Man wird nicht jünger durch den Scheiss! - Horst Heckendorn - E-Book

Man wird nicht jünger durch den Scheiss! E-Book

Horst Heckendorn

4,8

Beschreibung

Der Wahnsinn geht weiter! Nach dem sensationellen Erfolg seines Erstlingswerks: "Ich bin zu alt für diese Scheisse!" entführt uns Notfallsanitäter Horst Heckendorn erneut in die bizarre Welt des Rettungsdienstes. In der Fortsetzung seiner Memoiren aus rund dreissig Jahren Notfallrettung geht es wieder schonungslos, aber mit dem gewohnt rabenschwarzen Humor zur Sache. Begleiten Sie den Autor bei seinen Streifzügen durch die Abgründe der menschlichen Zivilisation und seien Sie auch dieses Mal wieder hautnah mit dabei, wenn es heisst: Kotze, Kacke, Kakerlaken...

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Inhalt

Vorwort

Das erste Mal

Der mit dem Golf tanzt

Diva

Tod in der Schweinebucht

Sauer aufgestoßen

Promibonus oder Alle Menschen sind gleichnur manche sind gleicher

Einmal Hölle und zurück

Mamas Liebling

Mongo Express

Kotzerama

Manta, Manta

Petri Heil

Blut ist dicker als Wein

Sprunghaft

Führungsstilblüten

Festakt

Entartete Kunst

Bauch, Beine, Po

Der erste Tag oder die vorletzte Ölung

Rosamunde

Waschen , Schneiden, Sterben

Onanie, Onamanchmal, Onaoft

Den Mund zu voll genommen

Suizid a la Surprise

Morphium am Morgen, vertreibt Kummer und Sorgen

Feuertaufe

Don‘t do it yourself

Verflixt und zugenäht

Tristan und Isolde

Deformation Professionelle

Schneegestöber

Ins Auge gegangen

Aus der Haut gefahren

Euro 2008

Völkerschlacht

Knäckebrot macht Wangen rot

Sorgenbus

Ein Näschen zu viel

Hampelmann oder Drama-Queen?

Verblasster Ruhm oder Alt werden ist Scheiße!

Wie kommt Scheiße ins Hirn

Hochzeitstag

Idiokratie oder Planet der Affen

Taxi in den Tod

Donnerstag

Nachwort

Danksagung

Vorwort

Liebe Freunde der gepflegten Literatur,

niemals im Leben hätte ich davon zu träumen gewagt, dass mein Erstlingswerk: »Ich bin zu alt für diese Scheiße!«, ein solcher Erfolg werden würde. Die unglaublich vielen positiven Reaktionen auf mein Buch haben mich tief berührt und sehr bewegt. Der Wunsch meiner zahlreichen Leser nach einer Fortsetzung war mir natürlich Ansporn und Verpflichtung zugleich, den ersten Band nach Möglichkeit sogar noch zu toppen.

Seit dem Erscheinen meiner Memoiren aus 25 Jahren Rettungsdiensttätigkeit hat sich mein Leben radikal verändert. Ich arbeite zwar immer noch hauptberuflich im Rettungsdienst, werde jetzt aber häufig auf mein Buch angesprochen. Das sorgt zuweilen bei so manchem Notfalleinsatz für ziemlich groteske Situationen. So ist es schon mehr als merkwürdig, wenn man zum Beispiel während der Patientenversorgung von diesem um ein Autogramm gebeten wird oder beim Verlassen einer amerikanischen Burger-Brutzel-Kette um ein Selfie. Nicht minder ungewöhnlich ist es, frühmorgens und auf nüchternen Magen die eigene Stimme aus dem Radio zu hören oder sein eigenes Konterfei in irgendeiner Zeitung wiederzufinden. An dieser Stelle muss ich jedoch all jene enttäuschen, die in der irrigen Annahme leben, ich sei ja jetzt wohl Millionär und die Groupies würden bei mir Schlange stehen. Dem ist bei Weitem nicht so. Aber ich möchte mich hier bestimmt nicht beklagen, sondern einmal von ganzem Herzen »Danke« sagen! Ich hoffe natürlich inständig, dass Ihnen meine neuen Geschichten genauso gut gefallen, und selbstverständlich gilt auch für die Fortsetzung, dass alles, was sie hier lesen, sich tatsächlich so zugetragen hat.

Namen und Orte sind zwar immer noch Schall und Rauch, jedoch ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder gar toten Personen pure Absicht, wenn auch ganz bestimmt nicht böse gemeint. Abgesehen davon ist jeder ab einem gewissen Alter für sein Tun und Treiben selbst verantwortlich. Da ich jetzt einfach mal davon ausgehe, dass die meisten von Ihnen ohnehin Wiederholungstäter sind und daher den ersten Band bereits bestens kennen, verzichte ich auf eine tiefer gehende Einführung der beteiligten Protagonisten sowie auf weitere Gebrauchsanleitungen jeglicher Art.

Auf Wunsch einiger Leser habe ich mich diesmal bemüht, die neuen Geschichten chronologisch zu erzählen. Aus meiner Sicht ergibt das zwar keinen Sinn, weil jede Geschichte für sich allein steht und immer einen Anfang und ein Ende hat, aber bei mir ist der Leser König und so war mir euer Wunsch natürlich Befehl. Das war es dann aber auch schon mit neuen Gags und Gimmicks. Ansonsten bleibt alles wie gehabt. Deshalb seien auch alle anderen, die meine Kurzgeschichten aus dem Krankenwagen vielleicht doch noch nicht kennen, hier und jetzt gewarnt: Es erwartet sie ein ziemlich deftiges Intermezzo menschlicher und zivilisatorischer Abgründe, gepaart mit einer zuweilen recht derben und direkten Sprache. Hier bekommen Sie eben noch ungeschönte Geschichten serviert, wie sie nur das Leben selbst schreibt. Selten gibt es ein Happy End und so manches Mal fehlen einem fast die Worte ...

Ich wünsche Ihnen trotzdem viel Spaß beim Lesen!

Ihr Horst Heckendorn

1

Das erste Mal

1988. Meine rettungsdienstliche Entjungferung erlebte ich an einem verregneten Sonntagnachmittag im Spätsommer dieses Jahres. Ich war erst seit Kurzem Zivildienstleistender im Rettungsdienst und Krankentransport einer süddeutschen Großstadt und gerade aus dem Rettungshelferlehrgang zurückgekehrt. Frisch von der Rettungsdienstschule brannte ich natürlich darauf, mein neu erworbenes Wissen endlich anzuwenden und fieberte daher jedem Notfalleinsatz aufgeregt und mit pochendem Herzen entgegen.

Es war schon später Nachmittag als mein Kollege und ich zu einer bewusstlosen Person gerufen wurden. Wir betraten mit unserer Notfallausrüstung die Wohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses und fanden einen circa 60-jährigen Mann im Wohnzimmer auf dem Sofa liegend vor. Er trug einen dieser glänzenden Trainingsanzüge, wie sie Ende der achtziger Jahre schwer in Mode waren. Das Gesicht des Mannes war dunkelviolett angelaufen und passte somit hervorragend zur Farbe des fallschirmseidenen Freizeitanzugs. Während er mit der rechten Hand noch immer die Fernbedienung des riesigen Röhrenfernsehers fest umklammert hielt, steckte die linke nur noch schlaff und träge in einer Tüte mit Kartoffelchips. Offenbar hatte unser Patient aus heiterem Himmel während der Sportschau einen Herz-Kreislaufstillstand erlitten. Im Moment gab er jedenfalls keine Lebenszeichen mehr von sich.

»Mist, Reanimation«, murmelte mein Kollege, nachdem er vergeblich versucht hatte, an der Halsschlagader des Mannes den Puls zu tasten. Über das Handfunkgerät forderte er den Notarzt nach, während ich mit einer kleinen Taschenlampe in die Augen des leblosen Mannes hinein leuchtete. Seine Pupillen waren weit geöffnet und reagierten überhaupt nicht auf das einfallende Licht.

»Schnell, wir müssen ihn auf den Boden legen!«, wies mich mein Kollege an. Gemeinsam schoben wir den schweren Wohnzimmertisch in Eiche rustikal zur Seite und hievten den leblosen Körper vom Sofa hinunter auf den harten Fußboden. Ich öffnete den Reißverschluss seines Trainingsanzugs und begann auf der behaarten Brust mit der Herzdruckmassage, während mein Kollege die Klebeelektroden des EKG-Monitors darauf befestigte. Das Elektrokardiogramm zeigte auf dem nur briefmarkengroßen grünen Bildschirm eine wellenförmige feine Linie und nicht wie bei einem normal schlagenden Herzen üblich, spitze Zacken. Das war ein sicheres Indiz für ein sogenanntes Kammerflimmern. In dieser Phase des Herzstillstands zuckt der Pumpmuskel nur noch wie ein Wackelpudding sinnlos vor sich hin. Mit anderen Worten: Das mehr oder weniger elektrisch betriebene Herz lebt zwar noch, pumpt aber kein Blut mehr durch den Körper. Mit etwas Glück konnte man nun das völlig unkoordiniert zuckende Herz mit einem gezielten Stromschlag von außen wieder in eine geordnete Schlagfolge bringen. Das ganze Prozedere ließ sich am ehesten mit der Starthilfe bei einer leeren Autobatterie vergleichen. Mit einem Einwegrasierer entfernte ich jetzt rasch die Brusthaare des Patienten. Gleichzeitig trug mein Kollege aus einer Tube mit einer Art Gleitgel einen haselnussgroßen Klecks auf die beiden silbrig glänzenden Elektroden des Defibrillators auf. Anschließend rieb er die beiden Enden gegeneinander und verteilte so den Gleitfilm gleichmäßig über die ganze Fläche. Durch das Gel wurde der elektrische Widerstand der Haut gesenkt und gleichzeitig ein Verbrutzeln der Brusthaare verhindert. Andernfalls würde sonst der Stromfluss den Brustpelz unseres Patienten versengen, was wiederum zu hässlichem Funkenflug und einer gewissen Geruchsbelästigung führen würde. Außerdem würde ohne das Gel der potenziell lebensrettende Stromschlag von der Dicke der Haut abgeschwächt werden und so das gewünschte Endergebnis massiv beeinträchtigen. Das musste unter allen Umständen verhindert werden. Mein Kollege lud nun den Defibrillator auf 200 Joule hoch und setzte die beiden Griffe des Elektroschockapparates direkt ober und unterhalb des Herzens auf die Brust des klinisch toten Mannes auf. Es sah fast so aus, als würde er ihm zwei Bügeleisen auf den Brustkorb drücken. Ein schnell ansteigender schriller Pieps-Ton signalisierte den Ladezustand des Gerätes.

»Achtung, weg vom Patient!«, rief mein Kollege und drückte dabei gleichzeitig auf die beiden roten Auslöseknöpfe. Diese Warnung war von elementarer Wichtigkeit, da man sich sonst unter Umständen mit dem Patienten solidarisch erklärt und ebenfalls mitgezappelt hätte. Der Körper des Patienten bäumte sich kurz auf, als der Strom durch ihn hindurchfloss. Für einen kurzen Moment zuckte und schüttelte er sich und fiel danach wieder schlaff und träge in sich zusammen. Trotz meiner vorangegangenen Brusthaarrasur roch es jetzt nach versengten Haaren. Wie gebannt, starrten mein Kollege und ich auf den EKG-Monitor. »Piep ... Piep ... Piep ... Piep.« Tatsächlich zeigte sich jetzt wieder ein normaler und regelmäßiger Herzschlag. Ich tastete den Puls des Mannes und spürte ein kräftiges Pochen an seiner Halsschlagader. Super! Wir hatten ihn wieder. Nach ein paar zusätzlichen Atemstößen mit dem Beatmungsbeutel setzte auch die Atmung des Patienten wieder ein. Just in diesem Moment erschien endlich auch der Notarzt auf der Bildfläche und fand jetzt einen wiederbelebten Patienten mit stabilem Puls und ausreichender Spontanatmung vor.

»Jungs, das habt ihr prima gemacht!«, lobte er uns. Mit einem speziellen Tragetuch schleppten wir anschließend den Patienten durch das enge Treppenhaus hinunter in den Rettungswagen. Ohne weitere Komplikationen fuhren wir ihn direkt in die Notaufnahme der Universitätsklinik.

Der Mann war zwar immer noch bewusstlos, aber er lebte und ich war stolz wie Oscar. Meine allererste Reanimation und dann auch noch gleich erfolgreich! Was war das doch für ein tolles Gefühl, einfach mal eben so einem Menschen das Leben gerettet zu haben. Klasse! Ich war völlig aus dem Häuschen.

»Na, na, na, jetzt krieg dich mal wieder ein!«, versuchte mich mein Kollege zu bremsen. »Die erste Reanimation ist wie der erste Sex. Das erste Mal vergisst du nie, da ist alles noch völlig neu, spannend und aufregend. Doch bevor du überhaupt richtig weißt, was los ist, ist es auch schon wieder vorbei. Aber mit der Zeit wird das dann alles zur Routine, und am Ende ist es dann immer wieder dasselbe: Rein – raus, rein – raus, fertig ist der Klaus!« Dabei bewegte er seine Hände rhythmisch auf und ab und tat so, als würde er gerade eine Herzdruckmassage durchführen. »Glaub jetzt ja nicht, dass du immer gewinnst«, fuhr er fort. »In Wirklichkeit schaffen es nämlich nur die allerwenigsten, vielleicht einer von zehn. Die andern kratzen alle ab!« Dabei schlug er wie ein Priester mit der rechten Hand ein Kreuz in die Luft, als würde er den Segen spenden.

Ich ließ mich jedoch von den nüchternen und abgeklärten Ausführungen meines alten und erfahrenen Kollegen nicht beirren. Jung, naiv und noch völlig unbefleckt, wie ich war, glaubte ich doch allen Ernstes, der wiederbelebte Mann würde schon bald in den Kreis seiner Familie zurückkehren und sein ganz normales Leben weiterführen können.

Am nächsten Tag wollte ich ihn in der Uniklinik besuchen. Mich interessierte einfach brennend, wie es ihm wohl ginge und ob er sich womöglich noch an irgendetwas erinnern konnte. Ich drückte auf den Klingelknopf zur hermetisch von der Außenwelt abgeschotteten Intensivstation und wartete darauf, bis mir eine Krankenschwester die Tür öffnete.

»Ja, bitte?«, fragte sie mich.

»Hallo, ich bin vom Rettungsdienst und wollte mich einfach mal erkundigen, wie es Herrn Schmidt geht, den wir gestern hier eingeliefert haben?«

»Ach ja, jetzt erkenn’ ich dich wieder!«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Du, eigentlich völlig unverändert, aber komm doch rein und schau selbst!«, ermunterte sie mich.

Ich folgte Ihrer freundlichen Aufforderung und betrat mit klopfendem Herzen und feuchten Händen die Intensivstation. Gleich würde ich Herrn Schmidt gegenübertreten und ihn nach seinem Befinden fragen können. Wie unendlich dumm und naiv ich doch war. Dann sah ich ihn da liegen. Herr Schmidt war weiterhin im Koma und wurde künstlich beatmet. Überall waren Schläuche und Kabel angeschlossen und ein halbes Dutzend vollautomatischer Spritzenpumpen, sogenannte Perfusoren, pumpten permanent irgendwelche Medikamente in ihn hinein. Plötzlich und ohne Vorwarnung begann er am ganzen Körper zu zittern und zu zucken. Sein Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse und lief dunkelblau an. Er bäumte sich wie wild auf und sämtliche Geräte um ihn herum blinkten und hupten wie verrückt. Was war denn jetzt los? Ich verstand mal wieder nur Bahnhof. Für einen kurzen Moment brach Hektik aus.

»Er krampft wieder!«, rief eine Schwester. Ein Arzt verabreichte ihm daraufhin ein krampflösendes Medikament, worauf sich sein Zustand rasch wieder beruhigte.

»Was war denn das?«, fragte ich die Schwester erschrocken.

»Naja, sein Gehirn war zu lange ohne Sauerstoff«, klärte sie mich auf. »Deshalb hat er jetzt einen hypoxischen Hirnschaden und macht alle paar Minuten einen Krampfanfall.«

»Aha«, antwortete ich erstaunt. »Wird das denn irgendwann mal wieder besser?«, hakte ich neugierig nach.

»Nö, wird es nicht!«, mischte sich jetzt ungefragt ein Arzt in unser Gespräch ein. »Das bleibt so! Ein neuer Kandidat fürs Pflegeheim, falls er überhaupt so lange durchhält und keinen Infekt bekommt. Warst du bei der Reanimation dabei?«, wollte er jetzt von mir wissen und musterte mich dabei abschätzig von oben bis unten.

»Ja, das war mein erstes Mal«, antwortete ich kleinlaut.

»Na dann, herzlichen Glückwunsch!«, sagte der Arzt spöttisch und klopfte mir dabei auf die Schulter. Danach drehte er sich lachend um und ließ mich einfach stehen.

Da stand ich nun wie ein begossener Pudel und wusste nicht so recht, ob ich lachen oder weinen sollte. Das hatte ich mir irgendwie ganz anders vorgestellt. Meine anfängliche Euphorie war mit einem Schlag verflogen. Was hatten wir getan? Herr Schmidt war nur noch ein künstlich am Leben erhaltener Zellhaufen – ohne Sinn und Verstand. Mit Leben im eigentlichen Sinne hatte das nicht mehr viel zu tun. Er verstarb schließlich zwei Wochen später an den Folgen einer Lungenentzündung, ohne das Bewusstsein noch einmal erlangt zu haben. Heute, mit dem Abstand von immerhin 28 Jahren Berufserfahrung und unzähligen Reanimationen später, kann ich über meine damalige jugendliche Naivität nur noch lachen und selbst mit dem Kopf schütteln. Natürlich gab es in meiner langjährigen Rettungsdienstkarriere auch einige Fälle, die nach einem Herz-Kreislaufstillstand tatsächlich erfolgreich und ohne bleibende Schäden wiederbelebt wurden. Das gelang aber nur, weil wir innerhalb kürzester Zeit vor Ort waren und couragierte Menschen sofort und ohne lange zu zögern mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung (HLW) begonnen haben. Schon drei Minuten ohne Sauerstoff reichen aus, um das menschliche Gehirn irreparabel zu schädigen. Innerhalb dieser kurzen Frist vor Ort zu sein, schafft der Rettungsdienst in den allerseltensten Fällen. Deshalb liegt es buchstäblich ganz allein in Ihren Händen, ob ein Mensch überlebt oder stirbt. Sie als Ersthelfer entscheiden darüber, ob er sein Leben weiterleben darf oder sein Dasein als sabberndes Gemüse in einer Langzeitpflegeeinrichtung beendet. Wann haben Sie zuletzt einen Kurs in Erste Hilfe oder Herz-Lungen-Wiederbelebung besucht? Denken Sie einmal gründlich darüber nach, denn es gibt immer ein erstes Mal.

2

Der mit dem Golf tanzt

1988. Als einfaches Landei war ich mit meinen knapp 22 Jahren von den vielen neuen Eindrücken total überwältigt, die sich mir als Zivildienstleistender im Rettungsdienst und Krankentransport einer süddeutschen Großstadt boten. Ich fand das alles wahnsinnig spannend und fieberte daher jedem Einsatz aufgeregt entgegen. Meistens konnte ich es kaum erwarten, endlich wieder mit Blaulicht und Tatütata einem neuen Abenteuer zu begegnen. Dass meine Vorfreude auf den nächsten Einsatz häufig mit dem Leid und dem Elend anderer Menschen verbunden war, blendete ich in meiner jugendlichen Naivität völlig aus. Ich wollte etwas erleben und nicht bloß untätig auf der Rettungswache herumsitzen. Wie schon so oft sollte ich auch dieses Mal nicht enttäuscht werden.

Langsam wurde es Herbst und die Tage schienen schon kürzer und kürzer zu werden. Auf den Straßen sammelte sich bereits das erste bunte Laub von den Bäumen und am Abend ergoss sich ein heftiger aber kurzer Regenschauer über der Stadt. Heute sollte ich meinen ersten Nachtdienst als sogenannter dritter Mann auf dem Rettungswagen antreten. Doch mein vermeintlicher Welpenschutz war mit einem Schlag beendet. Ein Kollege war plötzlich erkrankt, und so wurde ich mangels adäquaten Ersatzes von jetzt auf gleich zum zweiten Mann auf dem RTW befördert. Nun war endgültig Schluss mit lustig. Deswegen war ich natürlich noch aufgeregter als sonst.

»Bim ... Bim ... Bim ... Bim«, ertönte auch schon der ansteigende Notfallgong aus der Rufanlage der riesigen Rettungswache. »Besatzung 1/83/2, Notfalleinsatz Hexentalstraße«, krächzte die Stimme aus dem Lautsprecher. Peter, mein hauptamtlicher Partner in dieser Nacht, und ich, hechteten hinunter in die Wagenhalle zu unserem Rettungswagen und fuhren los. Über Funk bekamen wir von der Leitstelle weitere Informationen zu unserem Einsatzort mitgeteilt. Der Kollege meldete uns einen schweren Verkehrsunfall mit mehreren Verletzten und eingeklemmten Personen. Vor lauter Aufregung schlug mir mein Herz bis zum Hals. Jetzt wurde es also ernst.

Wir waren nahezu zeitgleich mit weiteren Einsatzkräften von Rettungsdienst, Polizei und Feuerwehr alarmiert worden und erreichten nun als zweiter RTW den Unfallort. Dieser lag quasi am anderen Ende der Stadt und damit eigentlich außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs. Hier war »Malti Town«, die Hochburg des Malteser Hilfsdienstes.

»Scheiße!«, entfuhr es Peter beim Anblick der Unfallstelle. Ein mächtig aufgemotzter und tiefergelegter VW-Golf GTI hatte sich offenbar ungebremst in die Hauswand einer Kneipe gebohrt und bot jetzt einen ziemlich erbarmungswürdigen Anblick. Der junge und im wahrsten Sinne des Wortes unerfahrene Lenker des PS-starken Boliden hatte vermutlich in einem Anfall von postpubertärem Balzverhalten auf der mit nassem Laub bedeckten Fahrbahn die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren und war dann volle Kanne in die Hauswand gekracht. Durch die Wucht des Aufpralls waren sogar große Teile der Außenfassade abgebröckelt. Aus dem völlig demolierten Blechknäuel drangen gellende Schmerzensschreie und leises Wimmern.

Die Besatzung des zuerst am Unfallort eingetroffenen Rettungswagens hatte sich bereits einen Überblick über die Situation verschafft und war nun damit beschäftigt, die Unfallstelle abzusichern. Aus der Ferne waren schon weitere Martinshörner zu hören, deren Lautstärke aus verschiedenen Richtungen kommend stetig zunahm.

»Wie sieht`s aus?«, wollte Peter von einem Besatzungsmitglied des anderen RTW wissen. Dieser hatte als ersteintreffender Rettungssanitäter automatisch die Einsatzleitung inne.

»Voll besetzter Golf, vier junge Leute drin, zwei Jungs, zwei Mädels, alle eingeklemmt, vermutlich alle Polytrauma. Notarzt, Feuerwehr, Polizei und zwei weitere RTW sind auf dem Weg, mehr weiß ich auch noch nicht!«, keuchte der korpulente Kollege und war dabei sichtlich angespannt. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn, die sich dort nach und nach sammelten und dann in kleinen Bächen über sein Gesicht nach unten flossen.

»Gut«, meinte mein erfahrener Kollege trocken. »Solange die Löschis mit der Rettungsschere nicht da sind, können wir sowieso nicht viel machen! Lass uns doch fürs Erste einfach mal ein paar Zugänge legen, falls wir irgendwie an die Leute herankommen, okay?«, schlug er vor.

»Meinetwegen«, entgegnete der andere Rettungssanitäter und zuckte dabei nur mit den Schultern. Er schien insgeheim recht froh darüber zu sein, dass ihm jemand die Entscheidung abnahm.

Aus dem völlig verbeulten Blechhaufen ragte hie und da ein Arm oder ein Bein hervor. Also machten sich meine Kollegen jetzt daran, sogenannte Venenverweilkanülen in diese Gliedmaßen zu piken, umso wenigstens Kochsalzlösung zur Aufrechterhaltung des Blutkreislaufs in die Adern der Verletzten pumpen zu können. Mein Job als Zivi und noch völlig unbedarftes »Greenhorn« bestand nun darin, das dafür benötigte Material zusammenzustellen und beim Legen der Infusionen zu assistieren. Zu diesem Zweck hatte ich mir auf dem Gehweg, direkt neben dem Schrotthaufen, mit den beiden Notfallkoffern eine Art Arbeitsplatz eingerichtet und steckte nun eine Infusion nach der anderen zusammen. Mittlerweile waren auch noch zwei weitere Rettungswagen, zwei Notärzte sowie Polizei und Feuerwehr am Unfallort eingetroffen, und ein speziell dafür ausgebildeter Einsatzleiter übernahm die Koordination der Rettungsmaßnahmen vor Ort. Jedes Glied dieser sogenannten Rettungskette war an seinem Platz und wusste, was es zu tun hatte.

Das beeindruckende Ensemble aus blinkenden blauen Lichtern wurde vom nassen Asphalt und den umliegenden weißen Häuserwänden zigfach verstärkt zurückgeworfen. Diese Lightshow lockte nun natürlich eine ganze Heerschar von Schaulustigen an. Die Gäste der voll besetzten Kneipe waren von dem lauten Knall ebenfalls aufgeschreckt worden und versammelten sich nun gemeinsam mit zahlreichen anderen Gaffern auf der Straße. Einige hatten sogar ihr Bierchen mit nach draußen genommen und kommentierten nun pseudofachmännisch das Geschehen:

»Der isch sicher gfahre wie ä Wildsau«, meinte einer der Gaffer mit glasigem Blick.

»Des gschieht em ganz rächt«, lallte ein anderer.

»Immer die junge Seicher, suffe könnes nitt und fahre könnes au nitt«, fügte ein dritter Glotzer hinzu.

Daraufhin genehmigten sie sich erst einmal einen herzhaften Schluck aus dem Bierglas.

Ich stand derweil mit zwei Infusionsflaschen in der Hand daneben und schüttelte nur noch ungläubig den Kopf. »So viel versammelter Schwachsinn auf einem Haufen!«, murmelte ich leise vor mich hin.

Die Kollegen von der Berufsfeuerwehr machten sich jetzt daran, die vier schwer verletzten jungen Leute mit schwerem Gerät aus ihrem engen Blechgefängnis zu schneiden. In der Zwischenzeit bereiteten wir vom Rettungsdienst alles für den zügigen Abtransport der Unfallopfer vor. Einer der beiden vor Ort befindlichen Notärzte hatte inzwischen jedem der eingeklemmten ein Röhrchen Blut abgenommen und wandte sich nun plötzlich an mich: »Hey du, du fährst jetzt mit dem NEF so schnell wie möglich zur Blutbank und sagst denen, sie sollen hiervon vier Kreuzproben richten, verstanden?!«

»Äh ja, alles klar!«, stammelte ich und steckte mir mit klammen und zittrigen Fingern die vier Röhrchen mit dem körperwarmen Blut der Unfallopfer in die Brusttasche meiner orangefarbenen Einsatzjacke. Der Doktor drückte mir den Schlüssel für das Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) in die Hand und bekräftigte noch einmal: »So schnell wie möglich, hast du gehört?!«

DAS musste er mir nicht zwei Mal sagen! Das NEF, ein VW-Golf GTI, war wie ein Rallyewagen mit Überrollkäfig, Sportsitzen und Hosenträgergurten ausgestattet. Mit pochendem Herzen und feuchten Fingern stieg ich ein und ließ mich langsam in die Schalensitze sinken. Ich legte die Gurte an, startete den Motor, und fühlte mich augenblicklich wie Walter Röhrl bei der Rallye Monte Carlo. Danach drückte ich einige Male das Gaspedal durch, legte den ersten Gang ein, und fuhr los. Mit quietschenden Reifen und blitzenden Blaulichtern raste ich, was die Kiste hergab, einmal quer durch die nächtliche Innenstadt. In diesem Moment hatte ich so ziemlich den geilsten Job der Welt.

Es kam fast einem Orgasmus gleich, mit Vollgas über rote Ampeln und Stoppschilder hinwegzufegen, ohne mir auch nur einen Augenblick lang der Gefahren und des hohen Risikos bewusst zu sein, das mit dieser wahnwitzigen Raserei einherging. Jung, naiv und völlig blauäugig, war ich in diesem Moment auch nicht viel besser, als der rotznäsige Golffahrer, der kurz zuvor sein Vehikel gegen die Hauswand gesetzt hatte. Mit rot glühenden Bremsen und ebensolchen Backen hielt ich wenig später vor der Blutbank an. Ich rannte in das Gebäude hinein und übergab dort meine überlebenswichtige Fracht an eine Laborantin, die nun aus den vier Blutröhrchen passende Bluttransfusionen für die schwer verletzten Unfallopfer bereitstellen konnte. Danach bretterte ich im selben halsbrecherischen Tempo wieder mit Blaulicht und Tatütata zur Unfallstelle zurück. Als ich wenige Minuten später dort ankam, waren die vier schwer verletzten jungen Leute schon auf die verschiedenen Rettungswagen verteilt worden. Alle vier waren ungefähr in meinem Alter und hatten multiple, zum Teil lebensbedrohliche Verletzungen davongetragen.

Mein neuer Auftrag lautete nun, mit dem NEF unserem Rettungswagen in die Klinik hinterherzufahren, während der Notarzt den Patienten hinten drin begleitete. Wieder ging es mit Blaulicht und Tatütata einmal quer durch die ganze Stadt. Diesmal aber im Konvoi und wesentlich langsamer und gesitteter als zuvor.

Nach der Patientenübergabe im Schockraum der Universitätsklinik hatte es unser Notarzt dann plötzlich sehr, sehr eilig. Er sprang in seinen Golf und brauste mit quietschenden Reifen davon.

»Aha! Jetzt geht der Herr Doktor sicher wieder notfallmäßig eines seiner Gschpusis beglücken«, meinte Peter mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

»Hä? Wie meinst du das?«, wollte ich von ihm wissen und verstand mal wieder nur Bahnhof.

»Na, Menschenskind, die haben doch alle ihre Geliebten über die ganze Stadt verteilt. Was glaubst du wohl, warum sich die Doks so vehement gegen NEF Fahrer wehren, he?«

»Keine Ahnung«, antwortete ich arglos.

»Na, während die Mutti zu Hause bei den Kindern sitzt und der Göttergatte vermeintlich Leben rettet, kann er so in aller Ruhe seine Damen besamen«, klärte mich mein Kollege auf.

»Echt jetzt?«, fragte ich ungläubig. Tatsächlich waren wir zu dieser Zeit wohl der einzige Rettungsdienst weit und breit, in dem die Notärzte noch selbst zum Einsatzort fuhren. Dadurch konnten sie sich natürlich völlig ungestört und jeglicher Kontrolle entzogen frei in der ganzen Stadt bewegen. Überall sonst im Land war es schon seit Jahren gängige Praxis, dass die Notärzte von sogenannten NEF-Fahrern zum Einsatzort gebracht und anschließend wieder zurück auf die Wache chauffiert wurden. Nachdem mir mein Kollege nun diesbezüglich die Augen geöffnet hatte, bemerkte ich jetzt in der Tat immer häufiger, dass manche der Notärzte ihre Gespielinnen ganz unverfroren sogar mit zum Einsatzort brachten.

Als vermeintliche Praktikantinnen getarnt, konnte man deren postkoitalen Zustand nur unschwer an den zerzausten Haaren und den glühenden Wangen feststellen. Peinlich wurde es für die meist verheirateten Akademiker dann nur, wenn das NEF die ganze Nacht über vor einer fremden Adresse im Halteverbot geparkt, oder auf der Straße aufgebrochen und ausgeraubt wurde. Letzteres kam nämlich relativ häufig vor, weil es in unserer Stadt zahlreiche Drogenabhängige gab, die es auf die im Notarztkoffer mitgeführten Betäubungsmittel abgesehen hatten. Dadurch gerieten die fremdgehenden Herren zuweilen in Erklärungsnot, was sie denn bitte sehr zu dieser nachtschlafenden Zeit vor jenem Haus zu suchen hatten, statt brav und artig in ihrem Bett im Bereitschaftsdienstzimmer zu liegen.

Mit der späteren Einführung von sogenannten Notarztwachen und festen NEF-Fahrern erlebte dieses promiskuitive Verhalten ein jähes und abruptes Ende.

Ein weiterer Vorteil dieser Maßnahme war die rapide Abnahme von Verkehrsunfällen, denn Ärzte können sicher vieles, aber eines mit Sicherheit nicht: Auto fahren! Von den drei im Einsatz befindlichen Notarzteinsatzfahrzeugen war eines garantiert immer in der Werkstatt zur Reparatur. Auch mit der akademischen Ortskenntnis im Allgemeinen und dem notärztlichen Orientierungssinn im Besonderen stand es im Vornavigationszeitalter nicht immer unbedingt zum Besten.

Da gab es zum Beispiel Frau Dr. Kirschbaum, die aber von allen nur »Kirsche« genannt wurde. Obwohl sie schon seit vielen Jahren als Notärztin in unserer Stadt tätig war, benötigte »Kirsche« stets die lotsende Hand der Leitstelle, um zum Einsatzort zu finden. Mit viel Herz und noch größerer Berliner Schnauze fuhr sie regelmäßig völlig planlos mit ihrem Notarztgolf durch die Gegend.

»Jungs, ick steh jetz hier bei dem Tor, nich det Martinstor, det andere, wie jehts denn jetz weita?«, hörte man sie oft verzweifelt funken.

Legendär ist auch ihre Aussage beim Anblick eines jungen Autofahrers, der mit seinem (Sie ahnen es bereits) VW-Golf GTI bei strömendem Regen von der Fahrbahn abgekommen war und nun kopfüber im Straßengraben lag. Der junge Golffahrer hing blutüberströmt und völlig verdreckt in seinen Hosenträgergurten fest und »Kirsche« meinte nur angesichts des desolaten Zustands des Patienten: »Mann, sehn Sie beschissen aus!«

Wenn Ärzte Auto fahren ...

3

Diva

1988. Meinen allerersten Kontakt mit Frau König hatte ich an einem bitterkalten Montagmorgen in aller Herrgottsfrüh. Ich war erst seit Kurzem Zivildienstleistender im Rettungsdienst und fuhr noch als Praktikant und sogenannter dritter Mann auf dem RTW mit. Frau König hingegen, war so etwas wie eine Stammkundin von uns und wurde schon seit vielen Jahren drei Mal wöchentlich zur Blutwäsche in ein Dialysezentrum gefahren. In ihren nierenkranken Kreisen genoss Frau König eine Art Sonderstatus, denn zu diesem Zeitpunkt war sie die wohl weltweit älteste, noch am Leben befindliche, Dialysepatientin überhaupt. Bislang hatte noch kein einziger Mensch vor ihr diese regelmäßig stattfindende Blutwäsche Prozedur so lange durchgehalten wie Sie. Diesem bemerkenswerten Umstand verdankte sie nun eine gewisse Popularität und war daher vor allem in Medizinerkreisen eine kleine Sensation geworden. Ärzte, aus aller Welt interessierten sich für Sie und ihr Gebrechen. So war sie bereits schon öfter Gegenstand von zahlreichen Publikationen in einschlägigen Fachmagazinen und wissenschaftlichen Gazetten gewesen, und auch so manchen Ärztekongress hatte Frau König schon mit ihrer puren Anwesenheit geadelt. Leider war ihr dieser Rummel um ihre Person etwas zu Kopf gestiegen, sodass Frau König mittlerweile Starallüren an den Tag legte, die jeder Hollywood-Diva zur Ehre gereicht hätten.

Jeden Montag, Mittwoch und Freitag spielte sich nun ein immer wiederkehrendes Ritual ab, das wahrscheinlich ebenfalls weltweit seinesgleichen suchte. Im Haus von Frau König herrschte peinlichste Sauberkeit. Dafür sorgte ihr treu ergebener Ehemann Hans. So durfte man dieses zum Beispiel erst dann betreten, nachdem man sich zuvor die Schuhe ausgezogen hatte. Diese Regel galt selbstverständlich und ausnahmslos auch für die Mitarbeiter von Rettungsdienst und Krankentransport. Anschließend war es einem dann nur noch gestattet, sich auf Zehenspitzen und möglichst lautlos fortzubewegen. Geräusche jeglicher Art waren zu unterlassen und Gespräche auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Wer es dennoch einmal wagte, etwas lauter zu sprechen oder gar aus Unachtsamkeit in der engen und mit zahllosem Nippes und Porzellanpuppen vollgestellten Wohnung irgendwo dagegen stieß, zog sich sofort den heftigen Unwillen von Frau König zu. Dies galt es daher mit allen Mitteln und unter allen Umständen zu vermeiden, da sonst postwendend eine schriftliche oder gar telefonische Beschwerde bei der Geschäftsleitung drohte. Frau König, teilte ihren Unmut aber nicht persönlich mit, sondern ließ dies stets durch ihren devoten Ehemann Hans geschehen.

Hans war abgerichtet und dressiert, wie ein kleines Schoßhündchen, und gehorchte seinem Frauchen aufs Wort. Dabei machte Frau König ihrem Namen alle Ehre und residierte tatsächlich wie eine Majestät von ihrem stets abgedunkelten Schlafzimmer heraus. Vom Bett aus dirigierte und kommandierte sie alles und jeden um sich herum. Sie erhob jedoch nie ihre Stimme, sondern kommunizierte ausschließlich im Flüsterton mit ihrer Umwelt.

Um sie zu verstehen, musste man sich quasi zu ihr herabbeugen. So ließ sie sich von früh bis spät bedienen. Zu diesem Zweck hatte sie eigens eine Trillerpfeife auf dem Nachtisch liegen, mit der sie ihren Mann jederzeit zu sich her zitieren konnte, und Hans, tanzte buchstäblich nach ihrer Pfeife.

Frau König war klein und zierlich und hatte, wie alle Dialysepatienten, einen bronzefarbenen Teint. Um mit der Zeit nicht wund zu liegen, saß sie den ganzen Tag über auf einem luftgepolsterten Gummiring, wie die sprichwörtliche Prinzessin auf der Erbse. Bevor wir sie geradezu mit Samthandschuhen, anfassen durften, um sie auf die Trage zu legen, musste Hans zuerst immer noch den Gummiring richtig platzieren.

»Hans, der Ring«, waren die einzigen, laut gesprochenen Worte von Frau König, die ich in all den Jahren von ihr zu hören bekam. Gleichzeitig waren diese drei Worte der Startschuss für ein nicht enden wollendes Prozedere. Als »Herr der Ringe«, gab Hans buchstäblich alles, um seine anspruchsvolle Gattin zufriedenzustellen. Doch zuallererst mussten wir sie auf Kommando ganz vorsichtig anheben, damit Hans den Gummiring unter ihrem Allerwertesten hervorziehen und auf unserer Trage neu justieren konnte. Dann trugen wir Frau König buchstäblich auf Händen und legten sie ganz behutsam auf unserer Trage ab. Sie prüfte derweil durch ausgiebiges hin und her Rutschen mit ihrem Gesäß, ob ihr die Position des Ringes behagte, was natürlich niemals, aber wirklich niemals der Fall war. So mussten wir sie immer und immer wieder hochheben und absetzen, bis sie endlich zufrieden war. Es dauerte immer eine gefühlte Ewigkeit, bis der Ring und Frau König endlich an der richtigen Stelle saßen. Sobald sie dann richtig auf der Trage lag, musste jegliche Unterhaltung sofort verstummen, denn Ihre Majestät wollten morgens ihre Ruhe haben. Als unbedarfter Grünschnabel wagte ich es nur ein einziges Mal, meinen Mund in ihrer Gegenwart aufzumachen, um meinem Kollegen eine Frage zu stellen. Frau König drehte ganz langsam ihren Kopf in meine Richtung, schielte über den Rand ihrer Brille hinweg und musterte mich dabei von oben bis unten wie ein lästiges Insekt, das es zu zertreten galt. Ihr Blick durchbohrte mich wie ein Pfeil, sodass es mir eiskalt den Rücken hinunter lief. The Queen, war offenbar not amused. Ich schwöre Ihnen, wenn Blicke töten könnten, wäre ich jetzt definitiv nicht mehr am Leben. Aufgrund dieser lästigen Umstände und Frau Königs Starallüren riss sich natürlich keiner von uns darum, sie zu fahren. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag hoffte und betete jeder inständig, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge. Frau König frühmorgens und auf nüchternen Magen war definitiv die Höchststrafe. Bei allem gebührenden Respekt und auch Verständnis für ihre sicherlich nicht einfache Situation gab ihr das meines Erachtens nicht das Recht, sich so aufzuspielen. Doch keiner von uns wagte es je, ihr zu widersprechen. Schließlich war der Kunde und in diesem Fall Frau König, König.

Doch wie mit allen alternden Diven ging es dann auch mit ihr irgendwann rapide bergab. Frau König erlitt einen Schlaganfall, von dem sie sich nie wieder richtig erholte, und verstarb bald darauf in einem Pflegeheim. Und die Moral von der Geschicht’? Gehen Sie ihren Mitmenschen bitte nicht auf den Sack! Keiner hat es verdient, so von oben herab behandelt zu werden und schon gar nicht die Menschen, die jeden Tag ihr Bestes geben, um anderen zu helfen und es eigentlich nur gut mit ihnen meinen. Ein altes, englisches Sprichwort lautet: »It`s nice to be important, but it`s more important to be nice«. Dem ist, glaube ich, nichts mehr hinzuzufügen ...

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Tod in der Schweinebucht

1989. Es war Hochsommer und die Sonne strahlte schon seit Tagen vom wolkenlosen blauen Himmel. Jeder genoss auf seine Weise das herrliche Wetter. Während manche in den Eiscafés nach einer Erfrischung lechzten, versuchten andere durch einen Sprung ins kühle Nass den heißen Temperaturen zu entfliehen.

Im Einzugsgebiet unserer Außenwache gab es zahlreiche Kiesgruben und Baggerseen. In diesen Baggerseen war das Baden zwar offiziell strikt verboten, aber gerade dieser Umstand schien den Reiz, es dennoch zu tun, sogar noch zu erhöhen. Jedenfalls wimmelte es dort vor allem an den Wochenenden nur so von badefreudigen Nudisten, die sich buchstäblich einen feuchten Dreck um das Badeverbot scherten. In diesen sehr beliebten aber völlig unbewachten Baggerseen kam es immer wieder zu tragischen Unglücksfällen. Häufig waren Leichtsinn, Übermut und maßloser Alkoholkonsum die Ursache dafür.

Ausgerechnet der größte und schönste Baggersee von allen war gleichzeitig auch der berüchtigtste. Hier herrschte nun wirklich völlige Anarchie, was Sitte, Anstand und Moral betraf. Deshalb wurde er von den hier ansässigen Einheimischen auch nur abschätzig »Die Schweinebucht« genannt. In der Schweinebucht vergnügten sich ganz offen und ungeniert die Nackedeis beiderlei Geschlechts beim fröhlichen Stelldichein. Wenn es dann im umliegenden Gehölz wieder einmal raschelte und knisterte, lag das nicht immer unbedingt nur am Wind, der durch die Zweige blies. Auch so mancher, bislang eher als unbescholten geltender Bürger, streifte zuweilen in Ringelsocken und Sandalen durch das dichte Buschwerk, um mithilfe eines zufällig umgehängten Fernglases ein neugieriges und prüfendes Auge