Ich bin zu alt für diese Scheisse! - Horst Heckendorn - E-Book

Ich bin zu alt für diese Scheisse! E-Book

Horst Heckendorn

4,2

Beschreibung

Wie oft haben Sie sich beim Anblick eines mit Blaulicht und Martinshorn vorbeirasenden Rettungswagens schon gedacht: Was da wohl wieder passiert ist? Horst Heckendorn ist ein altgedienter Rettungssanitäter mit über 25 Jahren Berufserfahrung. Begleiten Sie ihn auf seinen haarsträubenden Einsätzen und erleben Sie hautnah mit, was es heisst, mittendrin zu sein. Werfen Sie einen Blick hinter die Kulissen der Rettungsszene und lernen Sie die Menschen kennen, die Tag für Tag mit der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers und der Zerbrechlichkeit ihrer eigenen Seele konfrontiert werden. Dabei geht es dem Autor nicht um pure Effekthascherei, sondern darum, einen möglichst realistischen Eindruck zu vermitteln. Ein sicherlich schockierendes Buch, das aber auch mit viel Humor über den ganz normalen Wahnsinn berichtet, dem die Retter jeden Tag begegnen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

»Ich bin zu alt für diese Scheiße!« oder »Der ganz normale Wahnsinn!«

Aller Anfang ist schwer

Hirnlose Verfolgungsjagd

Tödliche Rache

»Vive la France«

Ines

Mit Blindheit geschlagen

Wutbürger

Saftige Liebe

Der Schlitzer

Schnarchnase

Pressefreiheit

Einsatz in Manhattan oder »Der Mann, den sie Pferd nannten«

Pech gehabt

Glück gehabt

F.O.S

Ringelpiez

Autoerotik oder Hang zum Strang

Dichtung und Wahrheit oder Pressefreiheit (Part2)

Strassenkampf

Kapo

Reden ist tödlich, Schweigen ist Gold

Glücksnummern

Operation: Rettet die Wale

Dankdeckel

Feuer unterm Hintern

Feuer unterm Dach

Evelyne

Der Ernst des Lebens

Schönheit ist vergänglich

Nackte Tatsachen

Schlagende Argumente

Das Glück dieser Erde

Lebenswert

Geschüttelt, nicht gerührt

Homo Beschwerdiensis

Heil dir Helvetia

Nimmt der Opi Opium, haut Opium den Opi um

Knock out

»Darauf einen Cognac. Prost!«

»Licht aus!«

Alle Jahre wieder oder Happy New Year?

Plumps oder Die Tücken der Schwerkraft

Die Prinzessin auf dem Sofa

Dicke Eier auf Schalke

Grenzfall

Zugzwang

Ein ordentliches Chaos

Zurück an Absender

Mutterliebe

Nachwort

Vorwort

»Mensch Horst, schreib doch mal ein Buch!« Mit dieser hoffentlich ernst gemeinten Aufforderung wurde ich all die Jahre immer wieder konfrontiert, wenn ich im Bekannten- und Freundeskreis von meinen ›Abenteuern‹ im Rettungsdienst erzählte.

»Ach, das will doch kein Mensch lesen!«, winkte ich daraufhin jedes Mal ab. Et voilà! Jetzt ist es so weit und sagt später nicht, ich hätte euch nicht gewarnt! Nach immerhin 25 Jahren in diesem Business reifte nun schließlich doch der Gedanke in mir, all die skurrilen, bizarren, lustigen aber auch grauenvollen Erlebnisse einmal aufzuschreiben und festzuhalten.

An eine Veröffentlichung als Buch dachte ich dabei zunächst einmal überhaupt nicht. Nein. Vielmehr wollte ich für mich persönlich Bilanz ziehen und einen Moment lang innehalten. Eigentlich bin ich ja nicht der Typ Mensch, der ständig zurückblickt und sich an die Vergangenheit klammert, aber nun fand ich, die Zeit sei reif, all die Geschehnisse einmal zu fixieren und sie so vielleicht begreifbarer werden zu lassen. Anfangs Berufung, dann Beruf, mittlerweile nur noch ein Job, bin ich dennoch weiterhin der Ansicht, dass die Arbeit im Rettungsdienst das letzte noch verbliebene Abenteuer in unserer heutigen, sogenannten zivilisierten, Welt darstellt.

Man beginnt seinen Dienst, checkt seinen Rettungswagen, und weiß eigentlich nie, was einen genau erwartet. Jederzeit ist einfach alles möglich, wie ich selbst auf ziemlich dramatische Art und Weise erfahren musste. Dabei kommt man zwangsläufig mit allen Schichten unserer Gesellschaft in Berührung. So hilft man zum Beispiel dem Multimillionär in seiner 20 Zimmer Villa genauso selbstverständlich, wie dem völlig verwahrlosten Obdachlosen unter der Eisenbahnbrücke.

Letzten Endes macht es dabei überhaupt keinen Unterschied, ob sie reich oder arm, hübsch oder hässlich, dick oder dünn sind, denn spätestens dann, wenn sie krank oder verletzt in einem Rettungswagen liegen, sind wirklich alle Menschen gleich. Wenn ich aber eines mit absoluter Gewissheit nach all diesen Jahren sagen kann, dann dies, dass es wirklich nichts gibt, was es nicht gibt. Das Spektrum ist unendlich groß, und immer dann, wenn ich glaubte, ich hätte bereits alles gesehen, wurde ich wieder eines Besseren belehrt.

An dieser Stelle möchte ich mich nun bei all jenen bedanken, die direkt oder indirekt an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben. Ich versichere Ihnen, dass alles, was Sie hier lesen, sich tatsächlich so zugetragen hat. Lediglich Namen und Orte wurden von mir bewusst verfremdet oder gleich ganz weggelassen. Sollte sich dennoch die eine oder andere Person in den hier geschilderten Erlebnissen wieder erkennen, so war das sicher keine böse Absicht.

Willkommen in meinem Leben!

1

»Ich bin zu alt für diese Scheiße!« oder

»Der ganz normale Wahnsinn!«

26.1.2013

Ein Tag, der mein ganzes bisheriges Leben verändern sollte. Es war der letzte Samstag im Januar dieses endlos erscheinenden Winters. Mein Kollege Christian und ich hatten wie üblich um 19.00 Uhr unseren Nachtdienst angetreten und rückten jetzt, um 21.08 Uhr, zu unserem ersten Notfalleinsatz an diesem Abend aus.

Ein männlicher Anrufer hatte unserer Rettungsleitstelle gemeldet, dass seine Frau und sein Kind nicht mehr sprechen würden. Mehrere mögliche Szenarien zogen wie ein Film vor meinem geistigen Auge vorüber. Eine Vergiftung mit Kohlenmonoxid oder ein Suizid kamen infrage, aber auch ein zerebrales Ereignis, so nennt man eine Schädigung des Gehirns aufgrund mangelhafter Durchblutung, war nicht auszuschließen. Auf dem Weg zum Einsatzort meldete sich unsere Leitstelle erneut und der Kollege am Telefon sagte: »Ich schick‘ euch noch die Polizei. Irgendwie klingt das nach einer komischen Sache!«

»Okay, alles klar!«, erwiderte ich nur knapp, ohne dass ich mir groß weitere Gedanken darüber machte, was genau er mit damit meinen könnte. Wenige Minuten später erreichten wir den Ort des Geschehens.

Es handelte sich um ein frei stehendes älteres Einfamilienhaus in einer durchaus besseren Wohngegend. Christian, der in dieser Nacht kurzfristig für einen plötzlich erkrankten Kollegen eingesprungen war, stoppte den Rettungswagen (RTW) vor der besagten Adresse. Beim Aussteigen nahm ich im Augenwinkel wahr, wie ein Streifenwagen der Polizei ebenfalls in unsere Straße einbog, während ich den rund 20 kg schweren Notfallrucksack aus der Seitentür des RTW herauswuchtete.

Während Christian zurückblieb, um noch weiteres Notfallequipment aus dem hinteren Teil des Rettungswagens zu holen, erreichte ich als Erster den Hauseingang. Ich ging die kleine Treppe bis zur Tür nach oben und drückte auf den Klingelknopf, wie ich das in 25 Jahren Rettungsdienst bereits unzählige Male an unzähligen Türen getan hatte. Die Tür des Hauses öffnete sich und ein älterer Mann, ich schätzte ihn spontan auf etwa Mitte 60, stand vor mir. Gleichzeitig streckte dieser nun seinen rechten Arm aus und ich blickte plötzlich in den Lauf einer Waffe, die er mir direkt mitten ins Gesicht hielt. Obwohl ich keine große Ahnung von Schusswaffen habe, war mir augenblicklich klar, dass es sich dabei wohl nicht um eine Spielzeugpistole handelte. Ab diesem Moment nahm ich alles um mich herum nur noch wie in Zeitlupe wahr.

Ich sah, dass sich seine Lippen bewegten und er offenbar zu mir sprach, aber ich war wie betäubt und konnte nichts mehr hören. Wie gebannt starrte ich nur noch in den Lauf der Waffe vor meiner Nase. Mein einziger Gedanke in diesem Moment war Flucht. Ich musste hier weg. Instinktiv stellte ich den schweren Notfallrucksack zu Boden und drehte mich mit den Worten: »Ich komme gleich wieder«, langsam um. Jetzt bloß keine hektischen Bewegungen schoss es mir durch den Kopf.

Vor mir lagen die definitiv längsten 8 - 10 Meter meines Lebens zurück in Richtung Rettungswagen. Zu keiner rationalen Entscheidung mehr fähig, hatte ich zu diesem Zeitpunkt mit meinem Leben bereits abgeschlossen. Mit dem Rücken zur Tür und dem Mann mit seiner Waffe in der Hand wartete ich auf den tödlichen Schuss, während mir auf dem Weg zum Deckung bietenden RTW die verschiedensten Dinge durch den Kopf gingen.

Meine Frau würde jetzt wohl allein mit unserem erst vor kurzem gekauften Haus zurechtkommen müssen und die bereits gebuchten und bezahlten Thailandferien fallen jetzt leider auch ins Wasser. Verdammte Scheiße! Ich hatte mich doch schon so sehr darauf gefreut! Zwei Wochen lang nur Sonne, Strand und Palmen. Wirklich merkwürdig, was einem in einer solchen Situation so alles durch den Schädel geht. Zu allem Überfluss zogen sich das Ende des Weges und damit die schützende Deckung des Rettungswagens wie in einem billigen Horrorfilm auf einmal endlos in die Ferne. Obwohl bis zum Erreichen des RTW sicherlich nur wenige Sekunden vergangen waren, hatte ich das Gefühl, als wäre die Zeit stehen geblieben und ich eine Ewigkeit unterwegs gewesen. Als ich das Ende des Weges endlich erreicht hatte und um die Ecke des im wahrsten Sinne des Wortes ›Rettungswagens‹ bog, erblickte ich meinen Kollegen Christian mit zwei Polizisten lachend ins Gespräch vertieft. Die drei hatten vom RTW verdeckt von dem ganzen Vorfall bislang nichts mitbekommen. Kreidebleich unterbrach ich ihren Small Talk mit den Worten: »Hey, Jungs, der hat ’ne Waffe!!!«

»Was?«, war die verblüffte Antwort.

»Der hat ’ne Waffe!«, wiederholte ich eindringlich.

Christian und ich gingen daraufhin hinter unserem RTW in Deckung, während die beiden Polizisten ihre Dienstwaffen zogen. Mit den Waffen im Anschlag näherten Sie sich langsam dem Haus.

»Polizei! Waffe weg!«, rief einer der beiden.

Der Alte stand noch immer in der Tür mit dem Revolver in der Hand und erwiderte: »Wer sind Sie denn, was wollen Sie von mir?«

Offensichtlich war er nicht mehr ganz Herr seiner Sinne und konnte die Situation überhaupt nicht einordnen. Die beiden uniformierten und daher deutlich als solche zu erkennenden Polizisten wiederholten nun energisch ihre Aufforderung, er solle endlich die Waffe wegwerfen. Aber der Alte reagierte überhaupt nicht.

Christian und ich rechneten fest damit, dass eine der beiden Parteien jetzt gleich das Feuer eröffnen würde, entweder der Alte oder die Polizei. In den USA würde er vermutlich schon längst, von mehreren Polizeikugeln durchsiebt, niedergestreckt auf dem Fußboden liegen. Hier jedoch ging die ›Debatte‹ in eine neue Runde.

»Hier ist die Polizei. Werfen Sie verdammt noch mal endlich die Waffe weg, oder möchten Sie eine Kugel in den Bauch?!«, schrien ihn die beiden jungen und sichtlich nervösen Polizisten abwechselnd an. Dabei rückten die Beamten weiter vor und verschwanden schließlich aus unserem Blickfeld. Kurz darauf vernahmen Christian und ich in unserer Deckung kauernd, die polternden Geräusche eines Handgemenges und hörten den Alten lauthals protestieren.

»Wer sind Sie? Lassen Sie mich los! Was machen Sie denn mit mir?!«

Bei ihm rieselte der Kalk offensichtlich schon ganz gewaltig. Dann hörten wir einen der Polizisten in unsere Richtung rufen: »Ist gut, ihr könnt rauskommen!«

Vorsichtig lugten Christian und ich aus unserer Deckung. Die beiden Polizisten hatten den Alten überwältigt und entwaffnet. Die Waffe, ein Trommelrevolver Kaliber 38, lag vollgeladen und mit gespanntem Abzug am Boden. Zum Glück litt der offensichtlich verwirrte Alte nicht auch noch unter Morbus Parkinson, denn bei dieser, auch als Schüttellähmung bekannten Krankheit, zittern die Hände des betroffenen unkontrolliert und er hätte mich sicherlich schon alleine deshalb, gewollt oder ungewollt, erschossen.

Mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt, führten die beiden Polizisten den Alten ins Wohnzimmer und setzten ihn dort in einen Sessel.

»Schauen Sie nur, da sitzen sie und sagen keinen Ton mehr. Vielleicht hat jemand das Wasser vergiftet?«, sagte der alte Mann plötzlich und zeigte dabei mit seinem Kinn auf das ihm gegenüberstehende Sofa.

Es war genauso menschenleer wie der Rest des Wohnzimmers. Jetzt war es wirklich offensichtlich: Dieser Mann war völlig verrückt! Inzwischen war ein Großaufgebot der Polizei eingetroffen und durchsuchte das ganze Haus vom Keller bis zum Dachboden.

Doch außer uns bereits Anwesenden befand sich keine weitere Menschenseele mehr darin. Bei der polizeilichen Überprüfung stellte sich dann heraus, dass die Ehefrau unseres ›Patienten‹ schon seit mehreren Tagen stationär im Krankenhaus lag, und der längst erwachsene Sohn in einem Nachbarort wohnte. Zu meiner großen Überraschung und entgegen meiner ursprünglichen Vermutung war der Alte nicht etwa Mitte 60, sondern bereits 81(!) Jahre alt und litt wohl schon seit Jahren unter Demenz. Die Frage allerdings, warum ein verwirrter alter Mann über mehrere Tage allein in einem Haus lebt, willkürlich einen Notruf absetzen kann, und zu allem Überfluss auch noch eine geladene Waffe besitzt, konnte mir bis heute leider niemand zufriedenstellend beantworten. Um ein akutes medizinisches Problem als eventuelle Ursache für sein Verhalten auszuschließen, schlug ich vor, den Alten zur weiteren Abklärung ins nächstgelegene Krankenhaus zu bringen. Dort wurde aber außer der bereits bekannten Demenzerkrankung nichts weiter festgestellt.

Schließlich wurde er noch in derselben Nacht in die Obhut seines Sohnes nach Hause entlassen. Da es sich hier ja offensichtlich ›nur‹ um einen kranken und verwirrten alten Mann handelte, der juristisch nicht zurechnungsfähig war und daher für sein Tun auch nicht belangt werden konnte, hatte die ganze Angelegenheit für ihn keine weiteren Konsequenzen.

Für mich hingegen schon. Ich fühlte mich nach diesem Einsatz tagelang wie in Watte gepackt und unter einer großen Käseglocke von der Außenwelt abgeschnitten. Meine Gedanken kreisten immer und immer wieder um diesen Vorfall und ich war einfach nicht mehr derselbe Mensch wie zuvor.

Ständig wurde ich von sogenannten Flashbacks heimgesucht und sah im Geiste immer wieder, wie in Zeitlupe, diese Tür aufgehen und mich in den Lauf der Waffe blicken. Die ganze Zeit über versuchte ich mir einzureden, dass ja alles gut gegangen und schließlich niemand zu Schaden gekommen sei, aber es half alles nichts. Ich bekam den Alten einfach nicht mehr aus meinem Kopf und fand auch sonst keine Ruhe mehr. In 25 Jahren Rettungsdienst, immer an vorderster Front, hatte ich viele haarsträubende Dinge gesehen und so manche gefährliche Situation erlebt. Ich kannte alle Aggregatzustände des menschlichen Körpers, ganz egal, ob fest, flüssig oder gasförmig, aber das mir jemand so unvermittelt eine geladene und schussbereite tödliche Waffe direkt mitten ins Gesicht hielt, war auch für mich eine zutiefst traumatisierende und extrem belastende neue Erfahrung.

Niemals hätte ich meine Arbeit im Rettungsdienst gegen einen gewöhnlichen Montag bis Freitag Job eintauschen wollen, wo ich schon am Montagmorgen wusste, was mich am Freitagnachmittag erwarten würde. Gerade eben nicht zu wissen, was einen erwartet, war und ist das spannende Element an der Arbeit im Rettungsdienst. Aber genau diese Tatsache stresste mich nun völlig. Meine gesamte Souveränität, die auf Wissen, Erfahrung und Selbstvertrauen basierte, war komplett dahin. Ich hatte Angst vor jedem Einsatz und traute mir selbst nichts mehr zu. Hinzu kam die ernüchternde Erkenntnis, dass, wenn mich der alte Mann in dieser Nacht tatsächlich erschossen hätte, ich wohl den sinnlosesten aller Tode gestorben wäre. Der ganze Einsatz war ja nur dem kranken Gehirn und der kruden Fantasie eines geistig verwirrten alten Mannes entsprungen.

Ich bin mir immer der Endlichkeit meines Daseins und auch der Gefahren bewusst gewesen, die mein Job nun einmal mit sich bringt. Letzten Endes konnte jede Einsatzfahrt mit Blaulicht und Martinshorn die letzte sein, aber in diesem ganz speziellen Fall, wäre ich wirklich für absolut nichts und niemanden gestorben oder bestenfalls ›nur‹ schwer verletzt worden. Die totale Sinnlosigkeit dieser ganzen Aktion ließ mich auch generell am Sinn des Lebens (ver)zweifeln und mein gesamtes Weltbild geriet aus den Fugen. Ich war nicht mehr lustig. Ich war auch nicht traurig. Ich war einfach gar nichts mehr. Ich hatte mich irgendwie im irgendwo selbst verloren. Bislang galt ich immer als fröhlicher und ausgeglichener Berufsoptimist, den nichts und niemanden erschüttern konnte. Jetzt war es so weit. Ein 81 Jahre alter geistig verwirrter Greis hatte es geschafft, mir den Stecker zu ziehen. Ich hätte mir lieber beide Beine gebrochen, als mich in diesem Zustand zu befinden, in dem ich mich gerade befand. Meine daraufhin fast schon verzweifelten und paranoiden Versuche, komplett die Branche zu wechseln, wurden leider auch nicht von Erfolg gekrönt, sondern ich musste zusätzlich noch die Erfahrung machen, dass man mit 47 Jahren auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr sehr gefragt ist.

Letzten Endes musste ich meiner Frau und meinem Chef versprechen, endlich professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nach mehreren Sitzungen Psychotherapie und dank der Hilfe und Unterstützung von Freunden, Kollegen und Familie, habe ich inzwischen gelernt, mit der Situation umzugehen; aber ich werde wohl nie wieder in meinem ganzen Leben ohne Herzklopfen an fremden Türen klingeln.

Die Ferien in Thailand fanden jetzt natürlich erst recht statt und waren im Nachhinein wohl meine Rettung.

In Bangkok stand ich eines Abends ganz allein auf der Dachterrasse des Rembrandt Hotels im 26. Stock und genoss den atemberaubenden und spektakulären Ausblick auf die nächtliche Skyline der Stadt. Ich sog die Geräusche und Gerüche dieser Multimillionen Metropole in mir auf und fühlte mich plötzlich wie ein Teil von ihr. In diesem Moment hatte ich so etwas wie eine Erleuchtung und es durchfuhr mich ein Gedanke: »Es gibt hier mindestens 10 Millionen Menschen, die mit Sicherheit weit größere Probleme haben als ich, und von so einem verwirrten alten Sack, lasse ich mir mein Leben nicht kaputt machen.«

Dann nahm ich im Geiste mein ganzes Paket an negativen Gedanken und Gefühlen und warf es über die Brüstung der Dachterrasse in die Tiefe. Was sich für Außenstehende jetzt vielleicht völlig banal und belanglos anhören mag, war für mich in Wirklichkeit ein echtes Schlüsselerlebnis, denn ich verließ den Ort mit einem Gefühl der Befreiung. Mit dem Lift fuhr ich anschließend zurück in mein Hotelzimmer, aber genau genommen fuhr ich zurück in mein Leben. Nach der Rückkehr aus den Ferien war ich fast wieder ganz der Alte. Inzwischen sehe ich das Ganze sogar eher positiv, denn durch dieses Erlebnis bin ich gezwungenermaßen auf die Bremse getreten und habe damit begonnen, über viele Dinge in meinem bisherigen Leben nachzudenken. Auch dieses Buch ist ein Teil dieses Prozesses.

Mittlerweile habe ich beruflich und privat einige Korrekturen vorgenommen, die vielleicht für diejenigen, die mich schon länger kennen, nicht immer unbedingt nachvollziehbar sind, aber für mich persönlich eine echte Verbesserung meiner Lebensqualität darstellen. Meine Lebensfreude und Souveränität sind zurückgekehrt und ich arbeite auch weiterhin im Rettungsdienst. Aber glauben Sie mir, immer dann, wenn mir zum Beispiel am Wochenende mal wieder ein besoffener Teenager seinen halb verdauten Döner mit Wodka Red Bull über die Füße kotzt, denke ich ganz tief in meinem Innersten: »Ich bin zu alt für diese Scheiße!«

2

Aller Anfang ist schwer

2. Mai 1988

Ich hatte vor Kurzem meine dreijährige Ausbildung zum examinierten Krankenpfleger mit Erfolg abgeschlossen und jetzt rief mich Vater Staat, um meiner Wehrpflicht nachzukommen. Damals herrschte noch kalter Krieg und die Welt war in Ost und West gespalten. Zwei verfeindete Bündnisblöcke, NATO und Warschauer Pakt, standen sich hochgerüstet und bis an die Zähne bewaffnet gegenüber. Der atomare Overkill war keine Erfindung von Hollywood, sondern eine allgegenwärtige und permanent über allem schwebende Drohkulisse. Obwohl der sogenannte Eiserne Vorhang an manchen Stellen schon ziemlich rostete, existierte er noch und niemand hätte zu diesem Zeitpunkt auch nur im Traum daran gedacht, dass der gesamte Ostblock, die Berliner Mauer und mit ihr die DDR, bald Geschichte sein würden.

Zu jener Zeit hatte man nur die Wahl zwischen 15 Monaten Grundwehrdienst bei der Bundeswehr oder 20 Monaten Zivildienst in einer gemeinnützigen Einrichtung, wie es so schön im Amtsdeutsch hieß. Bei dieser Regelung handelte es sich de facto um einen klaren Verstoß gegen das geltende Grundgesetz. Denn dort stand geschrieben, dass der Zivildienst die Dauer des Grundwehrdienstes nicht übersteigen darf. Aber diese kleine Nebensächlichkeit interessierte damals niemanden so richtig und wo kein Kläger ist, da ist bekanntlich auch kein Richter. So wurde diese Ungerechtigkeit von allen Betroffenen mehr oder weniger stillschweigend hingenommen.

Da ich schon immer ein Problem mit hierarchischen Strukturen hatte, und lieber etwas Sinnvolleres tun wollte, als Gewehre zu putzen und Panzer zu ölen, entschloss ich mich den Wehrdienst aus Gewissensgründen zu verweigern. Zuvor wurde ich jedoch wie alle anderen auch bei der sogenannten Musterung im Kreiswehrersatzamt von einer jungen und bildhübschen Ärztin auf meine körperliche und geistige Wehrtauglichkeit hin untersucht. Nackt bis auf die Unterhosen wurde ich von ihr abgehört, abgeklopft und zu meinem allgemeinen Gesundheitszustand befragt. Als sie mir dann auch noch die Mundhöhle mitsamt den Zähnen inspizierte, fühlte ich mich langsam wirklich wie ein Gaul auf dem Pferdemarkt.

Plötzlich und unerwartet griff mir die Frau Doktor in den Schritt. Ich kniff erschrocken die Hinterbacken zusammen und dachte nur: »Ups, jetzt bloß keine Erektion bekommen!«

Sie hielt meine Hoden mit ihrer behandschuhten Hand fest umklammert und blickte mir dabei ganz tief in die Augen.

»Husten Sie mal«, sagte sie.

Ich hüstelte ein paar Mal verlegen vor mich hin und drehte dabei meinen Kopf zur Seite, um ihr nicht ins Gesicht zu pusten.

»Sie haben eine weiche Leiste«, bemerkte die Frau Doktor süffisant lächelnd und tätschelte mir dabei den Sack.

»Danke«, antwortete ich, weil mir im Moment gerade nichts Besseres dazu einfiel.

»Sie können sich wieder anziehen und draußen mit den anderen warten«, befahl sie mir.

Dieser von ihr diagnostizierte körperliche Makel schien jedoch keine Konsequenzen nach sich zu ziehen. Ganz im Gegenteil, denn ich bekam sogar als Einziger aus meiner Gruppe den höchsten Tauglichkeitsgrad, nämlich ›T1‹ erteilt. ›Uneingeschränkt tauglich für alle Waffengattungen‹ stand im Untersuchungsbericht der Ärztin. Kein Wunder, denn ich hatte ja auch nicht wie einige meiner Kollegen versucht, das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung negativ zu beeinflussen.

Hierzu kursierten die kuriosesten Tipps und wildesten Ratschläge um den militärischen Tauglichkeitsgrad aktiv gen Null zu senken und sich so vor der allgemeinen Wehrpflicht drücken zu können. Nicht wenige unter ihnen glaubten doch tatsächlich mit Unmengen von schwarzem Kaffee ein krankes Herz oder mit der oralen Einnahme von einer ganzen Tube Zahnpasta andere schwere Gebrechen vortäuschen zu können, um so der Bundeswehr zu entkommen. Mir ist jedoch kein Fall bekannt, wo das wirklich funktioniert hat.

Mein Entschluss den Wehrdienst zu verweigern stand jedenfalls unumstößlich fest. Außerdem galt es Ende der achtziger Jahre als extrem uncool, zum ›Bund‹ zu gehen.

»Menschenskind, T1, wissen Sie eigentlich, was für Möglichkeiten ihnen die Bundeswehr bietet?«, versuchte mich der Vorsitzende der Musterungskommission zu ködern.

»Tut mir leid, das interessiert mich überhaupt nicht!«, antwortete ich.

»Nein! Sie tun mir leid! Ihnen ist auch nicht mehr zu helfen! Raus hier!«, blaffte er mir wütend entgegen und zeigte dabei mit dem Finger zur Ausgangstür.

Ich verließ das Kreiswehrersatzamt mit dem guten Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein. Mit der anschließend bar auf die Hand ausbezahlten Aufwandsentschädigung gingen meine Kumpels und ich nach der Musterung erst mal ein Bierchen trinken.

Für die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer musste man damals seine Beweggründe schriftlich in einem mehrseitigen Aufsatz vorbringen und diese dann beim Bundesamt für den Zivildienst (BAZ) einreichen. Ich begründete meine Verweigerung unter anderem mit den persönlichen Erfahrungen meines alten Herrn, den sie als 16-jährigen Teenager Ende 1944 in eine Uniform steckten, mit dem Zug nach Norddeutschland verfrachteten und dort mit einer Flak auf die Bomberverbände der Alliierten schießen ließen. Das Ende des Krieges erlebte er mit einer Lungenentzündung im Lazarett und anschließend in englischer Kriegsgefangenschaft. Auch die 13-köpfige Großfamilie meiner Mutter wurde durch den Zweiten Weltkrieg erheblich dezimiert, indem sie zwei ihrer Brüder an der Ostfront verlor.

Meine Argumente zeigten offenbar Wirkung, denn ich wurde ohne größere Probleme als Wehrdienstverweigerer anerkannt. Nun ging es darum, eine geeignete Zivildienststelle zu finden. Mir stand der Sinn nach sinnvoller Action und zudem hatte ich eine langjährige Karriere als Gruppenleiter und aktives Mitglied des örtlichen Jugendrotkreuzes vorzuweisen. Außerdem war ich schon als Kind ein begeisterter Anhänger der Fernsehserie ›Notarztwagen 7‹ gewesen.

Diese Serie lief Ende der Siebzigerjahre im Vorabendprogramm der ARD und war eine Art Vorläufer des Reality-TV. Sie ist zu einem großen Teil mitverantwortlich dafür, dass ich unbedingt einmal ›Krankenwagenfahrer‹ werden wollte. Was lag also näher, als die Chance zu nutzen sich jetzt endlich diesen Kindheitstraum zu erfüllen und sich beim Rettungsdienst in einer süddeutschen Großstadt, um eine Stelle als Zivildienstleistender zu bewerben.

Da stand ich nun im Büro des Rettungsdienstleiters Romberg und hörte mir seinen Vortrag über Ordnung, Disziplin und Pünktlichkeit im Allgemeinen und der Schweigepflicht im Besonderen an. Sein größtes Anliegen jedoch, und für ihn offenbar die wichtigste Sache überhaupt, waren saubere Einsatzfahrzeuge. Ich wurde von ihm persönlich in die Geheimnisse der Rombergischen 3-Lappen-Technik eingeweiht: Scheuern, Wischen, Trocken reiben. Dass man aufgrund des immensen Einsatzaufkommens, selten bis gar nicht dazu kam, die Fahrzeuge gründlich zu putzen, sollte ich erst später feststellen.

Während seiner Ausführungen schaute ich mich verstohlen um. Sein tristes und vergilbtes Büro war ein ziemliches Chaos. Aktenordner, Funkgeräte und allerlei Krimskrams lagen überall verstreut oder in Kartons verpackt herum. Es roch nach kaltem Rauch, billigem Aftershave und schlechtem Kaffee. Generell schien er sich nur und ausnahmslos von Kaffee und Zigaretten zu ernähren, qualmte er doch die ganze Zeit über eine Kippe nach der anderen und hielt sich permanent an seinem Kaffeebecher fest.

Rettungsdienstleiter Romberg war nicht besonders groß, leicht untersetzt, und trug eine kribbelkrause Vokuhila (vorn kurz, hinten lang) Dauerwelle auf dem Kopf, wie sie zu jener Zeit schwer in Mode war. Sein Goldkettchen um den Hals und die dicken Ränder unter den geröteten Augen rundeten das Gesamtbild ab. Irgendwie machte er einen ziemlich angepissten Eindruck auf mich.

»Oder wie sehen Sie das, Herr Heckendorn?«, riss er mich aus meiner geistigen Abwesenheit.

»Oh, ich sehe das ganz genauso«, antwortete ich, ohne genau zu wissen, worum es eigentlich ging.

»Na dann ist ja alles geklärt! Lassen Sie sich von Frau Bollinger einkleiden, und dann fahren Sie bis zum Beginn ihres Rettungsdienstlehrgangs als dritter Mann auf dem RTW 1/83/1 mit. Ich wünsche Ihnen einen guten Start!«

Wie schon so oft in meinem bisherigen Leben verstand ich mal wieder nur Bahnhof. Dass es total bescheuert war, vor Beginn des Rettungsdienstlehrgangs sein Praktikum auf einem Rettungswagen zu absolvieren und nicht erst hinterher, wie eigentlich üblich, wurde mir bald darauf auf sehr drastische Art und Weise bewusst. Was soll’s, ich hatte mein Examen als staatlich geprüfter Krankenpfleger in der Tasche und einen Erste-Hilfe-Kurs vorzuweisen. Jung, naiv und blauäugig wie ich war, fühlte ich mich daher meiner neuen Aufgabe vollumfänglich gewachsen. Ich sollte mich so was von irren!

»Besatzung 1/83/1, Notfalleinsatz Autobahnzubringer Mitte«, krähte es aus dem Lautsprecher der Hausrufanlage. Jetzt wurde es ernst, mein allererster Notfalleinsatz! Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich Johannes und Thilo die Treppe hinunter zur Wagenhalle hinterher hechtete. Als Praktikant und sogenannter dritter Mann fuhr ich hinten in der Patientenkabine mit, während meine Besatzungskollegen vorn im RTW saßen. Mit Blaulicht und Pressluftfanfare ging es rasend schnell in Richtung Einsatzort. Ich steckte neugierig meinen Kopf durch die kleine Scheibe hindurch, die die Patientenkabine und das Führerhaus voneinander trennte, um auch etwas zu sehen und nach vorn schauen zu können.

Johannes, der aber von allen nur ›Hannes‹ genannt wurde, steuerte den Rettungswagen souverän durch den dichten Berufsverkehr. Noch mehrere Kilometer vom Unfallort entfernt, hatte sich bereits ein riesiger Stau gebildet. Doch Hannes war ein alter Hase und ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Thilo war ein ›Zivi‹ genau wie ich, aber fast am Ende seiner Dienstzeit angelangt und daher mit dementsprechend sehr viel mehr Erfahrung. Vor lauter Aufregung pinkelte ich mir fast in meine nagelneuen und schneeweißen Einsatzhosen. Das Stauende teilte sich wie das Rote Meer beim Auszug der Juden aus Ägypten und Hannes glitt zwischen den rechts und links stehenden Autos hindurch, wie ein warmes Messer durch weiche Butter. Endlich erreichten wir die Einsatzstelle.

Mein Job als Praktikant war es die beiden Notfallkoffer zum Einsatzort zu tragen. Leider hatte ich wohl bei der Fahrzeugeinweisung nicht richtig aufgepasst, als Thilo mir den Mechanismus für die Entriegelung der Notfallkoffer erklärte, denn ich bekam die verdammten Dinger nicht aus ihrer Halterung.

Plötzlich stand Thilo neben mir und fragte vorwurfsvoll: »Wo bleibst du denn? Wir brauchen die Koffer!«

Mit einem einzigen Handgriff löste er diese aus der Halterung und lief damit in Richtung Patient, während ich wie ein Depp hinterhertrottelte. Erst jetzt bemerkte ich das ohrenbetäubende Schreien eines am Boden liegenden Mannes. Er war mit seinem Motorrad im morgendlichen Berufsverkehr von einem Auto angefahren und zu Boden geschleudert worden. Der verletzte Motorradfahrer war circa 35 Jahre alt und schrie aus Leibeskräften nach seiner Mama.

Hannes hatte ihm bereits mit einer Kleiderschere die Hose aufgeschnitten und zwei spitze, blutige Knochenenden ragten aus seinem bizarr verformten Unterschenkel hervor. Mir wurde flau in der Magengegend. Jetzt bloß nicht umfallen, dachte ich.

»Hol die Vakuummatratze!«, befahl mir Hannes.

Ich lief zurück zum RTW und nahm die orangefarbene Matte von der Seitenwand. Im Gegensatz zu einer Luftmatratze wird hier keine Luft hineingeblasen, sondern abgesaugt. Im Inneren dieser Matratze befinden sich lauter kleine Styroporkügelchen, die sich nun dicht aneinanderpressen und so den darauf gelagerten Patienten optimal ruhigstellen, um Folgeschäden beim Transport zu vermeiden. Ich nahm also die Vakuummatratze und warf sie direkt neben dem Patienten auf den nackten Asphalt.

Hannes wechselte die Gesichtsfarbe und schrie noch lauter als der Patient: »Verdammt noch mal, doch nicht so! Mensch Thilo, mach du das, den Kerl kann man ja für gar nichts brauchen!«

Hannes hatte inzwischen eine Infusion gelegt und der zwischenzeitlich eingetroffene Notarzt verabreichte dem Patienten ein starkes Schmerzmittel. Das Schreien hörte endlich auf. Thilo hatte derweil die Vakuummatratze auf die Trage gelegt und bereitete diese nun für den Abtransport des Patienten vor.

Die dafür erforderliche Absaugpumpe hatte ich natürlich auch noch vergessen.

Hannes, Thilo und der Notarzt hoben den Patienten auf Kommando gleichzeitig von der Seite hoch, und legten ihn vorsichtig auf die Vakuummatratze, während ich, wie bestellt und nicht abgeholt, danebenstand. Diese wurde nun dem Körper des Verunfallten angepasst und mittels einer manuellen Pumpe abgesaugt. Der Patient konnte so sicher und schmerzfrei ins nächstgelegene Krankenhaus transportiert werden.

Nach dem Einsatz hielt mir Hannes vor der Notaufnahme der Universitätsklinik eine Standpauke, dass ich am liebsten im Erdboden versunken wäre. Was für eine Pleite! Ich sah mich in Gedanken schon für den Rest meines Zivildienstes ›Essen auf Rädern‹ ausfahren, aber Thilo meinte nur: »Mach dir nix draus, das geht am Anfang jedem so! Ist ja auch völlig bescheuert, dich ohne Ausbildung einfach ins kalte Wasser zu schubsen!«

In diesem Moment wurde mir schmerzlich bewusst, dass mir mein Krankenpflegeexamen überhaupt nichts nutzte, denn den Umgang mit Vakuummatratze, Trage und anderen im Rettungsdienst gebräuchlichen Utensilien, hatten wir im Krankenhaus natürlich nicht gebraucht und deshalb auch nicht gelernt. Später, während meiner Ausbildung zum Rettungsassistenten, hatte es dann durchaus seine Vorteile, weil ich bei Anatomie, Physiologie und Krankheitslehre eindeutig die Nase vorn hatte. Außerdem verkürzte sich dadurch meine Ausbildungszeit und mir blieben zusätzlich noch die ganzen Krankenhauspraktika erspart.

Trotz des holprigen Starts wurden Hannes und ich übrigens noch gute Freunde.

Zu dieser Zeit fanden immer noch Dreharbeiten für die Mutter aller Krankenhausserien, ›Die Schwarzwaldklinik‹, statt. Wenn hierfür ein Rettungswagen gebraucht wurde, dann stellte unser Rettungsdienst Fahrzeuge und Personal zur Verfügung. Hannes war für seinen rasanten Fahrstil berühmt und berüchtigt. Sein Motto lautete: »Wo du mit 20 durchkommst, kommst du auch mit 120 durch!« Damit war die Geschwindigkeit und nicht etwa das Alter oder Körpergewicht gemeint.

Hannes bekam also den Auftrag, mit dem Rettungswagen die gewundene Serpentinenstraße zur ›Schwarzwaldklinik‹ so schnell wie möglich hochzufahren, während ihn der Kameramann dabei von oben filmen sollte.

»Wenn‘s weiter nix ist?!«, meinte Hannes und fuhr los, als gäbe es kein Morgen.

Oben angekommen meinte der Kameramann nur: »Äh, geht’s vielleicht ein bisschen langsamer? Ich komme mit der Kamera nicht so schnell mit!«

Als bekennender und glühender Fan der ›Schwarzwaldklinik‹, besitze ich die komplette Serie auf DVD. Natürlich ist die Handlung genauso schwachsinnig und unrealistisch wie bei fast allen anderen Krankenhausserien auch, aber immer dann, wenn dort ein Rettungswagen oder ein Sanitäter zu sehen ist, kenne ich entweder das Fahrzeug oder die Kollegen, die als Statisten mitgewirkt haben.

Noch eine Anekdote aus dieser Zeit gefällig? Bitte sehr: Zwei Kollegen sollten in einer Szene einen ›Patienten‹ vom Boden anheben und auf die Trage legen, um ihn anschließend in den Rettungswagen zu schieben. Eigentlich keine große Sache. Dummerweise wurde für diesen Job ein Kollege auserkoren, der unter einem sogenannten ›Tic‹ litt. Ein ›Tic‹ ist eine neurologische Störung, die sich z. B. in merkwürdigen Grimassen oder ständig auftretenden unkontrollierbaren Muskelzuckungen äußern kann.

Bei diesem armen Kerl war es nun so, dass er permanent die Nase rümpfte und dabei gleichzeitig die Augenbrauen hochzog. Wenn man über einen längeren Zeitraum mit ihm zu tun hatte, wirkte das durchaus ansteckend und man fing selbst an wie ein Kaninchen zu ›mümmeln‹ und wild mit den Augenbrauen zu zucken. Das beeindruckende Mienenspiel wurde zusätzlich noch von einem grunzenden und fiependen Geräusch begleitet, und wenn er aufgeregt war, verschlimmerte sich das Ganze sogar noch. Bei jeder Aufnahme blinzelte, zuckte und grunzte der Kollege in die Kamera und sorgte so für permanente Bild- und Tonstörungen.

»Nein, nein, bitte nicht in die Kamera schauen!«, rief der Regisseur verzweifelt, doch nachdem er die Szene etliche Male geschmissen hatte und diese deshalb endlos wiederholt werden musste, nahm man den Kollegen nur noch von hinten auf. Beim Drehen dieser, nur wenige Sekunden dauernden Szene, musste letzten Endes ein ganzer Drehtag dran glauben. Kurz darauf kam der Kollege früher als gewöhnlich vom Dienst nach Hause und erwischte seine Frau im Schlafzimmer, nackt und in flagranti, rittlings auf seinem Nachbarn sitzend.

Angeblich empfing sie ihn mit den Worten: »Moment, Schatz, ich komme gleich.«

Manchmal ist das Leben wirklich grausam.

1988

3

Hirnlose Verfolgungsjagd

1996

Es war eine wunderschöne und laue Sommernacht. Der Mond und die Sterne leuchteten am wolkenlosen Himmel um die Wette. Mein Kollege Patrick und ich hatten es uns auf der Außenwache bei gegrillten Steaks und Würstchen gemütlich gemacht. Im Gegensatz zur Hauptwache in der Stadt, wo rund um die Uhr ein Einsatz auf den anderen folgte, ging es hier draußen auf dem Land noch recht beschaulich zu. Man hatte am Wochenende zwar 24 Stunden Dienst, war aber lediglich zu zweit auf der Wache und konnte sich hier, natürlich nur mit dem richtigen Kollegen vorausgesetzt, wirklich gut die Zeit vertreiben. Gemeinsam etwas kochen, grillen, chillen, Filme anschauen, ein Nickerchen machen oder sogar Damenbesuch empfangen war dann alles und fernab der Kontrolle durch die Obrigkeit möglich.

»Ring«, ging plötzlich das giftgrüne Einsatztelefon und beendete abrupt unsere kleine Grillparty. »Schwerer VU (Verkehrsunfall) auf der L113, Notarzt kommt auch«, meldete uns die Rettungsleitstelle.

Wir fuhren los und erreichten nach circa fünf Minuten den Einsatzort. In einer scharfen Rechtskurve war ein Personenwagen auf freier Strecke geradeaus in ein hochstehendes Maisfeld gerast. Das Auto hatte dabei eine rund 100 Meter lange Schneise in das Feld gepflügt. Es sah so aus, als wäre ein Mähdrescher einmal vor und den gleichen Weg wieder zurück gefahren. Mehrere Ersthelfer befanden sich bereits vor Ort und einer von ihnen empfing uns mit den Worten: »Ich glaub‘, der ist schon tot!« Am Ende der Schneise lag ein ziemlich neuer 3er-BMW auf der Fahrerseite. Die Scheinwerfer waren noch eingeschaltet und warfen ein gespenstisches Licht in das umliegende Maisfeld. Die total verbogenen und bizarr abstehenden Scheibenwischer bewegten sich mit quietschenden Geräuschen völlig sinnlos hin und her. Auf dem mir zugewandten und eingedrückten Autodach sah ich merkwürdige Spuren, als hätte jemand einen matschigen Kürbis dagegen geworfen. Im Autoradio lief gerade ›SOS‹ von ABBA, als ich mit einer Taschenlampe in das Fahrzeuginnere hineinleuchtete. Es war leer!

»Da ist ja gar keiner drin!«, sagte ich überrascht.

»Nö, der liegt da hinterm Auto!«, erwiderte einer der Umstehenden.

Ich ging also um das auf der Seite liegende Fahrzeug herum und sah, als ich mit der Taschenlampe nach unten leuchtete, einen menschlichen Körper, der circa 15 cm Tief und mit dem Gesicht nach unten in den weichen Ackerboden gedrückt worden war. Es handelte sich dabei um einen Mann und offenbar um den Fahrer des verunglückten BMW. Am Hinterkopf des Mannes befand sich ein großes klaffendes halbmondförmiges Loch. Ich leuchtete mit der Taschenlampe in den Spalt hinein und stellte fest: Der Kopf war hohl! Hier kam offensichtlich jede Hilfe zu spät. Über Funk meldete ich unserer Zentrale: »Leitstelle für 3/83/1. Notarzt kann langsam machen. Patient ist definitiv Ex! Keine weiteren Verletzten!«

»Verstanden 3/83/1«, bekam ich zur Antwort. Da es für uns keinen Patienten zu versorgen gab und die Unfallstelle bereits gesichert worden war, hatten wir im Moment nicht allzu viel zu tun. Nach einer Weile trafen die Polizei und der Notarzt ein. Während wir gerade dabei waren, die Leiche zu untersuchen, meldete plötzlich ein Polizist, dass der verunglückte Wagen wegen Fahrerflucht zur Fahndung ausgeschrieben sei. Jetzt wurde es auf einmal spannend. Offenbar hatte unser ›Patient‹ bei einem Weinfest im Nachbardorf ein geparktes Auto gerammt und sich dann aus dem Staub gemacht. Augenzeugen des Vorfalls nahmen daraufhin die Verfolgung des Fahrerflüchtigen auf und im Rahmen einer wilden Verfolgungsjagd über kurvige Landstraßen und durch mehrere geschlossene Ortschaften hindurch, machte unser ›Kunde‹ schließlich einen Freiflug in die Botanik.

Aus Angst vor möglichen Konsequenzen begingen die Verfolger nun ebenfalls Fahrerflucht, ohne sich weiter um den Verunfallten zu kümmern. Der BMW hatte sich mehrmals im Maisfeld überschlagen. Da der Fahrer offenbar nicht angeschnallt gewesen war, wurde er wie ein Wäschestück in der Waschmaschine herumgeschleudert. Dabei geriet er dann wohl mit seinem Oberkörper durch das offene stehende Fenster der Beifahrertür und blieb dort in Hüfthöhe im Rahmen der Scheibe stecken. Nun drehte er sich also mit dem sich weiter überschlagenden Auto mit, was natürlich verheerende Folgen für ihn hatte. Sein Kopf geriet dadurch mehrmals zwischen Erde und Autodach, was wiederum zu einer sogenannten Dezerebration führte. Das Gehirn des Mannes wurde dabei nach dem Prinzip des Eierausblasens aus dem Schädel gedrückt. Doch wo war es geblieben? Der Kopf des toten BMW Fahrers war so leer wie ein ausgehöhlter Halloween Kürbis.

In der Zwischenzeit hatten sich noch andere angebliche Augenzeugen gemeldet und berichteten, es hätten sich noch weitere Insassen im Fahrzeug befunden. Wenn ja, wo waren diese nun? Fragen über Fragen, auf die es im Moment noch keine Antwort gab.

Die freiwillige Feuerwehr rückte an, um das Maisfeld nach weiteren möglichen Verletzten zu durchsuchen. Mann für Mann verschwand im hohen Mais.

Es war kaum eine Minute vergangen, da hörte man plötzlich eine männliche Stimme ganz fürchterlich fluchen: »Bäh, was für eine gottverdammte Sauerei ist das hier? Pfui Teufel!«

Einer der Feuerwehrleute war im Maisfeld auf irgendetwas Glitschiges getreten, ausgerutscht und hingefallen. Er hatte das vermisste Hirn gefunden! Wie eine übergroße geschälte Walnuss lag es auf der Erde und glänzte im fahlen Licht des Mondes. Die Suche nach weiteren Verletzten blieb ohne Ergebnis und wurde schließlich abgebrochen. Vermutlich hatten sich die ebenfalls alkoholisierten Augenzeugen geirrt. Thomas, unser Notarzt, war gerade dabei, den Leichenschein für den getöteten BMW Fahrer auszufüllen, als er plötzlich zu mir gewandt meinte: »Hey Horst. Du bist doch auch so ein BMW Fahrer, oder?«

»Ja, wieso?«, fragte ich zurück.

»Sind die alle so hirnlos?«, wollte Thomas wissen.

Hahaha, was haben wir gelacht! Die Polizei bat uns anschließend, sie noch zur Ehefrau des tödlich verunglückten zu begleiten, um dieser die Nachricht vom tragischen Tod ihres Mannes zu überbringen. Keine schöne Aufgabe. Da man nie wissen konnte, wie Angehörige auf eine solche Nachricht reagieren, war es sicher kein Schaden, wenn ein Rettungsteam mit Notarzt anwesend war, um ihr bei Bedarf ein Beruhigungsmittel zu verabreichen.

Vor der Tür des kleinen Reihenhauses lag noch ein Kinderfahrrad, als wir dort ankamen. Wir vergewisserten uns noch einmal, dass wir auch wirklich an der richtigen Adresse waren. Nichts wäre peinlicher gewesen, als eine solche Todesnachricht den falschen Angehörigen zu übermitteln. Die Frau schrie ihren Schmerz laut in die Nacht hinaus, als ihr ein Polizeibeamter die Nachricht vom Unfalltod ihres Mannes mitteilte. Unser Notarzt spritzte ihr daraufhin ein starkes Beruhigungsmittel und wir organisierten die Nachbarschaft und einen Seelsorger, die sich nun weiter um die Arme kümmerten. Für uns war der Einsatz damit beendet und wir rückten wieder in unsere Wache ein.

Patrick und ich machten uns genüsslich über die restlichen Steaks und Würstchen her und für den Rest der Nacht blieb es ruhig. Zu keiner Zeit hatte ich das Gefühl gehabt, dass mich dieser Einsatz in irgendeiner Art und Weise besonders belastet oder gar mitgenommen hätte. Ganz im Gegenteil, ich fand ihn spannend und sehr außergewöhnlich.