Hungern für die Liebe - Cassandra Light - E-Book

Hungern für die Liebe E-Book

Cassandra Light

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Beschreibung

Cassandra ist als Mädchen magersüchtig und führt während ihres Aufenthaltes in der Klinik Tagebuch. In einer Rückschau betrachtet sie die Tagebucheinträge und kommentiert sie aus heutiger Sicht, rund zwanzig Jahre später. Zudem gibt sie ihren Lesern Handlungsempfehlungen in Form eines Do-it-yourself-Teils. Ein stellenweise sehr bedrückendes, aber auch Mut machendes Buch für Betroffene, Angehörige und Freunde von Betroffenen und Interessierte, wie beispielsweise Therapeuten und Klinikpersonal.

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Cassandra Light

HUNGERN FÜR DIE LIEBE

Wege aus der Essstörung aus spiritueller Sicht

Mit Do-it-yourself-Teil

Engelsdorfer Verlag2021

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag

Titelbild © Nomad_Soul [Adobe Stock]

Alle Rechte bei der Autorin

Lektorat: Birgit Rentz (www.fehlerjaegerin.de)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Mit Kinderaugen sehen

Ein Blick zurück

Die Zeit in der Klinik

Mein Geburtstag in der Klinik

Tränen reinigen die Seele

Mutterliebe

Ein wundervolles Leben endet nicht

Alles aus Angst

Einsamkeit

Begrenztes Sein in der Hülle des Körpers

Liebe statt Leid

Endlos wie die Weiten des Meeres

Lieblingsoma und der Blick in die Angst

Sehn-sucht

Angst

Ver-zweifel-ung

Epilog

Ein Wort zum Schluss

Danksagung

Vorwort

Schön, dass du den Weg zu diesem Buch gefunden hast.

Wundervoll, dass du dieses Buch in deinen Händen hältst. Dass du diese Zeilen liest.

Erst einmal: Herzlich willkommen! Schön, dass du bist. (Vielleicht lächelst du jetzt gerade.) Das freut mich, denn es ist wirklich schön, dass es dich gibt.

Du bist!

Sicher fragst du dich: Was erwartet mich in diesem Buch? Was kann ich hier finden? Nützt es mir?

Hier die Antworten, die ich dir dazu geben kann: In diesem Buch berichte ich von mir zu einer Zeit, in der ich an Magersucht litt. In dieser Zeit führte ich Tag für Tag Buch. Mein Tagebuch war mein ständiger Begleiter. Ich beschrieb meine Gefühle, Ängste, Empfindungen, Gedanken und all das, was in dieser Zeit meines Lebens zum Vorschein kam. Gott sein Dank, denn so kann ich jetzt auch dich daran teilhaben lassen.

Im Rahmen dieses Buches spreche ich dich mit einem persönlichen, entspannten Du an.

Um dir einen guten Überblick zu diesem Buch geben zu können, findest du an dieser Stelle einige Worte zum Aufbau und zum Nutzen.

Dieses Buch setzt sich aus drei Teilen zusammen. Du findest einen Rückblick auf frühere Situationen, die auf die Entstehung der Essstörung hinweisen und dir als erste Einführung dienen. Im Anschluss daran beginnen die Tagebucheinträge, die dir den weiteren Verlauf der Essstörung beschreiben, dich also teilhaben lassen. Diese sind optisch hervorgehoben. Es folgt eine Betrachtung aus heutiger Sicht auf die damaligen Situationen mit einem Fokus auf die Worte aus den Tagebucheinträgen. Verbunden damit gibt es einen Coaching-Teil für dich als Leser. Dieser Teil ist in hellerer Schrift abgedruckt und deshalb bei Bedarf leicht zu finden.

Im Coaching-Teil hast du die Möglichkeit, Themen für dich anzuschauen, zu hinterfragen. Dich zu ent-wickeln. Es kann »deine Ent-deckungsreise mit Platz zum Schreiben« sein. Ich gebe dir die Möglichkeit, durch Meditationen, Fragestellungen und Gedanken in dich hineinzuschauen. Für dich und den liebevollen Umgang mit dir und deinen Gefühlen. Natürlich nur, wenn du das möchtest.

Gern kannst du direkt den Platz im Buch nutzen oder dir einen Block, ein kleines Büchlein und einen Stift dazulegen, um deine Notizen, Gedanken und Erkenntnisse aufzuschreiben.

Es steht dir frei, ob du das Buch in seiner Gesamtheit liest oder den Coaching-Teil auslässt.

Dieses Buch zeigt dir Wege zu dir selbst. Wege zu deinem inneren Kern: Herzenswege. Wenn du magst, wird dich dieses Buch mit jedem seiner Worte begleiten, dir Trost, Verständnis, positive Gedanken, Momente der Ruhe, des Nachdenkens und des Fühlens schenken. Es kann dir Kraft spenden und neue Wege aufzeigen. Du hast die Möglichkeit zur Selbstreflexion. Du kannst wachsen, hinterfragen, bei dir sein. Du kannst Verständnis für dich, betroffene Essgestörte und Angehörige entwickeln.

Das Buch ist für den privaten Gebrauch sowie für Psychologen, Therapeuten, Klinikpersonal und Interessierte geeignet. Dieses Buch ist für jeden Menschen und zeigt ihm einen Weg zu mehr bewusstem Sein. Einen Weg zur Liebe. Zum Herzen. Zu dir selbst.

Nun die Antwort auf die letzte Frage hier im Vorwort: Nützt mir dieses Buch? Ja, nimm dir hier und jetzt einen Augenblick, fühle gedanklich in dein Herz, und dein Herz leitet dich. Dein Herz gibt dir die Antwort.

In diesem Sinne wünsche ich dir ein wundervolles Leseerlebnis mit vielen erleuchtenden Momenten, liebevollen Gedanken, Ge(h)fühlen und Gottes Segen.

So ist es.

Alles Liebe, Cassandra

Prolog

Die Unendlichkeit des Lebens ist der Schlüssel der Glückseligkeit

Samstagnachmittag.

Eigentlich ein Tag wie jeder andere. Aber auch nur »eigentlich«.

Es ist ein sonnig warmer, aber stürmischer Tag.

Wind, der Veränderung bringt.

Letzte Nacht lag ich wach in meinem Bett. Tränen in den Augen – Angst.

Es gewitterte heftig und anscheinend entluden sich die Energien bei mir in einer Mischung aus Tränen, Traurigkeit und Angst.

So lag ich eine Weile und beruhigte mich selbst, legte meine Hand auf mein Herz und hörte in mich hinein. Ich dachte an einen lieben Menschen, der mein Herz berührt, und schlief unter Donner und Starkregen, der an das Dachfenster über meinem Bett prasselte, wieder ein.

Nach dieser recht kurzen Nacht bin ich geschafft und ruhig.

So stürmisch, wie es im Moment um mich ist, fühle ich mich nicht. Da ist Sturm, Wärme, alles bewegt sich – doch in mir ist Stille.

Diesen Samstag nutze ich nicht wie gewöhnlich, um E-Mails zu beantworten oder in der Woche liegen gebliebene Arbeiten zu erledigen. Nein, dieses Mal ist das Schreiben einer meiner Gedanken, der mich darauf hinweist: »Schaue dir das Thema an und bringe mehr Licht in die Welt.«

So sitze ich hier bei sonnigem, windigem Wetter und wage den Schritt, nehme meine Tagebücher in die Hand, lese darin und beginne zu schreiben.

Im gleichen Atemzug ist da Angst – Angst, mich mit dem Thema zu beschäftigen, das mich jahrelang begleitet hat und mich beinahe das Leben gekostet hätte.

Doch ich weiß, die Angst ist »nur« da. Ich bin nicht diese Angst. Sie ist ein Gefühl, das mich durchfließt und das ich akzeptiere. Es ist verständlich, dass da Angst ist. Es war eine schwere Zeit, die mich geprägt hat und in der ich unendlich gelitten habe. Das tut weh, heute noch.

Es ist vorbei – und jetzt ist jetzt. Mit der Arbeit an diesem Buch möchte ich jenen vergangenen Lebensabschnitt niederschreiben, anderen zeigen, dass Angst ein Gefühl ist, das wir fühlen dürfen, das wir aber nicht selbst sind. Ich möchte, dass jeder, der dieses Buch liest oder davon hört, weiß:

»Du bist nicht allein!«

Mit Kinderaugen sehen

Solange ich mich zurückerinnern kann, war ich ein ganz normales Mädchen. Schon als ich anfing, Fahrrad zu fahren, waren meine Hand- und Fußnägel rot lackiert.

Während ich diese Zeilen schreibe, muss ich grienen.

Ja, ich hatte bunt lackierte Nägel, einen sehr zierlichen Körper, trug schicke Bikinis, Kleider und Röcke und hatte lange dunkelblonde Haare, die ich meist zu zwei Zöpfen gebunden hatte.

So ein richtiges Bild eines Mädchens eben.

Ich achtete schon als Kind auf mein Aussehen. Vielleicht ist das darauf zurückzuführen, dass in der Familie allgemein sehr viel Wert darauf gelegt wurde, was andere wohl dachten. Das »Außen« war allen sehr wichtig.

Darüber hinaus waren Jungen »mehr wert« als Mädchen, und so war es auch deutlich zu spüren, dass die Familie an meiner Stelle damals lieber einen Jungen gehabt hätte.

Dann kam jedoch »Klein Cassandra« – gut so, wie ich finde! Ich bin froh, dass ich hier sein darf, dass ich auf dieser Erde lebe, dass ich eine Frau bin und diese Zeilen schreiben kann.

Ich tat immer das, was von mir erwartet wurde, war lieb, ruhig, unkompliziert und wurde kaum bemerkt.

Im Alter von neun Monaten kam ich bereits in die Kinderkrippe, weil meine Mutter dort arbeitete. Als ich später in den Kindergarten kam, gefiel mir das nicht so. Kaum war ich dort, wurde ich krank. Wurde ich abgeholt, ging es mir besser, und im Nu war ich wieder gesund.

Da meine Mutter als Erzieherin in der Kita arbeitete, in der ich war, und sich die Kinderkrippe sowie der Kindergarten für die Älteren in getrennten Räumlichkeiten befanden, sah ich meine Mutter dort kaum. Wenn ich sie sah, wollte ich zu ihr. Noch heute ist mir in Erinnerung, wie ich vor dem bunten, hohen Kindergartenzaun stand, meine Mutter sah, rauswollte und nicht konnte. Ich weinte, bekam Fieber, mochte nichts essen.

Zwei Jahre später, als meine Schwester in den Kindergarten kam, beruhigte sich die Situation.

Aus heutiger Sicht ist es vollkommen verständlich, wie ich mich als ein so kleines Kind »hinter Gittern« fühlte. Ich stand da, sah meine Mutter. Sie war vor mir und doch so fern. So etwas muss für ein Kind, das auf seine Mutter bzw. seine Eltern angewiesen ist und sich von ihnen getrennt fühlt, enorm schmerzlich sein. Und das war es für mich.

Noch heute wird mir in der einen oder anderen Situation dieses Gefühl der Trennung – »nah und doch so fern« – bewusst. Doch weiß ich jetzt, anders als früher, wo dieses Gefühl herkommt und dass es ein Gefühl ist und keine Tatsache.

In der Schule war das nicht anders. Sie war nicht unbedingt mein Ding. Alle freuten sich, zum Unterricht gehen zu dürfen, nur ich nicht – ich wollte nicht.

Während der ersten zwei Jahre rannte ich morgens weg, wenn der Bus kam. Ich hatte sehr gute und gute Leistungen, doch wollte ich partout nicht in die Schule. Ich wollte zu meiner Oma. Nicht nach Hause und nicht in irgendeine Bildungsstätte – nur zu meiner Lieblingsoma.

Auf den ersten Blick war ich also ein ganz normales Mädchen. Doch eins war anders: Ich war überwiegend allein. Zumindest aus meiner Sicht, und anhand meiner Tagebücher ist es auch so zu deuten. Ich kann mich noch sehr genau an die folgende Situation an einem Freitagnachmittag im Jahre 1999 erinnern:

Meine Schwester und ich waren bei meiner Lieblingsoma zum Mittagessen. Anschließend ging meine Schwester zu Freunden spielen, während ich mich auf den Weg nach Hause machte. Dort hatte ich Langeweile und kam auf die Idee, einen Kuchen zu backen. Als ich nach längerem Suchen ein schönes Rezept fand, für das ich alle Zutaten zur Verfügung hatte, ging es los: »Selterskuchen backen« hieß die Mission!

Schon bald war der Kuchen im Backofen. Die Zeit, die er brauchte, um fertig zu backen, nutzte ich und räumte auf. Ich rief meine Mutter an und fragte sie, wann sie nach Hause käme. Um 14.30 Uhr wollte sie da sein. Bis dahin blieb mir nicht mehr viel Zeit. Ich schaffte es trotzdem, rechtzeitig den Tisch zu decken, aufzuräumen, Kaffee zu kochen und die Wäsche abzunehmen.

Alles war vorbereitet. Ich war so gespannt, denn ich wollte meiner Mutter und nach Feierabend auch meinem Vater eine Freude machen und sie mit meinem gemütlich gedeckten Kaffeetisch und dem selbst gebackenen Kuchen überraschen.

14.30 Uhr war vorbei, doch Mutti kam nicht. Also wartete ich, bis sie von der Arbeit zurückkehrte. Als sie endlich da war, fand ich, dass ihre Begeisterung gar nicht so groß war, wie ich es mir ausgemalt hatte. Na ja, war nicht so schlimm. Ich lobte mich selbst für meinen Kuchen.

Es ist traurig, in meinen damaligen Tagebüchern zu lesen und mich daran zu erinnern, dass ich mich selbst lobte. Aus meiner heutigen Sicht ist ein zwölfjähriges Mädchen eben nicht in der Lage, sich ausschließlich selbst zu loben. In jeder Phase des Lebens braucht ein Kind Liebe und Zuneigung, und gerade in der Zeit der Entwicklung sind liebevolle, anerkennende Worte Balsam für die kleine Kinderseele. Balsam, der mir fehlte. Diese Worte berühren mich, denn aus heutiger Sicht tut mir das Kind – also ich – leid.

Als zwölfjähriges junges Mädchen stand ich da, wollte meiner Mutter eine Freude machen und hätte gerne ein Lob gehört. Ich wollte sie entlasten – nicht nur an diesem Tag. Stets gab ich mir große Mühe und begann, um ihre Anerkennung zu kämpfen. Doch von ihr kam nie eine Reaktion. Das Gleiche gilt für meinen Vater. Meine Mühe wurde nicht gesehen und schon gar nicht gewürdigt.

Wenn ich mich heute in das Mädchen von damals hineinversetze, sehe ich, dass es für mich völlig unverständlich war und ich diese Ignoranz als Ablehnung empfand. Ich bezog die gerade beschriebene und ähnliche Situationen auf mich persönlich, fühlte mich nicht angenommen und geliebt. Heute weiß ich, dass meine Eltern nach bestem Wissen und Gewissen handelten. Ich vergebe ihnen, denn ich liebe sie so, wie sie sind. So, wie sie waren. Sie gaben ihr Bestmögliches und hatten ihre eigenen Ängste. Es gab Gründe, weshalb ihnen so wenig Zeit für mich zur Verfügung stand. Einer dieser Gründe war die Arbeit, weshalb wir es materiell immer gut hatten und für mich und meine Schwester gesorgt war.

Diese Erfahrungen der Kindheit schenkten mir jedoch schon ganz früh die Fähigkeit, ganz bei mir zu sein, in meiner Mitte. Sie ermöglichten es mir, mir selbst durch den Blick nach innen Liebe, Wärme, Lob und Aufmerksamkeit zu schenken. Aus dem Bedürfnis wurde eine Stärke.

Ein Kind ist von Natur aus offen und nicht geprägt von Ängsten und Erfahrungen. Es blickt liebevoll, voller Erwartungen, Freude und mit offenem Herzen, voller Licht in unsere Welt. Es ist zerbrechlich, verletzlich, unendlich sensibel und liebebedürftig.

Es darf immer gesehen werden: Ein Kind kommt unbefleckt auf diese Welt und weiß nicht, wie ihm geschieht. Es ist einfach da.

Ich wünsche vielen Kindern auf dieser Welt, dass sie sanft, liebevoll, voller Verständnis und vorsichtig behandelt werden. Und ich wünsche genauso den Eltern das Bewusstsein für diese Liebe. Die Fähigkeit, so lieben und ihren eigenen Eltern deren Fehler vergeben zu können. Es ist nicht unsere Pflicht, die Fehler und Ängste unserer Eltern zu übernehmen. Wir haben die Wahl.

Ein Kind bezieht alles auf sich und kann nicht verstehen, warum seine Eltern so handeln, wie sie handeln. So, wie auch ich das nicht verstehen konnte. Ich dachte, ich wäre der »Fehler im System«, den keiner lieben wollte. Der es nicht wert war, geliebt zu werden. Allein. Verloren und ohne Halt. Geboren, um sich hier auf dieser Welt durchzukämpfen und dann doch keine Liebe zu erfahren.

Auf diese Weise begann ein ablehnendes Bild meiner selbst in mir zu wachsen. Da war aus meiner damaligen Sicht nichts. Nichts, woran ich hätte festhalten können außer Schule, Leistungen, mein Ich sowie die Gedanken und Gefühle, mit denen ich allein war.

Es gab mich, mein Tagebuch und die Leidenschaft zu schreiben. Bereits mit sieben Jahren schrieb ich täglich Ereignisse, Gedanken und Gefühle nieder. Alles, was mich bedrückte, verletzte, erfreute, und das, was in mir vorging, schrieb ich in mein Tagebuch hinein. Es war mein Freund und Begleiter. Doch auch hier war ich allein, ich erfuhr keine Reaktion auf meine Gedanken.

Ein Blick zurück

Ich erinnere mich zurück und weiß, dass das Nicht-Essen schon eine Rolle spielte, seitdem ich bewusst wahrnehmen konnte, was um mich herum geschieht. Allgemein das Thema Essen hatte einen besonderen Stellenwert, insbesondere aber gemeinsame Mahlzeiten. Bei uns in der Familie gab es diese kaum. So mancher denkt vielleicht: Na was denn sonst? Gemeinsame Mahlzeiten sind doch wohl normal! Und ich sage aus meiner Sicht: Nein, das sind sie eben nicht.

Ja, bei uns gab es Mahlzeiten. Diese nahm ich zusammen mit meiner kleinen Schwester ein. Währenddessen wuselte meine Mutter in der Küche herum, erledigte Arbeiten, die ihr dort in die Hände fielen, machte sauber oder schmierte die Arbeitsbrote für meinen Vater. Alles natürlich weit weg vom Tisch und im Stehen.

In den seltensten Fällen konnten meine Schwester und ich unser Abendbrot in Gegenwart unseres Vaters genießen. Und auch hier saß meine Mutti nicht mit am Tisch. Sie bereitete lediglich das Essen für alle zu, doch sich selbst nährte sie nicht, jedenfalls nicht gemeinsam mit uns. Sie aß nebenbei.

Als Kind orientierte ich mich an meinen Eltern. Ich beobachtete, was meine Mutter aß. Immer wieder fragte ich mich: Was esse ich? Ist das normal? Sie isst anders. Esse ich zu viel?

Wenn ich das verglich, dachte ich: Ja, dann esse ich wohl zu viel. Es ist doch unnormal, wie viel ich esse.

Mich ärgerte es, denn ich wünschte mir, dass wir alle zusammen aßen. Doch das gab es nicht. Ich empfand es so, als würden wir von unserer überanstrengten, genervten Mutter etwas zu essen vorgesetzt bekommen, getreu dem Motto: »Um zu leben, gehört Essen dazu.« Und ihre Pflicht – ob sie wollte oder nicht – war es, uns Kinder zu versorgen. Das tat sie. An Essen mangelte es nicht, an einer liebevollen, gemeinsamen Mahlzeit schon.

Zu Recht stellte ich mir irgendwann die Frage: Warum soll ich denn essen? Sie isst doch auch nicht!

Ich verband mit Essen keinen Genuss, keine Liebe, sah es nicht als etwas Schönes an, vielmehr empfand ich es als Mittel zum Zweck. Für mich war es eher ein Muss. Man möchte leben, also braucht man Nahrung. Nicht mehr und nicht weniger.

Jetzt, mit vierunddreißig Jahren, bin ich an dem Punkt, an dem mir bewusst wird, was ich mit dem Essen verbunden habe und auch teilweise noch verbinde. Und zwar genau das: etwas Notwendiges. Nichts Schönes. »Das Mittel zum Zweck« – vom Genuss ganz weit entfernt.

Ich begann, mein Leben, meine Eltern und das Essen zu hassen. Ich wollte nicht mehr auf dieser Welt sein. Essen hieß Leben, und leben wollte ich nicht. Ich ließ Stück für Stück das Essen weg und entfernte mich dadurch immer weiter vom Leben. Mit jedem Hungergefühl war ich dem Leben ferner, während ich meinem Wunsch, nicht mehr auf dieser Welt zu sein, näher kam. Essen zu mir zu nehmen fiel mir immer schwerer, denn »es« arbeitete sozusagen gegen mich. Gegen das festgesetzte Ziel: Raus aus dieser Welt und endlich das Ende des Lebens erreichen! In Frieden und Liebe »da oben« leben und nicht lieblos, allein und pflichtbewusst »hier«.

Mit der Nahrungsaufnahme kam der Widerstand. Es quälte mich, wenn ich aß. Jeder Bissen erzeugte Abwehr in mir. Mit jedem Bissen kamen Wut und Verzweiflung in mir hoch. Mein Ziel war es, in Ruhe zu sein. In Frieden. In Liebe. Widerstandslos. Ohne Essen auszukommen.

Jeder, der mir Essen anbot, mich zum Essen überreden wollte, wollte mich aus meiner Sicht an meinem Ziel hindern und mich am Leben halten. Ich jedoch wollte das Leben nicht und empfand Wut, Zweifel und Abwehr gegen alles und jeden, der sich mir bei meiner Zielerreichung, aus dem Leben zu gehen und in Frieden zu sein, in den Weg stellte.

Die ersten Gedanken in diese Richtung hatte ich bereits mit neun Jahren. Wer möchte schon einen unendlichen und letztendlich erfolglosen Kampf um die Liebe führen?!

Also begann ich einen Kampf gegen mich selbst. Dafür brauchte ich niemanden, diesen Kampf konnte ich mit mir selbst ausmachen. Ich führte ihn ganz allein. Es lag in meiner Hand, wie der Kampf lief, und niemand konnte den Erfolg oder die Mühe, die ich investierte, ablehnen. Niemand konnte mich ablehnen, denn ich brauchte keinen Menschen mehr und lehnte jeden ab. In diesem Kampf war ich von niemandem außer von mir selbst abhängig. Auf keinen Fall wollte ich mehr jemanden oder eine bestimmte Reaktion brauchen und auf Liebe, Beachtung, Anerkennung oder Lob warten müssen.

Ich war unabhängig.

Scheinbar.

Ob Lob, Anerkennung, Tadel, Verurteilung, Leben oder Tod – all dies lag in meiner Hand. Es war nicht nur eine Entscheidung, sondern meine Entscheidung.

Irgendwann drang der Wunsch, nicht mehr auf dieser Welt sein zu wollen, nach außen und wurde sichtbar. Einerseits war das gut für mich, denn ich war dem Tod tatsächlich nah. Andererseits wurde es sehr schwierig, meinen Kampf ohne das Außen, ohne Eltern oder Lehrer weiterzuführen. Ich wurde immer verzweifelter, weil ich die Reaktion meiner Mitmenschen ignorierte und sie nicht mehr verstand.

Freitag, der 29.09.2000

Hallo liebes Tagebuch!

Zum Glück ist heute Freitag. Wir haben dieses Wochenende ein verlängertes Wochenende. Montag und Dienstag wird frei sein.

Ach, liebes Tagebuch, ich habe im Moment nur Sorgen. Am Mittwoch hat mich meine Klassenlehrerin in der Deutschstunde gefragt, wie tief mein Problem denn ist und ob ich breche. Sie hat mit meiner Mutter auf der Elternversammlung gesprochen und so weiter und so fort.

Na, jedenfalls glauben alle, ich bin krank.

Und ich, ich bin am Ende. Ich bekomme von allen Seiten Druck. Es heißt nur:

Esse! Esse!

Okay, am Mittwoch habe ich es eingesehen, aber jetzt sehe ich das schon wieder nicht. Ich bin nicht krank!

Ich will mir ja Mühe geben, aber irgendwie bekomme ich, wenn ich essen muss, immer schlechte Laune. Und auch so bekomme ich schnell schlechte Laune.

Das geht mir alles so auf den Keks. Ich weiß nicht, was das ist, aber eine Essstörung habe ich nun wirklich noch nicht. Mutti setzt mich so unter Druck. Da kann man auch schlechte Laune bekommen.

Ich glaube, die sollten mich einfach in Ruhe lassen, vielleicht wird es dann besser. Ich fühle mich auch so beobachtet und alle fragen so viel und schreiben mir alles vor. Zum Beispiel, was ich essen soll – dass ich keine Margarine nehmen darf, sondern Butter nehmen muss.

Ich wünschte, es wäre alles nicht so schwer. Ich will nicht immer schlecht gelaunt sein und ich will nicht so bedrängt werden. Das nervt total. Ich hoffe, ich bekomme das in den Griff mit der Laune. Ich hoffe auch, nachher beim Einkaufen nicht wütend zu werden. Das kenne ich gar nicht von mir, aber wenn es um Essen geht, dann passiert das so.

Dienstag, der 10.10.2000

Ich habe nicht viel Zeit, jetzt einzuschreiben. Ich muss noch duschen, Abendbrot essen und dann wieder pauken. Physik, Chemie und Musik zu morgen.

Wir hatten heute Sportfest. Es war eiskalt. Ich habe gedacht, ich sterbe. Alles tat mir weh vor Kälte, und dann mussten wir noch kurze Sachen anziehen. Ich bin froh, dass das jetzt vorbei ist.

Um 17.00 Uhr bin ich vom Konfirmationsunterricht gekommen.

Kaum bin ich hier, habe ich wieder Ärger mit Mutti gehabt – wegen Essen. Sie war nahe daran, mir eine zu knallen. Ich schätze, die Woche und nachher das Abendbrot wird die Hölle werden. Die ganze Woche nur Arbeiten in der Schule und Ärger mit Mutti und Vati wegen Essen.

Liebes Tagebuch, wünsche mir Glück!

Mittwoch, der 18.10.2000

Ich habe heute einen anstrengenden Tag gehabt. Auch so war die ganze Woche bis jetzt sehr anstrengend und es ist noch kein Ende zu sehen.

Heute haben wir Physik und Chemie wiederbekommen. In Physik habe ich eine 2 und in Chemie eine 1. Wir haben in dieser Woche bis jetzt nur Arbeiten geschrieben. Ich weiß schon gar nicht mehr, welche ich zurückbekommen werde. Außerdem kann ich langsam nicht mehr.

Dienstag haben wir Chemie und Russisch geschrieben, wobei wir Freitag erst die letzten Arbeiten bekommen haben. Da waren ja nur das Wochenende und der Montag zwischen. Weil nur ein Tag dazwischen lag, war ich gar nicht darauf gefasst, wieder eine Arbeit zu schreiben. In Russisch habe ich leider nicht alles gewusst. Morgen bekomme ich die Arbeit in Russisch wieder und in Englisch und Mathe schreiben wir.

Wenn ich Zeit habe, schreibe ich wieder mehr ein.

Mein Wochenende ist aber auch komplett voll.

Nächste Woche stehen schon drei Arbeiten fest: Montag Russisch Klassenarbeit, Dienstag Biologie und Freitag Englisch Klassenarbeit.

So, ich mache jetzt Schluss. Ich brauche eine Pause. Dann geht es weiter. Anschließend dann wieder Stress mit Mutti und Vati wegen Abendbrot essen, dann wieder lernen und dann ins Bett.

Irgendwer da draußen: Wünscht mir einfach nur Glück, dann bin ich beruhigter.

Ich bat irgendjemanden, wahrscheinlich Gott, mir Glück zu wünschen.

Glück – doch was hieß denn Glück in dem Moment?

Das Glück war, den Ärger zu umgehen, Ruhe zu haben und gleichzeitig nicht essen zu müssen. Ohne Essen davonzukommen.

Am liebsten würde ich nie hier gewesen sein und nicht leben.

Na ja, leider nicht zu ändern.

Der Wunsch, von dieser Welt gehen zu wollen, wurde von Tag zu Tag stärker. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich jeden Tag mehr spürte, wie schwach ich körperlich wurde. Das Herz schlug langsamer.

Dieser schleppende Herzschlag war spürbar. Es fühlte sich anstrengend an. Anstrengung, die das Herz aufbringen musste, um zu schlagen. Das Herz hatte im wahrsten Sinne des Wortes zu kämpfen.

Das Herz wurde langsamer und langsamer. Es ging in Richtung Stillstand. Mit der schrittweisen Verabschiedung des Herzens wuchs mein Wille, nicht mehr zu leben, von Tag zu Tag mehr. Der Wille, das, was am Leben hält, zu verweigern. Nahrung. Wuchs.

Donnerstag, der 19.10.2000

Wir haben heute die Arbeit in Mathe geschrieben.

Ich habe heute meine Schulstullen nicht gegessen.

Ich kann nur jetzt nicht so viel schreiben, muss noch lernen, Abendbrot usw.

Zusätzlich als Plus: Natürlich wieder Zoff mit Mutti und Vati, davon bekomme ich ja jeden Tag genug. Du weißt ja …

Sonntag, der 29.10.2000

Eben habe ich Abendbrot gegessen – könnte schon wieder richtig sauer werden, aber lieber nicht, sonst fange ich noch an zu heulen.

Noch heute bin ich ein Genie in Sachen Unterdrücken, und wenn in mir Wut hochkommt, neige ich dazu, sie wegdrücken zu wollen. Doch inzwischen weiß ich, woher sie kommt und dass ich mir jahrelang antrainiert habe, Gefühle wie eben Wut oder aber Traurigkeit nicht fließen zu lassen.

Aus meiner Sicht sollte es Weinen nicht geben. Wozu auch?

Wenn ich im Normalzustand – also dann, wenn alles funktionierte, wie es sollte – schon »zu viel« war. Dann ging ja Weinen überhaupt nicht.

Darüber hinaus war niemand da, der mich verstand und mich in den Arm genommen hätte. Dementsprechend suchte ich nach einem anderen Weg für mich: Gefühle unterdrücken und einfach funktionieren. Keine Rücksicht auf mich selbst. Alles andere war fehl am Platze – so meine Erfahrung zu diesem Zeitpunkt.

Morgen wollen Marleen und ich mit Oma bummeln gehen. Vorher muss ich aber noch mit Mutter zur Ärztin fahren. Ich muss Blut abnehmen lassen. Vielleicht wiegt mich ja die Ärztin wieder. Scheißegal!

Ich lese jetzt ein bisschen und dann gehe ich schnell ins Bett. Gelernt habe ich schon.

An diesem Abend lag ich im Bett und mein Herz schlug so langsam. Es fühlte sich an, als müsste es sich unglaublich anstrengen, um zu schlagen. Ich quälte mich und selbst das Liegen empfand ich als anstrengend.

Ich konnte kaum noch richtig schlafen. Ich merkte, es würde bald zu Ende gehen und mein Herz würde für immer stehen bleiben. Ich dachte, dass ich von dem Moment an frei wäre. Ich hätte keine Qualen mehr auszustehen und es gäbe keinen Kampf mehr. Nicht den Kampf gegen mein Leben, und auch nicht jenen, den ich sowieso schon längst aufgegeben hatte: den Kampf um Liebe.

Wenn mein Herz stehen bliebe, hätte endlich das Kämpfen ein Ende.

Meine Tage waren geprägt von Leistungsdruck, von Stress, Streit und den Gedanken, die sich um das Ende meines Lebens drehten.

Ein ständiger Kampf.

Nur der Wille trieb mich voran.

Mein Umfeld reagierte erst sehr spät auf meine Veränderungen. Aus heutiger Sicht viel zu spät. Ich frage mich manchmal: Hat es niemand gesehen, dass ich dünner und dünner wurde? Erst als ich dem Tod näher war als dem Leben, wurde mein Erscheinungsbild angesprochen. Das macht erschreckenderweise sehr deutlich, dass kaum jemand auf mich achtete und ich einfach »zu viel« war. Und wie vielen Menschen geht das so?

Noch heute berührt mich diese »Blindheit«, weshalb mir so viel daran liegt, die Menschen wachzurütteln und ihnen mitzuteilen: Macht eure Augen auf und achtet euer Umfeld! Lebt nicht so dahin und funktioniert wie Roboter. Erweitert euer Bewusstsein, fangt an zu fühlen, zu sehen und füreinander da zu sein. Geht mit offenen Augen und aufmerksamem Bewusstsein durch euer Leben. Seid aufmerksam gegenüber allen Menschen, mit denen ihr in Kontakt steht, sei es in der Familie, im Freundeskreis oder bei neuen Begegnungen. Seid offen und wertschätzt euch doch bitte gegenseitig.

Lehrte uns nicht Jesus, wie in der Bibel geschrieben steht: »Hebe deine Augen auf und sieh!«

In meinem Fall war dieses Bewusstsein noch nicht da – weder bei mir selbst noch bei meinem Umfeld –, und so spitzte sich die Situation immer mehr zu.

Einen Monat nach dem bisher letzten Eintrag, fünf Tage vor meinem vierzehnten Geburtstag, kam ich in ein Krankenhaus. Ich hatte laut der ärztlichen Meinung noch drei Tage zu leben, mein Herzschlag war wie der einer achtzigjährigen Dame, die kurz vor dem Einschlafen war, und die Ärzte wussten nicht, ob ich es schaffen würde.

Donnerstag, der 30.11.2000

Ich habe schon so lange nicht mehr eingeschrieben. Doch jetzt muss ich dir etwas schreiben.

Ich bin hier gerade im Krankenhaus. Ich kann nicht mehr. Ich vermisse Mutti, Vati, meine Schwester und meinen Kater. Ich darf keine Besuche, keine Anrufe und keinen Briefkontakt haben. Nichts.

Am Dienstag habe ich Geburtstag. Na toll!

Ich sollte eigentlich erst am Freitag hierher. Doch Mutti meinte, es hat keinen Zweck mehr, noch zu warten …

Nun bin ich schon heute hier.

Ich will hier raus. Ich kann nicht mehr. Liebe Engel, helft mir doch! Ich vermisse sie so sehr.

Der Arzt hat heute gesagt, es kann bis Februar dauern, bis ich hier raus bin. Er hat auch gesagt, dass ich einen Body Mass Index von 13 habe, und unter 17 ist es schon Magersucht und lebensbedrohlich. Er meinte, ich bin so dünn, dass ich jede Minute sterben könnte. Ich habe Angst und keiner ist hier, der mich tröstet. Ich vermisse sie alle so.

Mir laufen die Tränen, denn das bin ich, die da so um Hilfe schrie. Das tut weh. Ich war gerade noch dreizehn Jahre alt, saß in diesem Krankenhaus und wusste nicht, was mit mir geschah. Drum herum dachten sie, ich würde bald sterben, und ich stand mit meiner Angst ganz allein da.

Die Bestätigung: Wieder allein!

Ich bin froh, dass ich diese Zeit überstanden habe. Aber sie hat mich geprägt – und auch die Beziehung zu meinen Eltern. Denn mit dreizehn getrennt von allem zu sein, das konnte ich bis jetzt nicht vergessen. Ich verzeihe, aber es sitzt so tief, dass mir das Vergessen nicht gelingt.

Noch heute ist es bei mir so, dass Vertrauen mit Angst einhergeht. Angst davor, wieder allein gelassen zu werden. Dabei ist es vorbei und ich weiß: Diese Angst ist nicht mehr real. Wissen ist aber nicht Fühlen, und so lerne ich nur langsam, Stück für Stück, neu zu vertrauen. Noch heute.

Die größte Hilfe war damals meine Oma. Denn nachdem ich über Jahre in Behandlung und in verschiedenen Krankenhäusern gewesen war, zog ich zu ihr. Wir hatten eine wundervolle Zeit zusammen. Bei ihr durfte ich bedingungslose Liebe kennenlernen. Sie liebte mich unendlich und zeigte mir, dass ich vertrauen durfte und konnte. Dass ich wütend sein durfte und weinen konnte, dass ich in den Arm genommen wurde und ich nicht allein war. Dass ich gut bin, so wie ich bin. Dass ich immer geliebt werde – egal wie die äußeren Umstände sind.

Höre auf dein Herz! Unser innerster Kern zählt – nur der.

Alles andere ist vergänglich und nebensächlich.

Die Seele bleibt.

Die Zeit in der Klinik

Ich schrieb weiter:

Heute Morgen, als Mutti und Vati mich hergebracht haben, war kein Arzt hier. Wir sollten um 12.30 Uhr noch mal wiederkommen. In der Zeit war ich mit Mutti in der Nähe in Geschäften schauen. Wir haben was zum Lesen und zum Schreiben gekauft.

Dort waren total süße Figuren, und zwar kleine Schweinchen, die habe ich ihr gezeigt.

Später, als sie weg waren und ich alleine im Krankenhaus, hat mir die Schwester ein Schweinchen von Mutti gegeben. Das hat sie heimlich gekauft.

Ich will hier raus! Ich habe Angst und so weiter.

Morgen früh werde ich gewogen und dann wird ein Programm angefangen: 6 Mahlzeiten am Tag (2500 kcal). Ich muss jeden Tag 100 Gramm zunehmen.

Ich hoffe, das schaffe ich. Ich will hier raus.

Das Programm hieß »Grazer Modell«. Entsprechend dem Modell wurden am Aufnahmetag das Ist-Gewicht sowie der BMI (Body Mass Index) ermittelt. Des Weiteren wurde das Zielgewicht, das es zu erreichen galt, damit ich entlassen werden konnte, festgelegt. Darüber hinaus wurde ich täglich vor dem Frühstück – nach Blasenentleerung, worauf geachtet wurde – gewogen. In einem Diagramm wurde das tägliche Gewicht als Kurve festgehalten. Diese musste kontinuierlich steigen – bis zum Idealgewicht. Ich musste täglich 100 Gramm zunehmen. Wenn ich dies nicht schaffte, bekam ich Bettruhe verordnet. Das bedeutete, den ganzen Tag nicht bewegen. Nur im Bett liegen und in das alte, kalte Krankenzimmer schauen.

Hatte ich abgenommen oder bewegte sich mein Gewicht nicht entsprechend der geplanten Kurve, war vorgesehen, mich über eine Sonde künstlich zu ernähren.

Die Mahlzeiten durfte ich nicht zusammen mit anderen einnehmen, nein ich musste sie allein zu mir nehmen – im Bett. Das Essen wurde mir gebracht und ich hatte eine halbe Stunde Zeit, alles aufzuessen. Tat ich das nicht oder schaffte ich es nicht in der vorgegebenen Zeit, wurde das Essen wieder mitgenommen.

Harte Regeln für ein Kind. Meine Gefühle spielten da überhaupt keine Rolle. Es ging nur um Zahlen, um mein Gewicht und um die Pläne der Krankenhausleitung sowie meiner Eltern.

Mein Gewicht, was ich haben muss, sodass ich hier raus darf, wird morgen auch festgelegt. Es liegt zwischen 44 und 46 kg. Jetzt wiege ich aber nur maximal 35 kg. Noch nicht mal ganz.

Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Ich möchte doch so gerne Weihnachten nach Hause und nicht wieder hierher. Es soll alles wieder gut werden.

BITTE! Ich muss es schaffen. Das Schweinchen, die Engel und der liebe Gott müssen mir helfen. Ich will nach Hause. BITTE. Ich schreibe dir morgen.

Wie klein und liebesbedürftig ich war, sehr sensibel – verloren in der großen Welt.

Das geplante Entlassungsgewicht wurde mit den Eltern und den Therapeuten festgelegt. Ich konnte mir alles anhören und daneben sitzen – Einfluss auf das Gewicht, das als »Limit« festgelegt wurde, hatte ich jedoch nicht.

Freitag, der 01.12.2000

Hallo liebes Tagebuch!

Heute ist der 1. Dezember und Sonntag schon der 1. Advent.

Vorheriges Jahr um diese Zeit haben wir die Sonntage immer gemeinsam genossen. Zusammen alles schön geschmückt und dann in der Wohnstube im Kerzenschein gesessen. Wir alle vier.

Ich vermisse sie so. Ich will unbedingt nach Hause.

Heute Morgen hat Marleen bestimmt ihr Kalendertürchen aufgemacht.

Ich würde gerne sehen, was für einen Adventskalender sie hat. Ich hätte mir auch einen gewünscht – zu Hause. Wir haben heute hier auf Station einen Adventskalender bekommen.

Diese Zeilen verdeutlichen mein Heimweh, meine Traurigkeit, die kindliche Hilflosigkeit und die Verzweiflung, der ich ausgesetzt war. Das dreizehnjährige Mädchen, das ich zu diesem Zeitpunkt war, schien vielleicht auf den ersten Blick »erwachsen«, war aber im Herzen klein, kindlich, liebes- und hilfebedürftig. Und ist es denn nicht bei Erwachsenen, beispielsweise bei einem Vierzigjährigen, auch so? Im Inneren sind wir doch alle klein, verletzlich und sehnen uns danach, dass sich unsere Bedürfnisse erfüllen. Wie auch immer das aussehen mag, wenn man an die Lebenspartner, an Freunde oder das sonstige Umfeld denkt.

Zu diesem Zeitpunkt war ich jedoch in der Klinik, und die in mir wachsenden Bedürfnisse konnten nicht berücksichtigt werden. Die erste und wichtigste Priorität war meine Gewichtszunahme. Wie ich mich dabei fühlte, war unwichtig. Ich musste damit fertigwerden und allein einen Weg finden, das alles durchzustehen. Mir blieb also nichts anderes übrig, als schnell erwachsen zu werden. Gefühle und Bedürfnisse blieben dabei auf der Strecke und ich lernte sie zu verdrängen.

Heute haben wir mit dem Grazer Modell angefangen.

Ich wurde vor dem Frühstück gewogen (34,2 kg).

Das heißt, morgen früh muss ich 34,3 kg wiegen, sonst bekomme ich Bettruhe.

Liebes Tagebuch, ich klebe morgen das Grazer Modell auf einem Zettel hier rein, dann sieht man, wie hart die hier sind.