderung in meiner beruflichen Laufbahn. Die Früchte meiner geplanten Karriere waren bereits handverlesen und leuchteten im Zukunftskorb, den meine Mutter und die restliche Verwandtschaft mir bei meiner Heimkehr kredenzten; ich sollte Medizin studieren und die naturwissenschaftliche Tradition der Familie weiterführen. Inzwischen jedoch hatte sich der Begriff Schönheit, das reine ästhetische Erlebnis, zwischen mich und die logische Wissenschaft geschoben. Die Felsen, die sich um den schmalen Zipfel des Roten Meeres erhoben, hatten mich bisweilen in Trance versetzt. Die Berghänge änderten täglich mehrmals ihre Farbe, und während dieser Metamorphose konnte das Auge das Gleiten durch die Farbskala wahrnehmen. Wenn es überhaupt etwas gab, das meiner gespaltenen Seele vorübergehend Ruhe bringen konnte, dann war das die Hand der Natur, die die zackigen Felsen in einer fließenden Skala in Orange, Violett, Purpur und Blau tunkte. Und natürlich meine schönen Knaben.

In meiner Sippe jedoch wurde nur selten über Aussehen gesprochen – es galt als geradezu vulgär, äußeren Attributen irgendwelche Bedeutung zuzumessen. Farbe und Form sollten praktisch und funktionell sein. Der Genuß der edlen Künste geschah zumeist mit dem Ziel der Weiterbildung, nicht aber aus purer Lust und Begeisterung. Selbstzweck war ein Schimpfwort, wichtig war allein das Resultat.

Um also die Erwartungen meiner Umgebung nicht ganz und gar zu zerstören, ging ich einen Kompromiß ein und bewarb mich in Kopenhagen um einen Ausbildungsplatz in den Fächern Werbung und Marketing. Dort spezialisierte ich mich auf graphisches Design, womit sich sowohl ästhetische als auch analytische Qualitäten geltend machen ließen. Meine Lehrer hielten mich für ein Talent, und ich entwickelte einen ziemlich originellen Stil. Damals stand ich gerade unter der Respektlosigkeit, die die Punkbewegung mitgebracht hatte, was meiner Abschlußarbeit eine gewisse Aufmerksamkeit verschaffte. Ich hatte ein in Gold gerahmtes Riesenposter vorgelegt, das Iggy Pop, den Paten des Garagenrock, mit einem gigantischen, erigierten Penis zeigte. Gekrönt wurde dieser von einer Injektionsnadel, die sich ins Herz der jüngeren Punklegende Sid Vicious bohrte, der dem älteren Rockrebellen seine entblößte, glatte Jünglingsbrust darbot. Ich nannte diese Arbeit »Konzeption«, und das Ganze war sicher ziemlich übertrieben, aber von einem leicht ausgelaugten Establishment wurde diese Art des Denkens damals eben goutiert. Nachdem ich an der Kopenhagener Hochschule für Design mein Diplom entgegen genommen hatte, siedelte ich nach Stockholm über, wo ich die Wohnung meiner Großmutter in Mosebacke geerbt hatte.

Bei Beckmans verfeinerte ich meine Technik. Aufgrund meiner Zwischenspiele in Israel und Dänemark war ich einige Jahre älter als die anderen in meinem Kurs. Weshalb ich damals einen Vorgeschmack des Altersunterschiedes kennenlernte, der sich zwischen mir und den süßen Knaben langsam aber sicher auftun würde.

In der Werbeagentur, in der ich nach Beendigung meiner Ausbildung dann unterkam, fügte es das Schicksal, daß ich mich als erste Frau in der Branche mit der neuen digitalen Technik des Desktop Publishing vertraut machte. Ich wurde in Bo Berndals Typographie-Lexikon aufgenommen, da ich als wegweisend für die sogenannte aktive Typographie galt, die die neuen Zeichenprogramme dann so großzügig einsetzen sollte.

Aber ich finde es ermüdend, mich über meine kometenhafte Karriere in der Pseudobranche der Werbung zu verbreiten. Wichtig ist, daß ich älter wurde, während die Objekte meiner Begierde weiterhin im Alter zwischen zwölf und achtzehn verharrten, und meine Vergnügungen immer mehr den Charakter eines Kinderraubes annahmen.

6

Ich wurde von Designschulen und ähnlichen Institutionen im ganzen Land für Vorträge engagiert, an Schulen, die durch den Medienboom überfüllt und begehrt waren wie Rettungsboote bei einer Fährkatastrophe. Dort konnte ich für glühend begeisterte Jünglinge Hof halten, und immer gab es mindestens einen dabei, der meine sexuellen Neigungen aktivierte. Ich glaube, ich sollte hier einfügen, daß meine promiskuitive Phase mit der Vergewaltigung ein Ende genommen hatte. Regelrechte Penetration fand über Jahre hinweg höchstens zweimal in zwölf Monaten statt, und auch dann versuchte ich, nur in abgelegenen Jagdgründen tätig zu werden, auf Reisen und in den Toilettenräumen der dunklen Kellerkneipen, die von Jünglingen besucht wurden. Auch die Aidsgefahr hatte zu einer allgemeinen Vorsicht geführt. Meistens mußte ich mich mit heftigen Wortwechseln mit den eifrigen Bubis begnügen, die in der Firma, in der ich als Art Director angestellt war, ihre vorgeschriebenen Schulpraktika absolvierten. Sie rauften sich um meine Gunst, diese kleinen Wichte, und ich führte sie an meinem großen Lichtpult in die typographischen Grundregeln ein und konnte dabei bisweilen die Hand auf eine welpenhafte Faust legen, die unsicher das Skalpell hielt. Ab und zu war die Luft dermaßen von fleischlicher Versuchung gesättigt, daß ich auf die Toilette fliehen mußte, um durch Masturbation meine pulsierende Scham zu beruhigen. Doch trotz meiner hart erkämpften Beherrschung hinterließ ich wie alle anderen Kriminellen eine Perlenschnur aus Beweisen hinter mir (denn wir alle leiden unter einem destruktiven Wiederholungszwang, der uns am Ende in die Falle gehen läßt). Eine Folge von Ereignissen sorgte für einen zu leicht erkennbaren Abdruck meiner Achillessehne. Natürlich war es für eine Dame von fünfundzwanzig absolut comme il faut, sich mit jungen Knaben zu verlustieren. Aber da ich eine geachtete Karrierefrau war, machte ich mir doch so meine Gedanken darüber, was passieren würde, wenn ich bei meinem Laster ertappt und vielleicht beschuldigt würde, mit Hilfe meiner Chefinnenposition unschuldige Praktikanten auszunutzen. Während ich tapfer gegen meine Triebe ankämpfte, wußte ich zugleich, daß ich mich dem Verderben näherte, und daß sich eines Tages der tierische Rachen um meinen schlanken Leib schließen und mich in den Abgrund ziehen würde, in dem sich dieser sabbernde Dämon versteckt hielt.

7

Es begann mit Jonny.

Jonny zählte ganze siebzehn Lenze und besuchte den musischen Zweig des Gymnasiums Riddarfjärdsskolan. Er war, wie überraschend viele Schlümmel, bei einer alleinstehenden Mutter großgeworden, wohnte noch immer dort und beschrieb sie auf allerköstlichste Weise. Jonny besaß eine unbestreitbare Schlümmelqualität, sein Smash wirkte wie eine Injektionsnadel, deren Gift meinen antrainierten Widerstand sofort lahmlegte. Es war die pure Götterdämmerung, wenn dieser niedliche Knabe das Büro betrat, in dunklen Vintage-Wranglers und Netzhemd, das mir durch zahllose Gucklöcher den Blick auf seine haarlose Brust ermöglichte, deren Muskeln ihr hypnotisches Locklied vortrugen. Er trug einen braunen Ledergürtel, der seine schmalen Hüften betonte, und Boots aus den sechziger Jahren, die er zweifellos auf einem Flohmarkt gefunden hatte. Wenn er mit seinem schlaksigen Gang durch das Atelier auf mich zukam und mit kindlichem Optimismus fragte, ob ich einen AD-Ass. brauchte, war ich einfach fertig. Ich registrierte sofort, daß seine jeansblauen Augen die ständige schlümmelhafte erotische Offenheit verrieten – ach, gerade das macht sie doch zu Magneten! Aber dieser kleine Tropf! Er hatte keine Ahnung von digitaler Satztechnik. Er hatte von dem jungen Gestaltungsgenie Neville Brots gehört, konnte aber Garald nicht von Didon unterscheiden. Ich stellte ihn auf die Probe, ließ ihn den Entwurf für eine Kondomkampagne machen. Natürlich hatte ich mir dieses Thema ausgesucht, um dabei auf Sex anspielen zu können; meine Unterhose war schon so naß, daß ich mir während der Mittagspause eine neue kaufen mußte. Nach vier Stunden unerträglicher sexueller Erregung, bei der erstaunlicherweise doch nicht alle meine Sicherungen durchbrannten, zeigte Jonny mir seinen Entwurf, und ich brach in hysterisches Gelächter aus, das zur Hälfte von meiner unbeschreiblichen physischen Anspannung verursacht war und zur anderen von Jonnys Leistungen. Er hatte sich für das Bild eines Gartenschlauches mit einem Loch entschieden, aus dem eine dünne Fontäne hervorspritzte. Darunter hatte er den Satz »Ein Tropfen reicht« gesetzt, und das noch dazu in der verhaßten Type Lubalin. Aber als Jalle, mein korpulenter Chef, den Raum durchquerte, um einen bescheidenen Anteil an meiner Heiterkeit zu beanspruchen, sah Jonny so verzweifelt und verwirrt aus, daß ich meinen neuen Schüler in Schutz nehmen mußte. Jalle, der über vierzig war und an bösartigem Zynismus litt, entdeckte die Quelle meiner Erheiterung indes sofort und kommentierte alles mit einem Schmatzen und einem Kopfschütteln, bei dem seine grobporigen Wangen in heftige Bewegung versetzt wurden, was Jalle im Gegensatz zu Jonnys festen, glatten Konturen nun wirklich reif für den Schrottplatz der Geschichte aussehen ließ. Jalle glaubte natürlich, mir zu helfen, als er Jonny mit aufgesetzter Freundlichkeit bat, Kaffee zu kochen, denn er hatte seine eigene Karriere ebenfalls als Laufbursche angefangen. Als Jonny zu meinem Tisch zurückgeschlichen kam und mir mit untertäniger Miene meinen Kaffee servierte, kam es in meiner Scham zu einer heftigen Explosion, und ich konnte nicht einmal unter Aufbietung meiner gesamten Willenskraft – die wahrlich keine geringe ist – mein wildes Begehren bezwingen. Ich berührte seine dunklen, glatten schulterlangen Haare federleicht mit der Hand (und diese Geste hat kein Johnny jemals mißverstanden) und bat ihn, mir zu folgen.

In der verschlossenen Toilettenkabine, die durch einen davorgelegenen Waschraum schallisoliert war, legte ich die Arme um seinen schönen glatten Hals, fuhr ihm über seine glänzenden Haare, schob sie hinter seine Ohren (in dem einen saß ein Silberring), und wir küßten uns. Obwohl seine Nervosität nach der Demütigung seinem warmen Atem einen schärferen Beigeschmack verpaßt hatte, roch dieser doch noch mild und milchig, und seine Zunge war weich und geschmeidig zugleich. Er preßte seinen angespannten Knabenkörper an meinen und war wunderbar hart. Ich befreite ihn und nahm sein williges Glied zwischen meine Lippen.

Hier sind vielleicht ein paar Anmerkungen zur Kunst der Fellatio am Platze. Durch ausführliche Gespräche mit meinen schwulen Freunden habe ich meine Fähigkeit trainiert, befriedigenden Oralsex zu liefern (Frauen weisen ja häufig eine bedauerliche Unkenntnis dieser genüßlichen Tätigkeit auf, manche sind angeblich so unbeholfen und ungeschickt, daß man sich im Grunde fragt, wieso sie überhaupt zu oralen Unternehmungen schreiten). Mein bester Freund, Klas, hat mir durch praktische Übungen, zu denen er mir zwei seiner Finger zur Verfügung stellte, beigebracht, wie sich ein oral organisierter phallischer Volltreffer am besten in die Wege leiten läßt. Vor allem, aber das wußte ich schon vorher, muß die Frau diese Aktivität selbst auch genießen. Darauf baut dann die technische Vollendung auf. Viele begehen den Fehler, ihre Zähne nicht aus der Sache herauszulassen; es gilt, die Lippen vorzuschieben und zugleich im Mundraum Platz zu lassen. Mit der Zunge zu wedeln ist unnötig und in gewisser Hinsicht störend. Das männliche Glied ist ein Gebrauchsgegenstand, der am besten auf rhythmische und regelmäßige Bewegungen reagiert. Ist das Organ umfangreich, eine Eigenschaft, die an sich ja bereits wünschenswert ist, dann kann das bei manchen zu Würgereflexen im Gaumensegel führen. Um einer solchen Reaktion zu entgehen, kann frau den Penis gegen die Innenseite ihrer Wange richten, wenn sie dabei eine Kollision mit den Zähnen vermeidet. Wir sollten außerdem bedenken, daß die Eichel am sensibelsten reagiert, weshalb es nicht immer nötig ist, sich das ganze Kotelett in den Hals zu schieben, was durchaus zu leichter Atemnot führen kann. Kurze, aber energische Berührungen lassen sich hervorragend mit tieferen Bekanntschaften abwechseln. Um den Höhepunkt herbeizuführen, ist in der Regel eine gewisse Phase der Monotonie gefragt, und diese sollte wie ein Geschenk dargebracht werden, wie eine Aufopferung. Die Belohnung erfolgt dann, wenn wir spüren, wie der Muskel ein wenig anschwillt, woraufhin der warme Brei herausgepumpt wird. Ich halte es für die glatte Sünde, dieses wohlschmekkende Gebräu auszuspucken, und behalte es vor dem Herunterschlucken gerne noch eine Weile im Mund.

Als Jonny da auf der Designertoilette saß, spendierte er seine milde Substanz mit einem kurzen Stöhnen, das seine ganze Schlingelart, seinen unbesudelten Smash zum Ausdruck brachte. Wenn dieser Junge in Flüssigkeit transformiert worden wäre, dann wäre er wie Milch und Honig aus einem paradiesischen Füllhorn geströmt. »Du bist ja superscharf«, murmelte er, während seine schwarzen Wimpern zur Hälfte gesenkt waren und seine üppigen glatten Lippen sich leicht teilten, so daß ich seine weiche rosa Zunge ahnen konnte. Ich schob meine Hand unter sein Kettenhemd und holte tief Luft, wie um die Zeit anzuhalten. Ja, ich habe meine Fähigkeit, gestohlene Momente wie diesen einzufangen, wirklich bis zur Vollendung gebracht. Das Knabenherz pochte unter meiner Handfläche, beruhigte sich nach und nach, und dann zog er mich an sich, über die abermals stolz prangende Ausrüstung, und schob mein schwarzes kurzes Kleid hoch. Ich trug fesche Spitzenstayups, blöderweise aber dazu eine billige rotgetupfte Unterhose, meinen Noteinkauf eben. Trotzdem stülpte ich mich über ihn und zog ihm das Netzhemd aus, so daß ich die Hände um seine wohlgeformte runde Brust legen konnte, während er mein Innerstes mit dem Brennstoff füllte, der mich abermals für eine Weile auf dieser öden und belanglosen Weltkugel überleben ließ.

Jonnys und meine geheime Übung verlor schon bald alles Geheimnisvolle, da unsere Toilettenbesuche von immer deutlicherem Geflüster, Getuschel und Gefeixe der lieben Kolleginnen und Kollegen begleitet wurden. Am vierten Tag war bei ihnen auch nicht mehr der geringste Ansatz zu Diskretion zu beobachten. Als Jonny vor mir zur Toilette ging, und ich sofort in derselben Richtung etwas Dringendes zu erledigen hatte, blickte ich über meine Schulter in ein Atelier zurück, das jetzt von einem belustigten Publikum bevölkert war, das mich mit verlegenen und überaus spöttischen Blicken bedachte.

Ich verdächtigte den scheinheiligen Walter, unseren jüngsten Mitarbeiter, der als Praktikant angefangen und sich dann eine feste Stelle erschleimt hatte, obwohl seine Begabung wirklich einen Ozean an Wünschen offenließ. Er war ein mittelmäßiger Streber, der sich alle Mühe gab, und nicht einmal seine zwanzig Jahre alte Erscheinung konnte als mildernder Umstand gelten; sowohl Schmerbauch als auch Glatze hatten sich schon viel zu früh eingefunden. Ich sorgte konsequent dafür, daß ich niemals in derselben Projektgruppe landete wie Walter. Ich bin vielleicht ein wenig ungerecht: Walter lag mit seinem Finanzbubi-Look geradezu unverschämt im Trend. Noch hatte das Vorrücken der Yuppielemminge sie noch nicht an den Abgrund des Finanzcrashs der neunziger Jahre geführt. Aber ich habe Herdenmentalität noch nie ausstehen können, und Walter war nun einmal ein feiger, vorhersagbarer Massenmensch. Und als ob Walters bloße Anwesenheit unter dem Glasdach der Werbeagentur nicht bei Weitem schon schlimm genug gewesen wäre, so erwies er sich zu allem Überfluß auch noch als Klatschvetter übelster Sorte. Deshalb war es vermutlich Walter, der den anderen die Augen für meine Toilettenbesuche in Jonnys Gesellschaft geöffnet hatte, und mein armer Schlümmel wurde danach alsbald aus dem Büro entfernt.

Ein erster Schritt zu meiner Entlarvung war damit getan.

Auf dem Seil, das nun aufgespannt wurde, um mich zum Absturz zu bringen, sollte ich in den kommenden Monaten zu mehreren leichtfüßigen Sprüngen verlockt werden. Während der ersten Hälfte der achtziger Jahre erreichte die Jugendarbeitslosigkeit neue Höhen, und die Politiker gaben sich alle Mühe, um die jungen Leute aus dieser peinlichen Statistik hinauszudrängen. Deshalb konnte eine große Anzahl von Teenies gegen staatliche Entlohnung in Privatfirmen tätig werden. Und das führte zu einem stetigen und für mich so gefährlichen Durchzug von Jonnies an meinem Arbeitsplatz.

Aber obwohl ich meine Jonny-Affairen neben meiner regulären Arbeitszeit verfolgte, wurde ich schließlich gezwungen, auf diese Ausschweifungen zu verzichten, als in den Designschulen dann Gerüchte in Umlauf gerieten. Dort wurde ich als Femme fatale beschrieben, und die Jungen machten nun einen Bogen um mich. Um meine Frustration zu dämpfen, bat ich meine Mutter, mir ein Beruhigungsmittel zu verschrieben. Ich sagte ganz offen, daß ich Liebeskummer hätte. Und wie die meisten, die ihre medizinischen Examen in den fünfziger Jahren abgelegt hatten, fand meine Mutter es nicht weiter bedenklich, das Gefühlsleben mit chemischen Mitteln zu regulieren.

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Ich begegnete der Gerüchteküche mit Valium und dem Versuch, mit aller Kraft meine wogende Perversion zu sublimieren, und das führte zu der vielbeachteten und diskutierten Kampagne für die Jeansmarke Lee, die schon seit den siebziger Jahren total im Schatten von Levi’s dahinvegetiert war. Ich hatte das Glück, mit international anerkannten Stylisten und Fotografen zu arbeiten, die angesichts der schwedischen Engstirnigkeit nur gelassen mit den Achseln zuckten. Auf einer Reise nach New York fanden der Fotograf und ich rasch zusammen, denn er war Päderast, und wir veranstalteten ein Casting, das drei Tage dauerte, und bei dem wir uns an der nicht versiegenden Flut von Johnnies, die vor unseren lüsternen Blicken posierten, fast schon satt sehen konnten. Wir engagierten dann vier Wichte, die untereinander sehr verschieden waren, zusammen jedoch einen absolut überschäumenden Smash ergaben. Ich verlängerte meinen Aufenthalt in New York nur deshalb, um mit den kleinen Wesen ausgehen und sie in unbegrenzten Mengen mit dem Silber des Kokain und dem Gold des Blubberwassers berieseln zu können. In der letzten Nacht feierten wir auf meinem Hotelzimmer eine Orgie, von der ich leider nicht mehr sehr viel weiß. Vor allem habe ich wegen der Goldfische ein schlechtes Gewissen; die Gäste bekamen zur Gesellschaft einen Goldfisch aufs Zimmer geliefert, und der Arme auf meinem Zimmer wurde mit Kokain gemästet, bis er starb, worauf wir unten in der Rezeption um neue Fische baten, denen derselbe Vergiftungstod beschieden war, und ich kann mich nur damit trösten, daß sie aller Wahrscheinlichkeit nach in seligem Rausch entschlafen sind.

Als ich dann wieder zu Hause war, machte ich sogar einen Aidstest.

Die Jeanskampagne wurde mit Schmähungen wie Kinderporno, Drogenromantik und Dekadenz belegt, aber – oderint dum metuant! – Lees Absatz stieg sprunghaft an, und die Marke errang endlich das Prestige, das ihr bisher gefehlt hatte. Mir ging es ähnlich, mein Status bei der Jugend wuchs, und darüber freute ich mich unendlich, aber das hatte auch Konsequenzen, die zu sich öffnenden Falltüren führten.

Eine solche Falltür lachte mich in Kopenhagen breit und einladend an. Ich gehörte zu einer Jury, die dort einen internationalen Werbepreis vergeben sollte. Auf ausländischem Territorium konnte ich meinen Lüsten freien Lauf lassen, weshalb ich, nachdem ich ein Festmahl mit fünf Gängen und dicklichen, dreißigjährigen und unermüdlichen Kavalieren durchlitten hatte, in die Stadt zog. Mein Ohr lokalisierte bald die Musik, die Jugendliche anlockt, und die auch ich zu schätzen weiß, wenn ich ehrlich sein soll, weil diese Musik in mir Assoziationen von fast pornographischer Natur erweckt. In der verräucherten Jugendtränke, die ich da ausfindig gemacht hatte, trat ich an den Tresen und bestellte etwas. Junge Dänen in allen Modellen umkreisten mich, und ich wäre angesichts dieses Blütenflors fast außer mir geraten. Dann nahm ich die Witterung von zwei quälend köstlichen Exemplaren auf, die über einen hohen Schlümmelfaktor verfügten. Ich wußte nicht so recht, welcher von beiden meine Antennen besonders zum Vibrieren brachte, aber zum Glück blieb mir die Entscheidung dann erspart. Auf dänische Manier nickten sie und hoben ihr Tuborg, worauf ich sie näher zu mir heranwinkte. Und Sie können sich vorstellen, wie glücklich ich war, als sie mich erkannten, sie hatten nämlich einen Zeitungsartikel über die Preisverleihung gelesen. Ein hilfreicher Fingerzeig des Schicksals hatte dafür gesorgt, daß ein Foto von mir in die Zeitung geriet, und wenn ein junger Wicht sich von etwas beeindrucken läßt, dann von einem prominenten Gesicht. Dieses gefundene Fressen verdoppelte sich, und plötzlich war ich von vier Knaben umringt. Ich gab so viel Tuborg und Gammeldansk aus, wie das Schlümmelquartett nur hinunterbrachte, und als wir mein von der Firma finanziertes Hotelzimmer in Nyhavn mit Blick auf den Öresund erreicht hatten, zog ich das von einem dänischen Werbeyuppie, den ich schon länger kannte, besorgte Kokain hervor. Vergessen Sie nicht, daß wir uns im Moment in den achtziger Jahren befinden, wo Kokain ein ganz normaler Bestandteil des Gesellschaftslebens war.

Der eine Knabe, der rotblonde, war Schlachterlehrling (ach, wie einzigartig schlümmelhaft!). Der zweite, der dunkel war, arbeitete in einer Fahrradwerkstatt (niedlich!). Der dritte war Gitarrist in einer Popband (hinreißend!), der vierte arbeitslos und wohnte noch zu Hause (unwiderstehlich). Um die ganze Sache einfacher zu machen, können wir sie Riff, Ruff, Piff und Puff nennen. Ihre Haare waren alle weit über ihre beringten Öhrlein hinausgewachsen (der Schlachter hatte sogar üppige Locken), und sie waren uniformiert in verschlissene Jeans und T-Shirts mit ausgewaschenen Motiven. Ich möchte mich nicht detailliert über die weiteren Ereignisse verbreiten, aber ich war wild erregt angesichts dieses Viererpacks Joy Boys, an denen ich mich ganz allein gütlich tun durfte. Die niedlichsten Knabenbrüste, die die Natur je erschaffen hatte, wurden für mich zu einer Wiese, auf der eine ausgehungerte Päderastin nun endlich wieder Büschel von grünem Gras ausreißen konnte. Im Nachhinein fällt mir ein, daß die Phallusformation sich in Bezug auf Länge, Breite und Biegung über eine interessante Skala hinzog.

Doch ein böswilliger und außerdem buckliger, glatzköpfiger und bierbäuchiger Klatschjournalist von der Branchenzeitschrift Werbung & Media hatte meinen etwas laut geratenen Einzug mit Riff, Ruff, Piff und Puff als stolperndes, lärmendes »Feuillejohn« im Hotelfoyer beobachtet, und ich gehe davon aus, daß der elende Spion auch an der Tür gehorcht hat, um sich einen Eindruck davon zu verschaffen, wie ich mich in Sünden suhlte.

Sein Geschreibsel war einwandfrei von Neid angesichts meiner Unternehmungen in Kopenhagen geprägt, und meine Fassade wies nun schon so große Risse auf, daß ich mir vorstellte, wie das tausendäugige Scheinwerferlicht der Neugier über meine private fleischliche Dämmerung dahinfegte.

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Mit siebenundzwanzig Jahren war ich nun zehn Jahre älter als meine Joy Boys. Hella Hell schlug also ihrer vernünftigen Hälfte vor, sich auf die Geborgenheit gewährende Laufplanke der Ehe zu begeben. Das noch dazu in einer Phase des Alterns, in der ich sowohl bei frischen Johnnies als auch bei eher bemoosten Häuptern besonders hoch im Kurs stand. Ohne prahlen zu wollen, muß ich meine Erscheinung als vorteilhaft beschreiben; ich hatte immer schon eine schlanke, mädchenhafte Figur und konnte mit fünfundzwanzig die gleichen Jeans tragen wie mit fünfzehn (Jeans, die zu meiner Freude auch heute noch glatt meinen Hintern umschließen). Meine Gesichtszüge sorgen, ebenso wie meine rundliche Gesichtsform, für einen kindlichen Ausdruck. In meiner Familie treten Falten, Zellulitis und allgemeiner Verfall relativ spät auf, meine Großmutter war noch mit siebzig zierlich wie eine Elfe, und ihre smaragdgrünen, leuchtenden Augen hat sie an mich vererbt. Meine Haut ist reich pigmentiert, weshalb ich das ganze Jahr hindurch mit sommerlicher Bräune brillieren kann, und obwohl meine Haare (mit Hilfe meines fähigen Friseurs) ins Blonde spielen, sind meine Augenbrauen und Wimpern von Natur aus schwarz. Wenn wir noch auf die eher intimen Körperteile eingehen wollen, dann muß ich wohl zugeben, daß meine Brüste klein, aber fest und spitz sind (diesen Vorzügen habe ich allerdings nachgeholfen, nachdem Alter und Stillen sie gezwungen hatten, sich den Gesetzen der Schwerkraft zu unterwerfen). Bei Besuchen im Schwimmbad und im Umkleideraum von Sporthallen hatte ich weibliche Geschlechtsorgane studiert und erleichtert feststellen können, daß mein eigenes einwandfrei in die bessere Kategorie gehört, das heißt, die Art Vulva, deren äußere Schamlippen die inneren, nicht ganz so appetitlichen, verdecken (während des Schöpfungsprozesses muß in dieser Hinsicht etwas schiefgegangen sein – kein Mensch soll mir erzählen, die seien schön!). Meine Vagina ist angenehm geschmeidig, und ich habe meine Gesäßmuskulatur voll im Griff, was nach einer beschwerlichen und ewig dauernden Entbindung eine große Hilfe war.

Die Anziehungskraft, die ich auf Männer ausübte, beruhte also vor allem auf genetischer Veranlagung samt einem charismatischen Überbau, den ich durch Tonfall, Blick und Mimik immer noch erweiterte. Aber um kein böses Blut zu wecken, und um die zu trösten, denen diese natürlichen Mittel, beim anderen Geschlecht Interesse zu erwecken, fehlen, kann ich ruhig zugeben, daß ich mit mir selbst nie zufrieden war. Daher die Eitelkeit, die mir so oft vorgeworfen wurde. Ich war eine zutiefst unglückliche und gespaltene Person mit einem Innenleben, das nur selten den äußeren Erfolgsbeweisen entsprach, die für die Umgebung als einziges zählen, wenn entschieden werden soll, wie gut ein Leben eigentlich verläuft. An ein gutes Leben wagte ich nicht zu glauben, aber ich wollte doch noch einen Versuch machen, die dafür nötigen äußeren Bedingungen herzustellen. Ich phantasierte von einer Vaterfigur, die meine verwundete Seele mit einem Pflaster versehen könnte.

Und bei einer weiteren Preisverleihung erspähte ich dann den für diesen Zweck Geeigneten. Er war zur Hälfte Amerikaner, lebte jedoch in Schweden, und er hieß Henry Hole. Was unsere Namen angeht – Hella Hell und Henry Hole – waren wir wie füreinander geschaffen. Henry war ein zweiundvierzig Jahre alter Werbeguru, der auf Marshall McLuhan-Zitaten dahinglitt. Er hatte zwei Bücher veröffentlicht, das zweite trug den Titel »Eselsbrücken für Arbeitsscheue«. Seine Darlegung lief darauf hinaus, daß Lohnarbeit durch die fortschreitende Roboterisierung und die ständigen Neuerrungenschaften der Mikroelektronik abgeschafft werden würde, worauf wir uns dann alle als homo ludens verwirklichen und uns im Takt mit der Sonne wiegen könnten, während die Technik als Sklavin fungierte, die niemals Not erleidet.

Henrys Produkt war ein Brei aus wirrem Gedankengut der Hippiezeit – er war ein sogenannter Achtundsechziger –, angereichert mit einem Schuß Kantscher Aufklärungslehre und einer lockeren Garnitur Managementphilosophie. Ich war von seinen floskulösen Luftpasteten nicht sonderlich beeindruckt. Ab und zu war es geradezu beklemmend, miterleben zu müssen, daß er selbst an den verbalen Absud zu glauben schien, den er Chefs in mittleren und höheren Positionen in Schwedens Konferenzzentren servierte.

Nein, mein Interesse wurde eher von seinen körperlichen Qualitäten geweckt. Henry war groß und schlaksig und konnte aus der Ferne durchaus an einen Knaben erinnern. Seine Augen hinterließen immer wieder ihre Abdrücke auf meiner Netzhaut, da sie von einer intensiven braunen Färbung waren, die seine ganze Erscheinung dominierte. Er hatte den guten Geschmack besessen, sich die Haare ganz kurz scheren zu lassen, weshalb die grauen Einsprengsel nicht gar zu deutlich zu sehen waren.

Mir Henry zu krallen war keine große Aufgabe, ich galt doch als attraktiv und intelligent und war außerdem nicht mit Scheidung, Kindern oder anderen Defekten behaftet, die den Marktwert einer Frau so brutal zum Sinken bringen. Meine um einiges jüngeren Skelette stopfte ich aus Selbsterhaltungstrieb in die finstersten Kellerlöcher und hielt den Daumen darauf, damit sie nicht das lauschige Tageslicht unseres guten Henry störten.

Wir heirateten im August 1985. Wir wollten eine schlichte Trauung auf dem Standesamt, denn Henry hatte eine Vergangenheit in der Anti-Vietnambewegung, aus der er allerlei ideologische Gebote geerbt hatte, zum Beispiel, daß konservative Institutionen, zu denen auch die Ehe gehört, nun einmal abzulehnen seien. Das Kind, das wir dann zeugten, lieferte jedoch einen guten Grund für die Eheschließung, denn Henry wollte, daß es seinen Namen trug, wollte sich aber lästigen Papierkram ersparen. Ich hatte nichts dagegen, zur ehrbaren Frau gemacht zu werden, und überhaupt gab es damals zwischen uns kaum Konfliktstoff. Wir teilten die Verachtung des hochkulturellen versnobten Elitismus (Werbemenschen leiden übrigens unter unheilbaren kulturellen Komplexen, da ihre Produkte niemals künstlerischen Status erlangen). Die finanzbetonte Ästhetik der achtziger Jahre hämmerte energisch gegen die Türen der Kultursalons, und die Werbebranche veranstaltete immer neue überschäumende Feste, doch dabei kam nur heraus, daß der eingeladene künstlerische Parnaß weiterhin angesichts der kitschigen künstlerischen Nachahmung schnaubte, die die Kostüme der Werbeelite prägte. Daß ich über die Kulturelite die Nase rümpfte, hatte jedoch einen anderen Grund als Henrys Naserümpfen – ich hatte sie nämlich durchschaut. Ihre eifrige Verteidigung des Alten war ein krampfhafter Versuch, die überlegene Frische der Jugend zu leugnen, die sich in der Müllkultur niederschlug und die von sehr viel größerer Durchschlagkraft war, die keine Kulturdenkmäler verlangte und die nicht in einem vergreisten Reservat ängstlich behütet werden mußte. Von außen gesehen jedoch waren Henry und ich in den meisten Fragen einer Meinung, und an der Oberfläche rollte unsere Beziehung denn auch hin und her wie Glaskugeln auf einem Brett, das wir sorgsam vor einer zu starken Neigung bewahrten.

Am ersten Februar des folgenden Jahres gebar ich nach fünfundzwanzig Stunden der unerträglichsten Wehen ein kleines Mädchen; es lag in der sogenannten weitoffenen Lage, was eine lange Entbindung bedeutete, bei der jedes Zusammenziehen der Gebärmutter eine Art Echo hervorruft, und bei der die Gebärende vervielfachte Qualen durchleiden muß. Die Kleine wog über vier Kilo, war jedoch mitgenommen durch die vielen Schmerzmittel, die ich während der Reise verlangt hatte. Das Baby wurde über Nacht in den Brutkasten gesteckt, während mein Unterleib mit sieben Stichen genäht wurde, nachdem dort eine ungeheuer ungeschickte, frisch ausgebildete norwegische Hebamme ihr Unwesen getrieben hatte. Dieser norwegische Bergkegel schaffte es, Instrumente, Becken und Stativ zu Boden zu werfen, auf die falschen Knöpfe zu drücken, meine Blutgruppenangaben zu verlegen und überhaupt. Es war wirklich ein Wunder, daß mein Kind trotz der Anwesenheit dieses Trampels lebend auf die Welt kam. Einmal stolperte sie über einen Hocker und landete auf meiner Entbindungsbank, als gerade eine heftige Wehe meinen Körper zu zerreißen schien. Ich brüllte los wie eine Sirene, worauf dieses ignorante Spatzengehirn mir eine Lachgasmaske aufs Gesicht drückte, und ich in einem überaus unbehaglichen und sinnlosen Rausch dahindämmerte, in dem die Schmerzen weiterhin pochten. Diese katastrophale Pflegeinstanz hätte mit Rotlicht und Stoßdämpfern versehen und in die Garage gestellt werden sollen, um bei Gelegenheit als Gabelstapler Anwendung zu finden.

Henry saß neben mir und las, wenn er nicht voller Interesse das Muster der Papierstreifen inspizierte, die ein Apparat neben meinem Bett mit einer graphischen Darstellung der Herztöne des Kindes versah und dann ausspuckte. Als endlich die Zeit zum Pressen gekommen war, zog Henry eine Kamera hervor, um meine endgültige Erniedrigung, als meine geschmeidige Scham aufgeschlitzt wurde, auf Film zu bannen. Aber da brüllte ich, er solle verschwinden, und damit hatte ich meine bessere Hälfte zum ersten Mal angeschrien. Ich spuckte dieselben Wörter aus, mit denen ich ein gutes Jahrzehnt zuvor meine Mutter bedacht hatte: »Miese Fotze!«

Was gleich darauf mein ganzes Dasein verschlang, war der innigste Blick, der mir je zuteil geworden ist. Das frischgeborene Baby hypnotisierte mich dermaßen, daß ich es seitdem immer geliebt habe. Dieses Liebesdiktat wurde zum unerschütterlichen Vorrecht meiner Tochter, ich würde zur Not für sie in den Tod gehen, ganz und gar meiner eigentlichen Willenskraft entgegengesetzt. Das Band, das im Moment der Geburt zwischen mir und meiner Nachkommenschaft entstand, gehört zu den Instinkten, die der Menschheit rücksichtslos einprogrammiert worden sind. Geben Sie zu, daß es eine Grausamkeit der Natur ist, Mütter zu dieser emotionalen Sklaverei zu zwingen! Hier haben wir nämlich die wirkliche Frauenfalle.

Wir nannten das Kind Dolores Eleonora, kurz Lola, und ich war fasziniert davon, daß Fingernägel so klein und doch so vollkommen sein können.

Jetzt hatte ich also eine Familie gegründet und damit einen beruhigenden Schritt in die Normalität getan. Ich wurde mit Hilfe von erprobten Handbüchern, die ich eifrig studiert hatte, zu einer good enough mother. Das Stillen bewerkstelligte ich deshalb mit Bravour, ebenso wie das Windelwechseln, die Wahl des Gitterbettes und des pädagogischen Spielzeugs sowie das Topftraining, als sie achtzehn Monate alt geworden war. Lola war ein rosiger Wonneproppen, aber ich fragte mich doch, ob es normal war, schon beim Austritt aus dem Mutterleib ins Trotzalter zu kommen. Henry machte sich wegen Lolas widerborstiger Natur keine Sorgen; er arbeitete fleißig und freute sich, wenn er dann nach Hause kam, ungeheuer über unsere Tochter.

Henrys und meine Ehe überlebte fast fünf Jahre, und ich ließ mich von der Mutterschaft absorbieren; so viele praktische Entscheidungen waren dabei vonnöten, daß die jungen Knaben in meinen Träumen Kinderwagen, Babyschwimmen und Warenhauskörben wichen, ganz zu schweigen von meinem anstrengenden Einstieg ins ABC des Kochens.

Als Lola dann in eine Krippe kam, wuchs meine Bewegungsfreiheit außerhalb des trauten Heims wieder, aber ich dachte nur selten an Sex – vor allem nicht, weil ich die zwei Beischlafakte pro Woche liefern mußte, die der Leitfaden zum Eheleben eben vorschrieb. Henrys früher einigermaßen fettfreier Bauch hatte sich jetzt um vier oder fünf überflüssige Kilos erweitert, und sein vierundvierzigjähriges Sitzfleisch hatte ebenfalls bessere Zeiten gesehen. Sein Haaransatz kroch immer weiter nach oben, während sich dort, wo keine Haare hingehörten, auf seiner speckigen Brust ein wahrer Urwald entwickelte. Lange Borsten krochen auch aus seinen Nasenlöchern, und seine Augen trieften. Er hatte die Wechseljahre erreicht, und bald würde die pädophile Hella Hell einen mürrischen Greis neben sich im Bett dulden müssen, der gurgelte und schnarchte und furzte wie ein alter Gaul.

Ich mußte mich mit diesem Dirnenleben abfinden und pflichtschuldigst zur Verfügung stehen, wenn er nach dem obligatorischen Freitagsessen mit den dazugehörigen zwei Flaschen Wein, aus denen dann bald auch drei oder vier wurden, seine buschigen Augenbrauen hob. Doch ich kann mich immerhin eines geschickten Schachzugs rühmen, nämlich daß ich immer wieder herumjammerte und bettelte, wir sollten doch unsere eigene Firma aufmachen. Henry besaß sowohl Kontakte als auch ein wenig Kapital, und wir genossen in unserer Branche beide einen ausgezeichneten Ruf. Finanzierungsmöglichkeiten wurden außerdem damals allen zweibeinigen Wesen, die zufällig an einer Bank vorüberkamen, wie Lassos um den Hals geworfen.

Wir setzten also zu einer Unternehmung an, dem mein Fingerspitzengefühl für die Stimmung der Zeit den nostalgischen Namen Gasolin verpaßte, und das in der Galaxis der Werbewelt einen kometenhaften Aufstieg hinlegte; wir bildeten ein Sternbild, das bald von allen im Trend liegenden Warenproduzenten angebetet wurde. Mit anderen Worten: fette Brieftaschen öffneten sich über uns, und wir hatten ungeheuer viel zu tun, was weitere Vorteile mit sich brachte: 1. die eheliche Beischlaffrequenz wurde um einiges gesenkt, 2. ich konnte meine Besuche in allerlei Jugendghettos mit der Notwendigkeit begründen, mich über das auf dem laufenden zu halten, was auf Straßenniveau gerade vor sich hinkochte. Ich möchte aber betonen, daß ich mir, abgesehen von einem leichten Voyeurismus, keinerlei sexuelle Freiheiten gestattete. Ich war doch eine Dame von dreißig, die in den ehelichen Stand eingetreten war, und ich wollte mich an die dazugehörigen Spielregeln halten. Außerdem war ich Mutter einer hyperaktiven und trotzigen Dreijährigen, was mich dazu zwang, Jeans und Pullover und leicht zu waschende Kleidungsstücke zu tragen, die mein Äußeres weder schmückten noch betonten. Ich fing langsam an, das Luftschloß der Kernfamilie mit langfristiger Planung einzurichten, ja, ich klebte sogar Ferienbilder in ein Fotoalbum.

Doch einige Jahre darauf brach die falsche Idylle in sich zusammen.

Ich als vorbildliche Ehefrau ging ohne zu murren nach Hause in die schöne und sorgsam eingerichtete Eigentumswohnung auf Östermalm, wo ich ohne fremde Hilfe Kind und Haushalt versorgte, wenn Henry Überstunden machen mußte (die vor allem aus Geschäftsessen bestanden). Ab und zu mußte er auch dienstlich ins Ausland reisen, und ich blieb brav zu Hause, auch wenn sich zu späten Abend- und Nachtstunden durchaus gewisse schändliche Phantasien einstellen konnten, nachdem Lola nach der dritten Gute-Nacht-Geschichte endlich eingeschlafen war. Ich bin eine überaus standhafte Frau, denn ich setzte meine schwindelerregende Lust, das Doppelbett mit dem Schlümmel in Schlaghose und Mönchskutte zu bevölkern, mit dem ich eines Nachmittags in einer jugendverseuchten Tränke in der Stadt Acid House und balearischen Beat genossen hatte, nicht in die Tat um. Ich saß so dicht bei ihm, daß der Herzschlag unter der Knabenbrust weder für meine Augen noch für meine Ohren verborgen blieb. Nein, ich riß mich zusammen. Weshalb Sie sich sicher vorstellen können, daß ich aus allen Wolken fiel, als folgendes geschah:

Es war schon ziemlich spät, und Lola hatte sich ein unangenehmes Grippevirus eingefangen. Als ich im Medizinschränkchen nach Hustensaft, Alvedon und Nasenspray suchte und zugleich mein Abendvalium einwerfen wollte, war das Medizinröhrchen leer. Es war keine angenehme Entdeckung, doch dann fiel mir ein, daß ich im Büro ein Glas Sobril stehen hatte. Ich bat die freundliche Nachbarin von gegenüber, kurz auf Lola aufzupassen, und dazu war sie gern bereit. Fünf Minuten darauf war sie in unserem weichen Sofa von House versunken, das sich niemals zu einem brauchbaren Sitzmöbel formen lassen wollte. Ich jagte mit meinem schwarzen Porsche los und steckte dann den Schlüssel in die Tür zu unserem eleganten Büro auf Skeppsbron. Was sich jedoch als unnötig erweisen sollte, da die Tür nicht verschlossen war. Und auf dem Gästesofa lagen sie und führten sich überaus unanständig auf, Henry und das alberne sechzehnjährige Rotkäppchen. Eine Schnappe, die im Büro höchstens Kaffee kochen durfte, da ihre Bewegungen so ruckhaft und ungeschickt waren, daß Henry und ich darüber gejuxt hatten, daß sie dem armen Kerl, der sich zu einem Schäferstündchen mit ihr erkühnte, vermutlich das Glied abbrechen würde. Aber hier lag also Henry! Voll damit befaßt, seinen kleinen Penis, seinen ausgefahrenen winzigen Greisenpimmel, von dieser schielenden Gans mit ihren Pavianlippen behandeln zu lassen. Das Ganze war so peinlich, daß mein Bericht hier zu einem Schundroman zu werden droht, aber leider ist es die häßliche Wahrheit. Der Geruch von Teeniemöse mischte sich mit dem Billigparfüm der kaugummikauenden Person zu einem Cocktail aus vulgären Düften, zu dem noch ein widerlicher Schuß von Henrys Rasierwasser kam. Dieses corpus delicti wurde zu einem Overkill sogar für eine dermaßen ausgekochte Seele wie meine, und deshalb verließ ich rückwärts den Tatort, und das letzte Bild, das meine Erinnerung mir noch zeigt, ist das einer billigen rosa Kunstfaserunterhose, die über Henrys wachsende Glatze gestülpt worden war.

Was aus dem armen, ausgenutzten Mädel geworden ist, darüber schweigt die Geschichte. Um ihr schändliches Elend noch zu vergrößern, hatten ihre schlecht beratenen Eltern sie Klara-Bella getauft, und so heißen in Schweden vor allem Kühe und Hühner. Sie schickte mir nach dieser peinlichen Szene eine Karte mit einigen um Entschuldigung bittenden Zeilen, sie habe wirklich nicht so weit gehen wollen (meine Güte, denn wie weit hatte sie »gehen« wollen?). Auf die Karte hatte diese fast schon zurückgebliebene Törin einen Abdruck ihres dick geschminkten und grotesk großen Labermundes geknallt, dessen Farbe identisch war mit der ihrer, von Teenieflüssigkeiten sicher ebenso klebrigen Unterhose, dieser billigen Trophäe, die Henrys letzte außereheliche Heldentat gekrönt hatte.

Natürlich reichte ich sofort die Scheidung ein.

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Der Scheidungskrieg zwischen Hole und Hell spielte sich gleichzeitig mit der Kuwaitkrise am Übergang zwischen den Achtzigern und den Neunzigern ab. Ich behielt meine Anteile an der Werbeagentur Gasolin, die zwei Jahre später, nach dem Wirtschaftszusammenbruch, von einem internationalen Konzern geschluckt wurde. Die Bilanz blieb stabil und verschaffte mir ein jährliches Einkommen, von dem ich recht gut leben konnte, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Henrys weitere Studien in Sachen Lammfleisch führten zu einer neuen Ehe, zum gleichen Zeitpunkt, als der internationale Konzern sich zu Wort meldete, woraufhin er seine Aktienanteile für eine ansehnliche Summe verkaufte, um mit seiner dreißig Jahre jüngeren, kaum sexuell mündig gewordenen Braut nach Seattle überzusiedeln.

Das alles erfuhr ich über Umwege: Henry und ich hatten keinerlei Kontakt mehr, und ich ließ mich schließlich in London nieder, um peinlichen Fragen über meine gekenterte Ehe zu entgehen. Jahre später erfuhr ich voller inniger Schadenfreude, daß das junge Model, das Henry geheiratet hatte, ihm ein Kind mit Down Syndrom geboren hatte. Er schickte jeden Monat Geld für Lola, was dann aber aufhörte, als die trendige kleine Plattenfirma, in die er sein gesamtes Kapital investiert hatte, ihre Künstler an die multinationalen Gesellschaften verlor und Konkurs anmelden mußte.

Damals hatte ein neuer Musikstil namens Grunge gerade seinen Höhepunkt erreicht, und Kurt Cobain erschoß sich mit einem Schrotgewehr. Die Grungemode paßte einer verbissenen Schlümmelphantastin wie Hella Hell wie angegossen. Die langhaarigen Wichte in ihren zerfetzten Jeans und Turnschuhen blendeten mich mit ihrem betörenden und allgegenwärtigen Smash. Aber etwas dämpfte meine Lust, mir die lockenden Leckerbissen zu angeln. Während mehrerer Jahre nach dem schändlichen Ende meiner Ehe lebte ich wie im Tran. Meine seelische Armut oder eher Impotenz zeigte sich in einem immer wiederkehrenden Traum: Ich befand mich in einem Flugzeug, das zum Start ansetzte. Aber es kam nicht höher als bis zu den Hausdächern und mußte dann auf einer öden Wiese mit verwelktem Gras eine Notlandung machen. Für diesen düsteren Traum gibt es nur eine mögliche Deutung.

In London kam ich zu nichts, und ich wollte das auch gar nicht, weil ich die Engländer abweisend und vorurteilsbeladen fand. Sie verachteten alleinstehende Mütter. Ich hielt einige Gastvorträge, war jedoch nicht in Form, weder geistig noch in irgendeiner anderen Hinsicht. Unerklärliche Anfälle von Freßsucht legten sich um mein schmales Knochengerüst wie speckige Jahresringe. Vergebliche Versuche, mein Fett durch kostspielige Raubzüge durch die Bond Street zu tarnen, erlitten Schiffbruch, sowie ein Spiegel mir meine Niederlage vor Augen hielt.

Lola hatte sich zu einer eigensinnigen und unerträglichen Göre entwickelt, weshalb ich sie in ein nahegelegenes, angesehenes Internat steckte. Das Wochenende verbrachten wir dann in unserer Mietwohnung am Sloan Square.

Im Nachhinein schreibe ich die Schuld an meiner mehrjährigen Gefangenschaft in diesen mentalen Katakomben einem antidepressiven Heilmittel namens Anafranil zu, mit dem meine Mutter das Valium ersetzt hatte (Valium galt inzwischen als Droge). Bei einem Besuch 1995 auf Ibiza hatte ich diese abstumpfenden Pillen glücklicherweise vergessen und ließ mich deshalb mit einem um einiges hilfreicheren Medikament versorgen, nämlich mit Ecstasy. Meine mentalen Sperren lösten sich auf, die Kanäle wurden durchgespült, und ich fuhr meine Antennen wieder aus. Lola besuchte Freunde an der französischen Riviera, und der Sommer auf Ibiza erlebte meine Wiedergeburt. Die Fettablagerungen wurden von den Schweißströmen weggeschwemmt, die ich zu den nächtlichen Technorhythmen im siedenden Barleben produzierte. Ich ging jetzt auf die vierzig zu und stellte mit euphorischem Erstaunen fest, daß meine Anziehungskraft auf junge Knaben ein Niveau erreicht hatte, von dem ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Die Schlümmel wurden zu mir hingezogen wie Spermien zu einem Ei, und ich amüsierte mich wie eine Königin.

Die schwedische Hauptstadt erlebte deshalb im Herbst eine Hella Hell, die als fit for fight durchgehen konnte. Die Agentur, deren Teilhaberin ich war, warf nicht mehr ganz so hohe Gewinne ab, und da ich während meiner jahrelangen Depression keine anderen Einkünfte gehabt hatte, beschloß ich, im Büro eine Arbeitsecke einzurichten, wo ich mich als CD niederlassen konnte, als Creative Director. Diese Stellung gestattete es mir, kritisch und wählerisch die Spreu vom Weizen zu scheiden, während andere die Grobarbeit verrichten mußten. Von meiner Seite wurde nur ein geringer Einsatz gefordert, während ich die berufliche Stimulans erfuhr, die mir so lange gefehlt hatte. Beispielsweise konnte ich mit dem Gewicht meiner fast vierzig Jahre unliebsame Elemente ganz einfach wegschicken. Meine depressive Periode hatte den temperamentvollen Teil der Hella Hell gedämpft, aber jetzt staunten die Leute angesichts der Pyrotechnik, die unter Ibizas wohltuender Sonne an der Luft getrocknet war. Wer die charmante und energische, aber dennoch leise und korrekte Hella trug, war der Komet aus der Hölle, ein bombastisches Echo, eine lodernde Flamme, deren Feuerflöhe meine Umgebung bald zu achten lernte. Erst jetzt wagte ich, die Schwingen meiner Begabung zu öffnen und die Landschaft unter mir zu betrachten. Dort lief das Kanonenfutter umher und spielte mit Kieselsteinen und hatte keine Ahnung von der schwindelerregenden Höhe und dem Tempo, die meine Gehirnkapazität kennzeichneten.