Hüttenzauber - Gunter Haug - E-Book

Hüttenzauber E-Book

Gunter Haug

4,3

Beschreibung

Die Heilbronner Hütte in den Vorarlberger Alpen feiert ihr 75-jähriges Bestehen. Mitten drin im Getümmel: Kommissar Horst „Hotte“ Meyer. Nein, nicht bei den Feierlichkeiten, bei denen man, wie er sich ausdrückt, „an jedem Maulwurfshaufen über einen Heilbronner stolpert“, sondern vorsichtshalber schon ein halbes Jahr zuvor, im Herbst des Jahres 2002. Der gemütlich-zünftige Ausflug in die Berge nimmt allerdings rasch eine völlig ungeplante und dramatische Wende: Kollege Michael Protnik samt seiner Partnerin Bebele spurlos verschollen, ein nackter ohnmächtiger Mann am Gipfelkreuz, eine Wasserleiche im Bergsee, ein eifersüchtiger Ehemann und eine spannungsgeladene Atmosphäre in der Hütte, die sich jederzeit in einer gewaltigen Explosion zu entladen droht. Von Bergidylle keine Spur!

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Gunter Haug

Hüttenzauber

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2003 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Isabell Michelberger

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Heine und Eberle, Stuttgart

ISBN 978-3-8392-3130-2

Vorbemerkung

In Wirklichkeit ist natürlich alles anders – fast ganz anders …

… und der Hüttenwirt sowie die Köchin sind in diesem Roman natürlich nur der Fantasie des Autors ent­­-sprungen!

1. Kapitel

»Da, schau mal, Horst, da schwimmt tatsächlich einer im See!« Kopfschüttelnd deutete Claudia Meyer mit dem ausgestreckten Arm in das milchig-fahle Licht des zwischen den Bergspitzen herauf dämmernden neuen Tages.

»Blödsinn«, knurrte Horst ärgerlich. Eine Superidee seiner besseren Hälfte, ausgerechnet gleich am ersten Morgen die Natur pur genießen zu wollen. Ein Sonnenaufgang in den Bergen! Und dies ausgerechnet nach einer viel zu kurzen, halb durchzechten Nacht, die mit einem viel zu kleinen Bett begann und begleitet von einem gewaltigen Kater vor wenigen Minuten jäh endete. Der Wein! Dieser Wein! Er hätte sich ohrfeigen können! Wie konnte ein halbwegs erwachsener Mensch denn nur so blöde sein und dieses Zeugs in sich hinein schütten. Unkontrolliert! Und dann auch noch literweise! Wo er doch schon seit gut und gerne 20 Jahren nur allzu genau über sich und seine empfindlichen Magennerven leidvoll Bescheid wusste! Lieblich! Du meine Güte! Was für eine Bezeichnung für ein Getränk, das sich nunmehr höchst säuerlich in seinen Eingeweiden bemerkbar machte. Und dann noch dieser Druck! Dieses unbarmherzige Pochen im Kopf! Müde und vor Kälte fröstelnd fuhr sich Horst mit der Rechten über die Stirn. »Wer soll denn um halb sieben am Morgen in einem Bergsee schwimmen? Lächerlich! Bei den Temperaturen hier draußen! Normale Leute liegen da noch friedlich im warmen Bett!« Eindeutig, es musste sich um einen Traum handeln, in dem er sich gerade befand. Einen Albtraum, um genau zu sein. Von wegen! Aufgeregt rüttelte Claudia an der Schulter ihres Mannes.

»Jetzt mach halt mal die Augen auf! Da! Guck! Da drüben! Unglaublich!« Sie fasste seinen Kopf mit beiden Händen und drehte ihn genau in jene Richtung, auf die Horst nun gefälligst sein Augenmerk zu richten hatte!

»Lass das, Claudia! Mir ist hundeübel – und außerdem weiß ich nicht, was …« Er unterbrach sich abrupt, als sein Blick das Objekt gefunden hatte, das für die frühmorgendliche Aufregung seiner Ehefrau verantwortlich war. Nein! Unmöglich! Ein Höhenkoller! Was sonst? Aber beide Meyers gemeinsam und auch noch gleichzeitig? Also ein Verrückter! Ein Verrückter? Horst versuchte, sich trotz der unsäglichen Kopfschmerzen und seines erbärmlichen Allgemeinbefindens zu konzentrieren. Angestrengt kniff er die Augen zusammen und nahm die Stelle, an der sich etwas befand, was sich dort eigentlich nicht befinden konnte, neuerlich scharf ins Visier.

Tatsächlich: Genau dort hinten, an einem der kleinen Scheidseen, vielleicht 200 Meter von den beiden Meyers entfernt, trieb ein Schwimmer auf der Wasseroberfläche. Offenbar völlig auf einen bestimmten Punkt unter sich fixiert und absolut regungslos schien er die Szenerie in Augenschein zu nehmen. Die Sache hatte nur einen einzigen Haken: Es war Ende September. Freitag, der 27.9., um genau zu sein. Und man befand sich auch nicht irgendwo an den sonnig-warmen Gestaden des Mittelmeeres, sondern auf der Heilbronner Hütte in den Mon­tafoner Alpen. Doch diese Hütte wiederum, das wusste Horst, der in solchen Dingen fast schon zur Pedanterie neigte, ganz genau, die liegt auf 2320 Metern Meereshöhe. Also längst im hochalpinen Bereich. Was sich im Übrigen unschwer durch die Tatsache bestätigen ließ, dass die Landschaft ringsum von einer dicken weißen Schneeschicht überzogen war, denn vorgestern hatte es zum ersten Mal in der beginnenden Wintersaison geschneit. Wintersaison! Jetzt, wo man sich im Unterland, in den Rebhängen rund um Heilbronn allmählich daran machte, mit der Weinlese zu beginnen! Und zu exakt derselben Zeit, nur gute 350 Kilometer südlicher und 2200 Meter höher, auf der Heilbronner Hütte dagegen »Ski und Rodel gut!« Ganz aktuell, heute Morgen kurz nach 6 Uhr 20, unmittelbar nachdem ihn Claudia aus dem Bett gezerrt hatte, da zeigte das Außenthermo­meter auf der Hüttenterrasse 5 Grad an. Minus, versteht sich! Eine Erkenntnis, die sie ihm gerade vorher ja noch freudestrahlend ins verkaterte Gesicht gejubelt hatte.

»Der Kerl hat ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank! Selbst mit einem Neoprenanzug! Der friert sich doch den Arsch ab!« In Horst kroch beim bloßen Anblick des Spinners neuerlich und unbarmherzig die Kälte hoch.

»Und dann auch noch ohne Kopfhaube! Der spinnt wohl! Also, wenn der danach keine Probleme mit den Ohren bekommt, dann weiß ich auch nicht!« Claudia, die Kinderärztin, tippte sich vielsagend an die Stirn und schüttelte den Kopf. »Also Leute gibt’s hier! Das gibt’s gar nicht!«

Noch immer bewegte sich der Frühschwimmer mit keiner Faser seines Körpers. Zumindest konnte man aus dieser Entfernung nicht die geringste Bewegung des Mannes im schwarzblauen Wasser erkennen. Welcher Anblick konnte den dermaßen gefesselt haben? Der musste doch frieren. Frieren wie ein Schneider. Erfrieren! Langsam, ganz langsam, aber dennoch gnadenlos und unerbittlich brach sich die Erkenntnis ihre Bahn. Erfrieren! Der Kriminalkommissar straffte seinen Rücken und blinzelte vorsichtig. Gerade so, als wolle er sich noch einmal ganz genau vergewissern, dass es sich bei der Szenerie da unmittelbar vor ihren Augen weder um eine Fatamorgana noch um einen Höhenkoller oder sonst irgendeine übersinnliche Wahrnehmung handeln konnte. Dann legte er bedächtig und schwer die Hand auf die Schulter seiner Frau, ehe er mit belegter Stimme zu sprechen begann. »Claudia, das ist kein Neoprenanzug!«

Irritiert fuhr die Angesprochene herum. »Ja was denn sonst! Bei dieser Temperatur! Das hält doch kein Mensch aus! Ist ja ohne Haube schon irrsinnig genug. Das Wasser hat doch auf gar keinen Fall mehr als drei Grad. Da, guck mal«, sie deutete mit einem Kopfnicken zum Uferbereich hinüber, »da hat sich am Rand sogar schon eine Eisschicht gebildet! Der würde sich ohne Anzug doch glatt den Tod holen!

»Bingo!«, murmelte Horst und fixierte seine Ehefrau mit ernster Miene. »Ich fürchte, du hast da mitten ins Schwarze getroffen!«

Es dauerte eine gute Sekunde, bevor Claudia verstand. »Wie? Ins Schwarze getroffen? Was soll das heißen? Meinst du … du meinst … ich meine, du glaubst … der Mann da unten, das ist gar kein Spinner? Der ist gar nicht freiwillig da im Wasser? Du meinst … du denkst … du willst damit sagen … der ist tot?« Betroffen wandte sie sich um und starrte ins Gesicht ihres Mannes. Ein geradezu flehentlicher Ausdruck hatte sich auf ihre Miene gelegt, gerade so, als wolle sie Horst bitten, ihr zu widersprechen. Zu sagen, der Mann sei am Leben. Ein Spinner halt! Aber am Leben! »Tot? Glaubst du wirklich?« Es klang fast wie eine flehentliche Bitte! Bitte, bitte lieber Gott, lass es nicht wahr sein! »Wirklich tot?!«

»Toter geht’s nicht!«, bestätigte der Kriminal­kom­missar mit resigniertem Nicken. »Das habe ich – leider – schon viel zu oft gesehen! Das rieche ich förmlich!«

Schlagartig also war es vorbei mit dem romantischen Hüttenzauber in den Alpen! Ausgerechnet hier, einige hundert Kilometer von seinem Dienstort entfernt, hatte den Kommissar das Grauen eingeholt, das ihn auch nach so vielen Berufsjahren immer noch erfasste, wenn er wieder einmal eine Leiche in Augenschein nehmen muss­te. Die nächsten Stunden würden zum Albtraum werden! Was heißt werden? Sie waren schon mittendrin!

2. Kapitel

»Also, dann fassen wir noch einmal zusammen!« Erschöpft ließ sich Claudia Meyer eine halbe Stunde später auf einen der Holzstühle hinter dem großen langen Tisch in der Mitte der Stube sinken und musterte ihren Mann mit einem langen durchdringenden Blick. »Jetzt würde ich nämlich doch ganz gerne wissen, was da eigentlich gerade gespielt wird!«

Horst, der seine eiskalten Hände aneinander rieb, zuckte ratlos mit der Schulter. »Was da gerade gespielt wird? Das wissen die Götter! Wenn die es wissen …«, setzte er missgelaunt noch dazu.

»Komm, ich bitte dich! Da stinkt doch irgendwas zum Himmel! Man kann es ja förmlich riechen!« Claudia warf den Kopf in den Nacken und schnupperte angestrengt. »Du, da riecht wirklich was!«

Auch Horst drang der Geruch in diesem Moment in die Nase. Immer rascher breitete sich dieser im Esszimmer der Heilbronner Hütte aus, immer stärker, immer unangenehmer, immer künstlicher. Künstlicher? Genau! Plastik! Es musste sich um Plastik handeln! Schmorendes Plastik! »Du, da schmort grade etwas durch! Das muss aus der Küche drüben kommen. Ein Kabel oder so!«

Im selben Moment, als Horst und Claudia sich erhoben, um nach der Ursache des Brandgeruchs zu suchen, da dröhnte auch schon eine lautstarke Verwünschung durch die Stube. »Mist, verfluchter! So eine Sauerei aber auch!« Ein schepperndes Geräusch, begleitet von splitterndem Glas, vermischte sich Sekundenbruchteile später mit der zornigen männlichen Stimme. »Wer hat das denn wieder verbockt? Wollt ihr uns jetzt auch noch in die Luft jagen, oder was?« Josef Tschofen, der Hüttenwirt, war kurz zuvor in die Küche gestürmt und hatte mit einem raschen Blick die Situation erfasst. Verdrießlich starrte er auf die Bescherung zu seinen Füßen. »Das ist jetzt schon der dritte Wasserkocher in dieser Saison! Du liebe Güte! Jadranka! Wo steckst du denn? Jadranka!«, donnerte er aus Leibeskräften, während er sich suchend umsah. Doch von der Gerufenen war nichts zu erblicken. »Typisch! Die weiß schon, warum sie mir jetzt nicht unter die Augen kommt«, murmelte der Wirt, während er sich mit einem resignierten Seufzer dem Tisch der Meyers näherte. »Aber aufkehren kann sie die Sauerei nachher selber, das sag ich euch! Schon das dritte Mal, dass sie den Wasserkocher für das Personal anstellt und vergisst, Wasser in den Behälter zu füllen. Und bei dem Ding da«, er nickte mit dem Kinn zu der Stelle hinüber, an der die Trümmer des Wasserkochers auf dem Küchenboden lagen, »da kannst du genauso gut ein Streichholz an einen Papierstapel halten, so schnell, wie das durchschmort, wenn kein Wasser drin ist! Irgend so ein Billigteil, das sie immer aus Kroatien mitbringt. Ich hab ihr schon tausend Mal gesagt, dass ich so was nicht hier haben will, aber ich könnte genauso gut gegen die Wand reden. Aber jetzt ist endgültig Schluss, versprochen! Als wenn wir nicht schon Probleme genug hätten und dazu auch noch Himmelfahrt spielen müssten, oder?!«

Die beiden Meyers nickten stumm, während sich Josef Tschofen nachdenklich am Kopf kratzte. »Tja, ich bin ja mal gespannt, wie das jetzt heute weitergeht! Ist ja nicht unbedingt mein Ding, einen Toten bergen zu müssen. Ob das nun ein Bergunfall war oder sonst etwas: Also mir wird da jedes Mal ganz anders dabei!« Fröstelnd zog der Hüttenwirt den Reißverschluss seines Fleece­pullovers nach oben.

3. Kapitel

Es war ja in der Tat eine geradezu apokalyptische Situation gewesen, in der sich die drei noch vor wenigen Minuten befunden hatten.

Im gleißend-gelben Licht der hinter den bizarr gezackten blau-grauen Bergspitzen aufgehenden Sonne, die einen wunderschönen Tag in den märchenhaft verschneiten Montafoner Alpen anbrechen ließ, mühten sich die drei verzweifelten Menschen am vereisten Ufer des Scheidsees mit langen Holzstangen, um den verunglückten Schwimmer zu bergen. Verunglückt? Schwimmer? Horst war da völlig anderer Meinung als der von ihnen alarmierte Hüttenwirt Josef »Sepp« Tschofen, der glücklicherweise im selben Moment auf die Terrasse der Heilbronner Hütte getreten war, als die Meyers gerade hineinstürmten.

»Wenn es sich aber um kein Unglück gehandelt hat, sondern um etwas Schlimmeres, dann sind wir hinterher diejenigen, die sämtliche Spuren vernichtet haben«, gab der erfahrene Kriminalist zu bedenken, als sich Sepp Tschofen, kaum dass er sich ein flüchtiges Bild von der Lage verschafft hatte, eilig daran machte, die Holzstangen zur Bergung des Verunglückten aus dem Lager zu holen.

»Was heißt hier Spuren vernichten? Vielleicht lebt der ja noch«, hatte Sepp unwirsch geantwortet und Horst eine weitere Stange in die Hand gedrückt. »Und jetzt komm und hilf mir!«

»Mensch, Sepp, das bringt doch nichts! Da ist doch nichts mehr zu machen!«

Doch der Hüttenwirt war längst davon gestürmt, ohne sich weiter um Horst und dessen Einwände zu kümmern.

Schon nach wenigen Sekunden waren die drei Retter knöcheltief in den eiskalten Uferschlamm des Sees eingesunken. Die Eisschicht, die sich rund um den Rand gebildet hatte, war viel zu dünn, als dass sie einen Menschen hätte tragen können. Mühsam machten sie sich mit den schweren langen Holzstangen zu schaffen, mehr als einmal kurz davor, das Gleichgewicht zu verlieren und in das schwarzblaue Wasser zu stürzen. Es war fast unmöglich, den regungslosen Mann mit der Spitze einer Stange zu touchieren und ihn somit in Richtung Ufer zu bugsieren. Immer wieder klatschten die Stangenspitzen ins Wasser, bevor sie sich in einem Kleidungsstück des »Schwimmers« hätten verfangen können. »Pass auf, sonst treibt der uns womöglich noch davon!« mahnte Sepp zur Vorsicht, als Claudia erschöpft und mit schmerzenden Unterarmen die Stange abermals ins Wasser sinken ließ. »Können vor lachen!« Es war ein ekelhaftes Gefühl, als Claudia ihren völlig durchnässten Schuh aus dem eiskalten Schlick des Sees zog, um sich mit einer Gewichtsverlagerung wieder mehr Standfestigkeit zu verschaffen.

»Da – ich glaub, ich hab ihn!«, ließ sich in diesem Moment Horsts Stimme vernehmen. »Ich hab einen Zipfel von seiner Jacke erwischt. Die Kapuze wahrscheinlich!« Trotz der Kälte standen dicke Schweißtropfen auf seiner Stirn, während er keuchend vor Anstrengung versuchte, die Stange ganz langsam und vorsichtig zu sich heranzuziehen.

»Warte! Vorsicht! Ich krieg ihn jetzt gleich an den Füßen!« Langsam senkte Sepp das Holz ins Wasser und näherte dessen Spitze Zentimeter um Zentimeter vorsichtig der leblosen Gestalt. »Ja, jetzt! Ich hab ihn!« Der Hüttenwirt warf Horst einen aufmunternden Blick hinüber. »Und jetzt gleichzeitig: Immer eine Hand nach der anderen!«

Es dauerte nur noch wenige Sekunden, die den angestrengt arbeitenden Männern freilich wie Minuten vorkamen, dann dümpelte der Körper begleitet von einem leichten Kräuseln des Wassers vor ihre Füße.

»So! Nimm du jetzt die Stangen, Claudia, und lege sie dann parallel nebeneinander auf den Boden!« Tscho­fen bückte sich und packte den Verunglückten an der Jacke. »Nimm du die andere Schulter! Hast du ihn? Also dann: vorsichtig jetzt! Und: Ziehen!«

Beide zogen den steif gefrorenen Toten über dessen linke Seite nun langsam aus dem Wasser und schoben ihn auf die Holzstangen. »Das sieht ja nicht gut aus!« Der Hüttenwirt kauerte sich nieder und drehte den Mann auf den Rücken. Ein erstaunter Ausruf folgte. »Das gibt’s ja nicht! Wie kommt der denn hierher?!«

Auch die beiden anderen starrten entgeistert in die verzerrten Gesichtszüge des schätzungsweise knapp vierzigjährigen Mannes, dessen blicklose blaue Augen in den kalten Morgen starrten. »Weiß ich auch nicht!« Claudia räusperte sich vernehmlich, um den Kloß hinunterzuschlucken, der sich beim Anblick des Mannes in ihrer Kehle festgesetzt hatte. »Ich weiß nur eines: Der ist tot!« Sie machte eine kurze Pause und setzte ihre Expertenmiene auf. »Exitus! Eindeutig! Und zwar schon seit Stunden! Der ist so tot, toter geht’s gar nicht!«

»Sieht ganz so aus«, pflichtete Horst seiner Ehefrau bei. Hilflos breitete er die Arme aus und deutete auf den Uferbereich vor ihren Füßen. »Und sämtliche Spuren sind nun auch von uns erfolgreich niedergetrampelt worden – falls es jemals welche gegeben hat! Perfekte Arbeit! Da werden sich die Kollegen aber freuen!«

4. Kapitel

»Ekelige Angelegenheit!«, schüttelte sich Sepp Tschofen schaudernd, während er die Arme auf die Tischplatte gestemmt fragend von Claudia zu Horst hinüber sah: »Aber das Leben geht weiter! Jetzt müssen wir erstmal wieder zu Kräften kommen und unsere sieben Sinne zusammenbringen. Also: Was kann ich euch bringen? Kaffee? Tee? Oder sonst etwas? Eine heiße Milch viel­leicht?«

Horsts Magen machte sich bereits beim bloßen Zuhören wieder rebellierend bemerkbar. Doch egal wie schlimm es um das körperliche Wohlbefinden des Kommissars auch immer stehen mochte, sein Mundwerk hatte sich – nicht immer zum Vorteil des Inhabers – vom übrigen Gesamtzustand noch nie beeinträchtigen lassen.

»Erst ersäufen, dann auch noch vergiften!« Er fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. »Also, ich für meinen Teil kriege keinen Schluck herunter!«

»… und die anderen können schauen, wo sie bleiben!«, ereiferte sich Claudia über die wenig diplomatische Ausdrucksweise ihres Angetrauten. »Für mich einen Tee bitte, wenn’s recht ist!«

»Logisch!« Der Wirt nickte irritiert, während er ganz offensichtlich immer noch damit beschäftigt war, Horsts harsche Replik auf sein gut gemeintes Angebot zu interpretieren.

»Die Tür zum Keller hast du abgeschlossen?«, erkundigte sich Claudia, die über die Antwort bereits im Bilde war, den Mann aber auf andere Gedanken bringen wollte.

»Wie? Ja, natürlich, wie abgemacht! Und eine Plastiktüte hab ich ihm noch über das Gesicht gelegt. Ich hab’s einfach nicht mit anschauen können, wie er da so regungslos in die Luft gestarrt hat!«

»Meine Güte«, streute Horst einen weiteren jammervollen Beweis seiner Anwesenheit in die Runde. »Mir wird immer flauer im Magen.«

»Also vielleicht doch einen Kaffee?«

»Hör bloß auf!«

Kopfschüttelnd schaltete der Wirt den Kaffeeauto­maten ein. »Also, das verstehe ich nicht! Ich denke, du arbeitest bei der Kripo, hast du doch gestern Abend erzählt! Da müsstest du Leichen doch eigentlich gewöhnt sein!«

»Leichen schon! Aber nicht deinen Wein!«

»Meinen Wein?!« Überrascht wandte sich Tschofen um. »Was ist denn mit meinem Wein?«

»Schauderhaft ist der: Dein Wein!« Schmerzlich verzog Horst das Gesicht.

»Aber das ist doch ein Heilbronner!«

»Von wegen Heilbronner! Der war doch gestern Abend gleich alle! Und was ist uns dann geblieben? Ein Vernatsch!« Der Kommissar spie das Wort förmlich aus dem Mund. »Ein Vernatsch! Und so was auf der Heilbronner Hütte!«

»Und was ist da großartig für ein Unterschied?« Sepp Tschofen hatte sich ganz offenkundig damit abgefunden, in einen verbalen önologischen Schlagabtausch zwischen Württemberg und Vorarlberg einsteigen zu müssen. Triumphierend spielte er seine Trumpfkarte aus. »Schließlich ist der Vernatsch ja auch ein Trollinger!«

»Ein Trollinger!«

»Genau, ein Trollinger! Beziehungsweise ist es ja umgekehrt: Der Trollinger stammt in Wirklichkeit aus Südtirol, nur heißt er da Vernatsch! Nur bei euch heißt der Vernatsch nicht Vernatsch, sondern Trollinger! Abgewandelt aus Tyrolinger, also aus Südtirol!«

»Südtirol!« Horsts Miene sprach Bände.

»Ja! Südtirol!« Unwirsch fegte der Hüttenwirt einen Krümel von der Theke. Bevor Horst neuerlich zu einer Replik ansetzen konnte, mischte sich Claudia nun vermittelnd in die Debatte: »Ihm ist sterbenselend, das kann ich bestätigen. Und auch, dass der Wein daran schuld ist.« Die finstere Miene ihres Gegenübers ließ sie rasch fortfahren. »Aber ich glaube eher, wegen der Menge als wegen der Qualität!«

Horst fühlte sich im Augenblick ausnahmsweise zu schwach, um sich zur Wehr zu setzen.

Sepp Tschofen jedoch hatte verstanden. Trotz der Situation, in die sie so unverhofft am heutigen Morgen geraten waren, zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht. »Ach so ist das! Also, was soll’s denn dann sein? Meiner Meinung nach hilft da eigentlich nur noch Ka­millentee!« Kanaille!

»Dann garantiere ich für gar nichts!«, stöhnte Horst. »Aber glaub ja nicht, dass ich die Sauerei dann aufwische!« Urlaub pur – hätte es zumindest werden sollen: und dann stolperte man solchen raubeinigen hochalpinen Banausen in die Hände!

»Tja dann …«, der famose Wirt gab sich ratlos – bis ihn dann doch noch der Hauch der Erkenntnis zu streifen schien. »Also dann gibt’s wirklich nur noch eins.«

Er unterbrach sich und glotzte bedeutungsvoll in die Runde.

»Und was soll das sein?«

»Am besten macht man da weiter, wo man aufgehört hat.«, trompetete der Alpenbewohner mit diabolischem Gekicher.

Claudia glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. »Also wirklich! Jetzt macht aber mal einen Punkt – und zwar alle beide!«, setzte sie mit bösem Zischen noch hinzu, während sie langsam und durchdringend beide Sparringspartner nacheinander ins Visier nahm. »Das wäre ja noch schöner. Da geht einer hops hier oben, und die beiden Herren der Schöpfung saufen einfach fröhlich weiter!«

»Claudia! Bitte!« Schon wieder regten sich Horsts Magennerven, während Sepp nunmehr einen versöhnlicheren Ton anschlug.

»Wäre eh nicht gegangen«, bekannte er mit Unschuldsmiene. »Ihr habt heute Nacht nämlich alles niedergemacht! Ratzeputz!«

Horst stöhnte gequält auf: »Gestern Nacht! Erinnere mich bloß nicht mehr an gestern Nacht!«

»Wird dir aber nicht erspart bleiben, mein Göttergatte!« Claudia konnte manchmal wirklich so richtig gemein sein! »Spätestens dann, wenn die Kollegen aufkreuzen.«

Wie Recht sie dennoch hatte! Gestern Nacht! Was war denn da alles gewesen? Und, weshalb waren denn der Protnik und das Bebele nicht angekommen? Gestern Nacht! Gestern Nacht? Langsam und nebulös, aber unerbittlich, bahnte sich die Erinnerung ihren Weg durch die verkaterten Gehirnwindungen des Kommissars.

5. Kapitel

Horst und Claudia Meyer hatten einen spontanen Entschluss gefasst. Spontane Entschlüsse waren ja sowieso immer die besten. Der in diesem Jahr nicht allzu sonnige Sommer neigte sich unaufhaltsam seinem Ende ent­gegen. So weit Ausgangspunkt A. Claudia hatte noch drei freie Tage angespart, die sie am besten vor Beginn der Grippesaison in der Kinderarztpraxis abfeiern sollte. Bevor die ansonsten auf Nimmerwiedersehen verschwunden wären. Kannte man ja schließlich alles! Ausgangspunkt B also. Auch Horst schien es, als entwickelten sich die Dinge in Sachen »Mord und Totschlag rund um Heilbronn« im Augenblick eher etwas zögerlich. Angesichts der Latte an freien Tagen, auf die er zähneknirschend verweisen konnte, ohne sich jemals Hoffnungen zu machen, sie entscheidend abschmelzen zu können, läge zumindest ein Kurzurlaub im Bereich des Machbaren. Ausgangspunkt C. Die Kinder? Die tippten sich vielsagend an die Stirn, als Claudia behutsam vorgefühlt hatte, inwieweit sich diese einen Kurztrip in die Berge vorzustellen vermochten, bei dem man auf Schusters Rappen die 2300 Meter hoch liegende »Heilbronner Hütte« erklimmen wollte. Zu Fuß?! Die Antwort war eindeutig und führte geradewegs zu Ausgangspunkt D, der dann noch mühelos ergänzt werden konnte durch die Buchstaben E und F, gleichbedeutend mit der Verfügbarkeit der Oma als Betreuungsperson für die Meyerschen Plagen und F, letzter zu finden in der Tatsache, dass die Weinernte dank der von Horst in seinem Miniweinberg angebauten frühreifen Sorten längst und (hoffentlich) erfolgreich über die Bühne gegangen war. Und so hatte man die Tour perfekt gemacht: Ein Wander-Kurzurlaub Ende September auf der Heilbronner Hütte in den Vorarlberger Alpen. Warum eigentlich nicht? Immerhin wäre man so auch noch rechtzeitig, nämlich noch ein gutes halbes Jahr vor dem großen Jubiläumsrummel des Jahres 2003, auf der Hütte gewesen. Und als Bewohner des Unterlands rund um Heilbronn gehörte es ja sozusagen eigentlich schon zum guten Ton, wenigstens einmal in diesem schnöden Erdendasein auch zu jener Hütte zu wallfahren, die ja immerhin stolz den Namen der (immer noch) ungekrönten Rotweinhaupt­stadt von Deutschland in die alpine Bergwelt trug. Die Meyers also durften sich bislang noch nicht zu jenen Glücklichen zählen, die das Innenleben der Hütte samt ihrer tollen Bergwelt ringsum bisher hatten erleben können. Im nächsten Frühjahr (2003 also) würde das 75-jährige Bestehen der »Heilbronner Hütte« gefeiert werden und somit, das zumindest stand zu vermuten, eine wahre Völkerwanderung vom Unterland in Richtung Montafon losbrechen. Was wohl bedeutete, dass man dann an jedem mehr oder minder alpinen Maulwurfshügel über einen Heilbronner stolpern würde. Nein, da wollte man die legendenumwobene Bergeinsamkeit doch lieber schon einige Monate zuvor in aller Ruhe genießen, und so war aus dem vagen Gedanken dank der Ausgangspunkte A bis F in der letzten Septemberwoche des Jahres 2002 tatsächlich Realität geworden.

Zu allem Überfluss hatten – wieder einmal gerade noch rechtzeitig – auch die lieben Freunde und Kollegen aus Ulm, also Uschi Abele (das »Bebele«) und Michael (der »Sputnik«) Protnik, via der Meyerschen Kinder Wind von der Sache bekommen und genauso ungefragt wie freudig ihren Entschluss bekannt gegeben, die Meyers beim verlängerten Wochenende auf der Hütte treffen zu wollen. Mit anderen Worten: Einem romantischen, naturverbundenen oder (je nach Standpunkt) auch feuchtfröhlichen Kurzurlaub in den öster­reichischen Alpen stand nichts mehr im Wege!

Selbst der ordnungsgemäße Erwerb eines Pickerls, das für jeden Autofahrer, der die Autobahnen der Republik Österreich herauf- oder herunterzubrettern gedachte, verlief erstaunlicherweise völlig komplikationsfrei. Und das, obwohl Horst jedes Mal eine Gänsehaut den Rücken hinunterlief, als er sich an die geradezu albtraumhafte Situation bei Kufstein zurückerinnerte, in die ihn die österreichischen Kollegen im November des Jahres 1997 einmal gebracht hatten, als er den Kauf des »Pickerls« schlichtweg vergessen hatte. Zu Horsts großer Enttäuschung war er auf der Fahrt von Bregenz bis nach Gaschurn/Partenen und zur Silvretta-Hochalpenstraße noch nicht einmal in eine Pickerlkontrolle geraten. Wäre eben auch allzu schön gewesen, die nervigen (und bun­des­deutschen Autofahrern gegenüber immer misstrauischen) Polizeikollegen verbunden mit einer lässig-gelangweilten Handbewegung auf das an der Windschutzscheibe prangende Pickerl hinweisen zu können.

»28!«, riss Claudias Stimme Horst mit einem Mal aus seinen kriminalhistorischen Gedankengängen.

Irritiert drehte er sich zum Beifahrersitz hinüber. »28 was?«

»28 Kurven – oder vielmehr Spitzenkehren! Kurven sind’s ja in Wirklichkeit noch mehr! Da kann man ja wirklich einen Koller bekommen, bis man da oben ist!«

»Aber der spielt schon längst bei Dortmund!«

Jetzt war es an Claudia, die Stirn zu runzeln und ihren Mann fragend zu betrachten.

Horst lachte. »Ich sag’s ja immer wieder. Ein bisschen Wissen über den Fußball gehört halt auch zur Allgemeinbildung. Sonst steht man genau so auf dem Schlauch, wie du jetzt im Moment!«

»Aha!« Claudias Miene signalisierte nach wie vor die totale Verständnislosigkeit.

»Jan Koller, tschechischer Fußball-Nationalspieler und Stürmer bei Borussia Dortmund!«, klärte der gönnerhaft lächelnde Horst den Sachverhalt auf.

»Und was ist mit diesem Koller?« Claudia war noch immer das Rätselraten in Person. »Was hat der mit dem Silvretta-Stausee zu schaffen?«

»Oh, heilige Einfalt!« Der Kommissar verdrehte die Augen, während er in den zweiten Gang herunterschal­tete. »Natürlich gar nichts!«

»Wieso redest du dann plötzlich von dem? Wie aus heiterem Himmel!« Claudia entwickelte für einen Moment ihrer Meinung nach berechtigte Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit ihres Ehegesponses.

»Weil jetzt die 29 kommt! Eine Kehre noch, dann sind wir oben!« Horst zog es vor, nicht weiter auf der so gnadenlos an die Wand gefahrenen Pointe herumzureiten.

»Aha! Ich verstehe zwar immer nur noch Bahnhof, aber das wird die Höhenluft hier oben sein. Sauerstoffmangel und so!« Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf und schlug Horst unternehmungslustig auf den Oberschenkel. »War wirklich eine Superidee von uns beiden, das mit dem Kurztrip hierher ins Montafon. Da, schau dich mal um: Wie im März! Fantastisch!«

In der Tat bot sich den beiden jetzt, wo sie die letzte Kehre auf der Silvretta-Hochalpenstraße gemeistert hatten, ein atemberaubender Anblick. Es war kurz vor Mittag und die von einer dicken weißen Pulverschneeschicht frisch überzogenen Berge glitzerten im gleißenden Sonnenlicht. »Eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch!«, nickte Horst begeistert. »Du hast Recht, grade so, als wäre man im März hier im Skiurlaub: Schnee und Sonne, Ski und Rodel gut! Und das Ende September!«

»Wenn man bedenkt, dass wir gestern Mittag noch daran gezweifelt haben, ob unser Ausflug nicht der miserablen Witterung zum Opfer fällt! Und jetzt so ein Kaiserwetter! Wahnsinn!« Fröhlich deutete Claudia zum Silvrettasee hinüber. »Da, guck mal, was da los ist! Da wuselt’s ja fast mehr als in Stuttgart auf der Königstraße!«

»Stimmt! Ich glaube, da ist es besser, wir fahren noch ein paar Minuten weiter, bis wir am Parkplatz beim Kopsstausee angelangt sind, und essen dann im Zeinis­jochhaus zu Mittag! Da wird es wesentlich ruhiger zugehen als hier. Schließlich sind wir ja auch der Ruhe wegen in die Berge gefahren, oder?«

»Wo du Recht hast, hast du Recht!«, pflichtete Claudia ihrem Mann bei und schnalzte genießerisch mit der Zunge. »Und ich weiß auch schon, was ich dort zu Mittag essen werde …«

»Lass mich raten«, grinste Horst. »Ein Tiroler Gröstl mit Spiegelei, stimmt’s?«

»Bingo! Der Kandidat hat 100 Punkte! Drück auf die Tube, los. Ich halt’s kaum noch aus vor Hunger!«

Lachend drückte Horst mit dem rechten Fuß das Gaspedal ihres Wagens tief durch, und so sausten die Meyers beschwingt und in bester Ferienlaune durch die schneeweiß überzuckerte Wintermärchenlandschaft der Montafoner Alpen.

6. Kapitel

Von wegen nichts los! Die Enttäuschung stand den beiden Meyers förmlich ins Gesicht geschrieben, kaum dass sie um die letzte Kurve gebogen waren und ihr Blick auf den Parkplatz vor dem Restaurant am Zeinisjoch fiel. Eine mehr oder minder ordentlich aufgereihte und durch­aus stattliche Anzahl von Autos präsentierte sich hier den entgeisterten Betrachtern. »Was um Himmels willen ist denn hier los? Gibt’s hier womöglich was umsonst?« Horst kniff die Augen zusammen und suchte angestrengt nach einer Lücke in der Blechparade, um ihren Wagen abstellen zu können. Was sich durchaus nicht ganz einfach gestaltete.

»Da! Guck mal! Da drüben, da scheint noch was frei zu sein!« Claudia deutete ganz nach hinten, wo meterhoch zusammen geschobene Schneehaufen das Ende des Parkplatzes markierten.

»Mitten rein in die Sauerei!«, kommentierte Horst säuerlich, angesichts der Wasserpfützen, die sich durch den allmählich wieder schmelzenden Schnee gebildet hatten. »Das ist ja wie beim Weltcupslalom!« So gut es eben ging, kurvte er an den zahlreichen Schlaglöchern vorbei.

»Ja, genau! Da ist tatsächlich noch ein Platz, dort zwischen den beiden pinkfarbenen Autos! Siehst du’s?«

»Bin ja nicht blind«, knurrte der Wagenlenker, der sich gerade fragte, weshalb um alles in der Welt er denn kurz vor Beginn ihres Montafontrips auf die Idee verfallen war, noch schnell in der Autowaschstraße vorbeizuschauen. Samt Unterbodenwäsche! Und Felgenreini­gung! »Was ist das denn für ein Schweinchenrosa?«, schüttelte er den Kopf als er das Auto zwischen die beiden knallig rosa lackierten Wagen, einen Smart und einen Sharan, steuerte.

»Das ist pink!«, verbesserte Claudia.

»Na ja! Ein Riesenunterschied, oder? Und dann noch mit Radträgern! Unglaublich!«

»Aber anscheinend möglich! Hab ich ehrlich gesagt ja auch noch nie gesehen, einen Smart mit Fahrradträgern. Das eröffnet ja ganz neue Perspektiven!«, strahlte Claudia, deren heimlicher Wunsch schon immer so ein kleiner, wendiger Flitzer gewesen war – was von Horst regelmäßig mit dem Verweis auf fehlende Transportmöglichkeiten verworfen wurde.

»Scheiße!«

»Was ist denn, Horst!«

»Da, guck mal! So eine elende Sauerei!« Ärgerlich hieb sich Horst mit der Faust auf den Oberschenkel, denn vor lauter Staunen über den merkwürdig ausgestatteten Smart hatte er beim Aussteigen doch tatsächlich vergessen, einen vorsichtigen Blick auf den Untergrund zu werfen, auf den er seinen Fuß gesetzt hatte. Dieser Untergrund war zwar durchaus vorhanden – logisch – nur leider erst in zirka 15 Zentimetern Tiefe. Wassertiefe, wohlgemerkt! »Jetzt bin ich doch tatsächlich mitten in diese blöde Pfütze getreten, der ganze linke Fuß ist nass! Pfui Teufel!«

»Halb so wild! Dann hole ich dir aus dem Koffer halt ein neues Paar Socken – und der Schuh wird bis morgen ja auch wieder trocken sein. Du hättest doch für den Aufstieg eh die Wanderstiefel angezogen, oder? Übri­gens«, Claudia wies zu dem pinkfarbenen Wunder hinüber »die haben auch ein HN-Kennzeichen. Womöglich kennen wir die sogar!«

»Ich kenn keinen mit einem schweinchenrosafarbenen Smart!«, murmelte Horst verdrießlich, während er sich daran machte, den schlammüberzogenen, durch und durch nassen Schuh vom Fuß zu ziehen.

»Und die da drüben mit dem Sharan, die scheinen auch aus Heilbronn zu sein!«

»Ich kenn auch keinen mit einem schweinchen­rosafarbenen Sharan!« Auch die einstmals weiße Tennissocke war durchweicht wie eine Badehose. Und eiskalt dazu!

»Aber diese Firma, den Namen hab ich schon mal gehört«, ließ Claudia nicht locker. »Immo-Star! Irgend­wie sagt mir das was!«

»Zum Beispiel, dass die mit dem Firmenwagen in den Urlaub gefahren sind und das dann hinterher sicher wieder beim Finanzamt als Dienstfahrt abrechnen! Das möchte ich auch mal können! Aber als kleiner Beamter hast du da nicht die Spur einer Chance. Das schaffen immer nur die, die sowieso schon genug Kohle haben.«

»Ach, mein armer Mann! Völlig depressiv und gefrustet, wegen so einem kleinen Malheur!« Claudia stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete den Miesepeter mit einem amüsierten Lächeln. »Vielleicht sind das ja auch Leute vom Alpenverein, die etwas an der Hütte fertig bauen müssen und sich dafür das Werkzeug und den Wagen von denen ausgeliehen haben. Du hast doch selber gesagt, dass die vom Alpenverein da unwahrscheinlich viel selber gemacht haben.«

»Aber eigentlich hab ich ja schon gehofft, dass die fertig sind mit der Bauerei«, unterbrach Horst den Redefluss. »Das hätte mir grade noch gefehlt, dass dann womöglich den ganzen Tag über auch noch gebohrt und gehämmert wird!«

Claudia verdrehte Hilfe suchend die Augen. »Er kann halt nicht aufhören! Komm Horst: erstmal abwarten und Tee trinken! Dann sehen wir weiter!«

»Ein Bier wär mir aber lieber«, knurrte die Nervensäge. Er betätigte den Knopf für die Zentralverriegelung und strebte anschließend, ausgerüstet mit nunmehr trockenen Socken und Schuhen, Hand in Hand mit seiner Ehefrau dem Restaurant am Zeinisjoch entgegen, wo sie ein frisch eingeschenktes Bier und dampfender Tiroler Gröstl erwartete.

7. Kapitel

»Ist das vielleicht eine elende Latscherei!« Horst hielt inne und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke den Schweiß von der Stirn. »Ohne Anorak ist’s zu kalt und mit dem Teil, da fühlst du dich wie in der Sauna! Und das bei dem Aufstieg! Dass das aber auch dermaßen steil ist! Also wirklich!«

»Dann gleich die ersten Meter! Und zu allem Überfluss direkt nach dem Mittagessen!« Auch Claudia war stehen geblieben und atmete einige Male tief durch. »Wie lang soll das dauern, bis wir dann oben sind? Zwei Stunden oder so, glaub ich.« Sie hielt sich den linken Arm vor die Augen und betrachtete intensiv die Zeiger ihrer Armbanduhr. »Und davon haben wir erst eine knappe Viertelstunde hinter uns gebracht! Unglaublich!«

»Das kann ja heiter werden!« Eigentlich wäre es das Vernünftigste, auf der Stelle kehrt zu machen, sich in irgendeinem schönen Hotel am Silvretta-Stausee oder unten in Gaschurn einzuquartieren und auf die ganze schweißtreibende Herumtapperei zu verzichten! Und so was im Urlaub! Und dann auch noch im Tiefschnee! Wo die Spuren der vorangegangenen Wanderer den schmalen matschigen Pfad immer glitschiger werden ließen und man bei jedem Schritt automatisch einige Zentimeter zurückglitt, um dann, verbunden mit einem schmatzenden Geräusch, den Wanderschuh aus dem Schlamm zu ziehen! Ein wunderbares Bergerlebnis! Donnerwetter! Aber, wer würde den Vorschlag mit dem Umdrehen machen? Er, Horst, auf keinen Fall! So viel stand fest! Claudia? Aber gerne! Und nach einigen Sekunden der lauwarmen verbalen Gegenwehr würde er dann im Interesse seiner lieben Frau einlenken und schweren Herzens auf den so lange herbeigesehnten Aufstieg zur Heilbronner Hütte eben verzichten. Doch die Sache hatte einen Haken: Die flehentliche Bitte blieb aus! Im Gegenteil sogar! Claudia klatschte unternehmungslustig in die Hände und sagte: »Also dann, Mann! Auf geht’s! Weiter mit den morschen Knochen! Wir werden deine zwei Mittagsbierchen schon aus dem Kreislauf geschwitzt haben, bis wir oben ankommen!« Sie wandte sich um und stapfte mit energischen Schritten weiter.

Im selben Moment ließ sich ein helles elektronisches Geräusch in Horsts Rucksack vernehmen. Das Handy. »Du, Claudia! Wart mal! Bei mir klingelt’s!«

»Na also! Ist der Groschen endlich gefallen!« Mit strahlendster Unschuldsmiene sandte sie ihrem Mann ein zuckersüßes Lächeln entgegen.

»Jetzt hör schon auf mit dem Blödsinn und hol das Handy aus dem Rucksack!« Horst drehte sich mit dem Rücken zu Claudia. »Oben rechts müsste es sein! Findest du es!«

»Ich denke schon! Man hört’s ja schließlich auch laut und deutlich! Und das mitten in den Bergen! Gehört eigentlich verboten! Die Alpen als handyfreie Zone! Wäre doch was, oder? Hallo!« Claudia hatte es mittler­weile geschafft, das Handy aus dem Rucksack zu fingern. »Hallo! Ich verstehe Sie nicht! Hallo! Tut mir leid! Ich lege auf!« Unwirsch drückte sie auf den roten Knopf des Mobiltelefons. »So was! Erst wirst du mitten in der Bergeinsamkeit aus deinen Gedanken gerissen, und dann ist auch noch der Empfang gestört! Wir sollten das Ding ganz ausschalten!«

»Und wenn es was Dienstliches war?«

»Dann nützt es ja auch nichts, oder? Du kraxelst da auf mittlerweile fast 1500 Meter Meereshöhe herum und irgendwer von der Polizeidirektion in Heilbronn braucht dich ganz dringend! Vor Ort womöglich! In Ober­gim­pern vielleicht! Oder in Bockschaft! So ein Quatsch aber auch!«

Horst wiegte einen Moment lang skeptisch den Kopf. »In gewisser Weise hast du ja Recht! Aus mit dem Ding!«

Doch genau in diesem Augenblick begann »das Ding« erneut, einen unüberhörbaren Klingelton auszusenden. Und eine gute Sekunde später den nächsten. Der Kommissar setzte ein unschuldiges Lächeln auf und streckte die Hand aus. »Komm, gib schon! Einmal noch! Ich versprech’s dir! Wenn jetzt niemand zu verstehen ist, dann schalte ich sofort aus. Ehrenwort!«

Doch dieses Mal war die Verbindung verständlich, zumindest verbal. »Protnik! Ja, du meine Güte! Was ist das denn für ein Rauschen in der Leitung?« Protnik, der alte Kumpel. Mit ihm und dessen Lebensabschnittsgefährtin Uschi hatten sie sich für morgen auf der Heil­bronner Hütte verabredet. Die beiden Ulmer konnten erst einen Tag später dazustoßen, um mit den Meyers ein gemütlich-zünftiges Bergwochenende zu verbringen, weil sie, so hatte Protnik sich neulich geäußert, bis über den Hals in Arbeit steckten und einfach nicht früher abkömmlich waren.

»Rauschen? Bei mir ist kein Rauschen zu hören! Ich hör dich ganz deutlich!«, knisterte es aus dem Lautsprecher. »Das muss an dir liegen! Wo um alles in der Welt steckst du denn gerade?«

»Wo ich stecke? Kannst du dir doch eigentlich denken! Übrigens das mit dem stecken«, Horst warf einen kummervollen Blick auf seine matschüberzogenen neuen Wanderstiefel, »das kannst du durchaus für bare Münze nehmen! Es hat hier nämlich gestern Abend gewaltig geschneit und jetzt pflügen wir durch gut und gerne 30 Zentimeter Neuschnee! Tendenz allerdings schmelzend, und genau das ist das Problem! Sei froh, dass ihr erst morgen kommt. Dann ist der ganze Spuk sicher schon wieder vorbei!«

»Morgen? Von wegen! Das ist es ja, was ich dir sagen wollte! Die Uschi und ich, wir haben heute Mittag Schluss gemacht!«

»Schluss gemacht? Das tut mir aber leid, Michael!« Horst warf seiner interessiert lauschenden Ehefrau einen belustigten Blick entgegen. »Du, Claudia, die haben heute Mittag Schluss gemacht, der Michael und die Uschi! Eigentlich schade, oder?«

»Blödmann!« donnerte es aus dem Hörer. »So doch nicht! Wir haben bälder Feierabend gemacht, schneller gearbeitet halt! Und dann haben wir uns sofort ins Auto gesetzt und sind losgefahren. Die Autobahn ist ja um diese Zeit noch richtig paradiesisch leer!«

»Wie? Das heißt, ihr wollt heute Nachmittag noch…«