Hellseher und Astrologen im Dienste der Macht - Stephan Berndt - E-Book

Hellseher und Astrologen im Dienste der Macht E-Book

Stephan Berndt

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Beschreibung

Zu allen Zeiten haben Herrscher und Politiker Rat bei Astrologen oder Hellsehern gesucht. Bis in unsere Tage gibt es Entscheidungsträger, die neben ihren offiziellen Beratern auch auf diesem Wege Hilfe suchen: Breschnew und seine "Dschuna", François Mitterand und Elisabeth Teissier, aber auch Ronald Reagan und Konrad Adenauer stehen hierfür als bekannte Namen. Doch im Allgemeinen gilt das Thema als tabu. Das war in früheren Jahrhunderten nicht so. Da fragten Pharaonen, Kaiser und Könige nach dem Rat der Sterne. Gute oder schlechte Vorzeichen für politische bzw. militärische Vorhaben waren Staatsangelegenheit. "Regieren heißt Vorhersehen": Nach diesem Satz eines französischen Journalisten haben Politiker immer gegenüber ihren Konkurrenten und Feinden einen Wissensvorsprung zur erlangen versucht. Und sie tun es noch heute. Stefan Berndt führt durch diese bisher wenig beachtete, verborgene Agenda in der Geschichte. Der Bogen spannt sich dabei von Wallenstein und Napoleon über Hitler, Himmler und den Okkultismus im Dritten Reich bis zu den Wahrsagerinnen der Berliner Republik. Dabei tritt manch Skurriles zutage, etwa wenn Churchill im II. Weltkrieg einen jahrhundertealten Hexenparagraphen zur Anwendung brachte, um allen Ernstes durch Geisterbeschwörung einen befürchteten Geheimnisverrat zu verhindern. Auch die wichtigsten Prophezeiungen und Visionen über den weiteren Verlauf der Geschichte kommen zur Sprache, von Nostradamus bis zum dritten Geheimnis von Fatima und der Frage, ob die mit 80 Jahren Verspätung veröffentlichte Version wirklich die richtige ist.

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STEPHAN BERNDT

_________________________________________

Hellseher und Astrologen im Dienste der Macht

Stephan Berndt

 

Umschlaggestaltung: DSR – Digitalstudio Rypka GmbH, Dobl, Thomas Hofer, www.rypka.at

BildnachweisUmschlagabb. Vorderseite: Hintergrund: Delphische Sibylle; von oben nach unten: Napoleon, Rudolf Heß, Ronald Reagan und Konrad Adenauer: Archiv des Verfassers bzw. Verlages; Joseph Kardinal Ratzinger (Papst Benedikt XVI.): Ullstein-Bilderdienst

Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessen ungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recherchieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Hinweis:Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die zum Schutz vor Verschmutzung verwendete Einschweißfolie ist aus Polyethylen chlor- und schwefelfrei hergestellt. Diese umweltfreundliche Folie verhält sich grundwasserneutral, ist voll recyclingfähig und verbrennt in Müllverbrennungsanlagen völlig ungiftig.

Auf Wunsch senden wir Ihnen gerne kostenlos unser Verlagsverzeichnis zu:Ares Verlag GmbHHofgasse 5 / Postfach 438A-8011 GrazTel.: +43 (0)316/82 16 36Fax: +43 (0)316/83 56 12E-Mail: [email protected]

ISBN 978-3-902732-11-8

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright: Ares Verlag, Graz 2011

Layout: Ecotext-Verlag, Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, 1010 WienGesamtherstellung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. StefanPrinted in Austria

Inhalt   

Politik nach Hokuspokus?

Staatenschicksal ist Politikerschicksal

Die persönliche Begegnung mit Astrologen und Hellsehern

Faktor Zeitgeist

Wissen ist Macht

Für und Wider okkulter Zukunftsschau

Begriffsklärungen

Die Vorsehung (Prädestination)

Seher und Hellseher

Wahrsager

Orakel

Prophet

Prophezeiung

Weissagung

Okkultismus

Herrscher und Seher in vorchristlicher Zeit

Seher und Orakel bei den alten Germanen

Odin und seine Raben

Die Kelten

Die Griechen

Die antike Kontroverse um die okkulte Zukunftsschau

Das Orakel von Delphi

Befragungen des Orakels von Delphi

König Krösus (546 v. Chr.)

Themistokles (480 v. Chr.)

Alexander der Große (335 v. Chr.)

Babylonische Gelehrte bringen die Astrologie nach Griechenland

Die Sibyllen

Die Römer

Die Haruspices

Kaiser Augustus (Kaiser 31 v. Chr.-14 n. Chr.)

Kaiser Tiberius (Kaiser 14–37 n. Chr.)

Kaiser Claudius (Kaiser 41–54 n. Chr.)

Kaiser Nero (Kaiser 54–68 n. Chr.)

Kaiser Domitian (Kaiser 81–96 n. Chr.)

Kaiser Hadrian (Kaiser 117–138 n. Chr.)

Das Abrutschen der okkulten Zukunftsschau in die Illegalität

Julius Caesar (Diktator von 46–44 v. Chr.)

Alte außereuropäische Kulturen

Mesopotamien

Die Inkas

Okkulte Zukunftsschau in Ostasien

Seher und Astrologen im Heiligen Reich

Herrscher und Seher im Mittelalter

Karl der Große (Kaiser 800–814)

Hildegard von Bingen

Kaiser Friedrich II. (Kaiser 1220–1250)

Kaiser Friedrich III. (Kaiser 1452–1493)

Herrscher und Seher im 15. bis zum 17. Jahrhundert

König Heinrich VII. von England

König Charles I. und der Astrologe William Lilly

König William III

Nostradamus, Seher im Dienste der Königin Frankreichs

Die Medici

König Ludwig XIII

General Wallenstein und seine Astrologen

Die „Wahrsagerin Napoleons“.

Das Leben der Marie-Anne Lenormand

Marie-Anne Lenormands tatsächliche seherische Fähigkeiten

Die Weissagung der Marie-Anne Lenormand

Von Berlin nach Paris

Rasputin und der Preis der Heilung.

Der junge Zarewitsch (1904–1918) – Rasputins Schlüssel zur Macht

Rasputins hellseherische Fähigkeiten

Sektion 13 ermittelt gegen die „dunklen Kräfte“

Lüstling Rasputin

Kaffeekränzchen beim Wundermönch

Rasputins Einfluss auf die Regierung

Schwarzmagische Heilung?

Kaiser Wilhelm II. und der Seher aus Norwegen.

„Das letzte große Unglück“

Johanssons Versuche, Kaiser Wilhelm II. zu warnen

Johansson in Berlin

Hellseher und Astrologen im Dritten Reich.

Rudolf Heß

Bruchlandung mit Horoskop und alte Weissagungen

Der „Held“, der die alte Ehre wiederherstellt

Das „Zentralinstitut für Okkultismus“

Der Angriff der NS-Anti-Okkultisten

Lagebericht auf dem Gebiet des astrologischen Schrifttums

„Führerverfügung“ nach dem Geschmack von Rudolf Heß

Die „Aktion Heß“

Englands Untergang oder: Wenn Magda Goebbels vor dem Einschlafen Nostradamus liest

Adolf Hitler und das Schweigen im Tempel

Hitlers okkulte Anfänge

Henriette von Schirach über Hitlers Interesse an der Astrologie

Die Astrologin Elsbeth Ebertin — oder: Gedichte an den Führer

Henriette von Schirach: Weitere Details zum Okkultisten Hitler

Weitere Astrologen zu Hitlers Horoskop

Hitler weicht aus

Erik Jan Hanussen

Hanussen und Hitler

Hanussens Show

Wie nun entwickelte sich Hanussens Kontakt zu den Nationalsozialisten ?

Die Ermordung Hanussens.

Das „Todeshoroskop“ vom Reichstag

Karl Ernst Krafft oder: Wenn Goebbels Hitlers Horoskop braucht

Dr. med. Gutberlet aus München

Mitte April 1945: Letzte Hoffnung Horoskopoder: „Tapferer König, warte noch ein Weilchen “

„Hurra, die Zarin ist tot!“ oder: Wunder am Freitag, den 13

Die unglaubliche Geschichte des Astrologen Bernd Unglaub

Hitlers okkulte Literatur

Carl Loogs Prognose zum Zweiten Weltkrieg aus dem Jahre 1921 Weitere okkulte Literatur aus Hitlers Bibliothek

Weitere okkulte Literatur aus Hitlers Bibliothek

Hitlers Berührungspunkte mit Astrologie und Hellseherei Zusammenfassung

Hitlers Gott und dessen Tempel

Heinrich Himmler kennt Hitlers Horoskop – und grinst.

Der Okkultist Himmler

Die Befreiung Mussolinis.

Das, „Ahnenerbe“

Attentätersuche mit Hellseher

Himmlers Hofastrologe Wilhelm Wulff

Wilhelm Wulffs „Einstellungsgespräch“ bei Heinrich Himmler

Die NS-Doppelmoral in Sachen Astrologie

Die Prophezeiung von der Schlacht am Birkenbaum

Wulffs Hitler-Horoskop

Nachwort zu den Kapiteln über das Dritte Reich

Winston Churchill und Helen Duncan oder: Wenn eine schottische Hausfrau Ektoplasma produziert

Wolf Messing und Josef Stalin

Konrad Adenauer oder: „Das weiß außer mir nur noch eine Hellseherin.“.

Alois Irlmaier und die bayerischen Politiker

„Irlmaier hat recht“

Ausnahmefall Alois Irlmaier

Einige interessante Voraussagen Irlmaiers

Buchela – die Seherin von Bonn

Buchelas Wahlprognose für die Bundestagswahl 1953

Massenandrang bei der Hellseherin

Ein Blick auf Buchelas tatsächliche seherische Fähigkeiten

Hat Buchela Adenauers Politik beeinflusst?

Buchela bekommt Besuch vom Fernsehen

Leonid Breschnew & Co

Ronald Reagan oder: Astrologie-Skandal im Weißen Haus

Jeane Dixon

Weltpolitik mit Astrologie

Frangois Mitterrand oder: Volksabstimmung nach Horoskop

Berliner Wahrsagerinnen oder: „Natürlich glaube ich nicht

an Astrologie!“

Die Berliner Wahrsagerin Mona Stein

Gabriele Hoffmann

Gabriele Hoffmann sieht den wahren Crash erst noch kommen

Papst Benedikt XVI. und die Rebellion im Vatikan

Seher und Propheten in der Bibel

Das Christentum und der Glaube an die Vorsehung.

Der Bischofsstab – ein Erbe römischer Auguren

Die Renaissance-Päpste und ihre Vorliebe für die Astrologie

Die Grundsteinlegung des Petersdoms im Jahre 1547

Kirchliche „Visionäre“

Die Botschaft von La Salette und das Schicksal der Kirche

Die Flucht des Papstes

Papst Benedikt XVI. und der drohende Zerfall der kath. Kirche

Der mystische Beichtvater Benedikts XVI

Die „Feldpostbrief-Prophezeiung von 1914

Warum kommt der Papst nach Köln?

Benedikt XVI. und das „dritte Geheimnis von Fátima“

Benedikt XVI. und Anna Katharina Emmerick

Benedikt XVI. – ein prophezeiter Endzeitpapst?

Ohne Seher — fährt alles auf Sicht!

Anhang

Anmerkungen

Bildnachweis

Lagebericht auf dem Gebiet des astrologischen Schrifttums

Elsbeth Ebertin, „Ein Blick in die Zukunft — 1924“

Die „Weissagung von Lenormand“

Die Botschaft von La Salette

Das Lied der Linde

Bibliographie

Namenverzeichnis

Politik nach Hokuspokus?

„Geht ein Politiker zu einem Hellseher …“

So oder so ähnlich könnte ein Witz beginnen. Aber es ist kein Witz.

Geht ein Politiker zu einem Hellseher (oder Astrologen), so macht er das heimlich – ohne Zeugen. Und die Hellseher und Astrologen schweigen wie ein Grab. Denn Verschwiegenheit ist Teil ihres Geschäfts.

Hellseher und Astrologen haben heutzutage ein so zweifelhaftes Image, dass kein Politiker mit ihnen in Verbindung gebracht werden will. Also weiß niemand, welche unserer Politiker sich von Hellsehern und Astrologen beraten lassen. Die Öffentlichkeit glaubt, es könne sich bestenfalls um Einzelfälle handeln. Doch diese Einzelfall-These fängt schnell an zu wanken, wenn man weiß, dass US-Präsident Ronald Reagan nachweislich jahrelang von einer Astrologin beraten wurde – ebenso wie Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand. Ronald Reagan war von 1981 bis 1989 Präsident der Atommacht USA, François Mitterrand von 1981 bis 1995 Präsident der Atommacht Frankreich. Die Einzelfall-These wankt dann weiter, wenn man erfährt, dass Deutschlands Kanzler Konrad Adenauer jahrelang eine Hellseherin konsultierte.

Öffentlich bekannt wurden diese drei Fälle allerdings erst nach dem Tode des Politikers (François Mitterrand), infolge einer persönlichen Leichtfertigkeit (Konrad Adenauer) bzw. einer Geheimhaltungspanne (Ronald Reagan). Es fragt sich folglich, in wie vielen Fällen die Geheimhaltung erfolgreich war bzw. wie hoch insgesamt der Prozentsatz westlicher Politiker ist, die sich von Hellsehern und Astrologen beraten lassen?

Wie viele unserer Politiker glauben Astrologie und Hellseherei? Versucht man beispielsweise den genaueren Prozentsatz der deutschen Politiker zu ermitteln, die an Hellseherei und Astrologie glauben – nennen wir diese Politiker „okkultgläubig“ –, so bietet sich zunächst ein Blick auf die Normalbevölkerung an: Nach einer Umfrage des Forsa-Instituts, die am 31. Dezember 2005 im Handelsblatt zitiert wurde, „hält jeder zweite Deutsche Zusammenhänge zwischen Planetenkonstellationen und Schicksal für möglich, jeder zehnte ist von ihnen überzeugt“. Diese zehn Prozent der Deutschen, die von der Astrologie überzeugt sind1, kann man als Basiswert für die Berechnung des Prozentsatzes okkultgläubiger deutscher Politiker verwenden.

In einem zweiten Schritt ist dann zu untersuchen, ob unsere Politiker mit ihrer Okkultgläubigkeit unter oder über diesen zehn Prozent liegen. Zur Beantwortung dieser Frage kann man eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahre 1958 heranziehen, in der gefragt wurde, ob man an die Existenz des „Zweiten Gesichts“2, also an Hellseherei glaubt. Hellseherei ist neben der Astrologie die zweite okkulte Methode der Zukunftserkundung. An das „Zweite Gesicht“ glaubten laut Allensbach-Institut:

49 % mit Hauptschulabschluss

63 % mit mittlerer Reife

70 % mit Abitur bzw. Studium3

Bezüglich der Gesamtbevölkerung ergab die Umfrage, dass 53 % der Westdeutschen an das „Zweite Gesicht“ glaubten (36 % „Nein“, 11 % „Weiß nicht“). Dieser Umfrage nach lag im Jahre 1958 die Okkultgläubigkeit von Abiturienten und Studierten also 30 % über dem Durchschnitt. Zu entsprechenden Ergebnissen kam 1964 auch eine Umfrage in Großbritannien4, in der nach dem Glauben an die Astrologie gefragt wurde. Auch hier nahm die Okkultgläubigkeit mit zunehmender Bildung zu.

Der bekannte deutsche Parapsychologe Prof. Dr. Hans Bender (gest. 1991), der über Hellseherei geforscht hat und sie grundsätzlich für erwiesen hielt, kommentierte die Allensbach-Umfrage zum „Zweiten Gesicht“:

Auffallend ist die Tatsache, daß die „Ja-Stimmen“ von 49 % bei Volksschulabschluss, über 63 % bei Mittlerer Reife, bis zu 70 % bei Abitur und Universität ansteigt, wobei zu bemerken ist, daß bei der zuletzt genannten Zahl mit einem größeren Schätzintervall zu rechnen ist, da die befragte Teilgruppe weniger als 100 Fälle umfasst. Trotz dieser Einschränkung ist nicht zu verkennen, daß mit zunehmender Bildung die Bereitschaft wächst, eine Haltung einzunehmen, die von den Gegnern der Parapsychologie als „okkultgläubig“ bezeichnet wird.5

Bedauerlicherweise wurde dann nicht weiter untersucht, warum mit höherer Schulbildung die „Okkultgläubigkeit“ zunimmt. Aus meiner Sicht ist dies eine unverzeihliche Unterlassung, schließlich liegt die Vermutung auf der Hand – sie springt einem geradezu ins Auge –, dass die zunehmende Okkultgläubigkeit in gebildeteren Schichten eine Folge besserer Information und höherer Intelligenz ist! Zugegeben, diese Vermutung könnte sich nach einer entsprechenden Untersuchung dennoch als Irrtum erweisen. Allerdings wäre der Umkehrschluss, dass diesbezüglich die „Dümmeren“ bzw. Ungebildeteren die „Schlaueren“ sind, ziemlich überraschend, wenn nicht gar völlig grotesk.

Sind die Gebildeteren auch die Intelligenteren, so wäre zu vermuten, dass es in Wissenschaft und Massenmedien eine vorherrschende Tendenz gibt, den Irrtum der breiten, ungebildeteren Masse zu nutzen, um in der Öffentlichkeit vorsätzlich ein falsches Bild von Hellseherei und Astrologie zu erzeugen. Jedenfalls sollte man einmal genau untersuchen, warum in gebildeteren Schichten die Okkultgläubigkeit zunimmt.

Ordnet man Deutschlands Politiker der Gruppe der „Abiturienten und Studierten“ zu, dann ergibt sich schon einmal ein Schätzwert von 13 % okkultgläubigen Politikern (30 % über dem Durchschnitt von 10 %). Für den nächsten Schritt bräuchten wir dann eigentlich die genauen Intelligenzquotienten der einzelnen Politiker. Aber leider gibt es keine entsprechenden Untersuchungen. Also helfe ich mir aus dieser Notlage mit der These, dass der Durchschnittspolitiker etwas intelligenter ist als der Durchschnittsabiturient – ich denke, das ist keine zu optimistische Annahme. Es fragt sich allerdings, ob man einen höheren Intelligenzquotienten auch 1:1 mit Okkultgläubigkeit gleichsetzen kann? Leider fehlen auch hier genauere Messwerte. Möglicherweise würde man ja anhand dieser Daten erkennen, dass Politiker mit einem Intelligenzquotienten von – sagen wir – über 140 wieder weniger an okkulte Zukunftsschau glauben.

Da hier eine verlässliche Datengrundlage fehlt, schätze ich, dass man bei deutschen Politikern auf einen Wert von 15 % Okkultgläubigen kommt – also praktisch jeder Siebte. Natürlich würde das nicht bedeuten, dass jeder siebte Politiker auch gleich zum Astrologen oder Hellseher geht. Und schon gar nicht würde es bedeuten, dass jeder siebte Politiker seine „Okkultgläubigkeit“ öffentlich zugibt. Denn für einen Politiker in unseren Tagen ist der öffentliche Druck, seine Okkultgläubigkeit zu leugnen, immens. Das wird in diesem Buch in mehreren Fällen deutlich werden – zum Beispiel bei Kanzler Ludwig Erhard, Ronald Reagan, François Mitterrand, Gregor Gysi und teilweise auch bei Adolf Hitler.

Mein Schätzwert von etwa 15 % okkultgläubiger Politiker ist soweit natürlich nur ein Durchschnittswert. Es fragt sich weiter, ob sich diese 15 % mit zunehmender Macht eines Politikers ändern? Gibt es einen Zusammenhang zwischen politischer Macht und dem Glauben an Hellseherei und Astrologie?

Staatenschicksal ist Politikerschicksal

Die Französische Revolution, die Russische Revolution, der Untergang des Dritten Reiches und der Zusammenbruch der DDR – die Ermordung, Hinrichtung, Inhaftierung und die Flucht vieler der wichtigsten Repräsentanten dieser untergegangenen Mächte –, all das zeigt, wie sehr das Schicksal eines Politikers mit dem Schicksal seines Staates verknüpft ist. Die Schicksale von Staat und Politiker hängen zusammen wie die Schicksale von Schiff und Kapitän.

So mancher Präsident oder Kanzler versucht daher, das Schicksal seines Staates besser zu verstehen, weil er weiß, dass es auch um sein eigenes Schicksal geht. Wer aber nach dem zukünftigen Schicksal eines Staates fragt, kommt an Astrologie und Hellseherei nicht vorbei. Dazu gibt es zahllose Beispiele aus 3000 Jahren Weltgeschichte. Eine gewisse Logik spricht also dafür, dass ein Politiker bei zunehmender Identifikation mit seinem Staat und mit zunehmender Macht erkennt, dass er Teil eines größeren Ganzen ist – das er zwar immer besser verstehen, aber nicht wirklich beeinflussen kann.

Das Phänomen zunehmender persönlicher Macht einerseits und zunehmendem Bewusstsein eigener Machtlosigkeit angesichts „höherer“ Mächte andererseits hat – wie wir noch sehen werden – bei bestimmten Politikern immer wieder die Bereitschaft erhöht, jenseits der vordergründigen Mechanik der Macht einen tieferen Sinn zu erkennen. Das hat sie immer wieder in Kontakt mit Hellsehern und Astrologen gebracht.

Die persönliche Begegnung mit Astrologen und Hellsehern

In der Weltgeschichte kam es immer wieder vor, dass in der Hauptstadt eines sehr mächtigen Staates „zufälligerweise“ auch ein sehr begabter Seher oder eine sehr begabte Seherin lebte. Viele dieser Seher, Hellseher oder Astrologen waren stadtbekannte Persönlichkeiten und genossen bei vielen Vertretern der politischen Klasse große Achtung und hohen Respekt.

Oft waren diese „Seher“ interessante Persönlichkeiten, hatten Interessantes zu berichten und wurden deshalb gerne auf öffentliche Veranstaltungen eingeladen. Und das gilt bis heute: Ein erster Kontakt zwischen Politiker und Seher ist in der Praxis recht einfach, da man Hellseher und Astrologen hin und wieder auf Veranstaltungen wie zum Beispiel Pressebällen antrifft.

Die Berliner Wahrsagerin Gabriele Hoffmann und Kanzler Helmut Kohl auf einem Berliner Presseball (ca. 1990)

Andererseits sind natürlich gerade auch viele Politiker Skeptiker und in ihrer anti-okkultistischen Einstellung fest verankert.

  Dass viele Politiker so etwas wie eine Vorsehung und eine okkulte Zukunftsschau ablehnen, leuchtet ein, schließlich geht es in der Politik um Macht und darum, dass man s e l b s t die Dinge bewegt. Vielen dieser Machtmenschen geht deshalb schon alleine die Idee einer höheren Macht auf die Nerven. Nichts bringt das besser zum Ausdruck, als der von den Nationalsozialisten massenmedial propagierte „Triumph des Willens“ über die Mächte des Schicksals. Gerade in der Politik stößt man also auf die überzeugtesten Anti-Okkultisten – zu denen angeblich auch Helmut Kohl zählt.

Bei einem Politiker, der kein besonders hartnäckiger Skeptiker ist, ist es hingegen durchaus möglich, dass er mit einem Helleseher oder Astrologen zusammentrifft und sich eingehender informiert. Ist dies dann kein flüchtiges Zusammentreffen, sondern eine regelrechte Beratung – und wird diese Beratung auch noch von einem guten oder wenigstens überzeugenden Hellseher oder Astrologen durchgeführt –, dann ist damit zu rechnen, dass ein Teil der Skeptiker zu „Gläubigen“ wird. Derartige Fälle überzeugter Skeptiker tauchen in der Literatur öfters auf. Die persönliche Begegnung mit einem guten oder wenigstens überzeugenden Okkultisten ist ein ganz entscheidendes Moment für das mögliche Entstehen einer Okkultgläubigkeit.

Wenn also zehn Prozent der Deutschen im Jahre 2005 laut Handelsblatt davon „überzeugt“ waren, dass die Sterne das Schicksal beeinflussen, so muss man berücksichtigen, dass die meisten der Befragten so urteilten, ohne jemals von einem Astrologen – ganz zu schweigen von einem sehr guten und damit auch teuren Astrologen – beraten worden zu sein. Tatsächlich begegnet den meisten Menschen die Astrologie nur in Form primitiver Zeitungshoroskope. Gäbe es hingegen mehr professionelle astrologische Beratung, wäre der Prozentsatz derjenigen, die von einem Einfluss der Sterne auf das Schicksal überzeugt sind, mit Sicherheit deutlich höher – selbst wenn diese Überzeugung letztlich nur ein Irrtum wäre!

Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang natürlich auch der Sonderfall eines Politikers, der nach einem überlebten Attentat plötzlich bereit ist, Hellseher und Astrologen als Ratgeber zu akzeptieren. Das bekannteste Beispiel hierfür aus der jüngeren Vergangenheit ist wieder Ronald Reagan.

Zugegebenermaßen sind tödliche Attentate auf Spitzenpolitiker zur Zeit in den westlichen Staaten selten. Aber wenn, dann bekommen sie allergrößte Aufmerksamkeit – und die Ermordung des Staatschefs an sich, ist, bezogen auf die Weltgeschichte, ein recht häufiges Ereignis.

Natürlich ist es gewagt, an dieser Stelle einen Schätzwert für die Okkult- oder Schicksalsgläubigkeit deutscher Berufs- oder gar Regierungspolitiker abzugeben. Um auf einen halbwegs belastbaren Wert zu kommen, wäre ein ganzes Forschungsprojekt erforderlich – das dann an der Verschwiegenheit der Politiker scheitern dürfte. Geht man jedoch davon aus, dass sich Politiker in ihren grundlegenden Glaubenssätzen und Überzeugungen nicht wirklich von der Durchschnittsbevölkerung unterscheiden und berücksichtigt man darüber hinaus ein paar Sonderfaktoren, die aufSpitzenpolitiker einwirken, so dürfte der Prozentsatz okkultgläubiger Berufspolitiker meiner Schätzung nach bei etwa 20 Prozent liegen.

Diese 20 Prozent entsprechen auch grob dem, was sich ergibt, wenn man die Fälle Ronald Reagan, François Mitterrand und Konrad Adenauer auf die Zeit von 1945 bis 2000 umrechnet. Konrad Adenauer war einer von sieben deutschen Kanzlern in diesem Zeitraum von 56 Jahren, und er war 14 Jahre im Amt – woraus sich für einen westdeutschen Bundesbürger eine Wahrscheinlichkeit von 25 % ergab, in der Zeit von 1945 bis 2000 von einem okkultgläubigen Kanzler regiert zu werden (Näheres zu Adenauer siehe Seite 280 ff.). Mit Ronald Reagan (8 Jahre lang Präsident) ergab sich für den US-Bürger eine Wahrscheinlichkeit von 14,3 %, von einem okkultgläubigen Präsidenten regiert zu werden. Und im Falle François Mitterrands (14 Jahre Präsident) ergibt sich wieder eine Wahrscheinlichkeit von 25 %. Und wohlgemerkt: Wir sprechen hier nur von den bekannt gewordenen Fällen okkultgläubiger westlicher Regierungschefs zwischen 1945 und 2000.

Verwendet man den Begriff Berufspolitiker, so kann man weiter unterscheiden zwischen eher jungen, unerfahrenen, schlecht vernetzten und einflussarmen Berufspolitikern und ihren älteren, erfahreneren, gut vernetzten und einflussreichen Kollegen. Es versteht sich von selbst, dass die alten Hasen gegenüber den Anfängern und Neulingen einen Informationsvorsprung haben. „Alte Hasen“ bedeutet im Falle Adenauers, Reagans und Mitterrands eine okkulte Beratung im Amt, die den Quellen nach im Alter von 77 Jahren (Adenauer), 70 Jahren (Reagan) und 74 Jahren (Mitterrand) einsetzte. Ein Schätzwert von 25 % Okkultgläubiger bei der Gruppe der besonders erfahrenen, gut vernetzten und mächtigen Politiker scheint mir angesichts obiger Umfrageergebnisse und der erwähnten anderen Aspekte keinesfalls zu hoch gegriffen.

Faktor Zeitgeist

Ein Aspekt, der beim Glauben an okkulte Zukunftsschau bisher noch unberücksichtigt geblieben ist, ist der Zeitgeist. Der Prozentsatz okkultgläubiger Spitzenpolitiker beispielsweise um das Jahr Null herum im Römischen Reich dürfte bei weit über 50 % gelegen haben. Julius Caesar, Kaiser Augustus und Kaiser Nero waren allesamt okkultgläubig und ließen sich von Sehern und Astrologen beraten. Nicht viel anders war es im 12. und 13. Jahrhundert in Mitteleuropa unter dem Adelsgeschlecht der Staufer und im 15. und 16. Jahrhundert in der Renaissance in vielen europäischen Staaten. Mit Beginn der Aufklärung sackte der Prozentsatz dann deutlich ab. Die Vernunft hatte gesiegt – was jedoch nicht verhindern konnte, dass im Dritten Reich viele der mächtigsten Männer, insbesondere Adolf Hitler, SS-Chef Heinrich Himmler und Führerstellvertreter Rudolf Heß, in Sachen Zukunft okkult dachten. Einige Hitler-Biographen bestreiten zwar, dass Hitler ein Okkultist war, ich werde in diesem Buch aber einige Indizien vorlegen, die zu einem Überdenken der in diesem Punkt derzeit üblichen Ansichten Anlass geben sollte.

Bei obiger Forsa-Umfrage ist also auch zu bedenken, in welcher Zeit sie durchgeführt wurde. Das Jahr 2005 war für Deutschland kein besonderes Krisenjahr. In Krisenjahren hingegen – das lehrt die Geschichte – wenden sich viele Menschen wieder verstärkt vermeintlich höheren Mächten zu – selbst dann, wenn sie in fetten Jahren zuvor den Glauben an diese Mächte verloren haben. In Notzeiten lernt man wieder beten und man ist auch eher bereit, auf Hellseher und Astrologen zu hören.

Verglichen mit der Zeit von 1950 bis ca. 1990 leben wir Mitteleuropäer zu Beginn des 3. Jahrtausends in einer Zeit kontinuierlich zunehmender Verunsicherung. Einerseits gibt es negative, weltweit wirksame und unabwendbar erscheinende Faktoren wie den Klimawandel und das nahende Ende bezahlbarer fossiler Brennstoffe, andererseits gibt es negative Faktoren, die speziell Europa betreffen und ähnlich unabwendbar erscheinen: die Überalterung der Gesellschaft, die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Finanzierbarkeit der Sozialsysteme, die horrenden Staatsschulden, das schwache Wirtschaftswachstum und der zunehmende Bedeutungsverlust im globalen Kräfteverhältnis.

In diese ungünstige Großwetterlage fallen dann zusätzlich noch sehr folgenreiche Einzelereignisse, wie der 11. September 2001 oder der 15. September 2008, als die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers zusammenbrach und mit ihr beinahe das ganze Weltfinanzsystem mitsamt der Weltwirtschaft.

Vier Monate nach dem Lehman-Brothers-Crash berichtete der Tagesspiegel6 aus der Praxis der bekannten Berliner Hellseherin Gabriele Hoffmann, dass jetzt verstärkt „Unternehmer und Manager“ kämen, die von der Wahrsagerin wissen wollten, wie es mit ihnen weitergeht. Ich frage den Leser: Welche besondere geistige Reife oder welche intellektuelle Ausnahmebegabung unterscheidet unsere Politiker eigentlich von Managern und Unternehmern aus der Wirtschaft? Gabriele Hoffmann gibt am Rande zu, dass auch Politiker in ihre Beratung kämen. Aber natürlich hängt sie das nicht an die große Glocke. Und vor allem nennt sie keine Namen.

Wissen ist Macht

Wissen ist Macht. Wer mehr Macht will, braucht mehr Wissen, mehr Informationen. Deshalb gibt es Geheimdienste. Aber können Geheimdienste auch unvorhersehbare zukünftige Ereignisse voraussehen? Natürlich nicht!

Zu Beginn des dritten Jahrtausends haben wir keine Technologie, die das Unvorhersehbare vorhersehen kann – insbesondere wenn es um die Langzeitvorhersagen von hochkomplexen Systemen geht, wie zum Beispiel das Weltwetter, das Weltfinanzsystem oder die internationale Friedensordnung. Diese Technologielücke wird traditionell und nach wie vor von Hellsehern und Astrologen gefüllt. Für einen Spitzenpolitiker sind Hellseher und Astrologen nach wie vor eine Alternative zu Geheimdiensten. Denn Geheimdienste sind nur beschränkt in der Lage, wichtige Ereignisse vorauszusehen.

Die Liste der von den Geheimdiensten nicht vorausgesehenen Ereignisse und Entwicklungen ist endlos. Nahezu jeder Krieg beruht darauf, dass irgendein Geheimdienst versagt hat und eine Kriegspartei irrtümlich glaubte, sie werde siegen. Wer also innerlich die Nase über okkultgläubige Politiker rümpft, muss sehen, dass Hellseher und Astrologen eigentlich nur auf ein unbeackertes Feld reagieren, das die Geheimdienste hinterlassen haben. So zeigt sich, dass Geheimdienst und Okkultismus eine Art Geschwisterpaar sind. Und es ist kein Zufall, dass der Begriff Okkultismus abgeleitet ist vom lateinischen occultus = verborgen, verdeckt, geheim.

Egal ob mit Hilfe der Geheimdienste oder mit Hilfe von Okkultisten: Es liegt in der Natur der Politik, dass sie in die Zukunft sehen will. Sie will im Voraus die Folgen eigener Entscheidungen und die Züge ihrer Gegner kennen. So wurde im 19. Jahrhundert das Gouverner c’est prévoir! (Regieren heißt vorhersehen) des französischen Verlegers und Politikers Emile de Girardin in ganz Europa zum geflügelten Wort.

Fassen wir zusammen: Nach einer im Jahre 2005 veröffentlichten Forsa-Umfrage halten etwa 50 Prozent aller Deutschen einen Zusammenhang zwischen Schicksal und Planetenkonstellationen für möglich, 10 Prozent der Deutschen sind davon überzeugt. In anderen Umfragen zeigt sich, dass mit zunehmendem Bildungsgrad die Bereitschaft, an okkulte Zukunftsschau zu glauben, zunimmt. So kommt man bei durchschnittlichen Abiturienten auf einen Wert von 13 Prozent – bei überdurchschnittlichen Abiturienten erlaubt sich daher ein Schätzwert von 15 Prozent Okkultgläubiger. Bei der Gruppe der Berufspolitiker ergibt sich darüber hinaus mit zunehmender Macht naturbedingt ein psychologisch-soziologischer Sonderstatus, der eine Reihe von Faktoren verstärkt, die eine größere Nähe zu okkulten Ratgebern begünstigen: Der Politiker braucht Informationen, die seine Mitbewerber, Konkurrenten und Feinde nicht haben.

Weiter erkennt ein Politiker mit zunehmender Macht, dass sein persönliches Schicksal immer mehr von dem seines Staates abhängt, was sein Interesse an einem höheren Ganzen anregt und fördert. Darüber hinaus weiß ein Politiker aus persönlichen Kontakten und über die Massenmedien – aber auch aus der Geschichte der Politik –, dass Politiker sich immer wieder okkult beraten lassen. Auch daraus ergibt sich eine gewisse Versuchung, dem Potenzial okkulter Ratgeber irgendwann wenigstens einmal auf den Zahn zu fühlen. Befindet sich ein Politiker zudem an der obersten Spitze der Machtpyramide, muss er sich mit dem Problem von Attentaten auseinandersetzen, und gegebenenfalls auch mit der Möglichkeit, dass sein eigener Geheimdienst in Attentatspläne verwickelt ist – und er von daher eine Art privaten Geheimdienst braucht. Viele dieser Faktoren verstärken sich zusätzlich im Fall einer Krise.

Vor dem Hintergrund all dieser Faktoren stelle ich die These auf, dass in Krisenzeiten der Prozentsatz der Politiker, die sich von Hellsehern und Astrologen beraten lassen, so weit ansteigen kann, dass die Regierungspolitik zahlreicher westlicher Staaten faktisch unter okkultem Einfluss steht. Darin muss man nicht zwingend ein Problem sehen. Nur wenn darin ein Problem zu sehen wäre, dann sollte man auch wissen, was konkret die okkulten Quellen über die Zukunft sagen. Auch das wird in diesem Buch erörtert werden.

Für und Wider okkulter Zukunftsschau

Zum Abschluss dieser Einleitung muss ich noch kurz auf das grundsätzliche Für und Wider okkulter* Zukunftsschau eingehen: Dass die etablierte Wissenschaft in ihrem nimmermüden Kampf gegen allen Aberglauben nicht gut auf Hellseher und Astrologen zu sprechen ist, ist klar. Die weltweite Wissenschaftlergemeinde ist in ihren Ansichten über Hellseherei und Astrologie allerdings kein einheitlicher Block. Es gibt durchaus Gelehrte und Wissenschaftler, für die beispielsweise die übersinnliche, PSI-mäßige Schau in die Zukunft – die Präkognition – eine Tatsache ist.7

Andererseits besteht ein grundsätzliches Problem beim okkulten Blick in die Zukunft darin, dass eine Überprüfung von Voraussagen anhand der späteren tatsächlichen Ereignisse bestenfalls beweisen kann, dass die Zukunft vorausgesehen wurde. Es ist jedoch unmöglich, im Voraus festzustellen oder gar zu beweisen, welche Voraussagen sich erfüllen werden! Bestenfalls lässt sich bei einem Hellseher mit nachweislich hoher Trefferquote vermuten, dass sich auch seine noch unerfüllten Vorhersagen erfüllen werden. Entsprechendes gilt für voraussagesichere Astrologen.

Die parapsychologische Forschung, die Gesellschaft als Ganzes und der einzelne Mensch stoßen somit am Rande des Hier und Jetzt an eine unüberwindbare Mauer, die nur mit dem Glauben überwunden werden kann – nicht mit Wissen. Zukunft lässt sich nicht beweisen, denn der endgültige Beweis liegt eben nur in der Zukunft. Die letzte Instanz und der höchste Richter über jegliche Voraussage und Prophezeiung ist die Zukunft bzw. die zur Gegenwart gewordene Zukunft.

Man sieht: Astrologie und Hellseherei bewegen sich in einem vielfältigen Spannungsfeld: Politiker nehmen sie in Anspruch, streiten es aber ab. Die etablierte Wissenschaft erklärt sie für Unfug, aber nicht alle Wissenschaftler teilen diese Auffassung. Etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung hält es für möglich, dass man mit Hilfe von Hellseherei und Astrologie in die Zukunft sehen kann – andererseits lässt sich immer wieder in Zeitungen und im Fernsehen beobachten, wie versucht wird, diesen Okkultglauben lächerlich zu machen und als puren Aberglauben hinzustellen.

Jedoch – es scheint ein seltsamer Aberglauben sein, wenn er jahrelang sogar von den amtierenden Regierungschefs zweier Atommächte – Ronald Reagan und François Mitterrand – praktiziert wurde. Außerdem – und das wird gerne übersehen – hat der Aberglauben eine etwas angeschmuddelte kleine Schwester namens „schlampig recherchierter, vorurteilsbehafteter Skeptizismus“. Sehen wir uns also an, was auf Tatsachen beruht, was Aberglauben, was berechtigter Skeptizismus und was vorurteilsbehafteter Skeptizismus ist.

Begriffsklärungen

Bevor wir richtig in die Materie einsteigen, will ich noch die Begriffe Vorsehung, Seher, Hellseher, Wahrsager, Orakel, Okkultismus, Prophet, Prophezeiung und Weissagung klären. Sie werden nachfolgend immer wieder auftauchen, und der eine oder andere Leser ist es vielleicht nicht gewohnt, sie klar voneinander abzugrenzen. Teilweise ist es aber auch so, dass diese Begriffe heutzutage in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet werden – und die Definitionen beispielsweise im Brockhaus-Lexikon sind auch nicht immer glücklich. Viele dieser Begriffe werden meiner Wahrnehmung nach unscharf gebraucht, weshalb eine Klärung ihrer Bedeutung angebracht ist.

Die Vorsehung (Prädestination)

Die konzeptionelle Grundlage jeder übernatürlichen oder okkulten Zukunftsschau ist der Glaube an eine Vorsehung – der Glaube daran, dass das Leben des Einzelnen und die Menschheitsgeschichte vorgezeichnet sind. Damit muss nicht unbedingt gemeint sein, dass alles bis ins Letzte programmiert ist. Aber in der Regel ist mit Vorsehung gemeint, dass insbesondere große, bedeutende Ereignisse vorausbestimmt sind – sowohl negative als auch positive!

Unterstellt man eine Programmierung, so fragt sich natürlich, wer der Programmierer ist? Vorsehungsglauben und Gottesglauben liegen somit dicht beieinander. Der Gedanke, dass es Gott ist, der vorsieht, ist fast schon zwangsläufig.

Die Fragen nach der Existenz der Vorsehung und des Schicksals wiederum sind so alt wie die Frage nach der Existenz Gottes, der Existenz einer Seele und dem Leben nach dem Tode. Entsprechende Diskussionen laufen in Europa und dem Mittelmeerraum seit weit über 2000 Jahren. Und der Leser – egal welchen Standpunkt er nun einnimmt – kann davon ausgehen, dass die jeweilige Gegenseite über sehr alte und recht überzeugende Gegenargumente verfügt. Das macht aber nichts. Denn Gott, Vorsehung, Schicksal und freier Wille sind letztlich Fragen des Glaubens und nicht der Logik.

Seher und Hellseher

Ein Seher – egal ob als mythische Gestalt, reale Person oder Studienobjekt der Parapsychologie – ist jemand, der über seherische Fähigkeiten verfügt oder von dem geglaubt wird, dass er sie hat. Ohne Hilfsmittel und auf übernatürliche Weise kann der Seher in die Zukunft sehen – aber auch in die Vergangenheit und an entfernte Orte. Der Seher als Idealtyp verlangt keine Entlohnung für seine Tätigkeit. Er ist der reinste, glaubwürdigste Vertreter all jener, die auf übernatürliche Weise in die Zukunft schauen – oder vorgeben, dies zu können. Seher und Hellseher können praktisch gleichgesetzt werden.

Ich selbst verwende den Begriff Seher in diesem Buch gelegentlich auch als Sammelbegriff für echte Seher und Hellseher und für fähige Astrologen – also für Personen, von denen man wohlwollend betrachtend erwarten könnte, dass sie tatsächlich in die Zukunft sehen.

Wahrsager

Beim Wahrsager liegt der Fokus mehr auf dem Sagen als dem Sehen. Im Idealfall ist ein Wahrsager ein echter Seher, der von der Vermarktung seiner Fähigkeit lebt. Durch die Bezahlung ergibt sich natürlich die Gefahr der Korruption. Der Wahrsager beginnt abzuwägen, inwieweit sich seine Voraussagen auf seinen Verdienst auswirken. Unlautere, betrügerische Wahrsager, die sich Voraussagen schlichtweg zusammendichten, gibt es zweifellos, und sie sind keinesfalls selten. Wahrsager haben deshalb vielerorts einen schlechten Ruf. Andererseits gibt es hin und wieder auch Beispiele dafür, dass Wahrsager oder Wahrsagerinnen – obwohl sie Geld verlangen – über lange Zeit hinweg ihr Geschäft sehr erfolgreich betreiben und ihre Fähigkeiten nicht darunter leiden. Teilweise werden dem Wahrsagen über das reine Sehen hinaus auch bestimmte Orakelpraktiken zugeordnet (zum Beispiel Tarot-Karten).

Orakel

Das Orakel entspringt dem Glauben, dass Wissen über die Zukunft auch offenbart werden kann, ohne dass ein Mensch über besondere seherische Fähigkeiten verfügt. Das Orakel ist somit eine Art Ersatz für die seltenen, wirklich zuverlässigen Seher.

Beim Orakel wird die Information über die Zukunft in der materiellen Welt abgebildet – etwa im Flug eines Vogels, durch Schreie von Tieren, dem Zustand von Eingeweiden geschlachteter Tiere usw. Auch das Bleigießen, Kaffeesatzlesen, die Benutzung einer Kristallkugel, Tarot-Karten, ja selbst die Astrologie kann man dieser Kategorie zuordnen.

In der Regel sind diese Orakel aber nur verständlich, wenn man über ein dazugehöriges Wissen verfügt. Damit tritt beim Orakel der Interpret oder der Deuter an die Stelle des Sehers. Im Falle des berühmten antiken Orakels in Delphi war es beispielsweise so, dass die Pythia, ein weibliches Medium, (angeblich) durch Gase aus einer Erdspalte in Trance versetzt wurde und ihre unter Trance gemachten Äußerungen von den Priestern interpretiert wurden. Vom Prinzip her handelt es sich hierbei um ein Wahrsagen unter Drogen – das man auch aus anderen Kulturen kennt.

Vom Orakel in Delphi sind etliche Fälle bekannt, in denen die Aussagen sehr rätselhaft waren. So wurde Orakel zum Synonym für schwer verständlich, rätselhaft, verschlüsselt. Dieser Aspekt des Orakels führte und führt zu weiterem Rätselraten: Manche meinen, orakelhafte Sprüche dienten einzig und alleine zur Verschleierung eines Betrugs, andere sehen darin eine Strategie, denjenigen die Wahrheit zu verschleiern, die sie nicht verkraften. Im Falle des berühmten Sehers Nostradamus – aber auch bei anderen Sehern – kommt für die Verschlüsselung der Aussagen ein weiterer Grund hinzu, nämlich der Schutz des Sehers vor dem Zorn der Mächtigen. Die Verschlüsselung, das Täuschen und Tarnen mit Worten, wird zu einer Überlebensstrategie, da sich die Mächtigen mehr für die Macht als für die vermeintliche Wahrheit interessieren. In diesem Sinne ist das Orakel ein Kind von Politik und Seher.

Orakel als Sammelbegriff wird für die konkrete Befragung des Orakels verwendet – und wie im Falle des Orakels von Delphi auch für die Seherin oder die gesamte Organisation. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass gar nicht so selten auch die Interpreten der Orakel hellseherische Fähigkeiten haben bzw. haben sollen.

Prophet

Unser Wort „Prophet“ ist abgeleitet vom griechischen prophétēs bzw. prophánai: vorhersagen, verkünden. Ein Prophet ist jemand mit wirklichen seherischen Fähigkeiten, der darüber hinaus noch eine politische Ambition hat, nämlich die Menschen von der Wahrheit und Bedeutung seiner Visionen zu überzeugen. Während der Seher „nur“ sieht, macht der Prophet aus dem Gesehenen im übertragenen Sinn ein Bild, das er vor sich herträgt, damit andere es sehen und daran glauben. Für die allermeisten Seher bzw. Hellseher ist der Begriff Prophet unzutreffend. Gerade deshalb wird „Prophet“ von Skeptikern in den Massenmedien gerne verwendet. Die künstliche Überhöhung des Sehers zum „Propheten“ dient als Rampe zur Lächerlichkeit, auf die man ihn hinaufschiebt und an deren Ende man den Sturz des „Propheten“ erwartet. In westlichen Gesellschaften wird „Prophet“ meist mit biblischen Propheten assoziiert. Gewöhnliche Seher reichen indes nicht an die Bedeutung eines biblischen Propheten heran.

Prophezeiung

Eine Prophezeiung meint in der Regel eine Summe von Einzelvoraussagen, bzw. deren Wiedergabe und Dokumentation. Ähnlich wie bei einem Propheten kann auch bei einer Prophezeiung aus dem unschuldigen ich habe gesehen ein suggestives, vorsätzlich manipulierendes das wird geschehen werden. Da es sich bei Prophezeiungen aber in der Praxis meistens um gedruckte Texte handelt, kann man anhand der konkreten Vorlage erkennen, ob es eher um die reine Mitteilung des Gesehenen geht oder um die Suggestion, dieses oder jenes werde sich in Zukunft ereignen. Von daher ist der Begriff Prophezeiung weit weniger problematisch als der Begriff Prophet.

Weissagung

Der Begriff Weissagung ist weitestgehend deckungsgleich mit dem Begriff Prophezeiung. Im Gegensatz zur Prophezeiung kann sich eine Weissagung aber auch in Einzelfällen auf die Deutung gegenwärtiger Ereignisse beziehen.

Okkultismus

Im Brockhaus-Lexikon von 1994 findet sich folgende Definition:

Okkultismus […] zusammenfassende Bezeichnung für weltanschauliche Richtungen und Praktiken, die beanspruchen, das Wissen von und den Umgang mit den unsichtbaren, geheimnisvollen und von der Wissenschaft noch unerforschten Seiten der Natur und des menschlichen Geistes besonders zu pflegen. [Hervorhebung durch den Verfasser]

Nach dieser Definition wäre das frühe 21. Jahrhundert aus Sicht des 17. Jahrhunderts eine zutiefst okkultistische Epoche. Denn die Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts wären unfähig gewesen, Dinge wie Computer, Fernseher und Mobiltelefone richtig zu erklären. Der Begriff Okkultismus ist also relativ – und abhängig vom Betrachter. Seine Herleitung vom lateinischen occultus = verborgen, verdeckt, geheim unterstreicht dies: Das Verborgene ist keine objektive Wirklichkeit, sondern subjektiv. Bestimmte Dinge sind für mache Menschen verborgen, für andere sind sie es nicht.

In diesem Buch wird der Begriff Okkultismus hauptsächlich als Sammelbegriff für die Astrologie und Hellseherei verwendet, also für Methoden der Zukunftserkundung, die heutzutage von der Wissenschaft abgelehnt werden. Ein Okkultist ist dementsprechend jemand, der diese Methoden beherrscht und anwendet bzw. an sie glaubt und von der Anwendung profitieren will.

Fassen wir zusammen: Die Vorsehung ist die konzeptionelle weltanschauliche Grundlage jeder okkulten Zukunftsschau. Der Seher ist der Verlässlichste von allen, weil er mit seinen Fähigkeiten nichts verdient und auch keine Hilfsmittel braucht. Wahrsager nehmen Geld, was nicht unbedingt der Ehrlichkeit dient. Beim Orakel wird der Blick in die Zukunft eine komplizierte Angelegenheit, und man braucht einen Zeichendeuter, der selbst aber nicht in die Zukunft sehen können muss. Der Prophet gehört hier nicht mehr dazu, weil er schon zu sehr Politiker ist. Die Prophezeiung ist ebenso wie die Weissagung in der Regel die Dokumentation des Gesehenen.

* Den Begriff okkult verwende ich in diesem Buch meistens als Sammelbegriff für Astrologie und Hellseherei, also für übersinnliche, nicht wissenschaftlich abgesegnete Versuche, in die Zukunft zu sehen.

Herrscher und Seher in vorchristlicher Zeit

Mit der Zeit vor Christi Geburt beginnend, werden wir uns nun Stückfür Stück in die Gegenwart voranarbeiten.

Zunächst tauchen wir tief ab in die Vergangenheit – jedoch nicht um von vergangenen Zeiten zu träumen, sondern um besser zu verstehen, dass in der menschlichen Natur psychologische Grundmuster eingraviert sind, die Jahrtausende unverändert überdauern und die römischen Kaiser genauso betreffen können, wie Präsidenten demokratischer Staaten im 20. und 21. Jahrhundert. Es geht in den ersten Kapiteln also nicht so sehr darum, wie und in welcher konkreten Form frühere Seher für die politische Klasse arbeiteten, sondern es geht darum, dass sie für die politische Klasse arbeiteten und dass dies sehr häufig geschah. Und es geht darum, wie diese Wechselbeziehung zwischen Politiker und Sehern aussah.

Seher und Orakel bei den alten Germanen

Was läge näher, als angesichts der deutschsprachigen Zielgruppe dieses Buches mit den alten Germanen zu beginnen? Das früheste ausführliche schriftliche Zeugnis über die Germanen findet man im Buch Germania des römischen Senators und Historikers Tacitus (58–116 n. Chr.). Tacitus schreibt:

Die Germanen glauben sogar, den Frauen wohne etwas Heiliges und Seherisches inne; deshalb achten sie auf ihren Rat und hören auf ihren Bescheid. Wir haben ja zur Zeit des verewigten Vespasian [römischer Kaiser 69–79 n. Chr.] erlebt, wie Veleda [eine germanische Seherin] lange Zeit bei vielen als göttliches Wesen galt. Doch schon vor Zeiten haben sie Albruna und mehrere andere Frauen verehrt, aber nicht aus Unterwürfigkeit und als ob sie erst Göttinnen aus ihnen machen müssten.8

Wenn die alten Germanen grundsätzlich jeder Frau zutrauten, etwas zu „sehen“, dann waren für sie die „hauptamtlichen“ Seherinnen keine wirklichen Mysterien, sondern nur Frauen mit einer gewöhnlichen Begabung, die allerdings außergewöhnlich ausgeprägt war.

Die Seherin Veleda gehörte dem Stamm der Brukterer an, der auf der Ostseite des Rheins zwischen Ems und Lippe lebte; etwa im heutigen Münsterland. Naheliegenderweise nahmen die Brukterer im Jahre 9 n. Chr. auch an der Varus-Schlacht am Wiehengebirge im heutigen Osnabrücker Land teil. Zwar bereiteten die Brukterer zusammen mit anderen germanischen Stämmen den Römern eine vernichtende Niederlage, aber drei Generationen später wurden die Brukterer von ihren ehemaligen Verbündeten nahezu ausgerottet.

Veleda lebte angeblich in einem hohen Turm am Fluss Lippe im heutigen Westfalen (anderen Quellen nach lebte sie im Sauerland) und kommunizierte über einen Boten mit der Außenwelt. Im Jahre 69 n. Chr. soll sie die Bataver und andere niedergermanische Stämme in ihrem Aufstand gegen die Römer bestärkt haben, indem sie ihnen ihre (anfänglichen) Siege zutreffend voraussagte. Damit haben wir ein erstes Beispiel für die Sprengkraft der Prophetie in kritischen politischen Situationen!

Als im Jahre 77 n. Chr. der römische Heerführer Gallicus Krieg gegen die Brukterer führte, wurde Veleda von den Römern gefangen genommen und starb vermutlich in Gefangenschaft. Tacitus schreibt über die Germanen weiter:

Auf Vorzeichen und Losorakel achtet niemand so viel wie sie. […] Und der verbreitete Brauch, Stimme und Flug der Vögel zu befragen, ist auch hier bekannt; hingegen ist es eine germanische Besonderheit, auch auf Vorzeichen und Hinweise von Pferden zu achten. Auf Kosten der Allgemeinheit hält man in den erwähnten [heiligen] Hainen und Lichtungen Schimmel, die durch keinerlei Dienst für Sterbliche entweiht sind. Man spannt sie vor den heiligen Wagen; der Priester und der König oder das Oberhaupt des Stammes gehen neben ihnen und beobachten ihr Wiehern und Schnauben. Und keinem Zeichen schenkt man mehr Glauben, nicht etwa nur beim Volke; auch bei den Vornehmen, bei den Priestern; sich selbst halten sie nämlich nur für Diener der Götter, die Pferde hingegen für deren Vertraute.

Sie beachten noch eine andere Art von Vorzeichen; hiermit suchen sie den Ausgang schwerer Kriege zu erkunden. Sie bringen […] einen Angehörigen des Stammes, mit dem sie Krieg führen, in ihre Gewalt und lassen ihn mit einem ausgewählten Manne des eigenen Volkes, jeden in den Waffen seiner Heimat, kämpfen. Der Sieg des einen oder anderen gilt als Vorentscheidung.9

Im Jahre 58 v. Chr. führte Julius Caesar Krieg gegen germanische Stämme im Gebiet des heutigen Elsass. Als sich die römischen und germanischen Heere gegenüberlagen, wichen die Germanen plötzlich der Schlacht aus, obwohl sie durchaus Chancen auf einen Sieg hatten. Caesar war darüber so verwundert, dass er germanische Gefangene verhören ließ. Im Gallischen Krieg hielt er das Ergebnis der Verhöre fest:

Bei den Germanen herrsche der Brauch, daß ihre Ehefrauen durch Losorakel klärten, ob es ratsam sei, eine Schlacht zu liefern oder nicht; diese hätten behauptet, das Schicksal versage den Germanen den Sieg, wenn sie sich vor dem Neumond auf einen Kampf einlassen.10

Vorausgesetzt, die Gefangenen logen beim Verhör nicht das Blaue vom Himmel herunter, so erstaunt es, dass die Germanen ihren Frauen erlaubten, in der ureigensten Domäne der Männer – dem Krieg – mitzuentscheiden.

Das Befragen von Sehern und Orakeln unmittelbar vor Schlachten und Kriegen – egal ob von Männern oder Frauen – begegnet einem praktisch bei sämtlichen Kulturen des Altertums. Schließlich gibt es kaum folgenschwerere Entscheidungen als jene zu Kriegszeiten. Und eben weil es sich um folgenschwerste Entscheidungen handelt, kommt die okkulte Befragung im Kriegsfall über die Jahrhunderte und Jahrtausende immer wieder vor und zieht sich hin bis in unsere Gegenwart. Der Kriegsherr, der seinen Seher befragt, ist sozusagen der „Running Gag“ in dem Buch, das Sie gerade lesen. Der letzte mir bekannte Fall stammt aus dem Jahre 1991 und bezieht sich auf Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand und den Irak-Krieg zur Befreiung Kuwaits.

Odin und seine Raben

Aus der Edda, dem im 13. Jahrhundert auf Island aufgezeichneten mythologischen Lehrbuch der Germanen, kennt man das Zusammenspiel zwischen dem nordischen Hauptgott Odin11 und seinen Raben:

Odin lauscht den Raben Hugin und Munin (Odin-Statue in Hannover, unweit des Nordufers des Maschsees).

Jeden Morgen sendet Odin, Gott des Krieges und der Weisheit, die beiden Raben Hugin („der Gedanke“) und Munin („die Erinnerung“) aus, damit sie beobachten, was auf der Welt so vor sich geht. Kehren sie am Abend zurück, setzen sie sich auf Odins Schultern und berichten, was sie gesehen haben.

Im Gegensatz zum germanischen Fest der Wintersonnenwende, das die Christianisierung in Form des Weihnachtsfestes überlebte, und im Gegensatz zum Hasen, der als ursprünglich germanisches Fruchtbarkeitssymbol jedes Jahr zu Ostern sein schokoladiges Comeback feiert, wurden aus den Raben nur Vögel des Bösen. Allerdings muss man fairerweise anmerken, dass der Imagewandel der Raben auch mit Dingen zusammenhing, die nichts mit der Religion zu tun hatten; zum Beispiel mit der mittelalterlichen Stadtentwicklung und den Hinrichtungsplätzen vor den Toren der Städte, wo die Raben jahrhundertelang an den Hingerichteten herumhackten.

Dass den Raben in der nordischen Mythologie die Rolle des Götterboten zufiel, ist sicherlich eine Folge der genauen Naturbeobachtung der alten Germanen. Neueste Verhaltensforschungen bestätigen den Raben eine selten hohe Intelligenz: Die österreichische Konrad-Lorenz-Forschungsstelle, die Verhaltensstudien über Raben erstellt, schreibt in ihrer Internetpräsenz12: „Was ihre Intelligenz anbelangt, sind Raben die vogelweltliche Entsprechung zum Schimpansen.“ Im Klartext: Wir haben es hier mit den intelligentesten aller Vögel zu tun.

Neuere wissenschaftliche Studien heben das außergewöhnliche Erinnerungsvermögen der Raben hervor (siehe Munin = Erinnerung): So berichtete die Welt vom 14. November 2009 über den Wiener Rabenforscher Professor Thomas Bugnyar, der seit 15 Jahren Kolkraben erforscht. Bugnyar ist heute einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Corviden, wie die weltweit 120 Arten Rabenvögel von der Wissenschaft genannt werden. Die Welt schrieb über Professor Bugnyar:

„Raben sind perfekte Beobachter“, sagt er, „sie haben ihre Umgebung stets im Blick und erkennen blitzschnell, wenn andere [Raben] einen Fehler machen, der ihnen zum Vorteil gereicht.“ Raben verwenden einen Großteil ihrer Cleverness darauf, andere Raben hinters Licht zu führen. Wenn sie ein Stück Fleisch ergattert haben, fressen sie es nicht sofort, sondern verstecken es, um das nächste zu holen. Dies wiederum wird von anderen Raben genau beobachtet […]. Sie hocken auf Baumkronen und peilen, wo ihre Verwandten heimliche Vorräte anlegen. Kehren diese zurück zur Futterquelle, stürzen sie sich auf die Verstecke. Doch die Vorratshalter sind auch nicht doof: Sie haben zumeist im Blick, von wem sie beobachtet werden, und begegnen den Trittbrettfahrern mit zwei Gegenstrategien. Erstens legen sie Scheinvorräte an, wühlen ein bisschen mit dem Schnabel im Moos, tun aber nur so, als ob sie Essbares verbuddeln würden. Und zweitens schauen sie sich ständig um, wer ihnen beim Versteckspiel zusieht.

Diese Wissenden merken sie sich und können sie genau von den Unwissenden unterscheiden. Nähert sich später ein Fremder dem Versteckplatz, weiß der Besitzer, ob das Zufall ist oder ob der andere ihm beim Vergraben des Vorrats zugesehen hat. Wissende werden sofort vertrieben, Unwissende ignoriert. […]

„Wenn man die erstaunlichen Fähigkeiten der Rabenvögel sieht“, sagt Thomas Bugnyar, „wundert man sich nicht mehr, dass sie eine so große Rolle in Mythen und Märchen spielen.“13

Professor Bugnyar sagt es: Die alten Germanen müssen ebenso gut beobachtet haben wie Verhaltensforscher zu Beginn des dritten Jahrtausends.

Ich bin an dieser Stelle auf die Raben deshalb genauer eingegangen, weil sich dabei zwei Aspekte versinnbildlichen, die noch öfters in diesem Buch auftauchen werden. Zum einen geht es um den in Mythen oft verborgenen wahren Kern, der sich erst mit der Zeit offenbart – zum anderen geht es um die Figur des Herrschers, der trotz all seiner Macht von den Sinnesfähigkeiten anderer Wesen abhängig bleibt. Odin mit seinen Raben symbolisiert die zahllosen historischen Herrscher mit ihren Sehern, Orakeln und Astrologen, die für sie „sehen“.

Das Motiv des Sehers im Dienste des Herrschers begegnet uns in der Edda noch einmal in sogar noch deutlicherer Form: nämlich in Gestalt der Seherin Völva, die – man glaubt es kaum – dem Gottvater Odin die Welt erklärt! Damit steht die Seherin in gewisser Weise noch über dem Gottvater!

Die Lieder-Edda, die bekanntere der beiden Edda-Versionen14, beginnt mit dem ersten Lied, der so genannten Völuspá, was mit „der Seherin Ausspruch“15 übersetzt wird. In der Völuspá erklärt dann die Seherin Völva16 dem Gottvater Odin das Schicksal der Welt – deren Vergangenheit und Zukunft, Anfang und Ende – und die Entstehung einer neuen Welt nach dem Weltuntergang.

Die Kelten

Auch den Nachbarn der Germanen, den Kelten, deren Siedlungsgebiet sich um das Jahr 0 herum von Irland über die Britischen Inseln, Frankreich, das Gebiet der heutigen Schweiz, Deutschland südlich der Donau und einen Streifen an der Donau bis hin zum Schwarzen Meer erstreckte, hatte die okkulte Zukunftsschau große Bedeutung. Auch die Kelten versuchten das Kommende aus unterschiedlichsten Vorzeichen zu deuten: zum Beispiel aus dem Bellen der Hunde, dem Flug und den Lauten der Vögel – hier insbesondere wieder der Raben. Auch die Kelten befragten vor Schlachten und Kriegen das Orakel; eine Aufgabe, die den einflussreichen keltischen Priestern, den Druiden, zufiel. Der römische Historiker Pompeius Trogus schrieb um das Jahr 0 herum über das keltische Volk der Gallier:

Was die Praxis der Auguren [~ Zeichendeuter] angeht, so übertreffen die Gallier alle anderen Nationen.17

Die Tradition keltischer Auguren setzt sich gewissermaßen fort bis in die Gegenwart, denn aus dem späteren Frankreich kamen die bekanntesten und bedeutendsten Seher Europas, allen voran Nostradamus (gest. 1566), aber auch die Wahrsagerin Marie-Anne Adélaide Lenormand (gest. 1843). Und selbst Frankreichs Präsident Mitterrand (gest. 1996) brachte es fertig, ausgerechnet als Präsident desjenigen Staates, der wie kein anderer für den Geist der Aufklärung steht, die Astrologin Elizabeth Teissier zu Beratungen in seinem Pariser Amtssitz zu empfangen! Selbstverständlich werden wir uns die Fälle Nostradamus, Lenormand und Teissier später noch genauer ansehen. Die Geschichte der europäischen Prophetie jedenfalls hätte ohne die Gallier eine große klaffende Lücke. Pompeius Trogus berichtet über die Nachbarn der Germanen weiter:

In neun von zehn Fällen ist die Wahrsagung eine politische oder militärische Dienstleistung: ein König, eine Königin oder ein Krieger von hohem Rang erkundigt sich nach dem Ausgang eines Krieges oder eines Feldzugs oder auch einfach nach der persönlichen Zukunft.18

Wie gesagt: Die Zusammenarbeit von Herrscher und Seher im Kriegsfall – quer durch die Jahrtausende bis hinein in die Gegenwart – wird uns in diesem Buch immer wieder begegnen.

Nach den Angaben des Autors Georges Minois – aus dessen Geschichte der Zukunft ich mich in diesem Kapitel immer wieder bediene – galt die keltische Wahrsagung hauptsächlich dem Schicksal des Volkes und dessen Führern, wobei der Druide gegenüber dem Herrscher in der stärkeren Position war. Dadurch war der Druide – wenigstens theoretisch – relativ unabhängig vom Herrscher, was die Gefahr politischer Manipulation verringerte. Bei den Griechen und Römern hingegen kehrte sich diese Machtbalance um – mit langfristig katastrophalen Folgen für das Orakelwesen, wie man sich denken kann.

Die Griechen

Bewegte sich das Wahrsage- und Orakelwesen der Germanen und Kelten noch auf dem Niveau eines – wenn man so will – „Naturvolkes“, so entwickelten die Griechen auch in dieser Hinsicht eine Hochkultur: eine enorme Verfeinerung und Diversifizierung der Vorhersagetechniken, eine Arbeitsteilung zwischen Medium und Interpret, eine Institutionalisierung und Politisierung des Orakelwesens, seine Korruption und schließlich seinen Niedergang.

So wie bei den Germanen und Kelten liegt auch bei den Griechen der Beginn der Weissagung und des Orakelwesens im geschichtlichen Dunkel. Der früheste Hinweis auf eine bedeutende Seherin findet sich beim griechischen Dichter Homer. In seinem Epos Ilias – dessen Entstehung auf 1200 bis 700 v. Chr. datiert wird – berichtet Homer von der Seherin Kassandra, die die Trojaner im Krieg gegen die Griechen vor dem hölzernen Pferd warnte und damit die Stadt vor dem Untergang retten wollte. Kassandra war die Tochter des trojanischen Königs Priamos und galt als beste Seherin der Stadt. Dummerweise war sie aber auch berüchtigt als ausgesprochene Schwarzseherin, weshalb ihr keiner glauben wollte: Das von den Griechen zusammengezimmerte hölzerne Pferd wurde in die Stadt gezogen. Nachts sprangen die griechischen Soldaten aus dessen Bauch und öffneten das Stadttor. Das griechische Heer drang in die Stadt ein und Trojas Untergang war besiegelt.

Die zentralen Elemente der Geschichte mit Kassandra und dem Trojanischen Pferd begegnen einem über die Jahrhunderte hin bis zum heutigen Tage immer wieder. Wie sich in diesem Buch zeigen wird, tauchen in besonders kritischen Phasen der Weltgeschichte immer wieder Seher (Hellseher und Astrologen) in unmittelbarer Nähe der Mächtigen auf – entweder weil man ihren Rat brauchte oder weil die Seher aus eigenem Antrieb heraus warnen wollten. Und auffallend oft wird der Rat der Seher in den Wind geschlagen – und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Die antike Kontroverse um die okkulte Zukunftsschau

Überhaupt lässt sich feststellen, dass die alten Griechen das Problem der Vorsehung, des Orakels und der Prophetie schon vor über 2000 Jahren sehr genau beleuchtet hatten. An Diskussionen über die Existenz des Schicksals und die Möglichkeit der Zukunftsschau beteiligten sich damals die bekanntesten Philosophen. Für uns am Beginn des dritten Jahrtausends ist es so interessant wie ernüchternd zu wissen, dass in heutigen Diskussionen über Hellseherei und Astrologie oft nichts anderes geschieht als ein Wiederkauen von Argumenten, die schon weit über 2000 Jahre auf dem Buckel haben. So ergibt sich ein süßsaurer Reiz, wenn man sich ansieht, wie bei diesem Thema schon die alten Griechen stritten. Es wirkt vertraut.

Einer der Befürworter okkulter Zukunftsschau war beispielsweise der Athener Philosoph Platon (um 400 v. Chr.). Platon war Schüler von Sokrates und Lehrer von Aristoteles und zählt zu den bekanntesten und einflussreichsten Persönlichkeiten der gesamten westlichen Geistesgeschichte überhaupt! Georges Minois schreibt über Platon:

Ein Beweis dafür, welche Bedeutung Platon der vorzeitigen Kenntnis der Zukunft beimißt: In seiner idealen Polis [Stadtstaat] wird die Weissagung ein Monopol des Staates sein. Schon für ihn gilt der Satz: „Regieren heißt vorhersehen“, und die Seherkraft verleiht den Regierenden eine außergewöhnliche Macht, die wirksamer ist als jedwede Geheimpolizei.19

„Wirksamer als jedwede Geheimpolizei“ – diese Formulierung beschreibt sehr gut die große Anziehungskraft, die die übersinnliche Zukunftsschau auf die Politik und das Geschäft mit der Macht hat – damals wie heute. Jede Regierung beschäftigt heutzutage Statistiker, die Daten sammeln, mit denen man hofft, die Zukunft vorausberechnen zu können: so zum Beispiel bei Fragen wie der zukünftigen Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung, der zukünftigen Entwicklung der Arbeitslosigkeit, des Verkehrsaufkommens, der Rohstoffabhängigkeit, der Erderwärmung und anderen Fragen mehr. Platon war Schüler von Sokrates (469–399 v. Chr.), der wegen Missachtung der griechischen Götter zum Tode verurteilt und mit dem Giftbecher hingerichtet wurde. Auch Sokrates glaubte an Wahrsagung und daran, dass die Götter den Menschen mit Vorzeichen die Zukunft anzeigen. Er selbst deutete Träume unter der Annahme, dass sie die Zukunft voraussagen können.

Über den „okkultgläubigen“ Sokrates und das Orakel von Delphi gibt es eine recht aussagekräftige Erzählung: Nach Aussage Platons soll ein Jugendfreund von Sokrates das Orakel in Delphi befragt haben, wer der weiseste Mensch auf Erden ist. Die Pythia soll geantwortet haben, es gäbe niemanden, der weiser sei als Sokrates.20

Dieser Geschichte nach glaubte rund 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung der weiseste Mann seiner Zeit, dass es eine Vorsehung gibt. Nun gut – mag sein, dass die Antwort des Orakels frei erfunden war. Doch selbst wenn diese Geschichte erfunden wäre, so würde ein Missbrauch des Orakels von Delphi zu dem Zweck, das Ansehen eines Philosophen zu steigern, verdeutlichen, welches Ansehen das Orakel damals genoss.

Eine andere antike Geistesgröße war der Philosoph Karneades (um 170 v. Chr.), allerdings war dieser ein Vertreter der so genannten Skeptiker – ein Begriff, abgeleitet vom griechischen skeptikós, was „ein Ausschau Haltender“ oder ein „Untersuchender“ bedeutet. Georges Minois schreibt:

[…] Karneades, ein berühmter Skeptiker der neuen Akademie im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, greift das Prinzip der Vorhersage an:

Wenn der Zufall die Welt lenkt, ist er unvorhersehbar; ist es die Notwendigkeit, dann ist die Voraussage nutzlos, ja sogar schädlich.

Tatsächlich ist der Mensch frei, und niemand vermag seine Handlungen vorherzusehen. Die eingetroffenen Prophezeiungen sind lediglich Koinzidenzen [zufällige Übereinstimmungen]. Was die Astrologie angehe, so sei sie Betrug: in einer Schlacht sterben viele Menschen zur gleichen Zeit, die nicht am selben Tag geboren wurden und nicht dasselbe Horoskop haben. Er [Karneades] ist einer der ersten, der ein mittlerweile klassisch gewordenes Argument gegen die Astrologie verwendet: den Fall der Zwillinge, die zur gleichen Zeit geboren wurden und dennoch verschiedene Schicksale haben.21

Lassen Sie mich kurz etwas genauer auf Karneades’ Argumente eingehen, um ein wenig die Komplexität der Diskussion zu verdeutlichen:

Zunächst ist hier anzumerken, dass Karneades’ Argumentation etwas hinterhältig ist, da sie auf einem künstlichen Gegensatz aufbaut, den es in der Praxis so nicht gibt: Kein Mensch glaubt wohl ernsthaft, alles im Leben sei bis ins letzte kleine Detail vorherbestimmt. Ebenso wenig glaubt wohl keiner, dass nichts vorherbestimmt ist. Für Letzteres ein simples Beispiel: Wird eine Frau schwanger, so wird sie nicht drei Tage nach der Befruchtung ein Kind zur Welt bringen. Unser Leben ist also teilweise vorherbestimmt und wir folglich nicht absolut frei – ob es einem gefällt oder nicht. Mit anderen Worten: Es geht nie um totale Freiheit oder totale Unfreiheit, sondern stets nur um die Nuancen dazwischen.

Karneades (* 214/213 v. Chr.; † 129/128 v. Chr.)

Andererseits haben Karneades’ Argumente auf den ersten Blick auch etwas für sich. Die Überzeugungskraft leidet aber, wenn man genauer hinsieht: Wenn Karneades über die okkulte Zukunftsschau urteilt, sie sei „nutzlos, ja sogar schädlich“, so argumentiert er vielleicht als Politiker – nicht aber als Wissenschaftler. Wenn jemand die Zukunft sehen kann, kann er sie eben sehen. Punkt. Diese Fähigkeit – sofern sie tatsächlich vorliegt – sagt etwas aus über das Wesen der vierten Dimension; der Zeit und über das Potenzial des menschlichen Bewusstseins. Moralische oder andere Interessen und Meinungen sind da bestenfalls zweitrangig. Außerdem kann der Glauben an eine vorbestimmte Zukunft durchaus positive Effekte haben, zum Beispiel in Form einer großen Schicksalsergebenheit oder gar in Form einer spirituellen Erfahrung.

Zu Karneades’ Vorwurf des „Betrugs“ der Astrologie: Was die Astrologie und das klassische Argument mit den Zwillingsschicksalen betrifft, so gibt es auch hier Gegenargumente: Zunächst werden Zwillinge nicht im selben Moment geboren, sondern im Abstand von einigen Minuten. … Wie wir noch sehen werden, waren über die Jahrhunderte hinweg immer wieder hochintelligente Wissenschaftler Anhänger der Astrologie, so zum Beispiel Johannes Kepler (1571–1630) – ein Begründer der modernen Naturwissenschaften. Das Argument mit den Zwillingsschicksalen unterstellt also im Prinzip, diese Wissenschaftler hätten sich mit dem Argument nie öffentlich auseinandergesetzt – entweder weil sie zu ignorant waren oder weil sie die für die Astrologie fatale Konsequenz verheimlichen wollten.

Karneades’ Argument mit dem gleichzeitigen Tod der Soldaten in einer Schlacht wiederum wird von Astrologen mit dem Hinweis entkräftet, dass in bestimmten Situationen das Kollektivschicksal gewissermaßen das Einzelschicksal überschreibt oder aushebelt.

Dieses Argument und andere Karneades-Argumente wurden in späterer Zeit immer wieder aufgegriffen, beispielsweise vom bekannten römischen Politiker, Schriftsteller und Philosophen Cicero (106 v. Chr.-43 v. Chr.)

Natürlich ist mit diesen wenigen Argumenten die Diskussion über Vorsehung, Astrologie und Hellseherei noch nicht erschöpft. Mag sein, dass es noch schlagkräftigere Argumente für oder gegen Astrologie und Hellseherei gibt – doch es wird an dieser Stelle für den Leser erkennbar, dass sich ein Großteil der öffentlichen Auseinandersetzung um Hellseherei, Astrologie und Vorsehung in etwa auf dem Niveau vollzieht, das man von TV-Polit-Talkshows her kennt: Da dem größten Teil des Publikums das erforderliche Hintergrundwissen fehlt, wird lediglich eine Scheindiskussion zelebriert, die mehr um emotionale Inhalte, Vorurteile und Glaubensfragen kreist als um alles andere. Eine „Diskussion“ aber, die in Europa seit etwa 2500 Jahren läuft und noch immer zu keinem allgemein anerkannten Ergebnis geführt hat, disqualifiziert sich selbst. Man sollte sich von Argumenten und dem Anschein des Vernünftigen verabschieden und sich eingestehen, dass es im Kern um eine Glaubensfrage geht – so schwierig es auch sein mag, sich dies im „Zeitalter der Vernunft“ einzugestehen.

Das Orakel von Delphi

Das mit Abstand berühmteste aller griechischen Orakel war jenes in Delphi, etwa 100 Kilometer nordwestlich von Athen. Sein Beginn wird im 8. Jahrhundert vor Christus vermutet und es arbeitete bis ins 4. Jahrhundert nach Christus – also rund 1200 Jahre lang! Es war dem Gott Apoll geweiht – Sohn des Zeus und Gott des Lichts, der Heilung, der Weissagung und der Künste. Die Orakelsprüche ergingen durch die Pythia, einer weiblichen Priesterin, die im dortigen Heiligtum des Apolls als Medium diente.

Der Name Pythia geht zurück auf einen Mythos, dessen Wurzel teilweise bis in die mykenische Zeit (1600–1050 v. Chr.) zurückreicht. Nach dem römischen Dichter Ovid (um Christi Geburt) war Python der Name einer geflügelten Schlange mit hellseherischen Fähigkeiten, die weissagte und auf dem Parnass lebte – einem 2455 Meter hohen Berg, an dessen Fuß der Ort Delphi liegt. Die Schlange Python wurde vom Gott Apoll getötet und in Delphi begraben. In Anlehnung an Python wurde die Orakelstätte Pytho genannt und die Seherin bzw. das Medium Pythia. Die Pythia wiederum – so antike Quellen – beugte sich zum Weissagen über eine Erdspalte im Tempel und geriet durch das Einatmen dort aufsteigender Dämpfe in Trance. Neueste geologische Untersuchungen deuten darauf hin, dass es dort tatsächlich solche Gase gegeben haben könnte. Die von der Pythia in Trance gesprochenen Worte und ausgestoßenen Laute wurden dann von Priestern interpretiert.

Ebenfalls in Delphi im Heiligtum des Apoll befand sich der so genannte „Nabel der Welt“, der Omphalos – ein phallusförmiger Stein –, der für die Griechen den Mittelpunkt der Welt markierte. Gerade auch der Standort des Orakels direkt am Mittelpunkt der „griechischen“ Welt – zu der damals auch weit entfernte Kolonien in Italien, Südfrankreich, Spanien, Nordafrika und den Küsten des Schwarzen Meeres gehörten –, veranschaulicht die Bedeutung und Ausstrahlung dieser Orakelstätte.

Befragungen des Orakels von Delphi

Das Orakel von Delphi wurde zu allen wichtigen Entscheidungen befragt, insbesondere im Falle von Kriegen. Folglich hatte das Orakel enorme politische Bedeutung und zog Ratsuchende aus der ganzen damals bekannten Welt an. Delphi war somit der zentrale Knotenpunkt, das „Mother-Board“ in einem Informationsnetzwerk; es war das geistige Zentrum der damaligen Welt. Sehen wir uns exemplarisch drei der bekanntesten antiken Berichte über das Orakel von Delphi an. In allen drei Erzählungen geht es – wieder einmal – um bevorstehende Schlachten und Kriege:

König Krösus (546 v. Chr.)

Der Historiker Herodot (um 450 v. Chr.) berichtet davon, dass König Krösus, der letzte König Lydiens – ein Landstrich im Norden der Ägäis an der türkischen Küste –, das Orakel von Delphi befragte, bevor er im Jahre 546 v. Chr. die Perser angriff. Das Orakel sagte: „Wenn Krösus den Halys [ein Grenzfluss in Anatolien] überschreitet, wird er ein großes Reich zerstören.“ Von diesen Worten beflügelt zog der König los – und die Sache endete damit, dass sein eigenes Reich zerstört wurde.