Herbstwind - Martin Kuchejda - E-Book

Herbstwind E-Book

Martin Kuchejda

4,8

Beschreibung

Er mordet scheinbar wahllos. Aber mit Lust, Leidenschaft, mit Präzision. Und er sucht sich markante Orte im Oberbergischen Kreis, um seine Opfer zur Schau zu stellen. Der Unbekannte hält die gesamte Kriminalpolizei Gummersbach, allen voran Hauptkommissar Schneider, wochenlang in Atem. Schneider erklärt die Ermittlung zur Chefsache. Nicht ahnend, was er sich damit antut. "Herbstwind" erzählt aus drei Perspektiven die düstere Vorgeschichte zu "Frühlingsduft": Ein immens spannender Kriminalroman aus dem Oberbergischen, der tief in die Abgründe der menschlichen Seele hinabsteigt.

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Ähnliche


MARTIN KUCHEJDA

HERBSTWIND

EIN KRIMIAUSDEM OBERBERGISCHEN

Impressum

© 2005 und 2011 Martin Kuchejda

Alle Nutzungsrechte dieser Ausgabe bei

Gardez! Verlag

Michael Itschert

Richthofenstraße 14

42899 Remscheid

www.gardez.de

JUHR Verlag

Waldweg 34a

51688 Wipperfürth

www.juhrverlag.de

Lektorat

Michael Itschert und Daniel Juhr

Satz

Daniel Juhr

Titelbild

© missthi, photocase

Titelreinzeichnung

Reprosatz Neumann GmbH, Remscheid, www.reprosatz.de

Alle Hauptfiguren und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

E-Book-Herstellung

Zeilenwert GmbH 2016

Komplett überarbeitete Neuausgabe, 1. Auflage 2011

Das Werk ist vollumfänglich geschützt. Jede Verwertung wie zum Beispiel die Verbreitung, der auszugsweise Nachdruck, die fotomechanische Verarbeitung sowie die Verarbeitung und Speicherung in elektronischen Systemen bedarf der vorherigen Genehmigung durch die Verlage.

ISBN: 978-3-94262-544-9

„Die Kunst der Tarnung liegt darin, vor allen Augen unsichtbar zu sein.“

Sherlock Holmes

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Herbstwind

Der Autor

Weitere Bücher

Prolog

Denn der Sommer war sehr groß. Sonne von Mai bis September und dann ein Goldener Oktober.

Für diese Gegend nicht gerade typisch. Das Oberbergische ist eine der regenreichsten Gegenden Deutschlands.

Und schon bald war ja alles wieder normal.

Ich

In der Tageszeitung lese ich, dass der Oberbergische Kreis seine Kriminalstatistik vorgelegt hat. Es gab zwar mehr als 13.000 Delikte, aber landesweit ist das hier der sicherste Kreis. Ich muss sagen, ich höre das gerne. Ich bin ein Fan von Sicherheit.

Ich habe auch ein Theaterstück über die Heisenbergsche Unschärferelation gelesen. Faszinierend. Bereits durch Beobachtung verändert sich das Verhalten von Teilchen. Und wenn ich ihren Ort bestimmen kann, dann kann ich nicht ihre Geschwindigkeit bestimmen. Umgekehrt gilt das Gleiche. Ich sehe da Parallelen. Zu mir.

„der marder, pirschend

augen stets auf den grund,

hört nicht des falken schritt.“

Ich

Mittwoch, 22. Oktober, 11.45 Uhr. Einmal im Jahr gehe ich ins Kloster um mich zu erholen, um auf mich selbst zurückgeworfen zu werden. Eine bewusste Entscheidung. Aber eben nur einmal im Jahr. Das muss reichen. Die Nächte sind dort lang, die Tage auch. Die Schnelllebigkeit gerinnt unter den Händen zu Zeit. Dadurch werden die Tage wertvoller, denn im Alltag vergeht die Zeit viel zu schnell. Was ist schon eine Woche voller Termine …

Gerade bin ich zurückgekehrt. Habe viel gelesen dort. Unter anderem „Die Siedler von Catan“ von Rebecca Gablé. Das ist leider nicht nur ein Spiel, sondern auch ein Buch. In diesem Jahr war viel Tod und Ende. Da gab es viel nachzudenken … Freunde sind gestorben …

Im Kloster, da lassen sie mich alleine. Ich meine, sie lassen mich in Ruhe.

Ich tippe das übrigens nur so in den Laptop, das Ding habe ich mir geliehen, korrigiert wird später, wenn ich die Zeit dafür habe.

Denn: „Tempus fugit“. Ich war nie wirklich gut in Latein, aber ich liebe diese Sprache. Wenn die Mönche singen, dann ist das höhere Musik, wenn sie sprechen im Tonus Rectus, dann ist das der Gesang des Himmels.

Drei Ehen habe ich hinter mir. Jetzt wohne ich alleine in einem Dorf im Oberbergischen.

Beim Schreiben vergeht die Zeit, aber die unpraktische Tastatur ärgert mich. Ich komme mir vor wie Ned Kelly, der australische Gangster mit dem Eisenhut oder besser: mit der Rüstung. Der hat allerdings geschrieben um sich zu rechtfertigen, das habe ich nicht nötig.

Neulich habe ich mich in der Kantine aufgeregt. Warum schreiben die in der Lokalzeitung nicht Gummersbach oder Bergneustadt, wenn irgendwas passiert, sondern Drecksdorf oder Kuhfleck. Herweg zum Beispiel, was weiß ich denn, wo Herweg liegt. Ich bin ein Zugezogener, hallo, hört mich jemand? Nehmt auf mich Rücksicht, ihr Bauern.

Meine Vermieterin ist vor über fünfzig Jahren hier hergezogen und gilt immer noch als „die Neue“. Da fugit Tempus nicht.

Wer immer das hier liest: Es wäre besser, wenn der verehrte Leser den Blick abwenden würde. Der Schlaf der Vernunft gebiert Monstren und wie Nietzsche sagt: „Wenn du zu lange in den Abgrund blickst, blickt der Abgrund irgendwann in dich.“ Kapiert. Heißt soviel wie: Komm mir nicht zu nahe.

Also, der Typ in der Kantine, der ist mir zu nahe gekommen. Der stand hinter mir und hat sich aufgeregt: Typisch Großstädter, man soll doch froh sein, wir sollen uns freuen, dass wir so viele Weiler haben, weil der hat gehört, wie ich mich über die Dorfseuche echauffiert habe. Dann habe ich mich tierisch aufgeregt: „Stolz auf so viele Weiler, Blödsinn, ich will beim Frühstück mit Zeitung keine Landkarte benutzen müssen, ist eh alles schwer genug.“

Erst lese ich übrigens immer den Sportteil, dann das Lokale, dann das Fernsehprogramm, dann den Rest. Manchmal gibt es auch Besonderes. Heute ein Bericht über ein Pur-Konzert in Köln. 32.000 Zuschauer an zwei Tagen. „Banale Texte und guter Rock“, oder so ähnlich hieß es. Einige Tage später ein Bericht über ein törichtes Konzert von Nena, der Urmutter der Belanglosigkeit, deren Musik schon vor zwanzig Jahren Unfug war und durch die Zeit keineswegs besser geworden ist. Bei Pur liebe ich aber den Gitarrenriff in Abenteuerland und die Zeile und ein kleiner Junge nimmt dich an die Hand.

Also gut, ich werde mir die Adresse von dem Idioten in der Kantine besorgen und dann werde ich ihm eine Lektion erteilen, ihm zeigen, wo sein Platz in der Nahrungskette ist und ihn drastisch zurechtweisen. Das wird gut tun. Aber schön vorsichtig, verkleiden, maskieren, Spuren legen, nach dem bösen Nachbarn schauen. Mir sagt keiner, wo es langgeht. Ich gehe lang, wo ich will. Ich schlage zurück. Machst du mich an, mach ich dich an.

Du machst mich an? Mich? Ja, Mister Travis Bickle. Ich mach dich so an, dass du dich nicht mehr erholst. Es sind Angebote zu machen, die nicht ausgeschlagen werden können.

Ich muss mich um den Kompost kümmern.

Ich mag Scorsese. Und ich mag Filme von Tarantino, Quentin Tarantino, ich mag auch den Kerl. Vielleicht schmeiße ich heute Nacht eine DVD ein.

Aber erst mal schön vorsichtig, es ist noch hell. Erstmal ein Bier. Und dann ist da der Wunsch heimlich zu rauchen. Rauchen tötet, macht impotent, lässt die Haut altern und fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung Schaden zu.

Ich trink nur Grünen Tee, den Kaffee lass ich magentechnisch seit Jahren weg.

Es geht voran. Ich bin nicht müde. Ich leg mich etwas hin.

Den Tag verpennt, passiert nicht nochmal. Komme nicht richtig hoch. Mist. Verfluche mich und den Rest der Welt. Ich sollte mir Besuch einladen, nein, besser nicht, zu gefährlich. Pass auf. Aaaaaah, ich hab mich … Bald ist es dunkel. Karneval, Weihnachten, alles schöne Feste. Kohrigirt wirt das hir speta. Korrigiert wird das hier später. Kurze Sätze. Reicht.

Wenn ich mit dem Bau des Modells fertig bin, wird das ein Vergnügungspark. Natürlich. Eine Insel der Ruchlosigkeit, Dantes Inferno, Hölle und Paradies zugleich, in dem nackte Frauen auf Messern ins Meer reiten und sich dabei amtlich zerteilen.

Ich gehöre zwar zu den drei Prozent der Weltbevölkerung, die für sich in Anspruch nehmen können gebildet zu sein und bin darüber fast täglich erstaunt, aber es wäre schön eine Familie zu haben. Ich weiß oft nicht, wo Anfang und Ende ist, aber ich bemühe mich. Das ist doch offensichtlich, oder?

Im Kloster war es so düster. Nicht mal Geld da für das Auswechseln der dusseligen Energiesparbirnen. Sic transit gloria mundi. So vergeht die Herrlichkeit der Welt, aber immerhin wird die Klosterkirche aufwendig renoviert.

Ich hätte sicher auch was anderes aus meinem Leben machen können, aber ich bin ja noch jung, mittelalt, fühle mich aber verbraucht wie mit achtzig.

Wie viele Jahre ich wohl noch habe? Zwanzig? Wer kann das sagen?

Ich werde beobachtet, da bin ich mir sicher. Wobei der Beobachter eine blöde Überraschung erleben wird. Mich kann man nicht beobachten. Meine Physis entzieht sich dem. Auf seinen Photos von mir wird nichts drauf sein. Trotzdem, jetzt besser kein Feuer machen.

Mit dem Kompost ist alles in Ordnung. Ich habe noch eine zweite Tonne dafür, die wird morgen eingeweiht und nicht so schnell vollgemacht. Hasenstreu schön daneben. Der Schnee wird’s zudecken. Ich liebe den Schnee. Wer liebt Schnee schon nicht, aber in unseren Breitengraden ist er ja doch meistens Matsch. Außer in den letzten herrlichen Jahren, in denen ich mich selber entdeckt habe und in denen ich mich mit mir vertraut gemacht habe.

Die Rückfahrt aus dem Kloster geschah wie in Trance, aber immerhin gab es diesmal kein Knöllchen für zu schnelles Fahren wie in den letzten Jahren, dauernd bin ich in dieselbe Falle getappt.

Dafür war die Auffahrt in Lennep gesperrt, es gab keine vernünftige Ausschilderung, deshalb bin ich auf dem Hinweg im Kreis gefahren. Eine Großbaustelle und Schilder sagen: „Wir danken für Ihr Verständnis“. Sage ich auch immer, wenn ich fertig bin. Entweder „Willst du Gott sehen?“ oder „Danke für Ihr Verständnis“, manchmal auch „Hallo, Partner, danke schön“, dieser doofe Werbespruch aus den Siebzigern.

Der Dank kommt dabei natürlich immer hinterher und das mit Gott, von dem ich einmal geträumt habe, immer vorher.

Gleich gehe ich nochmal raus. Joggen im Dunkeln ist gefährlich. Ich bin mal beim abendlichen Laufen in ein Loch getreten und umgeknickt. Tut heute noch weh. Und der Moment als es passierte war wie ein Blitz im Hirn, als würde ich ein Röntgenbild meines malträtierten Knöchels sehen. Mir ist ein bisschen schlecht. Höre ich was? Lauschen an der Tür, alle Lichter aus, nein, ich kann gehen.

Nur nicht von der Polizei erwischen lassen. Ich sage bewusst „Polizei“, ich weiß noch was Respekt ist. Ich würde nie „Bullen“ sagen, oder „Schmier“ oder so, vielleicht noch „die Grünen“.

Wird das denn nie enden? Warum sollte es. Ich habe die Schwelle überschritten. Tut gut bei sich zu sein.

Er

Nach seiner Rückkehr aus dem Westfälischen machte sich Michael Kleinewetter an die Hausarbeit. Viel war liegen geblieben und das Haus neigte dazu schnell voll zu stauben. Das hatte seinen Grund zum einen sicherlich darin, dass er oft Kleidung herumliegen ließ und zum anderen darin, dass er ein sehr altes Haus bewohnte, das zu einem Hof in Kottdorf gehörte. Kottdorf wiederum war ein kleines Dorf, von dem er scherzhaft sagte, es beherberge mehr Kühe als Menschen. Aber die Kühe waren wirklich was Besonderes, schottische Hochlandrinder, so genannte Highland-Cattles, die mit ihren wuchtigen Hörnern und ihrem langen Fell das ganze Jahr im Freien verbrachten und nur ausnahmsweise zugefüttert wurden. Richtig ökologisch und natürlich. Bergisch pur.

Oft hatte er abgewogen, wo es leichter zu leben war – auf dem Land oder in der Großstadt. Von Geburt und Sozialisation her war er ein Großstädter. Das Leben in den Metropolen war faszinierend und vertraut, das Leben auf dem Lande war sicherlich entspannter. Gerade für einen Schriftsteller. Michael Kleinewetter schrieb alles, was verlangt wurde, oft Theaterstücke, am liebsten aber Gruselromane, er sah sich selber als der deutsche Stephen King, dieses Urteil wurde allgemein aber nicht geteilt und er war nicht ansatzweise so erfolgreich. Zumal Kleinewetter kein Mensch der Öffentlichkeit war. Er lebte eher zurückgezogen und pflegte nicht auf sich aufmerksam zu machen.

Kleinewetter trank ein Bier, was er tagsüber eigentlich nicht tun sollte, aber es galt die Rückkehr zu feiern. Wie in jedem Jahr hatte er drei Tage in einer Benediktinerabtei verbracht. Nun lag er auf seinem Bett im ersten Stock und lauschte dem Tag. Der Bach führte nach dem heißen Sommer endlich wieder Wasser und rauschte. Was für ein herrliches Geräusch. Eine Kuh blökte auf der Wiese, die den Hang zur Bokelburg hinaufging. Die Bokelburg, das war die alte Fluchtburg der Marienheider, auf der ein einsamer Klausner sein wundertätiges Bild der Muttergottes behütet hatte, von diesem Hintergrund leitete sich der Ortsname Marienheide ab und deshalb war Marienheide bis heute ein Wallfahrtsort.

Manchmal erschien es ihm so, als würde mit dem Älterwerden die Bedeutung von allem abnehmen. Objektiv und subjektiv sowieso. Bei-sich-sein war wichtig. Die richtigen Dinge im richtigen Moment tun. Sich konzentrieren und den richtigen Rhythmus finden und dann in den „Flow“ geraten, den Fluss, dann ging alles wie von selbst, über alle Verluste hinweg.

Über diesen Gedanken schlief Michael Kleinewetter, die Buchstabenhure, die alles schreiben konnte, was verlangt wurde, und die doch immer den großen Romans ihres Lebens schreiben wollte, DEN deutschen Roman schreiben wollte und ihn doch nie schrieb, friedlich ein.

Er wachte gegen Abend wieder auf und ärgerte sich über sich selbst. Das Bier zur Feier der Rückkehr hätte er weglassen sollen. Und er hätte sich nicht hinlegen sollen. Vor dem Ärger kam aber noch die Erinnerung an die schöne kurze Zeit im Kloster. Das Schweigen, vor allem beim Essen, das gemeinsam mit den Mönchen eingenommen wurde. An Einsamkeit war er gewöhnt, aber dieses Schweigen hatte eine andere Qualität, ein aktives Schweigen und aktive Einsamkeit in der Gemeinsamkeit. Dafür wurde beim Essen vorgelesen, diesmal ein Buch über die Geschichte der Juden in Deutschland. Der heilige Benedikt hatte Missbrauch hierbei per Regel vorgebeugt. In seinen Regeln gab er vor, dass der „Vorlesebruder“ auch ein guter Leser sein müsse. Michael Kleinewetter hielt dies für eine weise Forderung. Wie nervig wäre ein schlechter oder gar langweiliger Vorleser, gerade beim Essen. Ein durchaus unerträglicher Gedanke.

Trotz der abendlichen Stunde war es unabdingbar sich noch um das Haustier und die Außenanlagen zu kümmern, zumindest musste das Dringendste erledigt werden. Das Haustier war ein grauer Zwerghase, der originellerweise auf den Namen Roger hörte, besser: nicht hörte. Kleinewetter entfernte die verschmutzte Streu mit Hilfe eines gelben Eimers, den einmal das Bild einer Maus zu Reklamezwecken für Käse geziert hatte. Erworben bei einem Marktschreier auf einer Straßenkirmes in Köln-Kalk.

Das Haus von Michael Kleinewetter verfügte nicht über einen Garten im eigentlichen Sinne, sehr wohl aber über ein Grundstück, auf dem sogar ein kleines Waldstück lag, eine Auffahrt führte von hinten an das Haus heran, zudem plätscherte der bereits erwähnte Bach. „Oh, ein Bach, toll“, hatte ein Freund beim Einzug gejubelt, „da kannst du ein Rähmchen reinstellen.“ Auf Nachfrage ergab sich, dass es sich bei einem „Rähmchen“ um eine Kiste Bier handelte. Von der Hintertür aus ging der Blick über ein sanft gewelltes Tal, ebenfalls von einem Bach durchzogen und bereits jetzt von leichtem Dunst erfüllt, der sich bis zum Morgen zu dichtem Nebel entwickeln sollte. Nebel stellte in dieser Gegend ein häufiges Phänomen dar.

Für Michael Kleinewetter war das Oberbergische eigentlich nicht schön, zu sehr zersiedelt, zu viele Spuren der Arbeit (seltsam für einen, der aus dem Ruhrgebiet stammte, aber wenn schon ländlich, dann auch richtig), er empfand es auch als zu rauh, aber den Ausblick aus seinem Haus liebte er, so sanft und grün und beschaulich und unverbaubar. Er erinnerte ihn an seinen anderen oberbergischen Favoriten, das Homburger Ländchen, und international an Schottland. Insoweit passten die Hochlandrinder wirklich gut hierhin. Nur schade, dass die hiesigen Bauern für seinen Geschmack zu viele bunte darunter gemischt hatten.

Was sollte nun aus dem angefangenen Abend werden, sich hängen lassen aus Ärger über den verschlafenen Tag kam nicht in Frage. Nochmal ein Spaziergang vielleicht, irgendwie wieder den Rhythmus kriegen.

Dann Abendessen, dann mal sehen, es brauchte einen klaren Beginn zum Wiedereinstieg. Das Hasenfüttern stellte schon so einen Beginn dar. Eine alltägliche Handlung. Draußen den letzten Löwenzahn pflücken, die Streu in die großen grünen Komposttonnen an der Seitenwand des Hauses neben der selbstangelegten Kletterwand (die er kaum benutzte) schütten. Dem Bach lauschen, der tagsüber noch an Kraft gewonnen hatte, obwohl der Regen ausgeblieben war. Es war gut, wenn der Bach relativ viel Wasser führte, dann roch das Wasser, das über die oberen Weiden floss, nicht so sehr nach Gülle und trug keinen Schaum. Michael Kleinewetter hatte sich entschieden, er wollte heute Abend noch mal raus.

Neuigkeiten

Peter Ommerborn sah hinauf zur grob gemauerten Bruchsteinkirche von Gimborn. Die herbstliche Morgenkälte ließ ihn zittern. Das lag wohl auch daran, dass er noch müde war. Dieses frühe Aufstehen war nicht sein Ding. Später am Tag lief er zu großer Form auf, aber morgens gab es immer Anlaufschwierigkeiten.

Sein Kollege Karl-Heinz Hütt lud bereits das Material vom Wagen. Die beiden waren zuständig für die Instandhaltung des Friedhofes von Gimborn. Ein nicht sehr großer Friedhof direkt am Hang gegenüber dem Schloss, das das ganze Tal beherrschte und dessen Besitzer glücklicherweise jede Art von Neubauten unterbunden hatte. Außer dem Friedhof, dem Schloss und der Kirche gab es am Taleingang ein Sägewerk, zwei sehr alte ehemalige Bauernhäuser, die nun rein zu Wohnzwecken genutzt wurden, dann an der Straße, die zur Kirche hinaufführte, das Gemeindehaus, das Haus des verstorbenen Pfarrers (der sogar einen päpstlichen Ehrentitel getragen hatte) und unten im Tal noch das Schlosshotel. Hinter der Kirche schließlich die ehemalige Schule, die heute als Übernachtungsmöglichkeit für die Polizeiakademie im Schloss diente. Ansonsten kleine Kapellen. Die Atmosphäre ähnelte Wallfahrtsorten in dramatisch-romantischer geographischer Lage, sie erinnerte an eine mittelalterliche Wehrstadt, obwohl sie das niemals war. Es herrschte ein historisierender Gestus, von Puristen als Kitsch bezeichnet, aber nicht ohne Wirkung. Auch nicht ohne Wirkung auf Peter Ommerborn. Er liebte Gimborn, er liebte dieses Tal, er liebte seinen Beruf.

Beerdigungen fanden hier nicht mehr so häufig statt. Damit entfiel ein belastender Aspekt seiner Arbeit. Als belastend empfand er aber seinen Kollegen Karl-Heinz, den er als lahm, antriebslos und ohne jedes Interesse an irgendwas erlebte. Es war schwierig, mit ihm zu kommunizieren. Karl-Heinz Hütt war mundfaul und redete nicht, außer, wenn es wirklich sein musste. Und wann muss einer schon wirklich reden?

Für den Kollegen von Peter Ommerborn bedeutete ein „Guten Morgen“ schon so etwas wie eine Sturzflut von Worten.

Die beiden Friedhofsarbeiter gingen vom Parkplatz am Schloss zum Friedhof hinauf. Warum Ommerborn grundsätzlich nie neben dem Eingang parkte, blieb sein Geheimnis. Wahrscheinlich nur eine Macke, es gab keinen wirklichen Grund. Es hatte ihn auch noch nie jemand danach gefragt und sein Kollege am allerwenigsten.

Vielleicht war es einfach nur so, dass er den kurzen Anstieg so liebte, er liebte generell die Bewegung unter freiem Himmel. Seinem Partner wäre sowieso kein Unterschied aufgefallen, hätte er sein Verhalten geändert. Und wenn, hätte er nichts dazu gesagt. „Naja, wer weiß“, dachte Peter Ommerborn manchmal, „stille Wasser sollen ja angeblich tief sein.“ Aber in seinem tiefsten Inneren ahnte er, dass in Karl-Heinz Hütt keine Tiefe vorhanden war. Der Mann interessierte sich wirklich für nichts, diskutierte nicht einmal den letzten Spieltag der Fußball-Bundesliga. Ommerborn war bekennender Fan des 1. FC Köln, was eine gewisse Leidensfähigkeit voraussetzte, ansonsten teilte sich diese Gegend friedlich zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund auf. Ommerborn kannte einen Schalke-Fan, dessen bester Freund Anhänger von Dortmund war, das war schwierig, aber es funktionierte. Ansonsten gab es noch einige versprengte Leverkusener.

Und … Hütt lebte allein. „Spricht wahrscheinlich mit der Tapete oder so was“, dachte Ommerborn und machte dann doch einen Versuch: „Ziemlich frisch heute.“ Keine Reaktion. „Und ich freu mich schon aufs Mittagessen.“ Keine Antwort. War zu erwarten. Dann eben nicht.

Sie näherten sich dem Tor zum Friedhof. Erstmal umsehen, nichts Besonderes, alles friedlich. So sollte es sein. Auf dem Grab direkt vor ihnen standen frische Blumen in einer altmodischen Vase. Ein Vogel sang seinen Herbstgesang. Wortlos begannen sie die Wege von neuem Laub zu befreien. Das Laub fiel nun wie auf Kommando, das hatte erst gestern so richtig begonnen. Eine Sisyphos-Arbeit, eigentlich sinnlos, es kam immer neues dazu. Aber die Arbeit musste getan werden und sei es nur, damit sich niemand beschweren konnte. Ommerborn summte bei der Arbeit vor sich hin. „We are the champions my friend and we keep on fighting till the end.“ Ommerborn wunderte sich, wie er denn darauf kam. Na egal. Unten am Schloss fuhren einige Wagen vor, Menschen stiegen aus und unterhielten sich in einer fremden Sprache. Heiteres Spracheraten. Wahrscheinlich schwedisch oder so was.

Die Arbeit ging gut voran und war immer noch reine Routine. Nichts, worüber es sich nachzudenken lohnte, aber eben auch immer noch ziemlich sinnlos. Als sie nach zwei Stunden ihre erste Runde erledigt hatten, hätten sie genauso gut wieder von vorne anfangen können. Sie brachten die Säcke mit dem Laub hinunter zum Wagen, dann machten sie sich über den Rasen her, der unter dem großen Kreuz am Hang lag. Ein steiles Stück und um diese Jahreszeit rutschig. Dann eine Reihe von „plattgemachten“ Gräbern. Es gab keine Verwandten mehr, die sich darum hätten kümmern können. Das war auch der Fall gewesen bei den Gräbern direkt am Eingang, wo einst die Mädchen begraben wurden, die 1949 im Kühlwasserbecken in Würden ertranken. Zwölf Mädchen, die um zwölf Uhr ertranken an einem strahlenden Septembertag und für die noch genau zwölf Gräber frei waren. Aber das war weit vor seiner Zeit gewesen. Jetzt waren ihre Plätze zumindest teilweise schon wieder neu belegt. So war das eben.

„Hö’ma.“ Wie bitte, was war das denn? Karl-Heinz Hütt hatte doch tatsächlich gesprochen. Das war seit Wochen nicht mehr vorgekommen, es musste also etwas Wichtiges gewesen sein, was er zu sagen hatte, etwas sehr Wichtiges. „Hö’ma, Peta.“ Hütt sprach mit seiner schweren ungeübten Zunge.

„Was ist denn, Kollege?“

„Dat war gestahn nonich da.“

„Was war gestern noch nicht da?“, fragte Ommerborn verwirrt.

Karl-Heinz Hütt atmete tief durch und schien all seine Kraft zusammenzunehmen.

„Dat Grab da, dat war gestahn noch nich da. Dat is nich von hier.“

Und tatsächlich, vor ihnen lag ein frisch aufgeschüttetes Grab, das irgendjemand hier angelegt hatte. Es lagen sogar Blumen drauf.

Ein Schauer ging über Ommerborns Rücken.

Ich

Mir fällt ein, dass es im Kloster auch einen Nachmittag gab, den ich völlig verpennt habe. Ärgerlich, hätte doch besser rausgehen können zum Park am Freilichttheater, dort einfach nur sitzen und warten sollen. Warten auf irgendwas. Egal, nun muss es jemand büßen. Spreche jemand an auf dem Parkplatz unter der Autobahnauffahrt Engelskirchen. Ein Berufspendler, hähäh, kann man das von Beruf sein? Pendler. Was pendeln Sie denn? Er reagiert auf mein Chloroform verschnupft und etwas wehrig, aber nur kurz, macht ein bisschen Geschrei, da steh ich nicht drauf, die Leute machen es sich ja nur selber schwer, also was soll das werden. Ich rede ruhig auf ihn ein, er ist so ein Anzugträger mit blauem Hemdchen und kurzen Ärmeln, würg, wahrscheinlich irgend so ein Vertreter. Er wird ruhiger als ich seine Sachen kurz checke. Ich bin ja nicht aufs Geld aus. Wenn die Leute das aber glauben, beruhigt es sie eher. Na und wenn was abfällt ist es ja nicht schlimm. Der hat so 150Euro dabei, nicht schlecht, lass ich nicht liegen. Seine Papiere habe ich gleich im Auto gelassen; die braucht er sowieso nicht mehr; da macht er wieder Zicken. Ich geb ihm kurz eins zwischen die Augen, dann hat er nur noch ein klein wenig gejammert. Ich praktiziere das blaue Hemdchenteil auf den Rücksitz meines Autos. Gut dass ich seit einem Jahr endlich einen Viertürer habe, was war das früher immer unbequem für uns alle.

Jetzt sitzt er da also und ich geb ihm noch mal ne Extraportion Chloroform und dann schläft er schnarchend und röchelnd und ich fahre vom Parkplatz runter. Keiner hat was gesehen, wir waren ganz hinten und wer kümmert sich heute schon um jemand anders … viel zu gefährlich, nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Lande, sieht man ja. Da kommt die Polizei um die Ecke, den Parkplatz checken. Immer im falschen Moment, was soll das denn jetzt. Einfach ruhig weiterfahren, ganz cool, die kommen mir entgegen, ich an denen vorbei, mein Freund auf dem Rücksitz gurgelt selig. Ich gucke geradeaus, aber es soll nicht verkrampft aussehen, oder? Langsam nähern wir uns der Ausfahrt, vorbei an den dicken Stützpfeilern der Autobahn. Oh, wär ich da jetzt nur oben auf der Bahn. Rumpel, ein Schlagloch, dann vom Parkplatz runter nach links. Verkehr kreuzt. Die Grünen wenden, sind jetzt direkt hinter mir, reden miteinander und mein Kollege sagt etwas. Weißdornbad. Hat offensichtlich einen kleinen Rausch, man muss eben aufpassen was man sich reinzieht, finde ich. Ich frage ihn welches Buch er momentan liest, aber ich kriege keine Antwort. Wahrscheinlich liest er nicht, Außendienstmitarbeiter lesen nicht, die Säcke. Endlich freie Fahrt, ich biege nach links ab auf die breite Straße. Die Polizei ist immer noch hinter mir, langsam werde ich nervös und sage das auch. „Langsam werde ich nervös.“ Wenn die eine Minute eher gekommen wären, wärs jetzt aus. Sind die aber nicht. Ich gebe behutsam Gas, die Grünen auch, dann setzen die den Blinker und fahren nach links ab Richtung Engelskirchen. Was für ein Glück. Ich schaue noch mal in den Rückspiegel und gebe jetzt tüchtig Gas. Bin eben unbesiegbar, ist doch klar. Auf der Brücke wird die Straße zweispurig und ich bin jetzt fast auf hundert. Mein Freund sagt nichts. Hat sich ja eben so richtig ausgequatscht mit seinem Weißdornbad. Ist damit alles losgeworden was ihn belastet. Gleich wird er noch viel mehr loswerden … dabei ist das nichts Persönliches, nie etwas Persönliches, das wäre viel zu gefährlich, macht hässliche Spuren im Beziehungsgeflecht. Mit dem Typ da habe ich nix zu tun, kein Motiv, kein gar nix.

Ich bin ein Niemand, er ist ein Nichts, die Verbindung von Niemand zu Nichts ist auch Nichts. Wir biegen ab Richtung Marienheide. Kein kreuzender Gegenverkehr diesmal. Ziemlich leer auf der Straße obwohl es noch hell ist. Im Hellen macht es doch viel mehr Spaß. Der Kick entdeckt werden zu können. Das braucht der Mensch.