Hinterher - Finn Job - E-Book

Hinterher E-Book

Finn Job

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Beschreibung

Seine große Liebe hat das Land verlassen, den verhassten Job ist er los, die früheren Freunde überhäufen ihn mit Schimpfworten. Francesco aber nennt ihn »Boy« und nimmt ihn im maulbeerfarbenen Cayenne seiner Mutter mit nach Frankreich. Sie sind Anfang zwanzig und auf Koks. Ihre Reise hat ein surreales Ziel. Von Neukölln über Amiens in die Normandie. Sommertage, von Hitze betäubt, klebrig und schwer. In einer halbrenovierten Villa einer französischen Kleinstadt beziehen Francesco und der Erzähler Quartier. Sie gehört Gédéon, der von allen guten Geistern verlassen scheint und mal Hund, mal Katze, mal Märtyrer spielt. Francesco arbeitet in einer kleinen Kirche an seiner Kunstinstallation, während der Erzähler sich nur mit Mühe auf den Beinen hält. Was nur ist geschehen an jenem Tag, da er verstoßen wurde? Warum ist Chaim nach Israel zurückgekehrt? Und weshalb nimmt der Erzähler nicht ab, wenn Hatice anruft? Ihm, der sich selbst nicht vertraut, ist längst alles entglitten. Das Suchen hat er aufgegeben, ans Finden glaubt er nicht. Er fährt allein an die Küste, wirft das summende Handy ins Meer und weiß dann doch, was zu tun ist. Finn Job zieht in seinem rauschhaften Debütroman viele Sprachregister – vom hohen Ton bis zum delirierenden Trash: verspielt, facettenreich und eigensinnig. Er erfindet unvergessliche Szenen und überzeichnet phantasie- und lustvoll seine Figuren. Ein exzessiver, ein fiebernder Liebeskummerroman.

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E-Book-Ausgabe 2022

© 2022 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4351 8

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3348 9

www.wagenbach.de

FÜR TIMO.

… denn die wahren Paradiese sind jene, die man verloren hat.

MARCEL PROUST

Das frenetische Hämmern, der chemische Dunst der halbnackten Leiber und das grünflackernde Licht, die Ekstase in den leeren Gesichtern, das Hochschnellen der Jalousien, ein kurzer Schimmer des Tages, nur dazu da, die immerwährende Nacht noch zu verdunkeln, der darauffolgende Jubel, nicht über das Licht, nein, über die Dunkelheit, immer über die Dunkelheit – mir bis vor wenigen Minuten zuwider, versetzte es mich nun in eine gar haltlose Trance. Nein. Mein Körper wurde nicht durchströmt von jener verlorenen Elektrizität, jener fremdgewordenen Mischung aus kollektivem Wahn und enthemmter Subjektivität, jener Mischung, für die ich die bebende Masse wieder und wieder hassen gelernt hatte. Nein. Ich hasste sie auch jetzt. Allein, nie mehr muss ich dieses Spektakel ertragen.

Feine Rinnsale flossen mir in die vom stehenden Rauch der Zigaretten, vom gleichsam stehenden Dampf der Nebelmaschinen bereits tränenden Augen. Nein, die Erlösung, die ich mir von diesem Moment erhofft hatte, trat nicht ein. Nie tritt sie so ein, wie man sie erhofft. Nicht erleichtert, nein!, ganz sicher nicht, aber doch die über allem schwebende Drohung für einen kurzen Moment verdrängend, bewegte ich bald schon einen Fuß nach dem anderen, fiel dem Inferno anheim, schritt bald schon von Kreis zu Kreis, gab meine Widerstände nicht auf, aber –

»Du tanzt? Amazing, dass ich das noch erleben darf!«, schrie mir eine vertraute Stimme ins Ohr.

Ich drehte mich um, erblickte Francesco und umarmte ihn, wobei seine knochige Schulter in meine Handfläche stach.

»Ich hab’ dich eben schon an der Bar gesehen, Boy, aber da sahst du so gestresst aus, so richtig abgefuckt. Also halt so, als sollte man dich besser nicht ansprechen«, schrie er weiter. »Hast du jetzt Feierabend?«

»Ja, und das war meine letzte Schicht«, schrie ich zurück. Ich hatte ihn seit Monaten nicht gesehen, seit Jahren.

»Was?«

»Ja, ich habe jetzt Feierabend, und heute war meine letzte Schicht.«

»Du hörst hier auf? Das feiern wir!«

Und Francesco zog mich von der Tanzfläche und hinter sich her, vorbei an den zuckenden, vorbei auch auch an den leblosen Körpern – zog mich weiter, behände und flink, zog mich durch die Masse. Menschen wollten mich ansprechen, einige waren mir bekannt, doch niemand war mir lieb – Francesco zog mich weiter, und also dankte ich ihm.

In der Schlange vor den Toiletten war es brennend heiß. Das warme Licht fiel auf Francescos nackten, geschorenen Kopf, auf seinen nackten, ausgezehrten Torso, während er redete und gestikulierte. Ich rauchte eine Zigarette und musterte sein sicher einst zartes Gesicht, seinen flackernden Blick, seine Zunge, wie sie von einem in den anderen Mundwinkel hüpfte. Er sah nicht gesund aus, aber das tat er noch nie. Obschon, sein Gesicht zierte ein gotischer Glanz: Die hohlen Wangen waren gerahmt von seinem dichten, oben fein ausrasierten Bart. Die immer wieder nach oben gleitenden Iriden verliehen seinen Augen, verliehen ihm den heiligen Ausdruck eines mittelalterlichen Asketen, eines Wanderpredigers – der Erleuchtung ganz nah, oder dem Wahnsinn, ja, wohl eher dem Wahnsinn. Der jahrelange Kokainkonsum hatte Spuren hinterlassen, ihn jedoch nicht gänzlich entstellt. An seinen etwas zu ausschweifenden Bewegungen, der zittrigen Hektik seiner verkrampften Finger erkannte ich, dass er schon mehrere Tage wach sein musste.

Auch mein Herz raste zu schnell. Gleichsam aufgeputscht, war ich unfähig zur Konzentration, unfähig durch das Speed, den Schlafmangel und die letzten Arbeitstage – war ich nicht in der Lage zu verstehen, was er von mir wollte. Unaufhörlich redete Francesco. Eine der Kabinen öffnete sich, doch wir bemerkten es zu spät, und eine Gruppe älterer, doch nicht minder hysterischer Schwuler drängelte sich an uns vorbei.

Ein beängstigend junges Mädchen stand an einem der Waschbecken, füllte sich eine Flasche mit Wasser auf und sah mich böse an: Ja, sie war das, die mich gefragt hatte, warum ich ihr ohne nachzudenken einen Strohhalm in ihren Daiquiri gesteckt hätte; ob ich nicht wisse, dass ich damit Wale töte. Sie zunächst ignorierend, hatte ich mich an einen anderen Gast gewandt, ihm die geforderten Wodka-Shots ausgeschenkt, das Geld angenommen und die Bestellung auf den Bildschirm getippt. Und als sie dann immer noch dastand, mittlerweile ihr Telefon vor meinen Augen schwenkend, darauf ein Foto von einem Buckelwal mit dem Bauch voller Plastik, hatte ich eine Handvoll frischer Strohhalme genommen und sie über die Bar hinter das Mädchen auf den Boden geworfen. Ja, genau, sie war das.

»Und? Wie sieht es aus? Kommst du mit nach Frankreich?«

Ich wusste nichts mit Francescos Frage anzufangen, hatte nicht einmal eine Ahnung von der Zeit, die vergangen war, seitdem wir die Tanzfläche verlassen hatten. Vielleicht standen wir hier schon eine Viertelstunde, vielleicht länger. Wovon redete Francesco? Ich steckte mir besser noch eine Zigarette an. Eine weitere Kabine öffnete sich und diesmal waren wir schneller.

Im stickigen Halbdunkel also wühlten Francescos zittrige Finger in seiner zerfransten Bauchtasche; sie hing ihm seitlich über die Brust. Es waren die fiebrigen Finger eines Klavierspielers, der die richtigen Tasten nicht findet. Eines nach dem anderen holte er mehrere riesige Plastiktütchen heraus und hielt sie erst vor sein, dann vor mein Gesicht. Um die verschiedenen Substanzen zu unterscheiden, assistierte ich ihm mit der Taschenlampe meines Telefons. Auch hier war es brennend heiß, vielleicht noch heißer als da draußen. Aus einer der Nebenkabinen ertönte ein gelangweiltes Stöhnen, von ferne der dumpfe Bass. Kondenswasser tropfte von der Decke auf meinen ohnehin nassen Körper, aber zumindest waren wir hier geschützt vor dem Treiben da draußen, vor den animalischen Blicken, vor denen der Selbstdarsteller – vor den Blicken der flüchtig Bekannten und der schamlos Kaputten.

»Was wollen wir nehmen, Boy? Koks? Keta? Beides? Speed? Noch was?«

»Ja, warum nicht.«

Ich warf meine erst angerauchte Zigarette ins verdreckte Klo und sah zu, wie Franceso drei Hügel weißen Pulvers auf sein Telefon schüttete. Er zitterte so sehr, dass die Hälfte auf dem Boden landete. Besser, ich nahm ihm die Utensilien aus der Hand, vermengte die drei Hügel zu einem einzigen Berg und schob das Pulver mit seiner Kreditkarte auf dem zersprungenen Bildschirm hin und her.

»Was war jetzt mit Frankreich? Entschuldige, ich kann nicht mehr so gut folgen.« Meine Stimme krächzte.

»Also dieser Freund von mir hat die Schlüssel für eine Kirche in der Normandie. Ich fahre nächste Woche hin, für ein paar Wochen, vielleicht auch länger. Und es wäre doch nice, also, wenn du mitkommst. Ich werde tagsüber an meiner Installation arbeiten, du könntest mir ein wenig helfen – nur wenn du magst, natürlich! Ansonsten machen wir einfach ein bisschen Urlaub, ein bisschen Detox.«

Fast gerührt von so viel gutem Willen, verkniff ich mir die Frage, ob er mich gerade zu seinem Entzug einlade, und versuchte ihm zu erklären, dass ich kein Geld für derlei Vergnügungen habe, dass ich soeben meinen Job gekündigt hätte, dass ich mir einen neuen suchen müsse, dass –

»Aber dann hättest du ja Zeit jetzt, theoretisch.« Francesco grinste.

»Theoretisch.«

»Und um das Money brauchst du dir keine Sorgen machen. Du bist mein Gast!«

Alsbald war es mir gelungen, zwei Linien zu formen, und ich durchsuchte die Taschen meiner klebrigen Shorts nach einem Röhrchen, einem abgeschnittenen Strohhalm oder einem Stück Papier.

»Vive la France!«, lachte Francesco und hielt mir einen zusammengerollten Hunderteuroschein unter die Nase.

1

Eigentlich mied ich Neukölln im Allgemeinen und die Sonnenallee im Besonderen. Normalerweise machte ich Umwege, um die Konfrontation zu vermeiden. Manchmal nur, wenn es eben nicht zu vermeiden war, es keinen anderen Weg durch die Stadt gab, fuhr ich mit dem Bus durch den verhassten Bezirk, wäre aber niemals ausgestiegen, und verbarg mich in der Ecke ganz vorne, direkt hinter dem Fahrer, das Gesicht weg vom Gang. Doch an diesem schwülen Sommernachmittag erklomm ich hektisch huschend, mit meinem kleinen Rollkoffer in der Hand, die Stufen der U-Bahnstation Hermannplatz – mein Blick von links nach rechts und wieder zurückschnellend. Ich hatte mich so unauffällig wie möglich gekleidet, trug eine kurze, weite Jogginghose und eine tief ins Gesicht gezogene Basecap. Auch versuchte ich, meine Beine beim Gehen ausladender auseinanderreißend, meine Schultern breiter streckend als gewöhnlich, so maskulin wie möglich zu erscheinen. Aber ach! Natürlich wurde ich erkannt: Irgendwas war an meinem Wesen, irgendetwas, das ich nicht zu kaschieren vermochte, da ich es selbst nicht an mir sah.

»Schwuchtel!«, erklang es, noch bevor ich oben angekommen war.

Besser, ich versuchte so zu tun, als hätte ich nichts gehört. Hastig, aber darauf achtend, bloß nicht zu rennen, ging ich weiter, vorüber an den Marktständen mit Sesamringen und gefälschten Handtaschen, vorüber an den streitenden Junkies, dann vorüber an den beiden verschleierten, vielleicht siebenjährigen Mädchen, deren Blicke sich in mich bohrten, vorüber an den Wohlstandsverwahrlosten, die sich aus Gründen, die mir immer rätselhaft bleiben würden, betont hässlich anzogen – schließlich vorüber an dem salafistischen Schlüsseldienst. An der Ampel angekommen setzte ich alles daran, meine Atmung zu beruhigen, doch es gelang mir nicht. Eine Hand streckte sich mir von unten entgegen, und ich trat nach ihr, erst dann bemerkend, dass es die bettelnde Hand eines alten Mannes war.

Und also lief ich vor die fahrenden Autos und zwischen ihnen hindurch. Besser, ich sah nicht noch einmal zurück. Mein Mund war trocken und meine Stirn war nass. Den Alten hatte ich schon wieder vergessen, als ich auf der anderen Straßenseite ankam, da mein Blick und mein Verstand gezwungen waren, Gefahrenherde auszumachen und sich dabei mehr und mehr überschlugen. Mitten in dem Strom von Menschen galt es, blitzschnell zu erfassen, wem ich gleichgültig war und wer meine Vernichtung ersehnte: Die pubertären Dealer mit den aufleuchtenden Ohrringen hatten nur ihr Geschäft im Sinn, aber war das dahinter – ja, gleich dort drüben – nicht der Hüne aus dem Imbiss, der Mann mit der Holzlatte?

Doch lief ich zu schnell, um alle vorbeiziehenden Gesichter zu filtern; doch war mein Kopf unter der brennenden Sonne zu heißgelaufen, um einen klaren Gedanken zu fassen. Auch der Boden unter mir schwitzte, und jeder Mülleimer stieß mir seinen fauligen Atem entgegen, als verwese Neukölln bei lebendigem Leib. Wiewohl, nichts verweste hier, alles war quietschfidel – gar zu lebendig. Niemand, der etwas auf sich hält, weicht einem auf dieser Straße aus, und wieder war ich gezwungen, einen bizarren Slalom zu laufen. Kurz dachte ich, im Augenwinkel die schmale Gestalt Chaims zu erkennen, aber natürlich war er es nicht, nein, denn er war ja in Sicherheit.

Meine Eindrücke vermengten sich zusehends mit meinen Erinnerungen, vermengten sich zu einem diffusen Gestöhn, in dem die Realität bald zur Wahrscheinlichkeit, bald zur Unwahrscheinlichkeit wurde, doch irgendwann erreichte ich das hässliche Haus – das hässliche Haus, in dem ich damals so viel Zeit verbracht hatte. Ich drückte auf die einzige Klingel ohne Namensschild und versuchte, mich nicht weiter umzusehen. Wenige Meter neben mir saßen einige Männer breitbeinig in Plastikstühlen vor einer Shishabar, rauchten beziehungsweise sogen an ihren bunten Schläuchen – tauschten ihre Ressentiments aus. Einer von ihnen starrte schon seit mehreren Sekunden zu mir herüber, und es war denkbar, dass sie sich auch über mich austauschten. Die erste Sommerbrise, die mich an diesem sonst windstillen Tag streifte, war eher ein heißer Stoß, der mir den Dampf ihrer Wasserpfeifen entgegenwarf, und jene Mischung aus Apfeltabak und etwas, das mich an überzuckerte Kaugummis aus Kindertagen gemahnte, verursachte mir Ekel – ich spürte es meine Kehle hochschießen. Besser, ich schluckte alles wieder hinunter.

Besser, ich starrte auf die Gegensprechanlage.

Kein Summen, nichts – noch einmal drückte ich auf die Klingel. Mittlerweile war ich sicher, dass die Männer dort drüben über mich sprachen. Aber ich wusste auch, dass ich oft sicher war, selbst dann, wenn es keinen Anlass gab, und also versuchte ich, mich auf die übrigen Klingelschilder zu konzentrieren. Alle waren sie mehrfach überklebt. Einzelne Namen waren weggestrichen, andere hinzugefügt worden, oftmals mehr als fünf Namen pro Schild; manche waren unleserlicher als die Graffiti über, unter und neben den Klingeln, alles klebte – und doch, ich war ganz sicher, dass man dort drüben über mich sprach. Ich drückte also ein drittes, dann ein viertes und fünftes Mal auf die Klingel, bis ich wieder einen kurzen Blick auf die Männer in den Plastikstühlen wagte. Niemand sah zu mir, und sie redeten auch nicht über mich, sie redeten überhaupt nicht mehr, nein, sie sogen nur noch – wohl wollten sie mich täuschen.

Endlich, nachdem ich ein sechstes Mal auf die Klingel, auf die einzige Klingel ohne Namensschild, gedrückt hatte, ertönte das erlösende Summen, und ich warf mich mit aller Kraft gegen die Tür, weil sie früher immer geklemmt hatte, früher nicht anders zu öffnen war – weil das früher die einzige Möglichkeit gewesen war, in dieses hässliche Haus zu kommen. Irgendjemand hatte die Tür jedoch offenbar repariert, und so fiel ich in den Hausflur und landete samt meinem Koffer auf dem Boden.

Bis auf die Tür war nichts repariert, nichts verändert worden. Neben einigen Spritzen lagen Ausgaben der »Einkauf Aktuell« lose verteilt auf dem Boden, dazu Flyer von umliegenden Restaurants und eine kyrillische Ausgabe des Neuen Testaments, zerrissen.

Wie immer, wie früher, roch es nach Urin.

Im fünften Stock angekommen, erwartete mich niemand an der Tür, aber sie war einen Spaltbreit offen, und von drinnen ertönte das altbekannte Gewirr aus sich überschlagenden Stimmen und Punkrock. Dass Francesco mich ausgerechnet bei Peter abholen wollte, war so einleuchtend wie unangenehm – zumindest hatte ich nun die Gewissheit, dass er seinen Entzug aufgeschoben hatte, ich in Frankreich also seinem Entzug nicht würde beiwohnen müssen.

Peter lebte schon seit ich ihn kannte in dieser heruntergekommenen Fünfzimmerwohnung, in diesem heruntergekommenen, hässlichen Haus. Dass er hier inzwischen ganz allein lebte, war dem Umstand geschuldet, dass es niemand mehr mit ihm aushielt, seine Mitbewohner nach und nach ausgezogen waren und sich auch keine neuen fanden – obgleich, oder vielleicht eher weil er einen großen Bekanntenkreis hatte und also jeder wusste, dass man hier besser nicht einzog. Nein, hier zog man nicht ein. Und weil sich mit jedem neuen Auszug sein Anteil an der zu zahlenden Miete vergrößerte, hatte er mit jedem neuen Auszug auch immer mehr Drogen verkaufen müssen, und aus dem kleinen Broterwerb von früher hatte sich ein immer größeres Geschäft entwickelt – so zumindest hatte ich es sagen hören. Ja, Hatice hatte es mir so erklärt.

Chaim war als erster, vorletztes Jahr, ausgezogen, und seitdem hatte ich die Wohnung nicht mehr betreten, Peter folglich nicht mehr gesehen. Denn immer seltener verließ dieser seine Wohnung – verließ er sie überhaupt noch? Und die Zeit, da ich mit ihm unbeschwert von Club zu Club zog, war schon einige Jahre, eine Ewigkeit her. All die Ängste vor den Gefahren der Sonnenallee waren indes, während ich die Treppen emporgestiegen war, der Angst vor einem Zusammentreffen mit Peter gewichen. Es ist seltsam, wie die Schrecken, obwohl sie einander alle ähneln, sich von Mal zu Mal übertönen, einige für eine gewisse Zeit verstummen, nur damit andere klarer, reiner vernehmbar werden – und also die Orchestrierung der Angst jedem Instrument einen Solopart einräumt. Sowie das Tutti verstummte, richtete sich meine Angst auf ein konkretes Objekt, auf Peter. Nur büßte sie deshalb nicht an Lautstärke ein – nein, der Solist knüpfte problemlos an das Fortissimo des ganzen Orchesters an, und es schien verwunderlich, wie laut seine Stimme war.

Peters Zimmer lag noch immer am Ende der Wohnung, am Ende des langen Flurs, da er sich nie die Mühe gemacht hatte, die verlassenen Zimmer zu betreten, geschweige denn sie zu nutzen. Im Flur standen hunderte leerer Bierflaschen, die seine Kunden zurückgelassen hatten, leere Bierflaschen, die früher Chaim entsorgt hätte und deren verwesender Bodensatz nun einen schimmligen Teppich webte. Dieser eher stehende, dumpfe Geruch wurde überflügelt von dem beißenden Gestank, der von der Küche herwehte – schlimmer noch als früher, viel schlimmer. Sowie ich an Chaims altem Zimmer vorbeikam, hielt ich einen Augenblick inne, doch ich sah besser nicht durch die halboffene Tür, richtete meinen Blick lieber weiter auf das Ende des Flurs. Es waren nur noch wenige Schritte bis zu Peter, und ich versuchte, das Stimmengewirr zu entflechten, bekannte Stimmen von unbekannten zu unterscheiden, doch es gelang mir nicht: zu laut der Lärm der Musik, zu schrill das hastige Ineinander der Organe.

Erst als ich direkt vor der Tür stand, vernahm ich die sich überschlagende Stimme Sophias: »If you’re happy and you know it clap your hands«.

Unweigerlich zuckte ich zusammen, noch bevor viele, schwer zu sagen wie viele, Hände zweimal ineinander klatschten. Sophia war hier, anscheinend fickte sie wieder mit Peter. Ich hätte eigentlich damit rechnen können, sie anzutreffen, hätte eigentlich darauf gefasst sein müssen. Doch hatte ich gerade noch über genug Zeit verfügt, meinen Koffer zu packen und mich überstürzt von Hatice zu verabschieden. Seit unserem Aufeinandertreffen vor einer Woche hatte ich nichts mehr von Francesco gehört, schon gar nicht mehr mit ihm gerechnet, als er mich vor zwei Stunden angerufen hatte, um mitzuteilen, dass es heute losgehen solle, dass ich unbedingt um sechzehn Uhr bei Peter erscheinen müsse, damit er mich dort abholen könne.

»If you’re happy and you know it clap your hands«.

Dieses lächerliche Kinderlied hatten Peter und ich immer in den unmöglichsten Situationen und völlig betrunken zum Besten gegeben, um Gesinde zu verzwirln, wie er sich damals ausdrückte – damals, als sich sein Zynismus noch nicht gegen mich richtete. Ich überlegte, ob ich mir das wirklich antun sollte, während ich mich auch schon die Tür aufstoßen sah.

»If you’re happy and you know it and you really want to show it / If you’re happy and you know it clap your hands«.

Niemand klatschte in die Hände, als ich den Raum betrat. Auf den beiden durchgesessenen Sofas am anderen Ende des Zimmers, die um den kleinen vollgestellten Tisch standen, saßen oder lagen einige Menschen, die ich nicht kannte, Kunden womöglich oder Freunde von Peter – wobei, da gab es sicher kaum mehr einen Unterschied. Alle sahen so aus, als wären sie schon mehrere Tage wach, als seien sie hier willenlos versackt. Bei dem Gedanken, dass ich mich früher selbst oft zwei Tage in einer ähnlichen Sitz- oder Liegeposition auf einem dieser Sofas aufgehalten hatte, überlief mich ein leichter Schauer. Peter saß mit dem Rücken zu mir an seinem Schreibtisch, wie immer, wie früher, schief auf seinem kaputten Bürostuhl, der nur noch eine Armlehne hatte, gerade so, als hätte sich seine Wirbelsäule durch das jahrelange schiefe Sitzen an den kaputten Stuhl angeglichen. Mit zittrigen Fingern klickte er auf seinem Laptop herum. Trotz der vergilbten Gardinen, die wie immer, wie früher, zugezogen waren, und dem unaufhörlich kreisenden Deckenventilator war es ziemlich heiß, und dicke Rauchschwaden zogen durch den Raum.

Chaim hatte immer gesagt, man erkenne bereits am Fehlen der Klimaanlagen, dass die Zivilisierung der Deutschen gescheitert sei. Ich brauchte einen Augenblick, um Sophia und ein anderes Mädchen, das mir bekannt vorkam und neben Sophia sehr dick aussah, zu verorten, obwohl sie sich im Gegensatz zu der Gruppe am anderen Ende des Zimmers direkt vor mir befanden; sie lagen auf Peters Matratze, deren Laken fast so vergilbt waren wie seine Gardinen, und starrten mich ein wenig fassungslos, vielleicht auch belustigt, an.

»Na, du Fascho?«, begrüßte mich Sophia.

In ihrem blassen kleinen Gesicht, das dieselbe undefinierbare Farbe hatte wie ihr strenger Pagenschnitt, triumphierte ein Ausdruck gehässiger Lässigkeit und das, obwohl sie ständig die Augen zukniff – ein alter Tick. Sie sah aus, als sei sie seit dreißig Stunden auf GBL, trug nur einen schwarzen Sport-BH, Hotpants und riesige Ohrringe, die ihr Gesicht noch kleiner wirken ließen.

Ich nickte ihr so ausdruckslos zu, wie es mir möglich war, wandte mich ab und sah aus dem Augenwinkel, wie sie sogleich begann, mit ihrer dicken Freundin zu tuscheln. Immer hatte Sophia mindestens eine Frau um sich, die noch unansehnlicher war als sie, das war schon früher so gewesen – ein bisschen so wie die Blonde mit der Schleife auf dem grässlichen Otto Dix. Ich hatte nie verstanden, warum alle mit ihr schliefen, denn sie war weder schön noch attraktiv – nein, attraktiv war sie nicht –, und diese List war doch leicht zu durchschauen; diese List machte sie noch hässlicher. Besser, ich durchquerte den Raum. Das Tuscheln wurde mit jedem Schritt lauter, gerade so, als würde ich mich auf Sophia zu und nicht von ihr weg bewegen. Ich tippte dem alten Freund auf seine schiefe Schulter, genauer gesagt auf sein tiefer liegendes Schulterblatt, das sogleich in sich zusammenfuhr, wodurch er, also Peter, eine noch schiefere Position einnahm. Er drehte sodann seinen Stuhl um die eigene Achse, lächelte mich blinzelnd an und tastete mit der linken Hand, jener Spielhand, die keine Armlehne hatte, hinter sich auf dem Schreibtisch nach seinem Spiegel – griff mitten hinein, in das klebrige Amphetamin.

»Wos sogst? Gibt es ein kleines Organ, das man noch nicht entdeckt hat und in dem sich die menschliche Seele befindet?«

»Das ist recht unwahrscheinlich.« Ich lächelte höflich, aber es wirkte wohl eher gequält.

»Wir diskutieren darüber schon seit ein paar Stunden, und irgendwie kann sich das außer mir niemand vorstellen. Saupreiß!«

Wann immer Peter Bairisch sprach, tat er es nur punktuell, als bediene er sich einer Rolle. Und sicher hatte das einmal einen spielerischen Anfang genommen, vielleicht um dadurch etwas abzuschütteln oder seiner Herr zu werden. Jetzt jedoch wirkte es mechanisch, einstudiert, und man wusste nicht mehr so recht, warum er es eigentlich tat. Ja, er selbst schien es vergessen zu haben. Mittlerweile hatte er es geschafft, seine Finger einigermaßen von der klebrigen Paste zu befreien – teils indem er sie an seiner löchrigen Jeans abwischte, teils indem er sie schmerzverzerrt grinsend ableckte.

Ich sah mir die weißgerahmte Hockney-Reproduktion an, die Chaim hier zurückgelassen hatte, als er auszog, und die jetzt über Peters Schreibtisch hing: Christopher Isherwood und Don Bachardy saßen friedlich an einem Tisch, hinter einer makellosen Schale Obst und zwei sorgsam geschichteten Bücherstapeln. Alles an dieser strengen, aber bunten Komposition strahlte eine etwas schrille und doch dezidiert bürgerliche Eleganz aus, wie sie höchstens noch bei ein paar alten Schwuchteln zu finden war, vielleicht auch nur noch bei David Hockney zu Hause. Es gab wohl kein zweites Bild, das so schlecht in Peters Zimmer gepasst hätte, und ich war unsicher, ob ich Peter nun noch mehr hassen oder noch mehr bemitleiden sollte – dafür, dass er, der nie etwas tat, dieses eine Mal einen Nagel in die Wand geschlagen hatte. Ja, er hatte den Nagel in die Wand geschlagen, nur, um uns zu verspotten, um Chaim und mich zu verspotten.

Ich setzte mich auf den einzigen freien Platz – eine Sofalehne, Peter in seinem kaputten Stuhl schräg gegenüber – neben einen Typen in meinem Alter, der immerzu auf und ab wippte. Obwohl ich ihn nicht ansah und sich mein Blick auf Peter richtete, der nun mit einem Studentenausweis ungeheure Mengen Speed auf seinem Spiegel hin und her schob, fing der Typ neben mir an zu reden, womöglich auch mit mir.

»Dieses Organ müsste auf jeden Fall sehr klein sein. Noch viel kleiner als die Milz.«

Ich schwieg, und er wippte weiter auf und ab. Irgendjemand anderes, den ich ebenfalls nicht ansah, erzählte, wie schön es sei, mit der eigenen Mutter LSD zu nehmen. Wir sollten das alle unbedingt ausprobieren.

Chaim hatte immer gesagt, die meisten Leute in Berlin würden nicht wirken, als hätten sie je einen Ödipuskonflikt bewältigt – manche schienen nicht einmal geboren zu sein. Diese seltsame Stadt, in der man von gewaltbereiten Mittvierzigerinnen verprügelt werden konnte, wenn man sie versehentlich siezte – einmal hatte Chaim zurückgeschlagen. Ja, das war schön.

Peter überreichte mir derweil seinen Speed-Spiegel, von dem ich nur wusste, dass es ein Spiegel war, weil er ihn schon früher besessen hatte. Damals hatte er ihn ab und an geputzt, sodass man die glatte Oberfläche sehen konnte. Jetzt sah man von der Oberfläche nichts, da eine dicke Kruste getrockneten Amphetamins sie überzog. Das gelbliche Weiß war gleichmäßig von feinem Schmutz durchwirkt – Zigarettenasche, Gras- und Tabakkrümel, hie und da auch ein Haar, außerdem Spurreste anderer Substanzen: Einige bräunliche Klumpen Mephedron oder MDMA hatten sich mit den grünen, blauen und roten Partikeln zerteilter Pillen vermengt und wurden von hellen Kokain-Überresten sowie von winzigen Kristallen überstrahlt. Der Grundton des Firnisses aber, der eine beständige Ebene bildete, war das gelbliche Weiß. Über dieser Ebene erstreckte sich ein Riesengebirge aus frischem Speed, dessen Berge und noch erhöhte Täler heller leuchteten und dessen teils grobkörnige, teils klebrige Gebirgsketten die gigantischen Linien waren, die Peter seinen Gästen zur Kundenbindung anbot – deren größter Connaisseur er jedoch selbst war.

Ich versuchte, an etwas Schönes zu denken, während ich mir eine der Lines mithilfe eines von der Säure schon leicht angegriffenen, fleddrig zusammengerollten Stück Papiers vornahm, doch nichts fiel mir ein, und der stechende Schmerz, der mir die Tränen in die Augen schoss, wirkte verdient: Chaim war nicht da, und alles hier erinnerte mich an ihn.

Peter, der sich soeben einen Joint angezündet hatte, bot mir mit gesenkter Stimme an, ich könne auch alles andere haben – ja, er lade mich ein. Offenbar freute er sich, mich zu sehen, wollte aber nicht, dass die anderen es merkten. Die anderen schienen allerdings ohnehin nichts zu merken, schienen nicht zuzuhören, nein, und außerdem war die Musik viel zu laut. Nur ab und an vernahm man das schrille Geschrei aus der anderen Ecke des Zimmers, in der Sophia mit weit geöffneten Augen, wild gestikulierend, auf ihre nicht einmal zu Wort kommende Freundin einredete. Immerhin, es waren nur kleine Wortfetzen, die zu mir herüber drangen.

»Definitionsmacht« … »Als Feministin bin ich« … »ficken, mit wem« … »Zitronenschalenabrieb« … »Rassisten« … »Niemals könnte« … »diskriminierend!« … »Fotze«

Und dann noch einmal, und diesmal betonte sie jede Silbe einzeln: »Zitronenschalenabrieb!«

Ich versuchte, mich auf etwas anderes zu fokussieren, zumal mein Herz schon wieder schneller schlug und ich die Tendenz hatte, mir auf Speed allerlei einzubilden. Und also betrachtete ich Peters Gesicht, während dieser weiter mit dem Typen neben mir darüber sprach, ob es nicht vielleicht doch ein kleines Organ gäbe, das man noch nicht entdeckt hätte und in dem sich die menschliche Seele befände. Es galt nun, ruhig zu bleiben, zumal ich jeden Moment Francescos Ankunft erwartete. Ich erwartete sie, obwohl ich wusste, dass Francesco niemals pünktlich war, sah mich also einer vorhersehbaren Situation ausgeliefert, die ich nicht vorhergesehen hatte und die nicht zu kontrollieren war – zumindest nicht von mir.

Peters Augen schienen größer als früher, und das lag nicht nur an den noch dickeren Brillengläsern – auch sonst hatte er sich verändert. Er war schmaler geworden, während sich sein Bauchansatz vergrößert hatte, war ein wenig eingefallen und gleichzeitig aufgedunsen. Er schwitzte so sehr, dass ihm seine Brille immer wieder den Nasenrücken hinunterrutschte, und jedes Mal, wenn er sie wieder hochschob, nutzte er die hierfür aufgebrachte Energie, um an seiner Nase herumzufummeln, an seinem Septum-Piercing zu drehen und zu verhindern, dass seine überanspruchten Schleimhäute die Unmengen an Speed freigaben, ihm etwas aus der Nase fiel.

Peter war schon früher faul gewesen und hatte sich nie nach einer Zigarette gebückt, wenn sie ihm – nachdem er sie minutenlang zwischen den klebrigen Fingern drehte, bevor er sie anzuzünden gedachte – aus der Hand fiel, sondern hatte sich immer einfach eine neue aus seiner gelben Parisienne-Packung genommen. Auch wusste ich, dass Peter in große Ginger-Ale-Flaschen neben seinem Bett urinierte, um sich den Weg zur Toilette zu sparen, diese aber zu entsorgen vergaß – wusste das, weil Chaim einmal, in dem Glauben, es handle sich um Ginger Ale, davon getrunken hatte. Dass er sich aber nicht einmal die Mühe machte, seinen Joint über irgendeinem Gefäß abzuaschen und sich dieser langsam in großen Klumpen auf seinem Hemd entmaterialisierte, hatte ich nicht oft gesehen.

Neben seinem Schreibtisch stand ein kleiner Kühlschrank, nur gefüllt mit Franziskaner Hefeweizen, die er sich von Zeit zu Zeit in immer dasselbe verschmierte Glas goss. Dieses Hefeweizen-Trinken hatte womöglich einmal analog zu seinem Dialekt funktioniert, war gleichsam artifiziell gewesen, hatte eher der Abgrenzung gedient und ihm anscheinend das Gefühl gegeben, sich über diese Pose seines Erbteils zu entledigen – womöglich. Und wenn es einmal analog funktioniert hatte, so scheiterte es nun synchron.

Ich nahm mir eine der Zigaretten, die um den kaputten Stuhl auf dem Boden verteilt waren, und steckte sie an. Dann griff ich nach einem der ungezählten Biere, die auf dem Tisch standen, öffnete es mit meinem Feuerzeug, trank einen Schluck und musterte die anderen Personen auf den beiden Sofas. Sie trugen die übliche schwarze Sportbekleidung, die üblichen weißen Tennissocken, hatten die üblichen Tattoos auf Armen und Beinen, die üblichen ausdruckslosen Gesichter, und einer der Typen kam mir vage bekannt vor – vielleicht hatte ich ihn in längst verschütteter Vorzeit einmal gefickt. Besser, ich drehte mich wieder zu Peter und zog noch eine Line Speed. Besser, ich erinnerte Peter an sein Angebot, bat ihn um ein wenig Ketamin.

Das Ketamin entspannte mich nicht, aber zumindest war ich etwas betäubt und konnte halbwegs ausblenden, dass Sophia am anderen Ende des Zimmers lag. Ich zog noch eine Line, diesmal eine ungleich größere.

Mit Chaim hatte ich Ketamin ganz anders genommen. Ja, manchmal hatten wir Mahler gehört und uns schrittweise nach Venedig halluziniert, waren gemeinsam durch die Lagune gegondelt, waren bald Wasser, bald Löwe, bald Aschenbach und Tadzio – bald die gepunkteten Lichtreflexionen Canalettos. Ja, mit Chaim hatte ich alle Drogen ganz anders genommen, hatte noch mehr wahrnehmen und fühlen wollen und nicht weniger, und es hatte funktioniert. Jetzt war mir jedes Gefühl, das ich nicht empfand, willkommen – nein: Nichts war mir willkommen und nichts war da, und das Nichts war so allumfassend, dass es einzig durch die Erinnerung an Chaim erlebbar wurde, einzig Chaim und sein Nichtdasein mich spüren ließen, dass nichts da war – wobei, nein, auch das nicht, denn die Angst war ja da. Die Angst war da, und es war mir peinlich, wie ich, obgleich ich nichts zu erhoffen meinte, so viel Angst haben konnte. Denn wenn ich immer noch etwas fürchtete, dann hieß das, dass es immer noch schlimmer werden konnte, und wenn es immer noch schlimmer werden konnte, dann hieß das, dass es nicht ganz schlimm war, und wenn es nicht ganz schlimm war, dann hieß das, dass Chaim mir nicht genug fehlte, und wenn mir Chaim nicht genug fehlte, wusste ich nicht, wer ich war.

Chaim fehlte mir sehr.

Und mit einem Mal vergaß ich, was ich gerade gedacht hatte, und bemerkte, wie der Raum um mich zerfiel, ich die Gegenstände in ihrer Beschaffenheit nicht mehr verstand und die Oberflächen auseinanderflogen, sich zu neuen Formen verbanden und von mir wegstrebten. Kurz flog auch Sophias kleines Gesicht an mir vorbei, so nah, dass es plötzlich ganz groß wurde, dann schon flossen ihre Augen aus ihrem Gesicht nach der Decke; sie zwinkerten – ja, das war ihr alter Tick. Kurz darauf flog auch ich nach der Decke, sah ich doch Peters Zimmer schließlich von oben, Peters Zimmer, das nun etwa die Größe einer Turnhalle maß – doch entfernte ich mich schnell, und bald, schon bald, wurde alles so gelblich weiß wie der Spiegel.

»Doaf’s a bissl mea sei?« Peter hielt mir ebendiesen Spiegel entgegen und sah aus, als hätte Francis Bacon sein Gesicht demoliert.

Ich musste tatsächlich lachen, zog eine Line Speed und blickte mich im nunmehr leeren Zimmer um. Die anderen seien feiern gegangen, aber er müsse schließlich noch auf Francesco warten. Was feiern? Ich las eine weitere Zigarette vom Boden auf, sparte mir die Bemerkung, er hätte die Wohnung ohnehin nicht verlassen, und auf die Unannehmlichkeiten der Gruppe folgten die Unannehmlichkeiten der Zweisamkeit.

Peters Gesicht nahm wieder die gewohnten Züge an, das Ketamin war bald verflogen. Zumindest die Musik hatte er leiser gemacht, entweder, weil er wusste, wie sehr ich Punkrock hasste und Rücksicht auf mich nahm – das war nicht wahrscheinlich – oder, weil ihm das Geschrei selbst auf die Nerven ging, er es nur zu Repräsentationszwecken für notwendig hielt, also nicht für notwendig in meiner Gegenwart. Ich starrte auf mein Telefon, scrollte durch meine Timeline, ohne mir die einzelnen Beiträge anzusehen, ja, ohne überhaupt bei einem der Beiträge anzuhalten, wischte mechanisch in der immer gleichen Bewegung mit meinem Daumen von unten nach oben und trank ein Bier nach dem anderen. Peter tat es mir gleich.

Hin und wieder griff einer von uns nach dem Spiegel, zog eine Line Speed, und die Zeit zog klanglos an uns vorbei, einzig unterbrochen vom gelegentlichen Schniefen. Ich wusste, dass Peter zu stolz war, ein weiteres Mal das Wort an mich zu richten, und ich selbst hatte keine große Lust, mit ihm zu sprechen, ihn überhaupt anzusehen, weil ich dann den Hockney hinter ihm hätte ansehen müssen. Ab und zu kam ein Kunde, und weil eigentlich Francesco hätte kommen müssen, war immer ich es, der die Tür aufmachte. Peter rührte sich nicht.