Ich hatte sie alle - Katinka Buddenkotte - E-Book

Ich hatte sie alle E-Book

Katinka Buddenkotte

0,0

Beschreibung

Sie hatte sie alle: die schlimmsten Jobs, die miserabelsten Lebensabschnittsgefährten, die abgefahrensten Ideen und Krankheiten – und alle miesen weiblichen Eigenschaften sowieso. Charmant und fies, urkomisch und lakonisch sagt Katinka Buddenkotte nichts als die Wahrheit. Bis man heult. Oder sich totlacht. Die WDR-Sendung "Was liest du?" machte dieses Buch zum Bestseller. Nun erscheint es bei Satyr als erweiterte Neuausgabe. In fünf unveröffentlichten Geschichten singt Katinka mit den Hell's Angels, erfindet die Hemingway-App und gibt der DDR, Daliah Lavi und einem Weihnachtseber das letzte Geleit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 199

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Katinka Buddenkotte

ICH HATTE SIE ALLE

Geschichten

KATINKA BUDDENKOTTE

(geboren 1976 in Münster) lebt und schreibt in Köln, beides meist komisch. Ihr Debüt »Ich hatte sie alle« wurde von Jürgen von der Lippe in »Was liest du?« präsentiert und avancierte daraufhin zum Bestseller. Drei weitere Kurzgeschichtenbände und zwei Romane folgten bei Knaus, dtv und Penguin, zuletzt »Früher war wenigstens Sendeschluss« (2017). Ihr dritter Roman »Eddie muss weg« erschien 2017 bei Satyr.

Zudem schreibt sie satirische Beiträge u. a. für Titanic und taz und ist ab Herbst 2018 mit ihrem neuen Soloprogramm »Liebling der Schwerkraft« unterwegs. Aus ihrem Werk liest sie, wann und wo sie gebraucht wird, aber auch stets regelmäßig bei der Kölner Lesebühne »Rock’n’Read«.

Erweiterte Neuausgabe Mai 2018

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2018

www.satyr-verlag.de

Cover: Karsten Lampe

Druck und Bindung: CPI Books, Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-947106-10-3

INHALT

Vorwort

Interview mit einem Vamp

Ich bin alle, genau wie du

Katrin hatte vor vier Jahren Gebärmutterkrebs

Behind Bars

Chubby Bunnies

Nur kuscheln

Taschi malt

Mein linker Fuß geht zur Gruppentherapie

Ach, wär’ ich doch beim Erdbeersekt geblieben!

Die Erdnussflipsstange

Anschlussfehler

Lenny oder der Mann ihrer Träume

Damenoberbekleidung

Mein alter Drachen

Zu Kreuze gekrochen

Unamerikanisch

Versuch’s mal mit Gemütlichkeit

Ich hatte sie alle

Jenseits von Eden – reloaded

Warum es der Gastronomie so schlecht geht

Einheitsbrei oder: »Ja, deins, tihi«

Antwerpen sehen und nicht sterben

Gullinborsti

Die Hemingway-App

Zum Tode von Daliah Lavi

VORWORT

Seit ich lesen kann, wollte ich Bücher schreiben. Habe ich auch gemacht. Leider ist mein Erstling »Hupsi, der Hase beim Hüpfwettbewerb« vergriffen, beziehungsweise wurde das Werk nie gedruckt. Und das Original wurde über Jahrzehnte an einem für die Öffentlichkeit unzugänglichen Ort, um genau zu sein, im Keller meiner Eltern aufbewahrt. Dort fiel es mir im letzten Sommer in die Hände, und ich muss gestehen: »Hupsi« war nicht nur seiner, sondern auch meiner Zeit voraus: Denn das doppelt getackerte Bändchen enthält neben zahlreichen liebevollen, perspektivisch gewagten Filzstift-Illustrationen der Autorin auch einen ziemlich erstaunlichen Plot-Twist auf Seite 3. Der Protagonist, des Hüpfens müde, beschließt, sich aus der Gesellschaft (die vorrangig aus Eichhörnchen besteht) zurückzuziehen und fortan lieber zu schlafen. Es folgen zehn Seiten, auf denen zu sehen ist, wie Hupsi unter einer rot karierten Decke liegt und vom Hüpfen träumt. Die Skizzen auf den letzten Seiten deuten an, dass Hupsi plant, ein Buch über seine Abenteuer zu schreiben.

Gerne würde ich behaupten, dass ich mit der Geschichte von Hupsi auf die Ausbeutung der Athleten im Hochleistungssport aufmerksam machen wollte oder zumindest den Erwartungsdruck anprangerte, den wir auf junge Hüpfer ausüben. Selbstverständlich könnte »Hupsi« auch als frühreife Antwort, wenn nicht gar als Persiflage auf »Alice im Wunderland« gesehen werden. Leider muss ich gestehen: Als Sechsjährige war ich nicht viel weiter als heute. Auch damals zog es mich, nach einem aufregenden Tag oder einer anstrengenden halben Stunde, stets in meine Höhle, wo ich über das Erlebte nachdenken und … schlafen wollte. Bis ich bereit wäre, darüber zu schreiben.

Und genau mit dieser Strategie ging ich an mein zweites Werk heran. Im Jahr 2006 wurde »Ich hatte sie alle« erstmals veröffentlicht. Alle in dem Band enthaltenen Geschichten hatten nicht nur bis zu 25 Jahre in meinem Kopf gegoren, sondern eine jede Episode glich einem Hüpfwettbewerb. Nur aus den wenigsten ging ich als Gewinnerin heraus, aber immerhin: Ich ging raus, um etwas anderes zu tun. »Ich hatte sie alle« zeigte mir und der geneigten Leserschaft, wie ein Leben nach dem Ausschlussprinzip überlebbar ist.

Zwei Jahre wiederum schlummerten fast 2000 Exemplare der Erstausgabe in meinem Keller, ich hüpfte weiter durchs Leben, als das Buch plötzlich zum Sprung ansetzte: Durch viel, viel Glück, einen enormen Zufall, liebe Freunde und noch mehr Glück wurde »Ich hatte sie alle« zu einem Bestseller. Wie genau das Buch in die Sendung Was liest du? gelangte, ist eine lange Geschichte, die ein Vorwort sprengen würde, dennoch möchte ich an dieser Stelle vier Menschen danken, die es dorthin gebracht haben und ohne die es nie zu so einem Erfolg geworden wäre: Rainer Koczwara, Jess Jochimsen, Jürgen von der Lippe und Carolin Kebekus.

Seither ist viel geschehen, manches auch nicht. So schreibe ich diese Zeilen zum Beispiel gar nicht von meinem Strandhaus in Malibu aus, auch weile ich nicht in meinem Schloss in Schottland. Um genau zu sein, habe ich weiterhin an vielen, vielen Hüpfwettbewerben teilgenommen, manchmal erfolgreich, manchmal habe ich mich selbst disqualifiziert. Aber dennoch: Die meiste Zeit dazwischen habe ich mit Schreiben verbracht und nicht damit, vom Schreiben zu träumen. Alles gut also.

Noch besser:

Wie ihr bemerkt haben dürftet, ist nun eine neue Ausgabe von »Ich hatte sie alle« erschienen. Sie umfasst zudem fünf neue, bisher unveröffentlichte Geschichten. Und ohne zu viel über deren Inhalt zu verraten: Sie haben mir alle dabei geholfen, über etwas hinwegzuspringen, wenn ich auf der Stelle hüpfte.

Ermöglicht hat diese Neuauflage Volker Surmann. Ihm gilt mein innigster Dank, dafür, dass er dieses Buch wachgerüttelt hat, bevor es bis in alle Ewigkeit unter einem rot karierten Deckchen verschwindet. Anders als bei Hupsi wäre es nämlich schade drum gewesen.

März 2018

Katinka Buddenkotte

INTERVIEW MIT EINEM VAMP

Während meines Studiums in Berlin arbeitete ich nebenher in einem Call-Center. Das ist komplett gelogen. Wahr ist, dass ich beim Einschreiben an der Uni ganz höflich fragte, in welchem Studiengang ich denn am wenigsten stören würde. Nachdem ich so meinen Namen dort unvergesslich gemacht hatte, sah ich keine Notwendigkeit mehr, die Universität nochmals aufzusuchen.

So arbeitete ich also nicht neben meinem Studium, sondern neben meinem Leben her. Und ich säße wohl auch heute noch bei dem Umfrage-Institut auf Platz 23, wenn nicht auf Platz 24 mein bester Freund Vassili gesessen hätte. Vassili glaubte an mich, völlig grundlos: »Katinka, eines Tages kommst du ganz groß raus, ich spüre das.«

»Als was denn?«, fragte ich ihn.

Vassili fuchtelte mit den Armen in der Luft herum, schnappte wild nach Luft und verkündete schließlich: »Na, als Quereinsteiger halt!«

Vassili war nie um eine Antwort verlegen – leider. In seiner Eigenschaft als mein »Coach« riss Vassili geflissentlich Stellenanzeigen für »richtige, interessante Jobs« aus der Zeitung heraus, tunete meinen Lebenslauf, und ab und an schrieb ich auch tatsächlich eine Bewerbung. Mindestens eine davon muss ich sogar abgeschickt haben. Denn eines Tages fand sich folgende Nachricht auf meinem Anrufbeantworter:

»Frau Buddenkotte, hier spricht Schiffheudn von B-M-G, Berlin. Vielen Dank erst einmal für Ihre lustige Bewerbung. Wenn Sie wollen, können Sie ja mal morgen gegen zehn bei uns vorbeischauen. Wir freuen uns auf Sie.«

BMG? Meine lustige Bewerbung? Was um alles in der Welt hatte ich der Firma BMG geschrieben? Plötzlich fiel es mir wieder ein. Die Plattenfirma BMG hatte vor Wochen eine Anzeige in die Zeitung gesetzt, die ein kleines Comic-Hündchen zeigte. Um das Hündchen herum waren viele saublöde Sprüche arrangiert, so etwa wie: »Hast du auch so eine Spürnase?« Ich hatte damit gekontert, ein spastisches Kätzchen zu malen und noch blödere Sprüche drum herum zu schreiben, wie etwa: »Kann gut mit Mäusen umgehen.« Dieses Machwerk hatte ich in einem Anfall von postpubertärer Renitenz erschaffen; dass ich als Absender nicht »Leck mich« geschrieben hatte, war reiner Zufall gewesen.

BMG fand das lustig. Mir wurde schlecht. Vassili war begeistert: »Das ist dein Durchbruch!«, schrie er ins Telefon. Ja, tatsächlich, ich spürte so eine Art Durchbruch in der Magengegend. Vassili aber war kaum zu bremsen. »BMG, BMG, das ist ja toll! Was hast du denen denn geschickt?«, fragte er.

»Ein Kätzchen …«, röchelte ich ins Telefon.

Stille am anderen Ende. Dann: »Ach du Scheiße. Ich komm’ vorbei!«

Als Vassili zehn Minuten später klingelte, hatte er zum Glück schon wieder einen Katastrophenplan entwickelt. Stufe 1 bestand darin, dass ich die homöopathischen Rescue-Tropfen einnahm, die Vassilis Hund auch immer bekommt, bevor es zum Tierarzt mit ihm geht. Stufe 2 beinhaltete ein kurzes Update der gesammelten Informationen. Diese beschränkten sich leider darauf, dass es sich tatsächlich um die BMG, also die berühmte Plattenfirma handelte. Anschließend versuchte Vassili es mit Hypnose: »Erinnere dich, Katinka, die müssen dir doch irgendwie eine Stellenbeschreibung gegeben haben. Die müssen doch gesagt haben, was sie von dir wollen, und du hast daraufhin zurückgeschrieben, was du alles kannst, oder?«

»Ich habe ein Kätzchen gemalt«, wiederholte ich.

Nach vier Portionen K. o.-Tropfen, dieses Mal mit Wodka gemischt, sah Vassili plötzlich den kosmischen Plan hinter dem ganzen BMG-Mist: »Weißt du was? Die wollen dir da gar keinen richtigen Job geben«, lallte er fachmännisch. »Du musst nicht wissen, was da abgeht, du musst nur cool sein. Und souverän. Herrin der Lage, jederzeit. Und wer ist die coolste, abgefeimteste Frau der Welt? Na? Na?« Ich ahnte Furchtbares, ließ ihn aber ausreden.

»Genau, die cooooolste Frau der Welt ist: Alexis Colby! Und von der wird jetzt abgeguckt.«

Vassili hat einen kleinen Tick. Vassili hat ein Faible für den Denver-Clan. Er besitzt 72 Videokassetten mit allen Folgen darauf – hübsch geordnet in »mit der alten« und »mit der neuen« Fallon. Ich war unfähig, mich zu wehren, also ließ ich mich vor den Fernseher setzen und schaute mir »Best of Alexis« an.

Erst hielt ich es für kompletten Schwachsinn, aber nach einer Zeit empfand ich tatsächlich eine gewisse Hochachtung für Joan Collins. Immer war sie top gekleidet, immer wusste sie ein bisschen mehr. Wie sie alle austrickste, wie sie den Mundwinkel hochzog, ja, und wie sie Steve und Blake gegeneinander ausspielte, wie blässlich diese Chrystal neben ihr doch wirkte. Sie war großartig, brillant und verwegen. In dem Moment, wo die alte Fallon gerade vom Pferd fiel, klingelte mein Wecker.

Es war neun Uhr morgens. Ich sprang in meinen Vorstellungsfummel, während Vassili mir ein Gesicht aufmalte.

»Äh, Katinka, sprichst du da eigentlich mit einem Mann oder mit ’ner Frau?«, fragte Vassili, während er wie ein gestörter Storch durch meine auf dem Fußboden verteilte Garderobe stakste.

»Am Telefon war ’ne Frau, glaube ich …«

»Dann zieh um Gottes Willen was über dieses Fähnchen drüber!«

Vassili warf mir sein Hemd zu, das farblich beinahe passte und einen starken »Cool Water for Men«-Geruch ausströmte. Dank der unmöglichen Pumps, die ich für solche Gelegenheiten aufbewahrt hatte, wirkte ich als Gesamtwerk wie eine unentschlossene Transe.

Der morgendliche Stau gab mir Gelegenheit, noch mal in Ruhe über alles zu transpirieren. Wir bogen in die Zielstraße ein, ich stieg aus dem Auto. Vassili blieb erwartungsvoll im Auto sitzen, leider nicht bei laufendem Motor.

Als ich endlich, sehr zaghaft, bei BMG angeklingelt hatte, öffnete mir ein Mann die Tür. Ich sah mich hilfesuchend nach Vassili um. Dieser war aus dem Auto gesprungen, stellte pantomimisch das Aufreißen einer imaginären Bluse dar und wackelte mit nicht vorhandenen Riesenbrüsten.

Der Herr von BMG erblickte Vassili, dann fragte er mich: »Ähem, der junge Mann da hinten scheint Ihnen etwas sagen zu wollen. Kennen Sie den?«

Ich spürte, wie ich erbleichte. Jetzt bloß keine Ausflüchte, bloß nicht irgendetwas nuscheln, der erste Eindruck ist entscheidend. Denk nach! Was würde Alexis Colby in so einer Situation antworten? Und plötzlich, ganz automatisch, hörte ich aus meinem Mund die perfekte, die einzige Antwort, die man auf so eine impertinente Frage geben kann: »Nur flüchtig. Er arbeitet für mich.«

Herr BMG nickte fassungslos, aber er ließ mich ein in die heiligen Hallen der Plattenindustrie. Der Punkt ging also an mich, die Alexis-Taktik funktionierte bis hierhin. Eher grenzdebil als ladylike grinsend folgte ich dem überrumpelten Schergen durch den Flur.

Ich wurde in ein Büro geführt und nahm auf einem Sofa unter goldenen Schallplatten Platz. Ich denke, dass es letztendlich dieser klimatisierte Prunk war, der mich in meiner neuen Rolle als coloradensische Multimillionärin vollends bestätigte. Meine Unsicherheit war von einem denverclanesken Schleier umhüllt, den ich nicht mehr abzustreifen vermochte. Die Rescue-Tropfen taten ihr Scherflein dazu. Der Herr BMG grinste mich verbindlich an und sagte: »Ja, unser Chef, der Herr Niemeyer, kommt dann gleich zu Ihnen. Was zu trinken solange?«

»Ein nicht zu kaltes Perrier, danke sehr!« Ich winkte huldvoll wie Queen Mum selig nach dem achten Gin.

Der Mann verschwand, mein wahres Ich klopfte kurz an meiner Hirnrinde an und fragte Frau Colby, ob sie noch alle Tassen im Schrank hätte. Immerhin beruhigte ich mich einigermaßen damit, dass ich keinen doppelten Martini bestellt hatte. Und was hatte der Typ gesagt? »Der Herr Niemeyer kommt dann gleich«?

Ich riss mir Vassilis Hemd vom Leib, wrang es ein bisschen aus und stopfte es in meine Handtasche. In diesem höchst unpassenden Moment trat Herr Niemeyer ein. Joan Collins herrschte ihn durch meinen Mund an: »Haben Sie nicht gelernt, bei einer Dame anzuklopfen?«

Herr Niemeyer schaute erst extrem verwirrt, dann extrem belustigt. Ich gab mir eine innerliche Ohrfeige. Ich musste wieder normal werden. Herr Niemeyer gab mir keine Chance dazu: »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen nicht die Hand geben kann, ich hatte einen Unfall.«

Seine rechte Hand war einbandagiert, aber das konnte auch ein Trick sein. Also sagte ich ganz unverbindlich: »Ach? Ich auch.«

Unverbindlichkeit ist in gewissen Situationen nicht gerade unverbindlich. Ehrlich neugierig bohrte Herr Niemeyer nach: »Was denn, Sie hatten auch einen Unfall?«

Alexis lief in mir zu Höchstform auf: »Ja, einen Jagdunfall.«

Herr Niemeyer setzte sich wie jemand, der sich setzen muss. Ich versuchte, die Situation zu entspannen, indem ich mich immer tiefer in die Scheiße ritt: »Ja, ein junges, unerfahrenes Pferd. Der Stallmeister hätte es gar nicht herausgeben dürfen.« Dazu fabrizierte ich eine Handbewegung, die ausdrücken sollte, wie unwichtig mir doch diese kleinen Missgeschicke des Lebens waren. Bei dieser Gelegenheit streifte ich eine Vase mit Papageienblumen, die mit einem dumpfen Knall zu Boden fiel. Als Kontrastgeräusch ließ ich ein glockenhelles, hysterisches Lachen erschallen.

Herr Niemeyer glotzte mich an; mir war, als würde seine Hand unter dem Tisch nach dem Knopf für die Falltür tasten. Stattdessen zog er ein Foto hervor. Es zeigte ihn selbst im Reiterdress, ein flottes Pferdchen neben ihm.

»Das ist ja ein Zufall«, sagte er schließlich, »ich nehme doch auch immer an der Fuchsjagd hier teil. Da müsste ich Sie doch eigentlich kennen! In welchem Verein reiten Sie?«

Hatte der Mann mich durchschaut? War das eine neue Falle? Vorsichtshalber blieb ich bei meiner genialen Taktik und ließ Alexis tapfer weiterkämpfen: »Ähem … meine Pferde stehen nicht hier … sie sind bei meiner Familie … bei meinen Ländereien.«

Ich wollte noch »bei meinen Ölquellen auf meiner Privatinsel« hinzufügen, aber Herr Niemeyer wechselte plötzlich und unvermittelt das Thema.

»Eh, nun gut. Das war ja eine recht interessante Bewerbung von Ihnen. Sagen Sie, wie schätzen Sie die Musikbranche derzeit ein?«

Dieser jähe Umschwung zur Fachsimpelei brachte mein Konzept durcheinander. Meine Redegewandtheit ließ kurz nach: »Och, ganz gut so.«

Pause. Große Pause. Herr Niemeyer half mir wieder ein bisschen: »Ich meine, wenn ich Ihnen jetzt ganz konkret erklären würde, wir bringen die No Angels wieder ganz groß raus, was würden Sie dazu sagen?«

Niemeyer sah mich lauernd an. Ich lächelte, wie ich fand, entwaffnend. Das war die Sprache, die ich verstand. So wurden im Denver der frühen Achtziger Geschäfte gemacht. In alter Frische antwortete die Alexis aus mir: »Ich würde sagen, dass sie ein ganz ausgebufftes Schlitzohr sind. Sie gefallen mir, Niemeyer.«

Das hatte ich jetzt wirklich nicht gesagt. Doch. Stille. Räuspern. Erneute Stille. Immerhin war der Mann vollkommen fassungslos. Er legte seine raffinierte Tarnung ab: »Sagen Sie mal, Frau …«, er blätterte hektisch in meinen Unterlagen, »Frau Buddenkotte, was wollen Sie eigentlich hier?«

Das war das Ende. Die kannten meinen richtigen Namen, es war alles verloren. »Hauptsache ein guter Abgang«, raunte Alexis mir im Inneren zu. Ich tat wie geheißen. Ich sprang auf, riss etwa zwanzig goldene Schallplatten mit mir und sprach: »Das ist eine Unverschämtheit, was Sie mir da unterstellen. Sie hören von meinen Anwälten.«

Dann rauschte ich ab, genau bis zum Auto rauschte ich. »Wie war’s denn?«, hörte ich einen aufgeregten Vassili wie durch einen akustischen Nebelschleier fragen. Das Letzte, was ich mich sagen hörte, war: »Der Mann könnte uns gefährlich werden. Lad’ ihn zum Lunch ein, Steven.«

Dann fiel ich, ganz ladylike, in tiefe Ohnmacht.

ICH BIN ALLE, GENAU WIE DU

Oft sind es die kleinen Dinge, die mich faszinieren. Zum Beispiel diese Taste auf meinem alten Staubsauger, die mit dem Steckdosen-Symbol. Man drückte einfach darauf und ssssst, schnappte sich das Biest das Kabel und verschluckte es, röderröderröder. Ich wusste, es funktioniert irgendwie, konnte aber nie voll und ganz verstehen, wie genau, da ich nicht sehen konnte, was im Inneren meines Staubsaugers vorging. Also verschaffte ich mir Einblick – brutal, doch im Sinne der Wissenschaft. Meine Beobachtungen dieser Versuchsreihe lassen sich zu einer simplen, aber wegweisenden These zusammenfassen: Neugier tötet nicht nur Katzen, sondern auch Elektrogeräte.

Ich habe jetzt wieder so einen neuen altmodischen Staubsauger zum Kabel-Selbstaufwickeln. Und ich wage zu behaupten, dass die Macht des Wissens über das Innenleben meines alten neuen Staubsaugers in etwa genauso groß ist wie das Generve mit dem Aufrollen beim neuen alten. Seither muss oder will ich einige Dinge gar nicht mehr so genau wissen.

Zum Beispiel wollte ich nie wissen, wie das tatsächlich funktioniert, wenn ich eine SMS mit der Botschaft »Flirt« an eine hundertstellige Nummer schicke und sofort Kontakt bekomme mit »coolen Leuten, die genauso sind wie du«. Allein den Gedanken, dass es Leute wie mich gibt, die gleichzeitig cool sind, fand ich ziemlich gruselig.

Es begab sich aber, dass eine verheerende Dürre über mein Konto hereinbrach und ich mich gezwungen sah, selbst an dem geringfügigsten aller Joblöcher zu graben. Für 400 Ocken im Monat bewarb ich mich trotz besseren Wissens bei einem dieser Call-Center, die damit um »nette Kolleginnen« buhlten, dass es sich bei dem Job um etwas »Seriöses« und auf keinen Fall um »Telefonmarketing« handele.

Ich bin aufgrund mannigfaltiger Erfahrung etwas misstrauisch gegenüber Dingen geworden, auf denen explizit drangeschrieben steht, was sie sind beziehungsweise nicht sind. Ich meine, ich stecke mir ja auch keinen Zettel an den Hut, auf dem »Hut« steht. Und wenn ich mir statt eines Hutes einen Truthahn aufsetzte, würde die ganze Angelegenheit auch nicht dadurch besser werden, dass ich »kein Hut« auf meinen Truthahn schriebe. Ich denke, wir verstehen uns.

Aber wie gesagt, ich brauchte das Geld und beruhigte mich damit, dass ich als neue Kollegin nur »nett« und nicht etwa »aufgeschlossen« sein sollte oder gar den heimlichen Wunsch zu hegen hatte, mich »in der Welt der bizarren Erotik neu zu entdecken«.

Und siehe da, die erste positive Überraschung in dem neuen Call-Center war perfekt. Es gab keine Telefone. Spontan dachte ich, dass mir die Arbeit dort gefallen könnte. Dann begrüßte mich mein zukünftiger Chef, der Herr Wedel, und die Zeit der Überraschungen war flugs vorbei. Herr Wedel sah genauso aus wie die Jungen, die man immer vergisst, wenn man die Mitschüler seiner ehemaligen Abiturklasse aufzählt, auch wenn es ein sehr geburtenschwacher Jahrgang war.

Herrn Wedels Motivation, dieses Call-Center ohne Telefone aufzubauen, war eindeutig die gewesen, einmal in seinem Leben gesiezt oder wenigstens bemerkt zu werden. Seine erste Frage an mich war, ob ich noch Fragen hätte. Ich sagte »Erst mal nicht« und fragte dann, worum es denn ginge. Herr Wedel sagte, ihm gefiele meine Einstellung und eine nette Kollegin würde mir das jetzt mal zeigen.

Die nette Kollegin saß vor einem Computerbildschirm und piekte hektisch mit drei Fingern auf der Tastatur herum, als würde sie Brüsseler Spitze online klöppeln wollen. Ich fragte, ob der freie Stuhl neben ihr noch frei sei. Sie sagte ja, und dann zeigte sie es mir.

Es war so grausam, dass ich es nicht einmal in meine schlimmsten, schmutzigsten Phantasien mit einbezogen hätte, wenn ich Kontrolle über meine Phantasien hätte. Denn meine Kollegin war »Flirt«. Sie war all die coolen Leute, die genauso sind wie du, und sie war alle auf einmal. Denn die gesamten SMS-Botschaften der hoffnungsvollen Handyflirter landeten alle auf ihrem Computerbildschirm, und sie beantwortete sie mit E-Mails, die dann aber wieder als SMS bei den zahlreichen Handyopfern landeten. Je nachdem, ob der »Klient« weiblich oder männlich war, war sie das Gegenteil. Selbst für den Fall einer unvorhergesehenen Homosexualität hatte die nette Kollegin vorgebaut: »Wenn du nicht genau weißt, was die so wollen, schreibste einfach, dass du Chris oder Alex heißt. Dann kannste dir dein Geschlecht noch zehn Minuten später aussuchen oder so, ne?«

Ich war tief beeindruckt. Wer hätte gedacht, dass es einen Minijob gibt, der genau wie das Sexualleben der Weinbergschnecke funktioniert. Eine geschlagene Stunde saß ich mit der netten Kollegin da und starrte gebannt auf ihren Monitor. Ich sah, wie sie unter dem Tarnnamen Marco die kleine Angela nach ihrem Männergeschmack ausfragte und dann wieder unter dem Pseudonym Vanessa den Ulf aus Heidelberg scharfmachte. Zwischendurch verdrückte sie drei Bananen, eine Literflasche Cola light und zwei Bild der Frau.

Vier andere nette Kolleginnen saßen im Raum verstreut und stöhnten zwischendurch auf, wobei sie kodierte Phrasen droschen wie: »Oh nein, ich habe wieder den mit dem Gummimatten-Fetisch online« oder »Weiß jemand, was gerade auf Sat 1 läuft? Ich hab dem Typen geschrieben, dat ich auch gerade gucke.«

Das Einzige, was mich vom sofortigen Erbrechen zurückhielt, war, dass es von Minute zu Minute noch ekelerregender wurde: »Und wennde gar nicht weißt, was du so antworten sollst, dann mach’ einfach so einen Smiley oder so dazu«, sagte meine nette Kollegin noch, bevor ich wieder zurück ins Chefbüro wankte.

»Herr Wedel«, keuchte ich, »das hier ist das Mieseste, Verabscheuungswürdigste und Widerlichste, was ich jemals auf dem freien Arbeitsmarkt gesehen habe.«

Herr Wedel sah mich an, als würde er noch überlegen, ob ich den Job oder ihn persönlich meinte: »Es zwingt Sie natürlich keiner, hier zu arbeiten.«

Ich holte tief Luft.

»Zahlen Sie zum Ende oder Anfang des Monats?«

Herr Wedel reichte mir wortlos meinen Arbeitsvertrag und den Schichtplan. Schon am nächsten Tag würde ich alle coolen Leute sein, die genauso sind wie du, nicht wie ich.

Die ganze Nacht zuvor tat ich kein Auge zu. Dann redete ich mir ein, ich sei Günter Wallraff. Als ich mich einigermaßen davon überzeugt hatte, musste ich nur noch meinem Freund einreden, dass ich Günter Wallraff sei. Er war wenig begeistert, schließlich erklärte er sich aber für eine Provisionsbeteiligung von fünfzig Prozent dazu bereit, für die Zeit der Recherchearbeiten Frau Wallraff zu sein.

Das erste Mal war das schlimmste. Geschlagene fünf Minuten starrte ich die Nachricht an, die auf meinem Bildschirm aufblinkte. Sie lautete: »Hi, ich bin Sabrina.«

Schließlich überwand ich mich und schrieb zurück: »Hi, hier ist Günter. Was geht ab?«

Aller Wahrscheinlichkeit nach ging bei Sabrina gerade so viel ab, dass sie mir nicht sofort zurückschreiben konnte. Dafür bekam ich eine Nachricht von Ralf. Ralf war ein alter Bekannter im Call-Center. Leider nicht für mich. Laut seines aussagekräftigen »Klienten-Profils« war er Kfz-Lehrling, gepierct, stand auf Frauen und unterhielt sich mit mir, also der Meike, 19, die gern ins Kino ging. Ralf ließ mich wissen, dass er einen »doofen Scheißtag« gehabt hatte, und das um zwölf Uhr mittags. Ich schrieb ihm in meiner Funktion als Meike zurück: »Ich auch.«

Ich zögerte etwas, die Nachricht abzuschicken und malte schließlich noch ein paar Smileys dazu, um sie gehaltvoller zu gestalten. Dann schrieb mir Sabrina zurück: »Ich glaube, du bist zu alt für mich.«

Sofort bemerkte ich meinen eklatanten Fehler und schrieb an Sabrina: »Hey, ich heiße nur Günter, bin aber erst 19.«

Ich fand mich ziemlich raffiniert, und den Günter auch.

Dann war ich eine halbe Stunde fast nur Lars, der sich mit der Conny unterhielt. Conny hatte keinen Bock mehr, sich mit mir per SMS zu unterhalten, und wollte mich endlich sehen. Hektisch blätterte ich im Handbuch, das ein paar Standardantworten für solche Fälle parat hielt, und wählte die ehrlichste aus. Ich schrieb Conny zurück, dass ich »halt total schüchtern« sei, und malte ein paar Smileys dazu. Vierzig Smileys, um genau zu sein.